Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002
Hartmut Schauerte
24791
(C)(A)
1) Anlage 19
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24793
(C)
(D)
(A)
(B)
Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 27.06.2002
Gila DIE GRÜNEN
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 27.06.2002
Behrendt, Wolfgang SPD 27.06.2002*
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 27.06.2002
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 27.06.2002*
Klaus
Buwitt, Dankward CDU/CSU 27.06.2002*
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 27.06.2002
DIE GRÜNEN
Friedrich (Altenburg), SPD 27.06.2002
Peter
Dr. Grygier, Bärbel PDS 27.06.2002
Haack (Extertal), SPD 27.06.2002*
Karl-Hermann
Hartnagel, Anke SPD 27.06.2002
Hilsberg, Stephan SPD 27.06.2002
Dr. Hornhues, CDU/CSU 27.06.2002*
Karl-Heinz
Hornung, Siegfried CDU/CSU 27.06.2002*
Hovermann, Eike Maria SPD 27.06.2002
Irmer, Ulrich FDP 27.06.2002
Karwatzki, Irmgard CDU/CSU 27.06.2002
Kasparick, Ulrich SPD 27.06.2002
Dr. Küster, Uwe SPD 27.06.2002
Lehn, Waltraud SPD 27.06.2002
Lintner, Eduard CDU/CSU 27.06.2002*
Dr. Lippelt, Helmut BÜNDNIS 90/ 27.06.2002*
DIE GRÜNEN
Lörcher, Christa fraktionslos 27.06.2002*
Dr. Lucyga, Christine SPD 27.06.2002*
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 27.06.2002*
Erich
Mante, Winfried SPD 27.06.2002
Dr. Meyer (Ulm), SPD 27.06.2002
Jürgen
Müller (Berlin), PDS 27.06.2002*
Manfred
Neumann (Bremen), CDU/CSU 27.06.2002
Bernd
Neumann (Gotha), SPD 27.06.2002
Gerhard
Palis, Kurt SPD 27.06.2002*
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 27.06.2002
Ronsöhr, CDU/CSU 27.06.2002
Heinrich-Wilhelm
Dr. Scheer, Hermann SPD 27.06.2002*
Schlee, Dietmar CDU/CSU 27.06.2002
Schloten, Dieter SPD 27.06.2002*
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 27.06.2002
Hans Peter
von Schmude, Michael CDU/CSU 27.06.2002*
Schröder, Gerhard SPD 27.06.2002
Schultz (Everswinkel), SPD 27.06.2002
Reinhard
Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 27.06.2002
Christian
Seehofer, Horst CDU/CSU 27.06.2002
Dr. Freiherr von CDU/CSU 27.06.2002
Stetten, Wolfgang
Türk, Jürgen FDP 27.06.2002
Wohlleben, Verena SPD 27.06.2002
Zierer, Benno CDU/CSU 27.06.2002*
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
derAbgeordneten Dr. Evelyn Kenzler (PDS) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung:
Aufgaben des jüngsten Mitgliedes des Deutschen
Bundestages (Tagesordnungspunkt 34 e)
Sie haben – folgt man der vorliegenden Beschluss-
empfehlung des Geschäftsordnungsausschusses – die Ab-
sicht, in der folgenden Abstimmung gegen den Antrag der
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
PDS-Bundestagsfraktion „Aufgaben des jüngsten Mit-
gliedes des Deutschen Bundestages“ zu stimmen. Ich und
die PDS-Bundestagsfraktion werden der Beschlussemp-
fehlung nicht zustimmen.
Der Alterspräsident Fred Gebhardt unterbreitete mit
folgenden Worten bei der Eröffnung des 14. Deutschen
Bundestag am 26. Oktober 1998 einen Vorschlag zur Tra-
ditionserweiterung:
Wenn Ihnen so wie mir das Schicksal der Jugend so
wichtig ist, dann sollten wir dies auch durch symbo-
lische Akte unterstreichen. Was spräche eigentlich
dagegen, daß der 15. Deutsche Bundestag wie bisher
von seinem ältesten Mitglied eröffnet würde, zusätz-
lich aber das jüngste Mitglied die Gelegenheit zu ei-
ner Ansprache erhielte?
Dafür erhielt er Beifall von den Fraktionen der PDS,
der SPD, Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP.
Wir können heute aus dem Beifall eine Entscheidung
machen und beschließen, dass der 15. Deutsche Bundes-
tag im Oktober 2002 auch vom jüngsten Mitglied eröffnet
wird. Das kostet kein Geld, setzt aber Zeichen, vor allem
für die Jugend dieses Landes.
Die Ablehnung des Vorschlages des Alterspräsidenten
wird in der Beschlussempfehlung wie folgt begründet:
Der Einführung eines Rederechtes des jüngsten Mit-
gliedes stünde entgegen, dass dies Forderungen nach
vergleichbarer Berücksichtigung anderer Bevölke-
rungs- und Wählergruppen nach sich ziehen könnte.
Dieses Argument trägt nicht und ist unglaubwürdig,
denn mit derselben Begründung könnte auch das Rede-
recht des Alterspräsidenten infrage gestellt werden. Wir
werden die Beschlussempfehlung deshalb ablehnen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Heidemarie Ehlert (PDS) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Be-
stellung einer Amtsanklägerin/eines Amtsanklä-
gers (Tagesordnungspunkt 34 f)
Ich möchte mein Abstimmungsverhalten zur Be-
schlussempfehlung des Haushaltsausschusses, Drucksa-
che 14/9291, zum Antrag der PDS-Fraktion „Bestellung
einer Amtsanklägerin/eines Amtsanklägers“ erläutern:
Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung des Haus-
haltsausschusses, weil sowohl die erste als auch die
zweite Lesung des Antrages „Bestellung einer Amts-
anklägerin/eines Amtsanklägers“, Drucksache 14/7227,
ohne Debatte im Deutschen Bundestag erfolgte. Offen-
sichtlich fürchten sich die anderen Fraktionen vor einer
Debatte zur Bekämpfung der Verschwendung von öffent-
lichen Geldern. Nur, opponieren allein hilft nicht, das ist
meine Feststellung nach dem heutigen Tage. Das trifft für
die CDU/CSU-Fraktion genauso zu wie für die FDP. Und
die Regierungskoalition sollte darüber nachdenken, in-
wieweit sich der Umgang mit öffentlichen Mitteln an den
Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und der Sparsamkeit
orientiert.
Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses, weil angesichts leerer Kassen in Bund, Länder
und Gemeinden und der sich daraus als dringend notwen-
dig ergebenden Sparpolitik es immer dringlicher wird,
ernsthaft zu prüfen, wo Gelder tatsächlich eingespart wer-
den können. Gegenwärtig wird fast das Fünffache dessen
an Steuern vergeudet, was Haushaltspolitikerinnen und
Haushaltspolitiker an Finanzierungslücken zu den entwe-
der laufenden Reformen wie auch den noch bevorstehen-
den ausmachen. Erfahrene Prüfer aus staatlichen
Rechnungshöfen haben geschätzt, dass 5 Prozent der
öffentlichen Mittel nicht sorgfältig verwendet werden,
was auch durch den Europäischen Rechnungshof be-
stätigt wurde. Bei dem jetzigen Volumen der öffentlichen
Ausgaben in unserem Land dürfte die Verschwendung der
öffentlichen Mittel bei etwa 25 Milliarden Euro pro Jahr
liegen, das sind rund 20 Prozent des Aufkommens an
Lohn- und Einkommensteuer des Jahres 2001.
Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil damit
Lösungsansätze zur Verhinderung von Steuerverschwen-
dung, so im Haushalts- und Aufsichtsrecht, aber auch die
Möglichkeiten von dienstrechtlichen, zivilrechtlichen und
strafrechtlichen Sanktionen ad acta gelegt werden. Aller-
dings setzen solche möglichen Lösungen voraus, dass vor-
handene Strukturen geändert oder tiefer greifende gesetz-
liche Neuregelungen geschaffen werden. Bisher fehlte
aber die Bereitschaft, diesbezüglich tätig zu werden. Dies
zeigt der Umgang mit Strafanzeigen, die der Bund der
Steuerzahler in den vergangenen Jahren gegen Steuergeld-
verschwender wegen des Verdachts der Untreue nach
§ 266 Abs. 1 des Strafgesetzbuches erstattet hat.
Der Bund der Steuerzahler forderte bereits seit 1982
einen solchen öffentlichen Vertreter, der auf der Basis der
Ermittlungen der Rechnungshöfe arbeitet und diese zur
Grundlage gerichtlicher Verfahren nutzt.
Ich stimme gegen die Empfehlung des Ausschusses,
weil ich den Eindruck erhalten habe, dass die für Ver-
schwendung öffentlicher Gelder Verantwortlichen meines
Erachtens nicht belangt werden sollen und weil bei ver-
fehlten Ausgaben der öffentlichen Hand am Ende der
Steuerzahler für diese aufkommen muss.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend und vielleicht
greift ja die eine oder andere Fraktion diesen Vorschlag in
ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl oder in der
15. Legislaturperiode auf.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Rosel Neuhäuser (PDS) zur
Abstimmung über den Antrag: Medizinische
Versorgung von Kindern und Jugendlichen si-
chern und verbessern (Tagesordnungspunkt 7 e)
Dem vorliegenden Antrag zur medizinischen Versor-
gung von Kindern werde ich zustimmen. Ich begrüße es
außerordentlich, dass dieser interfraktionelle Antrag zur
Kindergesundheit entstanden ist. Umso enttäuschender ist
es für mich, dass die Fraktion der PDS nicht mit auf dem
Antrag erscheint. Das liegt keinesfalls an mangelnder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224794
(C)
(D)
(A)
(B)
Bereitschaft aus unserer Fraktion, diesem Antrag zuzu-
stimmen.
Ganz im Gegenteil, im Rahmen meiner turnusmäßigen
Vorsitzzeit in der Kinderkommission des Deutschen Bun-
destages habe ich das Thema Kindergesundheit zu meinem
Schwerpunktthema gemacht. Dabei ist, federführend aus
meinem Büro, der gemeinsame Antrag zur verantwor-
tungsbewussten Vergabe von Methylphenidat entstanden,
den viele von Ihnen unterstützt haben. Dieser Antrag ist
nun in den vorliegenden Antrag mit eingeflossen.
Als Kinderkommission des Deutschen Bundestages
sind wir und ich im Besonderen darum bemüht, dass die
Belange der Kinder auch hier im Parlament Gehör finden.
Dies ist in diesem Falle geglückt.
Zugleich bedauere ich es, obwohl ich diesem Antrag
meine Zustimmung gebe, dass nun, bei der Einrichung
des Antrages, wieder andere Dinge im Vordergrund ste-
hen. Dass dies so ist, hat wieder einmal mit der Ausgren-
zung der PDS zu tun. Obwohl alle Fachleute der Fraktio-
nen und die Mitglieder der Kinderkommission an einem
Strang ziehen wollten, konnte man wieder einmal nicht
über den eigenen Schatten springen. Es siegte die Par-
teiräson über das fachliche Anliegen – für mich immer
wieder ein beredtes Beispiel dafür, wie politisches Schub-
ladendenken und Wahlkampftaktiken über Sachthemen
siegen. Wen wundert es dann noch, wenn die Politik im-
mer mehr an Vertrauen verliert? Schade also. Es stünde
uns gut, gerade bei einem solchen Antrag zur Kinder-
gesundheit, wenn wir durch einen Antrag aller Fraktionen
unsere Bemühungen, eine kinderfreundlichere Gesell-
schaft zu schaffen, unterstrichen hätten. Die Kinder beim
„Children’s Forum“ auf dem Weltkindergipfel in New
York haben es uns vorgemacht, wie man über die größten
Unterschiede hinweg im Sinne der Kinder zusammen-
arbeiten kann. Wir können noch viel von ihnen lernen.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele (FDP) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-
Stiftung (Tagesordnungspunkt 34 b)
In vorbezeichneter Angelegenheit bin ich sehr dafür,
dass die nationalsozialistische Verfolgung Homosexueller
erforscht, dargestellt und in Erinnerung gehalten wird.
Angesichts der allseits diskutierten Situation der öf-
fentlichen Haushalte halte ich eine Belastung der nächs-
ten Haushalte in einer Gesamtsumme von 15 Millionen
Euro zur Finanzierung des Stiftungskapitals der Magnus-
Hirschfeld-Stiftung für absolut zu hoch. Dieses würde bei
einer nur fünfprozentigen Verzinsung des Stiftungskapi-
tals zu einem jährlichen Etat von weit mehr als einer Mil-
lion DM bis in die Ewigkeit führen.
Es kann nicht sein, dass hier über den Umweg einer
Stiftung das Jährlichkeitsprinzip des Haushaltsrechts aus-
gehöhlt wird und auf Dauer diese neue Aufgabe aus Steu-
ermitteln finanziert wird.
Dieses lehne ich ab.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform des Sanktionenrechts (Tagesordnungs-
punkt 4)
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Schwitzen statt Sitzen –
das ist ein zentrales Motto für die Reform des Sanktio-
nensystems. Aber warum, Herr Kollege Hartenbach, las-
sen Sie uns jetzt so kurz vor Ultimo sitzen und schwitzen?
Warum kommt der Gesetzentwurf erst jetzt, ganz am
Ende der Wahlperiode, in der vorletzten Sitzungswoche?
Die Veränderungen im Vergleich zum zwei Jahre alten
Referentenentwurf sind – ich kann mir nicht helfen – nicht
so riesig. Aber es drängt sich geradezu der Eindruck auf,
als wenn hier vor allem in Richtung Wahlkampf gepunk-
tet werden soll. Ansonsten hätten Sie uns, Ihren Kollegen
von der Opposition, die nötige Zeit gegeben, um eine so
wichtige Reform mit der notwendigen Gründlichkeit zu
beraten. Man könnte ja fast meinen, Sie haben Angst da-
vor, dass Ihnen die Reform zerredet wird. Oder meinen
Sie, auf Vorschläge, Hinweise, Kritiken von uns Kollegen
aus den anderen Parteien verzichten zu können?
Ich halte es grundsätzlich für richtig und wichtig, das
Sanktionensystem zu reformieren und „Reform“ nicht
einfach nur mit „Strafverschärfung“ gleichzusetzen. Ich
begrüße auch eine Reihe Ihrer Vorschläge, zum Beispiel
zur Aufwertung der gemeinnützen Arbeit, zur verbesser-
ten Opferentschädigung oder zur erleichterten „Verurtei-
lung von Strafvorbehalt“, auch wenn ich mir an der einen
oder anderen Stelle noch mehr Konsequenz wünsche. Ich
habe auch noch einigen Diskussionsbedarf beispielsweise
bei der Ausweitung des Fahrverbots auf weitere Delikts-
arten. Da Sie uns aber den Zeithahn zugedreht haben,
bleibt das nur ein frommer Wunsch von mir.
Eine wirkliche Reform des Sanktionensystems sollte
auch Anlass sein, noch einmal über grundsätzlichere Fra-
gen nachzudenken: Sollte sie nicht sowohl nach oben wie
nach unten weiter angelegt werden? Im System der Stra-
fen sollte auch über den Strafrahmen „lebenslänglich“
diskutiert werden. Die mögliche Entlassung wird als
festes Kalkül in das Bedingungsgefüge der Haftschick-
sale einbezogen, auch wenn sie mitunter in sehr weiter
Ferne liegt. Vor diesem Hintergrund erscheint die lebens-
lange Freiheitsstrafe jedoch praktisch als Freiheitsstrafe
von unbestimmter Dauer. Dieser Aspekt und das Verfas-
sungsgebot der Resozialisierung sollten Anlass sein,
dieses unpopuläre und unbequeme Thema bei der Re-
formdiskussion nicht außen vor zu lassen. Denn der Straf-
vollzug muss grundsätzlich auch eine Station auf dem
Weg zurück in die Gesellschaft sein. Ich erinnere nur an
den Satz des Bundesverfassungsgerichts: „Jeder Verur-
teilte hat einen Rechtsanspruch auf seine Resozialisie-
rung, für die Justizbehörden besteht eine Pflicht dazu.“
Zur Schaffung zeitgemäßer Sanktionsformen gehört
meines Erachtens auch das bei Ihnen unbeliebte Thema
der Entkriminalisierung im Bagatellbereich und im
Betäubungsmittelrecht. Trauen Sie sich auch an dieses
Thema heran! Namhafte Strafrechtler fordern seit Jahr
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24795
(C)
(D)
(A)
(B)
und Tag die Herausnahme der Bagatelldelikte aus dem
Strafgesetzbuch und ihre Eingliederung in das Ordnungs-
widrigkeitenrecht. Das könnten zum Beispiel geringfü-
gige Diebstähle im Konsumbereich oder auch das
Schwarzfahren sein. Hier brauchten wir noch klarere Al-
ternativen zur strafrechtlichen Konfliktbewältigung auch
und gerade im Interesse der konsequenten Verfolgung von
mittlerer und schwerer Kriminalität.
Der Gesetzentwurf berücksichtigt die Interessen der
Opfer besser, indem der Opferentschädigung Vorrang ein-
geräumt wird. Sehr richtig! Ich finde es auch gut, dass
10 Prozent jeder Geldstrafe einer anerkannten Einrichtung
der Opferhilfe zugute kommen soll. Aber was ist mit der
effektiven Verteilung? Hier brauchen wir eine klarstel-
lende Regelung, die Verteilungsgerechtigkeit schafft und
Rechenschaft der Opferhilfeeinrichtungen festschreibt.
Der Gesetzentwurf zeigt auch die Einsicht, dass die
Möglichkeiten, menschliches Verhalten durch die bislang
vorhandenen Sanktionen positiv zu beeinflussen, begrenzt
sind. Ja, sie werden häufig überschätzt. Alternativsanktio-
nen zwischen bzw. unterhalb von Geld- und Freiheitsstrafe
sind dort, wo sie angewendet werden können, häufig
wirkungsvoller. Ich denke nur an die gemeinnützige Ar-
beit. Rechtsfriedliche Konfliktregulierung und verstärkte
Orientierung auf die soziale Verantwortung des Täters
bringen einen konstruktiveren Ansatz in das Strafrecht.
Leider haben Sie uns, liebe Kollegen von der Koali-
tion, die Möglichkeit genommen, diese Diskussion auch
wirklich führen zu können. Ich fordere Sie deshalb auf
– wenn Sie es tatsächlich ernst meinen mit der Reform –,
Ihren mir durchaus sympathischen Entwurf jetzt zurück-
zuziehen und in der nächsten Wahlperiode dann ohne
Zeitdruck zu beraten. Eine Anhörung ist in diesem Fall
sinnvoll und notwendig.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Parlamentarische
Dimension und die Zukunft der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE) (Tagesordnungspunkt 8)
Heidi Lippmann (PDS): Die Kernaussagen des vor-
liegenden interfraktionellen Antrags gehen in die richtige
Richtung, doch sie gehen längst nicht weit genug. Dass
die OSZE inzwischen Strukturen im Bereich der zivilen
Krisenbearbeitung und der Demokratieentwicklung auf-
gebaut hat, ist schön und gut. Aber sie leidet darunter, dass
sie in eine untergeordnete Funktion gebracht wurde. Sie
wird je nach Bedarf von den Großmächten und/oder dem
militärisch geprägten Bündnis NATO instrumentalisiert
oder neutralisiert.
Beispiel: der OSZE-Medienbeauftragte. Als die NATO
im Luftkrieg gegen Jugoslawien dortige Rundfunk- und
Fernsehsender bombardierte und damit eindeutig gegen
Völkerrecht verstieß, äußerte der Medienbeauftragte nur
sehr lau Bedenken, und dies nicht nur, weil er den Krieg
befürwortete, sondern weil er sich offenkundig mit der
mächtigen NATO nicht anlegen wollte.
Beispiel: OSZE-Krisenmission im Kosovo zwischen
Oktober 1998 und März 1999. Dass die OSZE größte Mühe
hatte, ihr Kontingent an Verifikateuren aufzufüllen, war die
eine Seite. Die andere war, dass der OSZE auf merkwür-
dige Weise der merkwürdige Mr. Walker oktroyiert wurde,
der als Missionsleiter eine mehr als fragwürdige Rolle bei
der Eskalation der Gewalt spielte. Im Übrigen bleibt bis
heute der Verdacht, dass diese OSZE-Beobachter von
führenden NATO-Staaten missbraucht wurden, um den
anschließenden Luftkrieg vorzubereiten.
Bis heute ist die OSZE in der Rolle eines Subunter-
nehmers von KFOR, also der NATO, dort geblieben. Un-
sere Meinung: So kann und darf man mit der OSZE nicht
umgehen. Sie muss endlich eine eigenständigere und ge-
wichtigere Rolle spielen. Solange dies nicht der Fall ist,
bleiben Ihre schönen Aufgabenbestimmungen am Ende
des Antrags weitgehend Papier. Wir sind dafür, dass „die
zivile Komponente in der Sicherheitspolitik weiter ver-
stärkt wird“, wie Sie in Ihrem Antrag formulieren. So-
lange die Weichen in Richtung Rüstungsmodernisierung
und Ausbau militärischer Interventionsfähigkeit gestellt
sind, bleibt diese Forderung Makulatur.
Wir sind auch dafür, dass die wirtschaftliche, soziale,
ökologische und menschenrechtliche Dimension in eine
umfassende Friedens- und Sicherheitspolitik integriert
wird. Doch gerade dafür stehen der OSZE nahezu keine
Instrumente zur Verfügung. Wenn das gewollt wird, dann
müssen dafür schleunigst konkrete Konzepte auf den
Tisch. Auch hier reichen Lippenbekenntnisse nicht.
Der Appell, der angesichts der OSZE-Jahrestagung
von Berlin ausgehen sollte, lautet: OSZE first! Dabei darf
es nicht nur um eine „bessere Vermittlung der Aufgaben
und Aktivitäten der OSZE gegenüber der Öffentlichkeit“,
wie es im Antrag heißt, gehen, sondern um ihre wirkliche
Aufwertung, so zum Beispiel indem die jetzt im Rahmen
der EU im Aufbau befindlichen Instrumente der Krisen-
frühwarnung und der zivilen Streitbeilegung in den Hand-
lungsrahmen der OSZE gebracht werden, beispielsweise
indem neue Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskon-
trolle entwickelt werden.
Mit diesen Forderungen ginge von dem Antrag tatsäch-
lich eine Signalwirkung aus. So wohnt ihm leider ledig-
lich ein Verlautbarkeitscharakter inne. Die PDS-Fraktion
wird sich deswegen enthalten.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Sperrzeiten für Gaststätten und Bier-
gärten kundenfreundlicher gestalten (Tagesord-
nungspunkt 9)
Rosel Neuhäuser (PDS): Stellen Sie sich vor,
Deutschland wird am Sonntag Fußballweltmeister und
keiner darf in den Freiluftgaststätten fernsehen und
feiern! Welch ein Glück für die Fußballfans, dass es zu
mitteleuropäischer Sommerzeit stattfindet! Aber selbst
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224796
(C)
(D)
(A)
(B)
die stärksten Kritiker der Öffnungszeiten der Außengas-
tronomie würden hier zum Samariter werden.
Allerdings gibt es auch Menschen, die für derartige
Freizeitvergnügen nichts übrig haben, jedenfalls dann
nicht, wenn sie in unmittelbarer Umgebung ihrer Woh-
nung stattfinden. Dort wollen sie auch in lauen Som-
mernächten ihre Ruhe oder ihren ungestörten Schlaf ha-
ben. Wer früh einschlafen will, weil er am nächsten
Morgen früh aufstehen muss, möchte nicht gestört werden
und verlangt ein frühes Ende der Außengastromomie.
Gastronomen wiederum, die deshalb früh schließen müs-
sen, beklagen Wettbewerbsverzerrungen, weil anderen
Gastronomen in günstigeren Lagen längere Öffnungszei-
ten zugestanden werden. Diese unterschiedlichen Interes-
sen sind schwer unter einen Hut zu bringen, wie die
zurückliegenden Diskussionen gezeigt haben.
Aber zu einer belebenden Innenstadt gehört eben auch
eine belebende Gaststättenstruktur. Dies verlangt von
Bund, Ländern und Kommunen eine entsprechende Ge-
staltung der Rahmenbedingungen für die Außengastrono-
mie. Darüber haben wir vor ungefähr einem Jahr bei der
Einbringung des Antrages ausführlich diskutiert. Wir haben
über alle Fraktionen hinweg festgestellt, dass sich der Be-
such in Freiluftgaststätten infolge gewandelten Konsum-
verhaltens – Öffnungszeiten bis 20.00 Uhr –, veränderter
Freizeitgewohnheiten und eines anderen Ausgehverhaltens
in den letzten Jahren mehr und mehr verändert hat.
Einmütigkeit bestand auch darin, möglichst schnell auf
Bundesebene verträgliche Lösungen auf den Weg zu
bringen, ohne dabei Landes- bzw. Kommunalkompeten-
zen zu unterlaufen. Auf Bundesebene ist deshalb vorder-
gründig zu prüfen, inwiefern das Bundes-Immissionsge-
setz einer Novellierung unterzogen werden kann, damit
„menschlicher Kommunikationslärm“ nicht wie techni-
scher Lärm behandelt wird – damit man nicht sagen kann:
Lachen und Sägen verboten.
Ich halte es lieber ganz im Sinne von § 1 der Straßen-
verkehrsordnung. Was zählt, ist die gegenseitige Rück-
sichtnahme. Geltendes Recht und dazu ergangene Recht-
sprechung ermöglichen eine den Interessen bzw.
Bedürfnissen aller Beteiligten angemessene Entschei-
dung in bestimmten Toleranzbereichen.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung
(Tagesordnungspunkt 34 b)
Margot von Renesse (SPD): Zum Gedächtnis an
Magnus Hirschfeld, der als Jude, Homosexueller und So-
zialdemokrat der dreifach tödlichen Feindschaft der Na-
zis zum Opfer gefallen ist, soll heute eine Stiftung mit sei-
nem Namen errichtet werden. Sie dient zugleich dem
Gedächtnis an alle, die während der Nazidiktatur verfolgt
und ermordet wurden und die auch danach noch, im Osten
und im Westen, gesellschaftliche und rechtliche Ausgren-
zung erfahren mussten. Sie soll schließlich dazu beitra-
gen, dass in Gegenwart und Zukunft jeder Mensch ohne
Angst anders sein kann und Anderssein auch nicht Angst
erzeugt.
Ein solches Projekt müsste vom Bundestag einstimmig
verabschiedet werden, verwirklicht es doch den einstim-
migen Beschluss dieses Hauses, der eine kollektive Wie-
dergutmachung durch Gedächtnisarbeit und konkrete Un-
terstützung beispielhafter Aktivitäten für Toleranz und
Akzeptanz forderte. Dass wir diese Einstimmigkeit jetzt
nicht mehr erreichen, ist zum Teil – ich räume dies
freimütig ein – die Folge von Missverständnissen und
Fehleinschätzungen auf unserer Seite, aber auch von
Kleinlichkeit, Mangel an Sachlichkeit und Unterstellun-
gen bei der Opposition.
Die Ziele der Stiftung konnten wir noch gemeinsam
formulieren, sodass an ihnen wohl nichts auszusetzen ist.
An ihnen – und nur an ihnen – ist die Zusammensetzung
des Kuratoriums zu messen. Mit den im Gesetzentwurf
vorgesehenen 22 Mitgliedern, von denen die Hälfte aus
Regierung und Parlament kommen soll, dürfte die maxi-
male Größe für das Lenkungsgremium der finanziell nicht
gerade üppig ausgestatteten Stiftung erreicht sein. Für die
Verbände gleichgeschlechtlicher Menschen bleiben damit
elf Sitze, mit denen man unmöglich, wie von Ihnen ge-
fordert, „die gesamte Breite des homosexuellen Vereins-
wesens“ repräsentieren kann. Es gibt nämlich bei genauer
Betrachtung dafür eine zu große Zahl von Vereinen, die
homosexuellen Männern und Frauen gemeinsame Akti-
vitäten anbieten.
Da also Auswahl sein musste, hatte sich diese an den
Zielen der Stiftung zu orientieren. Liegen sachliche
Gründe vor, so kann weder von Begünstigung noch von
Benachteiligung die Rede sein. Wer dann gleichwohl sol-
ches unterstellt, handelt blind vor Ablehnung oder als
schierer Lobbyist.
Wir haben für unsere Auswahl sachliche Gründe, näm-
lich die folgenden: Als Stiftung auf Bundesebene sollen
dem Kuratorium nur bundesweit organisierte Verbände
angehören, weil es nicht Platz gibt für bis zu 16 nur in ein-
zelnen Bundesländern aktive Organisationen. Die Akti-
vität der infrage kommenden Verbände muss außerdem
möglichst allen Aspekten homosexueller Existenz gewid-
met sein. Denn werden Akzente auf einzelne Schwer-
punkte gelegt, so bleiben zwangsläufig andere Bereiche,
die ebenfalls von Bedeutung sind, unterrepräsentiert.
Schließlich ist der Gefahr zu begegnen, dass die Interes-
sen, Sichtweisen und Erfahrungen von Frauen zu wenig
berücksichtigt werden, da sie weniger als Männer dazu
tendieren, sich in Verbänden zu organisieren.
An diese Vorgaben haben wir uns gehalten, allerdings
mit einer Ausnahme: Wir haben den Völklinger Kreis, der
sich selber als „Gay Manager“ bezeichnet, und die Ge-
werkschaft ver.di mit je einem Sitz im Kuratorium verse-
hen, obgleich in beiden Organisationen homosexuelles
Leben nicht in der ganzen Breite, sondern vorwiegend in
Bezug auf die Arbeitswelt Thema ist. Das schien uns
deshalb vertretbar, weil aus beiden Verbänden in der
Vergangenheit erhebliche Impulse gekommen sind, ge-
sellschaftliche Diskriminierung von homosexuellen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24797
(C)
(D)
(A)
(B)
Menschen zu beseitigen. Was die Gewerkschaft angeht,
so gehen wir davon aus, dass sie Mitglieder aus ihrem en-
gagierten Arbeitskreis gleichgeschlechtlicher Arbeitneh-
mer entsendet.
Grundsätzlich haben die im Kuratorium vertretenen
Organisationen je eine Stimme. In zwei Fällen haben wir
davon Ausnahmen gemacht, um uns dem Ziel einer nicht
allzu geringen Repräsentanz von Frauen anzunähern. Die
Verbände nämlich, die eine nicht nur mikroskopisch kleine
Anzahl weiblicher Mitglieder aufweisen, haben je zwei
Sitze. Bei diesen Verbänden lässt sich gesetzlich bestim-
men, dass sie sich durch einen Mann und eine Frau ver-
treten lassen. Sonst wäre es hoch wahrscheinlich, dass
sich im Kuratorium nur ein einziges weibliches Mitglied
befindet, nämlich die Vertreterin des Lesbenringes.
Dagegen richtet sich der wütende Protest der Opposi-
tion. Man ruft „Begünstigung!“, weil der Kollege Beck
Mitglied eines dieser Verbände ist. Stellt die Mitglied-
schaft des Kollegen Beck im LSVD in Ihren Augen denn
wirklich einen zureichenden Grund dar, um sachliche
Gründe für die von uns gewählte Regelung auszuhebeln?
Nun, wir waren im Berichterstattergespräch insoweit so-
gar entgegen unserer Überzeugung zum Einlenken bereit.
Eine Einigung schien möglich. Sie scheiterte nur daran,
dass Herr Dr. Gehb ohne jeden sachlichen Grund auf ei-
nen Sitz im Kuratorium für einen Landesverband bestand,
nämlich für das Schwule Netzwerk NRW. Wie kann je-
mand, der so offensichtlich Lobbytum für eine Gruppe be-
treibt, es auch nur wagen, anderen Lobbyismus vorzu-
werfen.
Frau Schenk fordert neuerdings zwei Sitze für den
Lesbenring. Dies hatte sie im Berichterstattergespräch
nicht getan. Sie hat mir erklärt, es gehe ihr weniger um
eine angemessene Anzahl von Frauen im Kuratorium als
vielmehr darum, dass dort die in ihren Augen „richtige
Politik“ vertreten werde. Darunter versteht sie die Besei-
tigung des Art. 6 aus der Verfassung. Abgesehen davon,
dass ich persönlich von diesem Ziel nichts, aber auch gar
nichts halte, kann es nicht Sache des Gesetzgebers sein,
bestimmte Lieblingsideen einzelner Abgeordneter zu för-
dern, seien sie nun gescheit oder abwegig. Es ist Sache der
Verbände und ihrer Vertreter selbst, ihre Sichtweisen zu
formulieren. Darum sind wir daran interessiert, die An-
wesenheit möglichst vieler Frauen im Kuratorium sicher-
zustellen.
Ernsthaft nachgedacht haben wir über das Anliegen des
Jugendverbandes Lambda, im Kuratorium vertreten zu
sein. Dessen Argumente in der Anhörung waren beden-
kenswert. Wir sind dennoch im Ergebnis dabei geblieben,
bis auf den Völklinger Kreis und die Gewerkschaft ver.di
keine weiteren Verbände mit speziellen Zielsetzungen
aufzunehmen, weil wir sonst nicht hätten rechtfertigen
können, warum nicht auch andere Gruppierungen mit an-
deren Interessen im Kuratorium vertreten sein sollen.
Dem berechtigten Anliegen, dass gerade Jugendarbeit im
Kuratorium durch Personen repräsentiert ist, die diese Ar-
beit aus eigener Erfahrung kennen, sollte jedoch durch die
Auswahl der Vertreter des Jugendministeriums Rechnung
getragen werden.
Die Opposition hätte gerne in der Satzung eine Klausel
gesehen, die den Ausschluss eines Verbandes mit einem
Quorum der Mitglieder ermöglicht. Wir halten dies für
kontraproduktiv. Gibt es Konflikte mit einem Verband, so
wird man schon deshalb von einem Ausschluss durch Ku-
ratoriumsbeschluss absehen müssen, weil solche Be-
schlüsse gerade dann extrem untunlich sind. Wir möchten
zudem auch nicht den Eindruck erwecken, als bestünde
schon bei Errichtung der Stiftung der Verdacht, die Ko-
operation mit homosexuellen Menschen werde zu unlös-
baren Konflikten führen.
Bei der Entstehung des Gesetzentwurfs hätte manches
auf unserer Seite möglicherweise klüger hantiert werden
können. Ich selber habe zum Beispiel nicht verstanden
– und ich begreife es auch jetzt nur mühsam –, warum es
Ihnen so wichtig war, dass die Regierung und nicht die
Regierungskoalition das Gesetz vorlegt. Ich hätte mit
Herrn Dr. Gehb mehr Kontakt halten müssen, um Ihre An-
liegen besser zu verstehen. Mir ging und geht es darum,
mit der Person des ermordeten Dr. Magnus Hirschfeld
stellvertretend für viele Opfer einen Menschen angemes-
sen zu ehren, dem furchtbares Unrecht angetan wurde.
Angemessene Ehrung bedeutet in diesem Falle – und da
weiß ich mich trotz allem auch mit der Opposition einig –,
dass in unserer Gesellschaft die Würde aller Menschen,
auch der homosexuellen, geachtet wird.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Gern hätte ich heute
eine andere Rede gehalten. Ich bedaure dies sehr, denn ich
empfinde persönliches Wohlwollen dem Anliegen gegen-
über. Auch die Bereitschaft meiner Fraktion war gegeben,
eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg zu bringen.
Schließlich haben wir als Christdemokraten den einstim-
migen Beschluss vom 7. Dezember 2000 aktiv mit her-
beigeführt, der als Ausgangspunkt für eine mögliche Stif-
tung anzusehen ist. Dieser einstimmige Beschluss ist ein
kostbares Kapital. Entsprechend hätte damit umgegangen
werden müssen. Bedauerlicherweise ist insbesondere
Herr Beck mit diesem Kapital nicht mit der Verantwor-
tung umgegangen, wie es um der Sache willen angezeigt
gewesen wäre. Die historische Zunft mag in späteren Zei-
ten beurteilen, welche Chance die Koalition damit ver-
spielt hat.
Um jeglicher Geschichtsklitterung von Anfang an ent-
gegenzuwirken, will ich noch einmal von dieser Stelle aus
klar aussprechen, was streitig und was unstreitig ist. Un-
streitig ist die Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stif-
tung als Form der kollektiven Entschädigung für die Ver-
folgung homosexueller Männer und Frauen während der
NS-Zeit. Die Stiftung soll selbstverständlich Initiativen
unterstützen, die die historische Aufarbeitung der natio-
nalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und des
späteren Umgangs mit ihren Opfern zum Gegenstand ha-
ben, und damit auch Punkt III der Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/4894 mit Leben erfüllen: Damit ist der
Ausgangspunkt für diese Stiftung klar und selbstver-
ständlich auch die damit verbundene Verantwortung aller
Beteiligten gegenüber den Opfern und dem Namensgeber
Magnus Hirschfeld. Es reicht aber nicht aus – auch wenn
sich viele Lesben und Schwule eventuell dazu verleiten
lassen und dies dem einen oder anderen Politiker und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224798
(C)
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Verbandsvertreter auch nicht unlieb wäre –, sich nur
mit Überschriften zu beschäftigen. Es reicht nicht aus,
einfach nur Beifall zu klatschen, dass eine Magnus-
Hirschfeld-Stiftung errichtet werden soll. So unstreitig
die Stiftung als solche ist, so streitig sind die Details. Und
dieser Streit ist wichtig und legitim, denn es kann nicht
sein, dass unter dem Deckmantel einer ehrenwerten Stif-
tung ungebührliche Eigeninteressen überhand gewinnen.
Völlig zu Recht wurde vom Sachverständigen Maas in
der Öffentlichen Anhörung angemahnt: „Es darf auch
nicht der Hauch des Eindrucks entstehen, dass hier ein-
zelne Verbandsinteressen über den ideellen Zweck des
Stiftungsanliegens gestellt werden.“ Heute lautet mein
bitteres Resümee: Von Hauch kann keine Rede mehr sein.
Selbstbedienung ist nur mühsam verschleiert. Uns liegt
mit diesem Gesetzentwurf eine „Lex Beck“ vor – und die
Sozialdemokraten haben es durchgehen lassen.
Was ist passiert? Wir hatten einstimmig in diesem Haus
die Bundesregierung beauftragt, einen Gesetzentwurf
vorzulegen. Stattdessen wird nach 18 Monaten von den
Koalitionsfraktionen ein Gesetzentwurf vorgelegt, um in-
nerhalb einer Woche durch das Parlament gepeitscht zu
werden, wie der ursprüngliche Zeitplan es vorsah. Also
geradezu klammheimlich – und inzwischen glaube ich,
dies war auch so gewollt. Denn eine breite öffentliche
Diskussion über Sinn, Zweck und Ausgestaltung der Stif-
tung, die auch für unsere parlamentarischen Beratungen
hätte von Nutzen sein können, ist faktisch wenige Wochen
vor dem Ende dieser Wahlperiode und innerhalb dieser
kurzen parlamentarischen Beratungszeit nicht mehr mög-
lich, wie äußerst kritisch dies auch der Sachverständige
Norporth in seiner Stellungnahme anmerkte. Dies war of-
fensichtlich aber auch nicht gewollt. Die Öffentlichkeit
wurde bei diesem Projekt von Herrn Beck offenbar ge-
scheut wie das Weihwasser vom Teufel. Hierzu passt auch
das Ansinnen, nach der ersten Lesung ebenfalls die heu-
tige zweite und dritte Lesung ohne Debatte stattfinden zu
lassen. Absurd ist die Vorstellung, ein solch wichtiges
Projekt im Kontext der Wiedergutmachung ohne jegliche
Parlamentsdebatte zu begleiten. Inzwischen ist aber auch
offenbar geworden, warum die Öffentlichkeit so sehr ge-
scheut wird, denn im Frühjahr gab es einen ordentlichen
und diskussionswürdigen Entwurf aus dem Bundesfi-
nanzministerium zur Errichtung der Stiftung. Der hatte
nur einen Nachteil. Er lief den Interessen des Abgeordne-
ten Beck zuwider. Also wurde der Entwurf auf die eige-
nen Belange hin zugeschnitten, um nicht zu sagen frisiert.
Welcher Schaden für das Ansehen einer möglichen
Stiftung, die den Namen Magnus Hirschfeld tragen solle,
durch diese „Lex Beck“ entsteht, ist mehr als offenbar.
Dabei war ursprünglich die Bereitschaft da, in einem
fairen Gespräch unter allen Berichterstattern zu einem
vertretbaren, gemeinsam Ergebnis zu kommen. Die
Chance wurde vertan. Als Chance begriff ich auch die von
uns beantragte öffentliche Anhörung. Dies sah die Koali-
tion offensichtlich anders, denn erstmals wurden für eine
Anhörung überhaupt keine Sachverständigen von der Ko-
alition benannt. Die Botschaft an uns, aber auch an die Öf-
fentlichkeit, sollte wohl lauten: Wir haben es nicht nötig.
Schade. Ich jedenfalls habe gelernt, welch große Band-
breite es an schwulem und lesbischem Leben in unserm
Land gibt, und dass nicht ein einziger Verband den An-
spruch erheben kann, für die Gesamtheit der Schwulen
und Lesben zu sprechen. Mir war das vorher nicht so be-
wusst. Es gab auch noch weitere neue und diskussions-
würdige Vorschläge.
Ich hatte jedenfalls erwartet – und aus den anderen
Fraktionen vernahm ich auch diese Signale –, dass die
Koalition die Berichterstatter nach der Anhörung noch
einmal zu einem interfraktionellen Gespräch bittet. Eine
Diskussion unter den Berichterstattern war aber offen-
sichtlich unerwünscht. Es war alles längst entschieden.
Die Koalition hat sich entschieden, grünes Licht für eine
„Lex Beck“ zu erteilen. Die einmütige Kritik in der An-
hörung, dass sich die Bandbreite lesbisch-schwulen Le-
bens im Kuratorium überhaupt nicht widerspiegele, und
selbstverständlich die Gleichrangigkeit der Verbände aus
Prinzip gewährleistet sein müsse, wurde überhaupt nicht
zur Kenntnis genommen und geradezu vorsätzlich miss-
achtet. Stattdessen sind sachlich überhaupt nicht zu recht-
fertigende Privilegierungen für gewisse Verbände un-
übersehbar und bewusst von Herrn Beck gewollt. Man
mag hierzu nur die Stellungnahmen der Sachverständigen
nachlesen. Völlig zu Recht hat sich auch der Sachver-
ständige Dose dafür ausgesprochen, eine moderate und
mit einem hohen Quorum bewehrte Zu- und Abwahlbe-
stimmung für die im Kuratorium vertretenen Organisatio-
nen in das Gesetz aufzunehmen. Auch dieser Wunsch
wurde geflissentlich missachtet. Auf die rechtsförmlichen
und verfassungsrechtlichen Bedenken meiner Fraktion
will ich im Einzelnen nicht mehr eingehen. Sie sind dem
Bericht des Rechtsausschusses zu entnehmen.
Es bleibt als traurige Quintessenz dieses ersten An-
laufs, eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung zu errichten, nur
festzuhalten: Der ursprünglich über die Fraktionsgrenzen
hinweg geltenden Vereinbarung, für die kollektive Ent-
schädigung homosexueller Opfer eine würdige Form zu
finden, wurde durch die Art und Weise, wie die Koalition
das Gesetzgebungsverfahren betrieb, ein Bärendienst er-
wiesen. Wir können als Christdemokraten dem vorliegen-
den Gesetzentwurf, dieser „Lex Beck“, nicht zustimmen.
Sollte das Gesetzgebungsverfahren bis zum Ende der Le-
gislaturperiode nicht abgeschlossen sein und damit der
Diskontinuität verfallen, besteht die Chance, in einem
neuen Anlauf eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den
Weg zu bringen, die in einer breiten Öffentlichkeit Ak-
zeptanz und Anerkennung finden wird.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Einige Worte zum historischen Hintergrund: Am 6. Mai
1933 wurde das von Magnus Hirschfeld gegründete Insti-
tut für Sexualwissenschaften von NS-Studenten verwüs-
tet und geplündert. Es war der Auftakt zur so genannten
„Aktion wider den undeutschen Geist“. Aus dem Institut
geraubtes Inventar wurde am 10. Mai 1933 bei der
Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz ins
Feuer geworfen.
Dieses Institut war nicht nur Forschungsstätte und Be-
ratungsstelle. Dort hatte auch die homosexuelle Bürger-
rechtsarbeit eine wichtige Basis. Daneben existierten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24799
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zahlreiche weitere Vereinigungen. Diese Verbände und
Vereine von homosexuellen Männern und Frauen wurden
von den Nazis verboten oder zur Selbstauflösung ge-
zwungen. Zeitschriften mussten ihr Erscheinen einstellen.
Die Zerschlagung der homosexuellen Bürgerrechts-
bewegung, der schwulen und lesbischen Infrastruktur er-
folgte so gründlich, dass sie sich weit über das Kriegsende
hinaus zum Nachteil der Schwulen und Lesben auswirkte.
Anders als bei anderen Opfergruppen hat es hierfür für die
Homosexuellen bislang keinen kollektiven Ausgleich ge-
geben. Dem dient nun die Stiftung. Sie soll die Erinnerung
wach halten aber ebenso gegenwarts- und zukunftsbezo-
gen arbeiten.
In das Kuratorium berufen wird ein breites Spektrum
bundesweiter oder internationaler Organisationen. Ein
Problem war dabei zu bedenken: In der deutschen Ver-
bändelandschaft gibt es weit mehr Vereinigungen schwu-
ler Männer als Organisationen lesbischer Frauen. Um eine
Mindestrepräsentanz von Frauen abzusichern, erhalten
gemischtgeschlechtliche Verbände, die über einen rele-
vanten Frauenanteil in der Mitgliedschaft verfügen, zwei
Sitze mit der verbindlichen Maßgabe, davon mindestens
einen mit einer Frau zu besetzen.
Die Koalition hat das Gespräch mit allen Fraktionen
gesucht, um einen Konsens beim Stiftungsgesetz zu errei-
chen. Wir sind der Opposition weit entgegengekommen.
Wir haben Anliegen der FDP wie der PDS aufgegriffen
und waren – unter Zurückstellung fachlicher Bedenken –
auch bereit, Vorschläge der CDU/CSU aufzunehmen, um
zu einer Einigung zu kommen.
Die Union war zum Konsens nicht bereit. In den Ver-
handlungen hatten Sie von der Union verlangt, Verbände
wie die Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche und die
ILGAaus dem Kuratorium zu entfernen. Selbst die Betei-
ligung des Bundesverbandes der Eltern, Freunde und An-
gehörigen von Homosexuellen haben Sie infrage gestellt.
So hat die Union eine Verständigung verhindert. Jetzt kri-
tisiert die CDU/CSU die Zusammensetzung des Kurato-
riums. Diese Kritik erscheint mir vorgeschoben. Schließ-
lich hätten Sie die Gelegenheit gehabt, mit einem
Änderungsantrag im Rechtsausschuss einen eigenen Vor-
schlag vorzulegen. Das haben Sie nicht getan.
Noch verräterischer ist Ihr Verhalten im Haushaltsaus-
schuss. Dort hat die CDU/CSU laut Ausschussbericht da-
gegen gestimmt, weil sie die Stiftung nicht mit der Haus-
haltslage des Bundes vereinbar hält. Im Klartext heißt das
doch: Die Union will die Stiftung gar nicht. Ich habe den
Eindruck, Sie wollen sich aus dem Konsens vom Dezem-
ber 2000 stehlen. Um das zu bemänteln, bauen Sie eine
wüste Vorwurfskulisse auf. Sie spielen wieder einmal po-
litisches Theater. Ihre Vorwürfe verraten vielleicht einiges
über Ihre Gedankenwelt, in der Sache treffen sie nicht zu.
Es sind Projektionen.
Um es klar zu sagen: Das Stiftungskapital ist kein Jack-
pot. Das Kuratorium ist keine Gewinnausschüttungsge-
meinschaft. Bei der Besetzung des Kuratoriums geht es
nicht darum, Zuwendungen an die dort vertretenen Ver-
bände zu leisten, sondern darum, deren Sachverstand für
die Erfüllung der Stiftungszwecke zu nutzen.
Lassen Sie mich noch eines betonen: Es wäre keines-
wegs im Sinne der Sache, dass die Stiftung nun die För-
derung schwuler und lesbischer Projekte durch Bund,
Länder oder Gemeinden ersetzen soll. Die Stiftung soll im
Bereich schwul-lesbischer Erinnerungs- sowie Emanzi-
pations-, Bürger- und Menschenrechtsarbeit ergänzend
tätig werden.
Hier gibt es noch viel zu tun. Mit der Hirschfeld-Stif-
tung wird ein großer Schritt nach vorne getan.
Jörg van Essen (FDP): Die FDP begrüßt ausdrück-
lich, dass es endlich gelingt, eine Magnus-Hirschfeld-
Stiftung zu errichten. Wir können damit den Beschluss
des Bundestages vom 7. Dezember 2000 umsetzen. Die
Stiftung soll dem kollektiven Ausgleich dienen und die
Lücken bei Entschädigungsleistungen für homosexuelle
NS-Opfer schließen. Dem wird auch der Stiftungszweck
gerecht. Ich bin froh, dass wir uns bei dessen Formulie-
rung interfraktionell einigen konnten. Eine fraktionsüber-
greifende Einigung über das gesamte Gesetz lag bereits in
greifbarer Nähe. Es wäre ein wichtiges Signal gewesen,
wenn sich der ganze Bundestag zu dieser Form des kol-
lektiven Ausgleichs bekannt hätte. Ich bedaure daher sehr,
das Rot-Grün diese Einigung verhindert hat.
Eine Einigung über die Kuratoriumsbesetzung war
nicht möglich. Insbesondere Bündnis 90/Die Grünen be-
harrten auf der Forderung, dass dem LSVD und der ILGA
als einzigen Verbänden je zwei Kuratoriumsmitglieder zu-
stehen, während alle anderen Verbände nur je einen Ver-
treter entsenden dürfen. Der FDP war wichtig; dass alle
Verbände gleichberechtigt im Kuratorium vertreten sind.
Rot-Grün sieht dies anders. Besonders ärgerlich ist, dass
das schwul-lesbische Jugendnetzwerk Lambda bei der Ku-
ratoriumsbesetzung völlig unberücksichtigt geblieben ist.
Die Besetzung des Kuratoriums zeigt, dass es Rot-Grün
nicht um die Stiftung geht, sondern nur um die rücksichts-
lose Durchsetzung von Verbandsinteressen. Es geht nicht
in erster Linie um die historische Aufarbeitung von natio-
nalsozialistischem Unrecht und um die Durchsetzung des
Stiftungszwecks; es geht vielmehr um die Befriedigung
der eigenen Klientel. Es drängt sich der Eindruck auf, dass
Kollegen nicht in der Lage sind, ihr politisches Mandat
von ihrer Verbandsfunktion zu trennen.
Obwohl wir die Stiftung als solche sehr begrüßen, war
auf dieser Grundlage der Gesetzentwurf für die FDP nicht
zustimmungsfähig. In der Abstimmung im Bundestag
wird sich die FDP deshalb der Stimme enthalten.
Christina Schenk (PDS): Die PDS-Fraktion begrüßt
die Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung als
Form der kollektiven Rehabilitierung und Entschädigung
der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Damit
wird dem einstimmigen Beschluss des Bundestages vom
Dezember 2000 entsprochen.
Wir sagen aber auch ganz klar: Es ist ein Skandal, dass
sich die Bundesregierung noch immer weigert, endlich
die wenigen noch lebenden Opfer der Homosexuellen-
verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus individu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224800
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ell zu entschädigen. Sie setzten auf Zeit – ein beschämen-
des Kalkül.
Die Hauptaufgabe der Stiftung wird es sein, die Diffa-
mierung, Verfolgung und Vernichtung homosexueller
Männer und Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus
wissenschaftlich zu erforschen. Was die Aufarbeitung die-
ses Kapitels deutscher Geschichte angeht, besteht noch
immer ein erhebliches Defizit hinsichtlich der Quellensi-
cherung, der Forschung und der Erinnerung. Das betrifft
insbesondere auch das Schicksal lesbischer Frauen.
Wir bewerten es als positiv, dass im Ergebnis der Be-
ratungen im Rechtsausschuss die im Stiftungszweck vor-
gesehene Bürger- und Menschenrechtsarbeit um die
Emanzipationsarbeit, das heißt die Förderung von Projek-
ten, die dazu beitragen sollen, den Gründen gesellschaft-
licher Ab- und Ausgrenzungen so genanner Minderheiten
auf den Grund zu gehen und die Ursachen hierfür abzu-
bauen, erweitert wurde.
In den Beratungen ist die Zusammensetzung des Kura-
toriums und die Stimmverteilung zwischen den darin ver-
tretenen Verbänden auf massive Kritik gestoßen. Diese
wurde auch in der Anhörung von ausnahmslos allen Ex-
perten vorgebracht. Die vorgeschlagene Zusammenset-
zung wird dem Hauptzweck der Stiftung, die Aufarbei-
tung der Homosexuellenverfolgung in der Zeit des
Nationalsozialismus sowie die Gedenk- und Erinnerungs-
arbeit zu fördern, nicht gerecht. Lediglich zwei der neun
Verbände arbeiten explizit historisch. Zugleich spiegelt
die Zusammensetzung – auch das ist in der Anhörung sehr
deutlich geworden – nicht die tatsächliche Vielfalt des les-
bisch-schwulen Spektrums wider. Zudem ist die Vertre-
tung lesbischer Interessen völlig unterrepräsentiert. Die
überproportionale Präsenz des Teils des politischen Spek-
trums, der durch den LSVD und die ihm nahe stehenden
Organisationen repräsentiert wird, begründet den Ver-
dacht, dass die Stiftung dem überproportionalen Einfluss
eben dieser politischen Richtung ausgesetzt sein wird.
Diese Befürchtung wird noch dadurch erhärtet, dass
der LSVD und die ILGA im Kuratorium zwei und nicht
wie alle anderen eine Stimme erhalten. Damit wird eine
Ungleichrangigkeit der Verbände erzeugt, die nicht mit
dem Stiftungszweck, sondern lediglich machtpolitisch
begründbar ist. Volker Beck von den Grünen ist der Vor-
wurf zu machen, die Stiftung mit der Makel der ver-
bandseigenen Vorteilsnahme belastet zu haben. Wer die
Stiftung für seine verbands- und machtpolitische Interes-
sen funktionalisiert, lässt es an Achtung vor den homose-
xuellen Opfer des Nationalsozialismus fehlen. Er
schmälert ihre Akzeptanz innerhalb der lesbisch-schwu-
len Communitiy. Beides ist für die Arbeit der Stiftung
kontraproduktiv.
Der Missstand der politischen Unausgewogenheit und
der Eindruck, dass Verbandsinteressen über den Stif-
tungszweck gestellt werden, ist im Ergebnis der Beratun-
gen im Rechtsausschuss nicht beseitigt, sondern eher
noch verstärkt worden. Die fehlende Bereitschaft der Ko-
alitionsfraktionen, insbesondere der Grünen, zu konsens-
fähigen Änderungen verhindert die mögliche, einmütige
Zustimmung des Bundestages zu diesem Gesetzentwurf.
Das bedauern wir sehr.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Großen Anfragen:
– Wirtschaftspolitische Auswirkungen der EU-
Osterweiterung
– Vorbereitung der Grenzregionen auf die Ost-
erweiterung der EU
(Tagesordnungspunkt 13)
Christian Müller (Zittau) (SPD): Die Osterweiterung
der Europäischen Union ist ein länger andauernder Pro-
zess. Er begann mit der Assoziierung der MOE-Länder,
wird mit dem zu erwartenden Beitritt einen vorläufigen
Höhepunkt erreichen und reicht darüber hinaus in die Zu-
kunft. Am Ende dieses Prozesses dürften die gesamtwirt-
schaftlichen Vorteile die auch eintretenden ökonomischen
Nachteile überwiegen. Dieser Prozess muss so gestaltet
werden, dass die potenziellen gesamtwirtschaftlichen
Vorteile tatsächlich eintreten.
Mit den Antworten der Bundesregierung zu zwei
Großen Anfragen und der von ihr selbst in Auftrag gege-
benen Studie „Preparity“ liegen sowohl eine umfassende
Analyse als auch Handlungsempfehlungen für Wirtschaft
und Politik vor.
Lassen Sie mich kurz auf einige wenige Aspekte ein-
gehen. Der erste soll am Beispiel der „Euroregion Neiße“
die regionale Bedeutung der Osterweiterung aufgreifen.
Die im Mai 1991 gegründete trinationale „Euroregion
Neiße“ im Dreiländereck Polens, Deutschlands und
Tschechiens hat gemeinsame historische Bezüge und
Wurzeln. Das heutige Dreiländereck war früher der Kern
eines prosperierenden Wirtschaftsraumes. In der Ge-
schichte der Region führte das Abschneiden traditioneller
Verbindungen mehrfach zu Stagnation und wirtschaftli-
chem Niedergang, nach 1945 in eine weitgehende Isola-
tion der Teilgebiete. Seit 1990 durchschneidet eine EU-
Außengrenze das Dreiländereck. Es wird derzeit in seiner
wirtschaftlichen Entwicklungen eher behindert als inte-
griert, auch wegen einer starken Asymmetrie in Rahmen-
bedingungen und Förderung beiderseits der EU-Grenze.
Seit Gründung der Euroregion geht es darum, sich
„von unten her“, also in den Kommunen und Regionen,
als Interessenvertretung des gesamten Grenzgebiets zu or-
ganisieren. Dazu gehört, „von oben her“ nationalstaatli-
che Absprachen im planerischen und wirtschaftlichen Be-
reich zu treffen. Ein umfassendes Strukturkonzept wird
erarbeitet, in das lokale und regionale Initiativen einge-
passt werden können. Vielfältige Aktivitäten stehen für
diesen Prozess, von der Abwasserentsorgung über Ver-
kehrsprojekte und neuen Grenzübergängen im Interesse
der Tourismuswirtschaft bis hin zu Projekten im Bereich
Kultur und Sport.
Die Zwillingsstädte Görlitz und Zgorzelec haben sich
als Europastadt konstituiert. Zittau, Hrádek und Bogaty-
nia kooperieren im Verbund „Kleines Dreieck“. Es geht
künftig um grenzüberschreitende Regionalentwicklungs-
konzepte, Raumordnung und Infrastruktur. Dies mag als
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24801
(C)
(D)
(A)
(B)
Beispiel dafür dienen, wie Chancen für die Zukunft erar-
beitet werden, die vor allem mit der Osterweiterung ihre
eigentliche Grundlage erhalten werden.
Zweitens darf natürlich nicht übersehen werden, dass
die Erweiterung der EU eine strukturpolitische Herausfor-
derung darstellt. Dazu darf auf die vorliegenden Antwor-
ten der Bundesregierung verwiesen werden. Lassen Sie
mich daher abschließend auf einige Optionen für die struk-
turpolitische Flankierung der Osterweiterung eingehen.
Regionen mit nicht wettbewerbsfähigen Strukturen
werden unter verstärkten Anpassungsdruck geraten und
müssen dies grundsätzlich mit eigenen Mitteln bewälti-
gen. Aufgabe des Staates ist es, hierfür den geeigneten
rechtlichen und finanziellen Rahmen bereitzustellen. Dies
ist eine der wichtigen Aufgaben der anstehenden Reform
der bundesstaatlichen Finanzverfassung.
Wenn Regionen die notwendige Umstrukturierung al-
lein nicht bewältigen können, sind Bund und Länder ge-
fordert, regional gezielt zu helfen. Die Strukturpolitik
muss darauf achten, dass sie auch nach 2006 dazu noch in
der Lage ist.
Bei der Überprüfung der EU-Leitlinien für Regional-
beihilfen muss darauf hingewirkt werden, den in der Bei-
hilfekontrolle verankerten Zusammenhang zwischen
Umfang des nationalen Fördergebietes und EU-Durch-
schnitten aufzuheben. Die Mitgliedstaaten brauchen
ausreichende regionalpolitische Spielräume. Die EU-Bei-
hilfenkontrolle muss stärker in Richtung Miss-
brauchskontrolle entwickelt werden.
Die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ muss als regel-
gebundenes System der gemeinsamen Regionalförderung
von Bund und Ländern erhalten bleiben. Sie ist das wich-
tigste Instrument für die Förderung von gewerblichen In-
vestitionen und zur Bewältigung erweiterungsbedingter
Herausforderungen in strukturschwachen Regionen. Sie
bietet zugleich einen Koordinierungsrahmen für die re-
gionale Wirtschaftsförderung der Länder und andere
raumwirksame Maßnahmen.
Bund und Länder müssen zur Flankierung der Ost-
erweiterung ihre strukturwirksamen Maßnahmen stärker
aufeinander abstimmen und in Zukunft stärker als bisher
die Rolle als Initiator, Moderator und Mediator im regio-
nalen Strukturwandel suchen und übernehmen.
Klaus Francke (CDU/CSU):
Wenn Europa einmal einträchtig sein gemeinsames
Erbe verwalten würde, dann könnten seine drei- oder
vierhundert Millionen Einwohner ein Glück, einen
Wohlstand und einen Ruhm ohne Grenzen genie-
ßen. ... Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von
Europa schaffen. ... Wenn das Gebäude der Vereinig-
ten Staaten von Europa gut und gewissenhaft errich-
tet wird, muss darin die materielle Stärke eines ein-
zelnen Staates von untergeordneter Bedeutung sein.
Kleine Nationen werden ebenso zählen wie große und
sich durch ihren Beitrag zur gemeinsamen Sache
Ehre erwerben.
Diese Sätze, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit
verloren haben, sprach Sir Winston Churchill am 16. Sep-
tember 1946 in Zürich.
In starker Überzeichnung der jetzigen Situation, aber
nicht ohne Besorgnis erregenden Hintergrund, konnten wir
am vergangenen Sonnabend in der „Welt“ eine Karikatur
sehen, die die Errichtung einer nach außen wirkenden
Mauer mit dem Emblem „EU – frisch gestrichen“ zeigt.
Sosehr es notwendig ist, eine Fülle von Detailfragen
vor dem Beitritt neuer Länder zu verhandeln, so warne ich
davor, das große politische Ziel des 20. und 21. Jahr-
hunderts, geboren aus den Erfahrungen des beginnenden
20. Jahrhunderts, aus den Augen zu verlieren. Nicht Egois-
men und Rechthaberei bringen uns dem Ziel näher, son-
dern staatsmännische Weisheit und gelegentlicher Ver-
zicht zugunsten der Gemeinschaft aller Europäer.
Zu der Antwort auf die Große Anfrage beschränke ich
mich auf einige aus unserer Sicht wesentliche Punkte des
wirtschaftlichen Erweiterungsprozesses.
In der Antwort heißt es unter anderem:
Beitrittsbedingten Risiken wird im Rahmen der Bei-
trittsverhandlungen durch einen fairen Ausgleich der
Interessen der Beteiligten Rechnung getragen.
Diese Bemerkungen treffen ganz sicher nicht für das
Ergebnis in Sevilla zu, wenn man hier überhaupt von ei-
nem Ergebnis reden kann.
In diesem Zusammenhang zitiere ich aus der Antwort
auf Frage 17:
Für die Bundesregierung stellt die nachhaltige Un-
terstützung des Umstrukturierungsprozesses in der
Land- und Ernährungswirtschaft der Beitrittsländer
einen Schwerpunkt ihrer Verhandlungsstrategie im
Kapitel Landwirtschaft dar.
Das Verschieben eines Ergebnisses auf den November
bzw. Dezember durch die Bundesregierung, wie in Sevilla
geschehen, erleichtert die Verhandlungen nicht, sondern
gefährdet den allseits erklärten Willen, das Gesamtpaket
der Erweiterung entscheidungsreif zum Ende dieses Jah-
res vorzulegen.
In den Antworten der Bundesregierung zu unseren Fra-
gen bezüglich der Übernahme des „Acquis commun-
autaire“ durch die Beitrittsländer wird zu stark auf die rein
faktische Übernahme abgestellt. Die tatsächlichen Ver-
hältnisse werden unterbewertet. Nach wie vor, wenn auch
mit auffälligen Unterschieden, lässt die tatsächliche An-
wendung europäischen Rechts in den Beitrittsländern
trotz wiederholter Hinweise aus der deutschen Wirtschaft
sehr zu wünschen übrig. Rechtssicherheit aber ist ein we-
sentliches Entscheidungsmerkmal für Auslandsinvestitio-
nen. Hier bleibt unsere Forderung an Bund und Länder be-
stehen, ihre Bemühungen zur Verbesserung der Rechts-
und Verwaltungsstrukturen durch entsprechende Hilfen
zu verstärken.
Hinweise in der deutschen Presse, dass Gelder aus den
EU-Vorbeitrittsprogrammen aus Mangel an entsprechen-
den Verwaltungsstrukturen und qualifiziertem Personal
nicht in vollem Umfang abgerufen worden sind, unter-
streichen dieses Anliegen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224802
(C)
(D)
(A)
(B)
In der Europäischen Union leben heute rund 373 Mil-
lionen Menschen. Nach dem Beitritt der zwölf Beitritts-
kandidaten erhöht sich ihre Zahl um circa 105 Millionen
auf rund 480 Millionen Menschen. Die EU wird damit
zum größten Binnenmarkt der Welt. Für die deutsche
Wirtschaft eröffnen sich neue Absatzmärkte. Dies müssen
wir Zweiflern im eigenen Lande immer wieder erklären.
Es sind drei Bereiche, denen wir unsere besondere Auf-
merksamkeit zuwenden müssen:
Erstens den Grenzregionen. Die Antworten der Bun-
desregierung zu unseren Fragen sind statisch. Sie lassen
jegliche zukunftsweisenden Zielvorgaben vermissen. Un-
ser Vorschlag, die EU-Regionalförderung mit zusätz-
lichen nationalen Mitteln kozufinanzieren – Drucksache
14/6638 –, fand keine Berücksichtigung. Folge: Die
Haushaltsmittel für die Regionalförderung im Rahmen
der bestehenden Programme und Instrumente wurden
nicht im Bundeshaushalt 2002 erhöht. Damit ist die na-
tionale Kofinanzierung des geplanten EU-Förderpro-
gramms für die Grenzregionen nicht sichergestellt und
der Programmstart verzögert sich.
Die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung zur
Frage „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“
und der Zukunft der Gemeinschaftsaufgabe nach 2006
vor dem Hintergrund der Beschlüsse der EU wurde am
Mittwoch im Wirtschaftsausschuss überdeutlich, als der
Vertreter der Bundesregierung auf eine entsprechende
Frage meiner Fraktion antwortete: „Eine abgestimmte Po-
sition der Bundesregierung zu dieser Frage gibt es nicht.“
In diesem Kontext will ich auf einen weiteren Punkt
hinweisen. Wir haben in Deutschland das erfolgreiche
Konzept der Handels- und Handwerkskammern. Im An-
satz sind vergleichbare Strukturen in den Beitrittsländern
vorhanden. Die Zusammenarbeit, wo sie denn vorhanden
ist, ist reibungslos und gut. Dennoch fehlt es ausländi-
schen Kammern oftmals an geschultem Personal, um zum
Beispiel in den Grenzregionen durch gemeinsame Bear-
beitung von Ausschreibungen auf Europa-, Bundes- und
Länderebene gerade mittelständischen Unternehmen bei-
derseits der Grenze einen angemessenen Anteil am Wirt-
schaftsaufkommen zu sichern. Hier ist eine Unterstützung
von deutscher Seite notwendig.
Zweitens. Jegliche Verstärkung der Wirtschaftskraft
und damit Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit in den
Grenzregionen setzt eine exzellente Verkehrsinfrastruktur
voraus. Folgendem Satz in der Antwort der Bundesregie-
rung kann ich deshalb nur zustimmen:
In Erwartung der enger werdenden Wirtschaftsver-
flechtungen geht die Verkehrsprognose 2015 von ei-
nem überpropotional starken Wirtschafts- und Ver-
kehrswachstum in den Beitrittsländern aus.
Und was nun? Auch hier keine zielorientierte Antwort,
mit der die Menschen in den betroffenen Regionen etwas
anfangen und sich auf die Situation einstellen könnten.
Aus rein taktischen Gründen haben die Koalitionsfraktio-
nen unseren Antrag 14/7455 „Deutsche Verkehrsinfra-
struktur auf EU-Osterweiterung vorbereiten“ abgelehnt.
Drittens. Unsere Fragen zum Bereich „Bildung, Aus-
bildung und Weiterbildung“ hat die Bundesregierung mit
der Darstellung der jetzigen Verhältnisse beantwortet.
Was wir auch hier vermissen, sind neue zukunftsfähige
Ansätze.
Wenn zu Recht auf die Chancen gerade der jungen Ge-
neration beiderseits der Grenzen durch die Erweiterung
aufmerksam gemacht wird, dann muss es ein besonderes
Anliegen des Bundes, der Länder und der Beitrittsländer
sein, den Unterricht in der Sprache des jeweils angren-
zenden Landes zu fördern. Das Deutsch-Polnische Gym-
nasium in Löcknitz, Mecklenburg-Vorpommern, und ähn-
liche Einrichtungen in Brandenburg oder Sachsen sind
gute Beispiele.
Die Kapazitäten reichen jedoch bei weitem nicht aus.
An einer notwendigen Initiative des Landes Mecklen-
burg-Vorpommern zum Beispiel, durch entsprechende
Bildungs- und Lehrpersonalpolitik investitionshem-
mende Sprachbarrieren abzubauen, mangelt es. Auch der
Bund muss sich dieser Frage annehmen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf den
Ausgangspunkt zurückkommen. Michaele Schreyer, die
Kommissarin für Haushalt und Finanzkontrolle, hat kürz-
lich einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
betitelt mit „Vereinigung Europas nicht an Schafsprämien
koppeln“. Ganz so simpel ist es sicherlich nicht, aber ein
Kern von Wahrheit steckt schon in diesem Satz.
Die Regierung Helmut Kohl hatte sich mit Zustim-
mung dieses Hauses zu Beginn der Wendezeit berechtig-
terweise zum Anwalt der jetzigen Beitrittskandidaten auf
ihrem Weg nach Europa gemacht. Dafür ist ihm und ganz
Deutschland Dank gezollt worden. Vergessen wir dies
nicht!
Die Erweiterung setzt der Teilung Europas ein Ende
und sichert damit Frieden und Wohlstand. Dieses Ziel zu
erreichen, bleibt der nachdrückliche Auftrag auch des
nächsten Bundestages.
Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Europäische Union steht vor einer epochalen
Herausforderung. Mit der Erweiterung und der Stärkung
ihres inneren Zusammenhalts stellen sich zwei große poli-
tische Gestaltungsaufgaben. Ihr Gelingen ist für die Zu-
kunftsfähigkeit Europas von entscheidender Bedeutung.
Die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und
Südosten ist eine politische Notwendigkeit und Chance.
Bündnis 90/Die Grünen wollen die zügige Erweiterung.
Wir fordern dies aus dem Bewusstsein der historischen
Bedeutung des Projektes, vor allem seiner friedens- und
demokratiepolitischen Dimension, und in dem Wissen,
dass sich die Herausforderungen, die sich mit der Aus-
dehnung der Union auch für die deutsche Gesellschaft er-
geben, meistern lassen und die Vorteile die Anpassungs-
lasten bei weitem überwiegen.
Die Erweiterung der EU ist das Signal an die mittel-
und osteuropäischen Länder, dass die künstliche Grenze
des Kalten Krieges endgültig überwunden ist. Die Erwei-
terung stabilisiert die enormen wirtschaftlichen und
politischen Anpassungsprozesse, welche die Kandidaten-
länder, teils unter erheblichen Entbehrungen und Belas-
tungen ihrer Bürgerinnen und Bürger, unternommen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24803
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haben. Gerade vor diesem Hintergrund darf die Hoffnung
der jungen Demokratien auf einen EU-Beitritt nicht ent-
täuscht werden. Wenn wir den Zeitplan einhalten, dann
werden wir die Beitrittsverhandlungen mit rund zehn
Ländern noch in diesem Jahre abschließen. Dann könnten
bereits im Jahre 2004, bei den nächsten Wahlen, die ers-
ten Abgeordneten aus den Beitrittstaaten ins Europäische
Parlament einziehen. Das laufende Jahr hat somit im-
mense Bedeutung für die größte Erweiterung der EU, die
es bislang gegeben hat. Es entsteht der größte Binnen-
markt der Welt. Rund 100 Millionen Menschen werden
der EU beitreten.
Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund der geo-
graphischen Lage der wichtigste Handelspartner der Bei-
trittsländer, Schon jetzt profitiert Deutschland durch einen
hohen Handelsüberschuss von den Vorbereitungen auf
den Beitritt. Gleichzeitig haben die Direktinvestitionen
erheblich zugenommen. Nach der Erweiterung werden
sich die Handelsbeziehungen noch intensivieren. Die
Aussichten auf ein noch stärkeres Wachstum in den Bei-
trittsstaaten wird die Exportmöglichkeiten der deutschen
Wirtschaft weiter steigern. Mittlerweile gehen fast zehn
Prozent der deutschen Exporte in die Länder Mittel- und
Osteuropas. Bereits jetzt sind die Beschränkungen im Wa-
renhandel mit unseren östlichen Nachbarn weitgehend
liberalisiert. Der Strukturwandel ist in den Grenzregionen
bereits in vollem Gange. Die Erweiterung selbst wird zu
keinen neuen ökonomischen Schocks führen. Stattdessen
gilt es, den bereits laufenden Strukturwandel, der sich in
den kommenden Jahren forcieren wird und muss, poli-
tisch zu begleiten.
Mit der EU-Osterweiterung eröffnet sich für Ost-
deutschland die Chance, von einem transfergestützten
Beitrittsgebiet zu einer beispielhaften europäischen Ver-
bindungsregion zu werden. Als zentrale Region im zu-
sammenwachsenden Europa bietet Ostdeutschland Stan-
dortvorteile für alle Unternehmen, die die Märkte in den
mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern erschließen
wollen. Infrastrukturell sind die ostdeutschen Bundeslän-
der bereits heute gut auf die künftigen Herausforderungen
vorbereitet. Die Investitionen der vergangenen Jahre ma-
chen sich bezahlt. Die Kommunikationsnetze zählen zu
den besten Europas. Die überregionalen Verkehrsverbin-
dungen, Logistik und Dienstleistungsbereiche sowie For-
schungs- und Technologieeinrichtungen sind allerdings
bedarfsgerecht zu ergänzen und auszubauen.
Die Osterweiterung der Europäischen Union ist ein
äußerst komplexer Vorgang. Auch wenn längerfristig die
wirtschaftlichen Vorteile überwiegen, sind Risiken nicht
auszuschließen. Je nach Region, Wirtschaftsbereich oder
anderen spezifischen Bedingungen – etwa die Qualifizie-
rung der Menschen – sind unterschiedliche Effekte denk-
bar. Ängste, Sorgen und Skepsis gegenüber Europa sind
auch nachvollziehbar, weil viele Menschen nicht verste-
hen, wer warum von weitem in ihren Alltag eingreift.
Für uns Bündnisgrüne liegt ein besonderes Augenmerk
auf der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die sich
nicht auf wirtschaftliche Kooperation beschränken darf.
Vor allem in der kulturellen, gesellschaftlichen und poli-
tischen Zusammenarbeit liegt ein enormes Potenzial für
das Gelingen des Erweiterungsprozesses. Die Erweite-
rung stärkt die historische und kulturelle Identität Euro-
pas, die auf gemeinsamen Werten und Wurzeln basiert.
Das Verständnis von Sprache, Geschichte und gegenseiti-
ger Befindlichkeit liefert den Schlüssel für die Veranke-
rung des gesamteuropäischen Einigungsprozesses auch in
den Herzen der Menschen und damit für eine breite Ak-
zeptanz und Solidarität in den nationalen Bevölkerungen.
Nicht zuletzt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit,
wie sie bereits seit Jahren von vielen Kommunen und Re-
gionen, aber vor allem auch von vielen Nichtregierungs-
organisationen, gepflegt werden, führen bereits heute vor
Augen, was die Erweiterung bedeutet: eine gegenseitige
Bereicherung.
Gudrun Kopp (FDP): Die europäische Geschichte
lehrt uns einige interessante Erfahrungen: Holländische
und hugenottische Handwerker haben das vom Dreißig-
jährigen Krieg und extrem geringer Bevölkerungsdichte
gekennzeichnete Brandenburg im 17. Jahrhundert aufge-
baut. Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit waren
Grundvoraussetzungen für den Aufstieg Preußens. Polni-
sche Zuwanderer haben dafür gesorgt, dass das Ruhrge-
biet im 19. Jahrhundert seinen Aufschwung zur wichtigs-
ten Region Europas vollziehen konnte. Der Einsatz
polnischer Saisonkräfte bei der Ernte ist auch schon vor
dem Ersten Weltkrieg gang und gäbe gewesen. Die deut-
sche Gastronomie dürfte unter dem Strich von den in den
50er-Jahren aus Italien gekommenen Impulsen erheblich
profitiert haben. Die erwarteten Probleme mit spanischen
oder portugiesischen Wanderarbeitnehmern sind nach
1986 bei weitem nicht in der befürchteten Weise aufge-
treten, obwohl das Lohn- und Gehaltsgefälle durchaus
vergleichbar mit dem Gefälle zu den osteuropäischen
Ländern jetzt war. Die Bauwirtschaft hat seit vielen Jah-
ren Erfahrungen mit dem Versuch einer wirksamen Ab-
schottung gegen billige Arbeitskräfte gemacht. Im Ergeb-
nis haben weder die EU-Entsenderichtlinie noch das
deutsche Entsendegesetz oder für allgemein verbindlich
erklärte Mindestlöhne die unbestreitbare Krise der Bau-
wirtschaft wesentlich mildern können.
In der ökonomischen Diskussion wird die Zuwande-
rung zurzeit auf der einen Seite als eine Lösungsmöglich-
keit demographischer Probleme angepriesen und als Hilfe
bei Spezialistenmangel bemüht. Auf der anderen Seite
steht die Angst vor Billigkonkurrenz. Um es klar zu sa-
gen: Diese Billigkonkurrenz ist längst da. Es geht darum,
Zuwanderung auf eine einwandfreie und transparente Ba-
sis zu stellen. Das geht besser mit EU-Mitgliedstaaten.
Bei den EU-Kategorien von Freizügigkeit ist aus-
drücklich zu unterscheiden zwischen der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer auf der einen Seite und der Dienstleis-
tungsfreiheit bzw. der Niederlassungsfreiheit auf der an-
deren Seite. Zwar sind beide Arbeiten der Freizügigkeit in
den ökonomischen Auswirkungen vergleichbar, aber
Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit fallen im juris-
tischen Sinne unter die Bestimmung zum Dienstleistungs-
handel und sind an anderer Stelle als Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit geregelt. Übergangs- oder Quotenregelungen hat es
in diesem Bereich bei früheren Erweiterungsrunden nicht
gegeben. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hingegen
wurde im Falle Spaniens und Portugals für sieben Jahre
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224804
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eingeschränkt. Es hat sich jedoch bald herausgestellt, dass
diese Regelung überflüssig war: Durch die Aussicht auf
wirtschaftliche Besserung in ihren Herkunftsländern, die
sich durch den EU-Beitritt ergab, sind nicht nur weniger
Portugiesen und Spanier von dort ausgewandert, sondern
es sind bereits in Deutschland lebende Gastarbeiter sogar
wieder in ihre Länder zurückgekehrt. Netto ergab sich für
Deutschland daraus mehr Ab- als Zuwanderung.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Dienstleistungs-
freiheit in Deutschland ökonomisch sehr viel weitrei-
chendere Folgen als die Beschränkung der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer haben wird. Polnische Reparaturwerk-
stätten und Handwerksbetriebe bieten schon jetzt ihre
Leistungen in Grenznähe an. Ähnliche Probleme könnten
im Verkehrssektor auftreten. Dennoch sollte man hier
nicht zu verzagt sein und den deutschen Unternehmen zu-
trauen, dass sie der neuen Konkurrenz etwas entgegenzu-
setzen haben. Wettbewerb belebt bekanntlich das Ge-
schäft. Denn auch das zurzeit noch vorhandene
Wohlstandsgefälle wird sich mit der Zeit vermindern. Die
Angleichung bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen ist
keine Einbahnstraße nach unten, sondern wird sich auch
in Polen und Tschechien, und zwar nach oben, vollziehen.
Dazu wird nicht zuletzt die Übernahme vieler EU-rechtli-
cher Bestimmungen beitragen.
Schon heute liegt die Arbeitslosenquote in Branden-
burg höher als in Westpolen – Brandenburg: rund 17 Pro-
zent, Westpolen: rund 15 Prozent. Das West-Ost-Gefälle
bei den Einkommen ist beim Vergleich der Grenzregionen
deutlich geringer als bei einem Vergleich ganzer Länder.
Es liegt in Kaufkraftparitäten gerechnet vielfach nur noch
bei 10 Prozentpunkten, während die Einkommen in Kauf-
kraftparitäten gerechnet in Tschechien im Schnitt 60 Pro-
zent, in Polen 40 Prozent des deutschen Niveaus betragen.
Zu beachten ist auch das erhebliche Wohlstandsgefälle im
Innnern vieler Beitrittsländer, das dort jedoch nicht zu
entsprechenden Binnenwanderungen führt.
Für die Grenzregionen ergeben sich durchaus einige
Chancen: In strukturell schwachen Regionen, die oft un-
ter der Abwanderung junger, gut qualifizierter Arbeits-
kräfte leiden, können Migranten und Pendler einen wich-
tigen Beitrag zur Erhöhung der Produktivität leisten. Die
regionalen Entwicklungschancen im Strukturwandel kön-
nen so vergrößert werden. Ein Zustrom junger, gut ausge-
bildeter Arbeitskräfte könnte hier helfen, vorhandene
Qualifikationslücken zu schließen. Diese Chancen wer-
den teilweise dort auch anerkannt, zum Teil überwiegen
aber die Befürchtungen. Daher verdienen die Initiativen
zahlreicher Grenzlandkammern, die sich gemeinsam mit
den Kammern aus den Beitrittsländern aktiv auf die Er-
weiterung vorbereiten, besondere Unterstützung.
Die Erweiterung der Europäischen Union liegt poli-
tisch und ökonomisch im deutschen Interesse: Vom EU-
Beitritt werden nicht nur die Staaten Mittel- und Osteuro-
pas profitieren. Auch für die bisherigen 15 Mitgliedstaaten
wird es höhere Wachstumsperspektiven geben. Das stärks-
te Wachstumspotenzial hat Deutschland. Die Sorgen vor
zu viel Freizügigkeit hingegen sind unbegründet. Neuauf-
nahme-Kandidaten sind: Bulgarien, Estland, Lettland, Li-
tauen, Polen, Rumänien, Slowenien, Tschechien, Ungarn
und die Slowakei. Zur Frage des passenden Zeitplans für
die Aufnahme in die EU wird es entscheidend sein, wel-
che Beitrittskandidaten schnellstens das notwendige wirt-
schaftspolitische Reformprogramm abgeschlossen haben.
Hier darf es keinen politischen Sonderrabatt geben.
Besonders brisant stellt sich die Problematik der
Agrarsubventionen dar. Eindeutig ist, dass das Gewicht
des landwirtschaftlichen Sektors in den Beitrittsländern
wesentlich größer ist als in der jetzigen EU. Davon geht
ein erheblicher Reformdruck auf die EU-Agrarpolitik aus,
den die einen als heilsam und die anderen als bedrohlich
empfinden. Für die FDP steht schon längst fest:
Erstens. Die europäische Landwirtschaft braucht einen
massiven Abbau von Bürokratie. Nötig sind mehr Markt-
wirtschaft und weniger bürokratische Marktregulierungen.
Zweitens. An der Entkoppelung der Direktzahlungen
von der Produktion führt kein Weg vorbei. Die FDPweist
dafür folgende Richtung: Eine produktionsunabhängige
Kulturlandschaftsprämie soll gezahlt werden als Honorar
für erbrachte Leistungen und muss auf die gesamte land-
wirtschaftliche Fläche ausgedehnt werden.
Fazit: In der Summe stößt die Osterweiterung bei der
Bevölkerung leider noch auf Skepsis. Hier ist die Bun-
desregierung in der Pflicht, die Menschen über den Bei-
trittsprozess und seine Folgen weit besser zu informieren
und von der Notwendigkeit der Osterweiterung zu über-
zeugen, als dies bisher geschehen ist.
Uwe Hiksch (PDS): In den nächsten Monaten wird
sich entscheiden, ob die Erweiterung der EU zu einer
Erfolgsgeschichte wird oder durch falsche Weichenstel-
lungen der Politik strukturelle Verwerfungen für Land-
wirtschaft, Industrie und Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer noch verstärkt werden.
Die Erweiterung der Europäischen Union darf nicht al-
leine unter dem Spardiktat des Bundesfinanzministers ge-
staltet werden. Mit den aktuellen Forderungen der rot-
grünen Bundesregierung wird eine Europäische Union in
zwei Klassen geschaffen. Dies kann auch unter Gerech-
tigkeitsgesichtspunkten nicht aktzeptiert werden. Dies be-
deutet jedoch auch, dass die Verteilungsmechanismen in
der EU auf den Prüfstand müssen. Mit der Erweiterung
der Europäischen Union muss sich auch der so genannte
Briten-Rabatt erledigen.
Wenn die Bundesregierung ihre fragwürdige Verzöge-
rungstaktitk in der Agrarfrage aufgibt, wird es möglich
sein, die Bürgerinnen und Bürger der zehn Kandidaten-
länder 2004 an den Wahlen zum Europäischen Parlament
zu beteiligen. Nicht nur diese Wahlen, sondern auch die
Referenden über die Beitrittsverträge verpflichten uns, al-
les Mögliche dafür zu tun, dass die Menschen in Mittel-
und Osteuropa die Integration in die Europäische Union
als einen Gewinn betrachten können, der zwar mit vielen
schmerzlichen Anpassungen verbunden ist, ihnen aber auf
längere Sicht auch ökonomische und soziale Vorteile brin-
gen wird.
Eine Chance, das europäische Projekt für die Men-
schen erfahrbar zu machen und die Erweiterung erfolg-
reich zu gestalten, bieten vor allem die Grenzregionen, die
in der Geschichte der europäischen Integration immer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24805
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eine besondere Rolle für die Herausbildung einer europä-
ischen Identität und eines europäischen Alltags gespielt
haben. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der PDS hat aber eines deutlich gemacht: Die
Bundesregierung weigert sich, aus der vielstimmigen Kri-
tik am EU-Aktionsprogramm Konsequenzen zu ziehen.
Die PDS erneuert deshalb ihre Kritik an der zu gerin-
gen Finanzausstattung des EU-Grenzregionenprogramms
und die einseitige Fixierung auf die großen Ost-West-Ver-
kehrsverbindungen. 195 Millionen Euro für 23 Grenzre-
gionen mit 33 Millionen Einwohnern sind zu wenig. Nur
durch massiven Druck des Europäischen Parlamentes
konnte das Programm noch einmal um 65 Millionen Euro
aufgestockt werden. Dass davon 150 Millionen Euro für
großräumige Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen vorgese-
hen sind, ist in vielen Fällen – wie zum Beispiel der Fich-
telgebirgsautobahn – nicht nur ökologisch fragwürdig,
sondern geht auch am realen Bedarf an kleinräumigen und
grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen vorbei.
Nicht zuletzt wird durch die Tatsache, dass für das Ak-
tionsprogramm kaum zusätzliche EU-Mittel mobilisiert
wurden, bei den Menschen in den Grenzregionen der Ein-
druck verstärkt, von den nationalen und europäischen
Entscheidungsträgern allein gelassen zu werden.
Maßnahmen, die keinen Cent kosten, aber den Akteu-
ren vor Ort zeigen würden, dass ihre Probleme ernst ge-
nommen werden, wie einfachere Antragsverfahren bei
Förderprogrammen oder eine bessere Abstimmung zwi-
schen Interreg und PHARE/CBC wurden bisher nicht in
Angriff genommen.
Die Bundesregierung verfährt jetzt nach dem altbe-
kannten Muster: Mehr war eben in Brüssel nicht zu holen.
Aber auch die Bilanz ihres eigenen Engagements sieht
mehr als mager aus: Die Bundesregierung weigert sich,
ein eigenständiges Förderprogramm für die Grenzregio-
nen aufzulegen, und verweist auf die bestehenden För-
dermöglichkeiten, die ja auch von den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern sowie den Unternehmen in den
Grenzregionen wahrgenommen werden könnten, oder sie
schiebt die Verantwortung auf die Länder ab.
Insgesamt wird deshalb deutlich: Die Bundesregie-
rung hat sich auf die defensiven Maßnahmen wie zu
lange Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügig-
keit und der Dienstleistungesfreiheit beschränkt. Eine
vorausschauende Politik der Bundesregierung für die
Grenzregionen ist nicht erkennbar. Die Förderung von
grenzüberschreitenden Projekten und regionalen Wirt-
schaftskreisläufen steckt noch in den Kinderschuhen.
Ergebnis dieser verfehlten Politik ist eine in der Bun-
desrepublik weiter vorherrschende skeptische Haltung
gegenüber der EU-Erweiterung und eine mangelnde Be-
reitschaft von Unternehmen, grenzüberschreitend aktiv
zu werden. In Polen und Tschechien dagegen schwindet
die Unterstützung für den Erweiterungsprozess vor allem
aufgrund der Politik nach Gutsherrenart, wie sie der
Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Edmund Stoiber, mit sei-
nen geschichtsrevisionistischen Thesen repäsentiert, aber
auch infolge der diskriminierenden Behandlung der ost-
europäischen Landwirte. In den polnischen und tschechi-
schen Grenzregionen gewinnt nicht zuletzt deshalb eine
Stimmung wieder die Oberhand, die eine neuerliche deut-
sche Landnahme befürchtet.
Diese Stimmungslagen auf beiden Seiten der Grenze
sind nicht das Klima für innovative und kooperative Pro-
jekte, die für ein Zusammenwachsen in den Grenzregio-
nen so bitter vonnöten sind. Wenn wir nicht erleben wol-
len, dass die Referenden in Osteuropa scheitern und die
Grenzregionen zu reinen Transitstrecken degenerieren,
gilt es jetzt ein wirkliches Programm für diese Regionen
aufzulegen und damit den Willen der Politik zum Aus-
druck zu bringen, das Jahrhundertprojekt Osterweiterung
zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ich emp-
fehle deshalb, dem Entschließungsantrag und dem Wahl-
programm der PDS zu folgen.
Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie: Die Große Anfrage
der CDU/CSU-Fraktion „Wirtschaftspolitische Auswir-
kungen der EU-Osterweiterung“ und die Große Anfrage
der PDS-Fraktion „Vorbereitung der Grenzregionen auf
die Osterweiterung der EU“ befassen sich mit dem euro-
päischen Projekt der nahen Zukunft, mit der EU-Erweite-
rung. In den Antworten der Bundesregierung wird deut-
lich, welche großen Chancen und allerdings auch wenige,
aber beherrschbare Risiken die EU-Erweiterung für un-
sere Bevölkerung, unsere Wirtschaft und besonders auch
für unsere Regionen an den Grenzen zu den Beitrittslän-
dern Polen und Tschechien mit sich bringt und welche in-
tensiven und erfolgreichen Bemühungen die Bundesre-
gierung unternimmt, um die EU-Erweiterung erfolgreich
zu gestalten.
Erstens. Auf die Große Anfrage der Fraktion der
CDU/CSU zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der
EU-Erweiterung gibt die Bundesregierung einen umfas-
senden Überblick über die wirtschaftlichen Perspektiven
und Herausforderungen der EU-Erweiterung. Die Ant-
worten können in folgender politischer Kernaussage zu-
sammengefasst werden: Die EU-Erweiterung ist auch aus
wirtschaftlicher Sicht gut für Deutschland und für Europa.
Mögliche beitrittsbedingte Risiken werden durch eine
vorausschauende Politik der Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene beherrschbar.
Der Prozess der EU-Erweiterung befindet sich in seiner
entscheidenden Phase. Die Diskussion zu den finanzwirk-
samen Fragen hat gerade zum Ende der spanischen Präsi-
dentschaft einen ersten Höhepunkt erlebt. Auch in diesen
ebenso schwierigen wie wichtigen Verhandlungskapiteln
arbeitet die Bundesregierung entschieden daran, eine für
die Beitrittsländer, für die EU und für Deutschland akzep-
table Lösung in dem vorgegebenen Zeitrahmen zu finden.
Ziel bleibt trotz der noch zu lösenden Probleme wei-
terhin, die Beitrittsverhandlungen mit bis zu zehn Bei-
trittsländern Ende des Jahres 2002 abzuschließen, damit
die Erweiterung 2004 erfolgen kann. Danach ist die EU
der größte Binnenmarkt der Welt, auf dem Unternehmen
für ihre Investitionen und Handelsaktivitäten ein Höchst-
maß an Handlungsfreiheit bei gleichzeitiger Rechts- und
Planungssicherheit vorfinden werden. Hiervon werden
auch die kleinen und mittleren Unternehmen profitieren.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224806
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Mit dem näher rückenden Beitrittstermin wächst auch
das Interesse der Bevölkerung an diesem Thema. Nach
Meinungsumfragen hat die Zustimmungsquote in den
vergangenen Monaten spürbar zugenommen. Dazu hat
beispielsweise der erfolgreiche Einsatz der Bundesregie-
rung für eine flexible Beschränkung der Freizügigkeit von
Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten und ana-
loge Regelungen für besonders sensible Bereiche des
Dienstleistungssektors einen wesentlichen Beitrag geleis-
tet. Die Bundesregierung ist zuversichtlich, dass diese
Maßnahmen und eine vernünftige Lösung der Finanz-
fragen den Meinungstrend in der deutschen Bevölkerung
auch in den nächsten Monaten positiv beeinflussen
werden.
Zweitens. Die Antworten auf die Große Anfrage der
PDS „Vorbereitung der Grenzregionen auf die Osterwei-
terung der EU“ enthalten sowohl umfassende als auch de-
taillierte Aussagen und Informationen zu diesem Prozess.
Der Bogen wird gespannt über die Notwendigkeit der
strukturellen Anpassung der Grenzregionen an die EU-
Osterweiterung bis zu den vielfältigen Möglichkeiten ei-
ner spezifischen, strukturpolitischen Flankierung des An-
passungsprozesses durch EU, Bund und Länder und des
EU-Aktionsprogramms, mit dem die EU den Grenzregio-
nen in den fünf von der Osterweiterung betroffenen Mit-
gliedstaaten zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung
stellt.
Mit der EU-Erweiterung gewinnen die Grenzregionen
in der EU an Zentralität. Das führt zu einem Zugewinn aus
der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung und gibt damit
neue Impulse für die Wettbewerbsfähigkeit der Grenzre-
gionen.
Fit gemacht werden die Grenzregionen zum Beispiel
durch Projekte, die im Rahmen der EU-Förderprogramme
Interreg III A und PHARE/CBC zur Steigerung der Wirt-
schaftskraft durchgeführt werden, aber auch durch das
spezielle Beratungsprogramm „Absatzförderung Ost“,
die Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft,
durch Kooperationszentren der Industrie- und Handels-
kammern, durch Kooperationen, Bündnisse und Netz-
werke zwischen Deutschland und Polen sowie Tschechien
auf den verschiedenen Gebieten.
Die EU-Erweiterung wird zu einem deutlich steigen-
dem Verkehrsaufkommen führen. Damit erhöhen sich
die Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur in den
Grenzregionen und die Notwendigkeit ihres weiteren
Ausbaus. Die Bundesregierung unterstützt Verkehrspro-
jekte mit besonderer Bedeutung für die Grenzregionen.
Durch die in den Antworten zu den beiden Großen An-
fragen dargestellten Maßnahmen ist sichergestellt, dass
die globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gestärkt
wird und es nicht zu Verwerfungen für Bevölkerung und
Wirtschaft, insbesondere in den grenznahen Regionen zu
den Beitrittsländern, kommt.
Die Bundesregierung wird ihren eingeschlagenen Kurs
bei den Beitrittsverhandlungen auch weiter zielstrebig
verfolgen, damit die Erweiterung für alle Beteiligten ein
Erfolg wird.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung zur Zusammenarbeit zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten
Nationen im Jahr 2001 (Tagesordnungs-
punkt 14)
Brigitte Adler (SPD): Was wäre, wenn es die Verein-
ten Nationen nicht gäbe? Wie könnte die Völkergemein-
schaft auf Krisen, Bürgerkriege oder Epidemien reagie-
ren? Der Streit, der hin und wieder aufflammt, ob mehr
bilateral oder multilateral geregelt werden sollte, ist über-
flüssig. Ohne multilaterale Vereinbarungen und Organisa-
tionen wären so manche Probleme nicht zu lösen gewesen,
da oft ein einzelner Staat mit der Hilfe überfordert wäre.
Die Weltbank, der IWF, die VN mit ihren Unterorgani-
sationen werden dringend gebraucht. Vor allem die
VN-Organisationen, die sich um die Länder des Südens
kümmern, sind eine wertvolle Ergänzung der bilateralen
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Als Beispiele
seien die UNDP, die FAO, die UNIDO, der UNHCR, die
ILO und die WHO genannt.
Die Arbeit der VN-Institutionen muss aber auch der
breiten Öffentlichkeit weltweit und bei uns verdeutlicht
werden. UNIC unterhält unter anderem in Bonn, der deut-
schen UN-Stadt, mit einer Außenstelle in Berlin, ein In-
formationszentrum. Die Mitarbeiter informieren über die
Presse, den Rundfunk und das Fernsehen über die Arbeit
der VN. Aber auch die Bürger haben die Möglichkeit, sich
dort zu unterrichten.
Die Bundesregierung legt mit ihrem Bericht zur Zu-
sammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und den VN
dar, wie sie die Aufgaben der VN unterstützt, aber auch,
wenn nötig kritisch hinterfragt, so zum Beispiel, wenn
Reformen angemahnt werden. Aber nicht nur um Anmah-
nen geht es, sondern es werden konstruktive Vorschläge
unterbreitet, für die man dann wirbt. So hat die deutsche
VN-Vertretung im Auftrag der Bundesregierung einen,
wie es im Bericht heißt, „straffen und zukunftsorientier-
ten Resolutionstext für Afghanistan vorgelegt“. Auch bei
Fragen der Abrüstung und der Rüstungskontrolle konnte
auf Anregung von deutscher Seite eine Konsensresolution
verabschiedet werden.
Der Generalsekretär der VN, Kofi Annan, hat bei seinem
Besuch im Februar dieses Jahres im Deutschen Bundestag
auf die neue Rolle Deutschlands in der Weltgemeinschaft
hingewiesen und sich für die große Unterstützung durch die
Bundesregierung bedankt. In seiner Rede ging er unter an-
derem auf die friedenserhaltenden Einsätze internationaler
Truppen in verschiedenen Ländern ein. Der Einsatz deut-
scher Soldaten auf dem Balkan und in Afghanistan konnte
aufgrund der Beschlüsse des Weltsicherheitsrates durch
den Bundestag genehmigt werden.
So wichtig die militärischen Einsätze in Krisengebieten
sind, so bedeutsam sind die Aufarbeitung und Bekämp-
fung der Ursachen der Konflikte. Hunger und Armut sind
dabei die wichtigsten Gründe, die anderes nach sich zie-
hen, wie Krankheit, Unterernährung oder Hungertod.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24807
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Anfang der 90er-Jahre haben die VN mit großen Welt-
konferenzen versucht, die Ursachen offen zu legen und
Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Rio 1992, die große
Umweltkonferenz, machte den Anfang, im September
dieses Jahres wird in Johannesburg die zweite Folgekon-
ferenz stattfinden. Der Schwerpunkt dieser Konferenz
wird auf Nachhaltigkeit und Entwicklung liegen. In den
zehn Jahren nach Rio hat es einen Nachdenkensprozess
gegeben, dessen Ergebnis ist, dass Armut umweltzerstö-
rerisch wirken kann, ebenso wie die Ausbeutung von
natürlichen Ressourcen durch die Industrieländer des
Nordens. Beide, der Süden und der Norden, tragen Ver-
antwortung, um diese Prozesse umzukehren. Schutz der
Wälder und der naturnahe Umgang mit den Böden gilt es
ernst zu nehmen. Die Förderung von Handwerk und Ge-
werbe, um Arbeit zu schaffen, muss angepackt werden.
Ehrliche, also betriebswirtschaftliche und volkswirt-
schaftliche Preise für Rohstoffe und verarbeitende Pro-
dukte müssen bezahlt werden, um ruinöse Methoden ab-
zustellen.
Die Finanzierung der Entwicklungsaufgaben waren be-
reits im mexikanischen Monterrey behandelt worden. Der
Fortschritt sei eben eine Schnecke, wird oft behauptet. Der
Konsens auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gibt
trotzdem Hoffnung für die Weiterarbeit an den gewonne-
nen Erkenntnissen. Die Gesprächsrunden während der
Konferenz zeigten, dass noch Überzeugungsarbeit bei de-
nen geleistet werden muss, die sich als Bremser betätigen.
Den VN ist es zu verdanken, dass auf dem so genann-
ten Millenniumsgipfel 2000 ein ehrgeiziges Ziel formu-
liert worden ist, nämlich die Halbierung der Armut bis
2015. Die Bundesregierung hat dazu ein Aktionspro-
gramm verabschiedet, damit in der deutschen Zusam-
menarbeit mit den Ländern des Südens dieses Ziel er-
reicht werden kann. Auch im eigenen Land gilt es, solch
ein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Bundesre-
gierung hat mit Umweltminister Trittin und Frau
Wieczorek-Zeul, der Bundesministerin für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung, zwei kompetente
Minister mit der Vorbereitung für Johannesburg beauf-
tragt. Dadurch wird deutlich, dass beide Bereiche im
Blick der politischen Aufgabe stehen.
Wie bedeutsam diese Konferenzen sind, kann man an
den internationalen Verträgen und Vereinbarungen mit
verpflichtendem Charakter ablesen. Die Konsensfindung
ist oft nicht leicht, muss aber immer wieder in Angriff ge-
nommen werden. Als Beispiel sei auf die WTO-Verhand-
lungen oder die Konferenzen für Frauenrechte, Habitat,
Weltkindergipfel und anderes hingewiesen. Ein schwieri-
ges Kapitel solcher Verhandlungen war und ist nach wie
vor der Internationale Strafgerichtshof. Das Abseitsstehen
der USAmacht noch Kopfzerbrechen.
In einen anderen schwierigen Themenfeld konnte
Übereinstimmung erzielt werden, wenngleich die Umset-
zung problematisch bleibt. Es geht um die Aids-/HIV-
Bekämpfung. Auch hier hat die Bundesrepublik sich po-
sitiv eingemischt. Bei der Frage des Preises für
Aids-Medikamente konnte die Bundesministerin
Wieczorek-Zeul mit einem deutschen Pharmaunterneh-
men Hilfe erreichen. Die finanzielle Ausstattung des
Aids-Fonds lässt leider noch zu wünschen übrig.
Die Finanzen sind weiterhin ein heikles Thema für die
VN. Auf Seite 61 des Berichtes kann eine Zusammenstel-
lung des deutschen Pflichtbeitrages von 1991 bis heute
nachgesehen werden. Die enorme Aufstockung ist natür-
lich auf die Finanzierung der militärischen Missionen
zurückzuführen. Nicht verschwiegen werden soll, dass
aufgrund unserer Haushaltskonsolidierung die freiwilli-
gen Leistungen nicht weiter steigen konnten.
Dennoch ist die Bundesregierung bereit, die Verant-
wortung in der Weltgemeinschaft durch multilaterale Zu-
sammenarbeit zu übernehmen. Bereit zu sein, zu vermit-
teln und dabei gute Kompromisse auszuhandeln ist ein
Markenzeichen deutscher Beteiligung. Zu erkennen, dass
Prävention wichtiger ist als Reparatur, macht es möglich,
Vorschläge vorzulegen, die akzeptiert werden. Mit dem
Zivilen Friedensdienst, ZFD, hat die Bundesregierung
sich zusammen mit NGOs ein Instrument geschaffen, um
im Vorfeld, und wenn nötig in krisenhaften Situationen
– nicht während kriegerischer Handlungen –, Hilfe anzu-
bieten.
Wenn es gelingen könnte, Ursachen aufzudecken und
nicht nur an „Wirkungen“ zu arbeiten, könnte dem Terro-
rismus der Nährboden entzogen werden. Leider stehen
politische Interessen einzelner Staaten dem oft entgegen.
Diese zu identifizieren und zu einer Verhaltensänderung
zu bewegen ist notwendig und ein anzustrebendes Ziel.
Die Instrumentalisierung von religiösen und ethnischen
Einstellungen, um politische und wirtschaftliche Macht
auszuüben, ist abzulehnen und zu verhindern.
In diesem Zusammenhang steht die Stärkung der Zi-
vilgesellschaft durch die VN. Hier anzusetzen ist eine
wichtige Aufgabe, um die Menschen gegen „Verführer“
unempfindlich zu machen und sich wehren zu können.
Die Sorgen der Menschen über die auf sie zukommen-
den Auswirkungen einer ungezügelten Globalisierung ha-
ben die VN und die Bundesregierung aufgenommen und
konkrete Vorschläge unterbreitet. Ein mühsamer Prozess,
um zu konkreten Vereinbarungen zu kommen, sei nicht
unterschlagen. So zeigen zum Beispiel die WTO-Ver-
handlungen, wie schwierig es ist, voranzukommen.
Mit der großen Wasserkonferenz in Bonn im vergan-
genen Jahr hat die Bundesregierung ein Problem aufge-
nommen, das immer stärker ins Bewusstsein der Weltöf-
fentlichkeit rückt. Sauberes Wasser, ein öffentliches Gut,
das es dringend zu schützen gilt.
Mit der Stärkung und dem Ausbau des VN-Standortes
Bonn zeigt die Bundesregierung, wie ernst es ihr mit der
Zusammenarbeit mit den VN ist. Reformen des VN-Sys-
tems werden konstruktiv begleitet. Sitz und Stimme im
Sicherheitsrat werden angestrebt, dabei wird aber nicht
übersehen, dass auch andere Weltregionen besser und an-
gemessener vertreten sein müssen.
Der Bericht der Bundesregierung zeigt auf, wie viel-
fältig die Aufgaben im VN-System sind. Alles in der ge-
botenen Kürze darzustellen, um die Breite der Arbeit er-
kennen zu lassen, geht nicht. Aber auf eines möchte ich
zum Schluss noch hinweisen: Die Bundesregierung hat
auch in dem Berichtszeitraum zusammen mit den VN die
Politik der Anerkennung der Menschenrechte und die
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Förderung der Demokratie vorangetrieben. Frieden, Ent-
wicklung, Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen
als weitere Ziele institutionell zu verankern strebt sie wei-
ter an, Ziele, die Schritt für Schritt umgesetzt werden
müssen. Ohne die multilaterale Institutionen der VN wäre
dies nicht möglich. Der Bundesregierung ist zu danken,
dass sie so nachdrücklich diese Arbeit unterstützt und mit
konkreten Vorschlägen die gesteckten Ziele zu erreichen
sucht.
Diese Aufgabe konsequent fortzusetzen ist Auftrag und
Verantwortung zugleich. Die Koalitionsfraktionen unter-
stützen die Bundesregierung in dieser Aufgabe. Den Be-
richt nehmen wir dankbar zur Kenntnis.
Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Die Anschläge
vom 11. September in den Vereinigten Staaten haben
schmerzlich gezeigt, dass sich nach dem Zusammenbruch
des Ostblockes die Welt nicht mehr in Konfrontation von
Staatenblöcken einteilen lässt, sondern Feindschaften
durch radikale Gruppierungen innerhalb von Staaten he-
raus entwickelt werden können, die in unserer globalisier-
ten Welt jeden Tag und jede Stunde Anschläge auf die ge-
samte zivilisierte Welt verüben können. Hieraus erwächst
meiner Ansicht nach die größte Konsequenz für eine Re-
form der Vereinten Nationen.
Erfreulicherweise hat der Generalsekretär der Verein-
ten Nationen Kofi Annan dies nach dem 11. September
mit den Worten zum Ausdruck gebracht: „Die Vereinten
Nationen und die internationale Gemeinschaft müssen
den Mut haben, zu erkennen, dass es nicht nur gemein-
same Ziele, sondern auch gemeinsame Feinde gibt.“ So
haben sich auch schnell der Sicherheitsrat und die Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen der Verurteilung
der Anschläge angeschlossen und sich für die Unterstüt-
zung von Maßnahmen gegen die Verantwortlichen sowie
gegen jene Staaten ausgesprochen, die den Tätern Hilfe,
Unterstützung oder Unterschlupf gewährt haben. Die Hal-
tung vieler Staaten aller Glaubensrichtungen und aller Re-
gionen, entschieden gegen den Terrorismus vorgehen zu
wollen, verdeutlicht am besten die globale Antwort auf
die grausamen Anschläge.
Die bisherigen Konventionen der Vereinten Nationen
haben einen rechtlichen Rahmen zur Ausrottung des Ter-
rorismus geschaffen, so die Auslieferung und die Strafver-
folgung der Täter oder die Bekämpfung der Geldwäsche.
Diese Konventionen müssen uneingeschränkt verwirklicht
werden. In diesem Zusammenhang müssen sich die Ver-
einten Nationen aber auch über eine klare und unmissver-
ständliche Definition des Begriffes „Terrorismus“ einigen,
um auch die Verfolgung durch den Internationalen Ge-
richtshof zu ermöglichen.
Unser gemeinsamer Antrag „Die Vereinten Nationen
an der Schwelle zum neuen Jahrtausend“ vom letzten Jahr
unterstützt die Charta der VN zum Weltfrieden, verlangt
aber auch, dass die Verantwortlichkeit Deutschlands bei
den Vereinten Nationen gestärkt werden soll. Ich begrüße
deshalb den letzte Woche von der Bundesregierung vor-
gelegten Bericht im Parlament über die deutsche VN-Po-
litik, ist dies doch ein konkretes Ergebnis dieses Antrages.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die militärische Rolle
Deutschlands in den Vereinten Nationen. Ich kann zwar
das „Stand-by-Arrangement“ der Bundesregierung be-
grüßen, ich kritisiere jedoch gleichzeitig die desolate Rea-
lität bei der Bundeswehr. Bei ihrer schwierigen und ge-
fährlichen Aufgabe hat die Bundeswehr unsere nachhaltige
und volle Unterstützung verdient. Womit wir uns aber nicht
mehr abfinden werden und können, ist, dass die Absiche-
rung und Ausstattung dieser Einsatztruppen zu einer deut-
lichen Verschlechterung der übrigen Bereiche der Bun-
deswehr führt. Es muss sich endlich auch in der
finanziellen Ausstattung der Bundeswehr insgesamt nie-
derschlagen, sonst sind wir unglaubwürdig gegenüber un-
seren Soldaten und gegenüber unseren Verbündeten.
Friedenssicherung ist ein Aufgabengebiet, das ange-
sichts der vielen kriegerischen Konflikte in aller Welt
nach wie vor im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Das „Peace-keeping“ der UN steht heute vor einer kom-
plizierteren Situation; die Mehrzahl der Konflikte spielen
sich nicht mehr wie früher zwischen souveränen Staaten
ab, sondern innerhalb der Staaten selber, als Bürgerkriege,
vor meist ethnischem oder religiösem Hintergrund.
Es ist also weiterhin zu erwarten, dass vermehrte
Peace-Keeping-Einsätze zur Erhaltung des Friedens in
verschiedenen Regionen notwendig werden. Der Erfolg
solcher Missionen wird aber immer mehr davon abhängig
sein, inwieweit die Konfliktparteien selbst eine größere
Bereitschaft zur Konfliktbeseitigung erkennen lassen. Am
Beispiel Naher Osten oder Afrika sehen wir, dass ein
Misstrauen bzw. ein fehlender Friedenswille der Kon-
fliktparteien die Regel ist, und damit können die VN nicht
zielführend tätig werden.
Aber auch hier gilt, Friedensprävention und -erhaltung
kosten Geld. Wenn wir als Deutsche mehr Engagement in
den verschiedenen UN- Friedensmissionen bzw. Unteror-
ganisationen in Krisengebieten fordern und erwarten,
steht dies in Widerspruch zur Absenkung der freiwilligen
Beiträge in Bereichen wie UNDP, UNICEF oder UNFPA.
Dies wird nicht nur als sehr bedauerlich angesehen, son-
dern hat auch eine Signalwirkung auf die Zahlungsbereit-
schaft anderer Geberländer.
Die wichtigste Reform der UNO ist jedoch die Reform
des Sicherheitsrates. Hierbei wird auch das Interesse
Deutschlands an einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat
bekundet. Jedoch besteht die Reform nicht nur in einer Er-
höhung der Zahl der Mitglieder im Sicherheitsrat, wenn
zum Beispiel das bisherige Vetorecht bestehen bleibt. Wir
müssen uns in diesem Zusammenhang aber auch Gedan-
ken machen, was ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat für
Deutschland bedeuten wird. Neben dem Aspekt der Ver-
pflichtung der deutschen Außenpolitik auf einen koopera-
tiven Internationalismus wird deutlich, dass Deutschland
im Falle einer ständigen Sicherheitsratmitgliedschaft
nicht nur einen wachsenden Beitrag an politischem Enga-
gement zu leisten, sondern den Vereinten Nationen auch
einiges mehr an personeller und materieller Unterstützung
zur Verfügung zu stellen hätte als bisher. Aber gerade im
personellen Bereich muss Deutschland eine strategisch
bessere Arbeit leisten. Angesichts der Beitragshöhe sind
wir in verantwortungsvollen Positionen in VN-Gremien
weit unterrepräsentiert.
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Ein anderer Aspekt ist, dass die Mandate, die den Ver-
einten Nationen und anderen Organisationen übertragen
werden, häufig deren Kapazität übersteigen, weil Organi-
sationsstrukturen bzw. Verantwortliche vor Ort fehlen, da-
mit die Hilfe auch die Bedürftigen erreicht. Dadurch ent-
steht oft eine zu große zeitliche Lücke zwischen der
Zusage von Mitteln und ihrer Ausreichung.
Dies zeigt sich gerade deutlich im Falle Afghanistans.
Denn hier ist die Friedenskonsolidierung auf die Dynamik
eines möglichst schnellen Wiederaufbaus angewiesen.
Zurzeit ist es von äußerster Wichtigkeit, zum Beispiel
Lehrern und Polizisten ihre Gehälter auszuzahlen, um
nicht neuer Korruption Vorschub zu leisten, Saatgut für
die neue Ernte bereitzustellen und in den Städten wie auf
dem Land Arbeitsplätze zu schaffen. Solche schnell wir-
kenden Projekte können in den frühen Phasen einer Frie-
denskonsolidierungsoperation vieles ausmachen – vor al-
lem wenn es um die Hilfe der örtlichen Bevölkerung geht.
Generalsekretär Annan hat es sich zur vorrangigen Auf-
gabe gemacht, die Vereinten Nationen durch ein umfas-
sendes Reformprogramm neu zu beleben; den traditionel-
len Einsatz der Organisation im Bereich der Entwicklung
und der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit zu stärken; die Menschenrechte, die Rechts-
staatlichkeit und die allgemeinen Grundwerte der Gleich-
heit, Toleranz und Menschenwürde, die in der Charta der
Vereinten Nationen festgelegt sind, zu fördern und zu ver-
teidigen; schließlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in
die Organisation dadurch zu stärken, dass Kontakte zu
neuen Partnern geknüpft und „die Vereinten Nationen
näher an die Menschen herangebracht“ werden.
Konkret sieht es so aus, dass seit 1997 versucht wird,
eine neue Führungs- und Managementstruktur zu schaf-
fen. Weitere Reformen sind die Sicherstellung der Zah-
lungsfähigkeit durch die Einrichtung eines Kreditfonds,
die Zusammenfassung von zwölf Sekretariatseinheiten
auf nunmehr fünf, die Einführung einer neuen Manage-
mentkultur mit Management- und Effizienzsteigerungs-
maßnahmen, die Überprüfung der erforderlichen Kennt-
nisse und Bedingungen im Bereich Personalwesen, eine
Verbesserung der Schnelleingreifkapazitäten der VN bei
Friedenseinsätzen sowie die Stärkung der Friedenskonso-
lidierung in der Konfliktfolgezeit. Mehr Menschenrechts-
aktivitäten, die Förderung der Abrüstungsagenda, eine
Verbesserung der Reaktionsfähigkeit bei humanitären
Notsituationen und die Verbesserung der Öffentlichkeits-
arbeit sind dabei auch zu nennen.
Dennoch können die Vereinten Nationen alleine die
zukünftigen Herausforderungen nicht bewältigen, wir alle
müssen dazu das Unsere tun. Alles hängt davon ab, wie
sich die Mitgliedstaaten und Regierungen dafür engagie-
ren.
Eine Herausbildung von globalen Politiknetzwerken
halte ich ebenfalls für sehr wichtig. Diese Netzwerke ver-
einen internationale Institutionen, Organisationen der Zi-
vilgesellschaft und des Privatsektors sowie Regierungen
bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele. Dies zu erreichen
bedarf weiterhin großer Anstrengungen. Die VN müssen
eine stärker ergebnisorientierte Organisation werden.
Hierbei wächst auch und insbesondere Deutschland
eine besondere Rolle zu. Nach der Wiedervereinigung
wird dies auch von Deutschland erwartet. Die besondere
Rolle bezieht sich aber nicht nur auf die Beteiligung an
militärischen Aktionen, sondern auf die Bereitschaft und
Fähigkeit, Vermittlungs- und Führungsfunktion auszu-
führen. Aus der Erfüllung dieser Aufgaben ergibt sich
meiner Ansicht nach die beste Empfehlung für einen Sitz
im Sicherheitsrat.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein persönliches
Wort sagen, da dies meine letzte Rede hier im Deutschen
Bundestag ist. Nachdem ich acht Jahre als Parlamentari-
scher Geschäftsführer in meiner Fraktion gearbeitet habe
und diese Funktion zu einer der interessantesten Aufga-
ben innerhalb des Parlamentes gehört, habe ich in den
letzten vier Jahren schwerpunktmäßig im Auswärtigen
Ausschuss und als stellvertretender Vorsitzender des Un-
terausschusses „Vereinte Nationen“ arbeiten können.
Diese Arbeit hat mir viel Freude gemacht, aber gleichzei-
tig in mir persönlich die Fähigkeit gestärkt, Probleme im
eigenen Land auch in differenzierter Sichtweise zu wirk-
lichen Problemen in der Welt zu betrachten.
Ich hatte immer wieder Gelegenheit, zahlreiche UN-
Missionen vor Ort zu besuchen, und – ich kann dies nach-
drücklich sagen – die Realität vor Ort macht häufig sehr
nachdenklich, jedenfalls darüber, ob wir nicht mehr dank-
bar sein müssten, dass wir seit Jahrzehnten von Krieg, Not
und Elend verschont sind. Deshalb wünsche ich mir ab-
schließend, dass die VN-Politik im deutschen Parlament
zukünftig nicht mehr so stiefmütterlich und im Verborge-
nen wie bisher behandelt wird, sondern einen gebühren-
den Platz in der Außenpolitik erhält.
Ihnen allen wünsche ich für die Zukunft alles Gute.
Birgit Homburger (FDP): Dem unermüdlichen Ein-
satz von Generalsekretär Kofi Annan und der verantwor-
tungsvollen Haltung des Sicherheitsrates ist es zu verdan-
ken, dass die Vereinten Nationen nach dem 11. September
2001 ihre zentrale Rolle in der Weltpolitik wieder über-
nehmen können. Die Zahlung rückständiger Beiträge der
USA, die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kofi
Annan und die wiedergewonnene Funktionsfähigkeit des
Sicherheitsrates im weltweiten Kampf gegen den Terro-
rismus bieten jetzt eine günstige Ausgangslage für eine
weitere Stärkung der Vereinten Nationen.
Kofi Annans Besuch in Berlin vor wenigen Monaten
hätte Anlass für die Bundesregierung sein sollen, dem Ge-
neralsekretär hierfür konkrete Vorschläge zu unterbreiten.
Doch außer unverbindlichen Freundlichkeiten war von
der Bundesregierung nichts zu vernehmen. Und auch im
vorliegenden Bericht der Bundesregierung finden sich
keine Hinweise auf neue Initiativen. Als drittgrößter Bei-
tragszahler steht Deutschland nicht nur in einer ganz be-
sonderen Verantwortung, es sollte auch eigenes Interesse
daran haben, Einfluss zu nehmen.
Der Afghanistan-Einsatz wie schon vor ihm die
Einsätze auf dem Balkan zeigen, dass es sich bei zukünf-
tiger weltweiter Streitschlichtung nicht nur um Aktionen
einzelner Staaten handeln kann, sondern dass die Staaten-
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gemeinschaft als Ganzes gefordert ist. Das Gewaltmono-
pol der UNO muss unangetastet bleiben. Es darf nicht
sein, dass immer neue Streitkräfteeinsätze auf fragwürdi-
gen völkerrechtlichen Grundlagen erfolgen. Wenn die
Vereinten Nationen für die Wahrung des Weltfriedens
mehr Verantwortung übernehmen sollen, muss ihre politi-
sche Koordinierungsfunktion durch eigene streitschlich-
tende und Frieden schaffende Kapazitäten ergänzt werden.
Wir brauchen daher eine Stärkung friedenserhaltender und
Frieden schaffender Maßnahmen durch den Aufbau per-
manenter Blauhelmkapazitäten im Sinne des Brahimi-Be-
richtes. Es müssen endlich die innenpolitischen Voraus-
setzungen dafür geschaffen werden, dem Generalsekretär
unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Pflichten des
Deutschen Bundestages militärische Kontingente zur
Teilnahme an UNO-Friedensmissionen zur Verfügung zu
stellen. Wir haben hierfür einen Antrag vorgelegt.
Die deutsche VN-Politik darf sich nicht auf den eher
halbherzig vorgetragenen Wunsch einer Mitgliedschaft
im Sicherheitsrat beschränken. Wer mitreden will, muss
auch mithandeln. Dies setzt sowohl größeres Engagement
in den VN-Reformbestrebungen als auch eine aktivere
deutsche VN-Personalpolitik sowie ein entsprechendes
deutsches Engagement an VN-Blauhelmmissionen vo-
raus. Dies bedeutet aber auch, dass die Bundesregierung
die Bemühungen um einen dauerhaften Sitz im Sicher-
heitsrat verstärken muss. Es kann nicht sein, dass deutsche
Streitkräfte an zehn Friedensmissionen weltweit beteiligt
sind, der Sicherheitsrat aber ohne unsere Beteiligung über
Einsatzmodalitäten entscheidet.
Wir meinen, der Berichtszeitraum hätte zum Anlass ge-
nommen werden können, gegenüber unseren Partnern in
der Europäischen Union eine Initiative zur Stärkung der
Vereinten Nationen als zentralem Instrument zur Bewäl-
tigung der neuen globalen Herausforderungen zu ergrei-
fen. Im Zentrum dieser Initiative sollte unter anderem ste-
hen: eine zügige Umsetzung der VN-Reform, eine
Aufwertung der Generalversammlung durch Stärkung ih-
rer Ausschüsse und Kommissionen, eine weitere Stärkung
der Stellung des Generalsekretärs, der Ausbau der ent-
wicklungspolitischen humanitären VN-Organisationen
und eine Stärkung der VN-Blauhelmkapazitäten.
Dringend nötig ist ferner eine bessere Koordinierung
der EU-Mitgliedstaaten untereinander. Es ist beileibe nicht
so – wie im Bericht der Bundesregierung behauptet – dass
sich die EU „durch ihr verstärktes gemeinsames Auftreten
innerhalb weniger Jahre zum einflussreichen Gestalter“ in
den VN entwickelt hätte. Wir fordern daher eine gemein-
same Europäische VN-Politik. Einen entsprechenden An-
trag haben wir vorgelegt.
Darüber hinaus sollte die Dezentralisierung der Verant-
wortung des Sicherheitsrates durch Übertragung von
Kompetenzen an regionale Abmachungen im Sinne von
Kapitel VIII der UNO-Charta ein Schwerpunkt der
zukünftigen deutschen UNO-Politik werden. Der Sicher-
heitsrat darf nicht mit der Lösung sämtlicher regionaler
Konflikte überfordert werden. Die Bundesregierung sollte
mit ihren Partnern in der EU ferner in der Generalver-
sammlung eine Initiative mit dem Ziel ergreifen, das er-
folgreiche KSZE/OSZE-Modell der Vertrauensbildung
und Konfliktschlichtung in anderen Regionen – wie etwa
im Nahostkonflikt oder für die Krisenregion um Afghanis-
tan – umzusetzen.
Um jedoch eine dem politischen und wirtschaftlichen
Gewicht Deutschlands angemessene Position einnehmen
zu können, muss die Bundesregierung auch endlich ihre
Hausaufgaben erledigen. Es darf nicht sein, dass die deut-
schen Beiträge zu humanitären VN-Organisationen weiter
reduziert werden. Die Bundesregierung muss endlich ei-
nen verbindlichen Finanzplan für die Realisierung der von
ihr angekündigten Politik der Armutsreduzierung im Rah-
men des VN-Millenniumprogramms vorlegen. Schließlich
sollte es gerade ein vorrangiges deutsches Anliegen sein,
das Netzwerk der VN-Gerichtsbarkeit weiter zu stärken.
Die Durchsetzung von Völkerrecht und Menschen-
rechten im Rahmen der Globalisierung hat Kofi Annan
zum Hauptanliegen seiner Amtszeit gemacht. Wir Deut-
schen sollten ihn hierbei nach Kräften unterstützen.
Petra Bläss (PDS): Der Bericht gibt einen umfas-
senden Überblick über deutsche Aktivitäten in dieser uni-
versellen Weltorganisation. Den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in allen diesen Gremien, die zahlreichen
Nichtregierungsorganisationen eingeschlossen, gebührt
Dank.
In Anbetracht der riesigen globalen Probleme und He-
rausforderungen und nicht zuletzt aufgrund der grausa-
men Erfahrungen des 11. September ist die Bedeutung
dieser einmaligen Organisation nicht hoch genug einzu-
schätzen. Wir haben uns immer für ihre Stärkung einge-
setzt und wir haben immer kritisiert, wenn sie – vor allem
von der einzig verbliebenen Weltmacht – an den Rand
geschoben wurde, wenn ihr die notwendigen Mittel vor-
enthalten und wenn diese Organisation und damit das
Völkerrecht generell geschwächt wurden. Die Bundesre-
gierung ist an solchen Entwicklungen nicht unbeteiligt –
ich nenne für die Vergangenheit nur das Stichwort Koso-
vokrieg. Aber auch der ansonsten penibel alle deutschen
Aktivitäten auflistende Bericht lässt solches erkennen.
Nur wenige Beispiele:
Erstens. Der Bericht weist aus, dass vor allem die frei-
willigen Beiträge der Bundesrepublik erheblich zurück-
gegangen sind. Für die Zukunft wird infrage gestellt, dass
die frühere – an den Potenzen Deutschlands gemessene
auch nicht gerade überragende – Höhe in absehbarer Zeit
erreicht wird. Dabei ist die Welt weder friedlicher noch
stabiler geworden. Die Zahl der bewaffneten Konflikte
hat zugenommen. In Regionen wie dem Nahen Osten oder
Südasien stiegen die Spannungen vehement – von den Er-
fordernissen der Entwicklungszusammenarbeit oder der
Lösung globaler Probleme nicht zu reden.
Zweitens. Im Bericht nehmen Fragen der Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen breiten Raum ein. in der Tat ar-
beitet die Bundesrepublik in den verschiedenen UN-Gre-
mien mit, bemüht sie sich um eine Intensiverung des
globalen und regionalen Dialogs. Wo bleibt aber das ei-
gene Beispiel zur Reduzierung der Streitkräfte und Rüs-
tungsausgaben? Wo bleiben deutsche Abrüstungsvor-
schläge? Wo bleibt angesichts der jüngsten Erklärungen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24811
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aus den USA für so genannte „defensive Interventionen“
das ganze Spektrum konventioneller und nuklearer An-
griffsoptionen einsetzen zu wollen, zum Beispiel das ent-
schiedene deutsche Auftreten und Wirken gegen die nu-
kleare Erstschlagsoption?
Drittens. Im Bericht wird der deutsche Anteil am Zu-
standekommen des Internationalen Strafgerichtshofes
hervorgehoben. Jüngsten Presseberichten zufolge soll
aber Deutschland auch zu den Staaten gehören, die mit der
afghanischen Übergangsregierung ein Abkommen ge-
schlossen haben, das Klagen gegen Soldaten und Zivilis-
ten der ISAF für eventuell dort begangene Verbrechen
verhindern soll. Hier möchten wir Aufklärung von der
Bundesregierung. Wenn dem so sein sollte, wäre es der
Gipfel der Doppelzüngigkeit. Damit würde nicht nur von
vornherein die Autorität dieses Gerichtshofes untergra-
ben; vielmehr würden zugleich zweierlei Maßstäbe im
Völkerrecht eingeführt. Es wäre die gleiche Arroganz,
wie sie von den USA gegenüber internationalen Verein-
barungen, den Internationalen Strafgerichtshof einge-
schlossen, an den Tag gelegt wird. Eine solche Entschei-
dung, wenn es sie denn gibt, müsste unbedingt revidiert
werden.
Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Mit dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung
über ihre Tätigkeit in den Vereinten Nationen im Jahr
2001 liegt dem deutschen Bundestag erstmals ein umfas-
sendes Dokument über Herausforderungen, Ereignisse
und Initiativen deutscher VN-Politik vor. Eines wird da-
bei mehr als deutlich: Die Bundesregierung sieht in den
Vereinten Nationen die zentrale Organisation zur Lösung
der Aufgaben der Weltgemeinschaft.
Die Vereinten Nationen werden im 21. Jahrhundert
weiter an Bedeutung gewinnen. Antworten auf die großen
Weltprobleme zu finden wird im Rahmen der klassischen
Nationalstaaten nicht mehr möglich sein. In einer multi-
polaren Welt, die sich immer stärker vernetzt, in der Ab-
hängigkeiten und Wechselwirkungen politischer Entschei-
dungen immer mehr regionale und globale Auswirkungen
haben, ist multilaterales Handeln jedes einzelnen Mit-
gliedstaates gefordert. Deutschland setzt sich deshalb für
eine Strategie des Multilateralismus ein. Eine handlungs-
fähige Weltorganisation ist der wesentliche Baustein zur
Lösung der drei großen, eng miteinander zusammenhän-
genden Menschheitsaufgaben: Sicherung des Weltfrie-
dens, Durchsetzung der Menschenrechte und Sicherung
einer sozial gerechteren, nachhaltigen Entwicklung in al-
len Ländern. Die Vereinten Nationen zu stärken liegt des-
halb im fundamentalen Interesse unseres Landes.
Eine Kernaufgabe der Vereinten Nationen bleibt der
Erhalt von Frieden und Sicherheit. Dies gilt auch für neue
Bedrohungsszenarien. Die VN haben ihre Rolle als Platt-
form für Konsensbildung, Rechtsetzung und den aktiven
Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach den
Anschlägen vom 11. September erfolgreich angenom-
men. Eine umfassende Strategie gegen Terrorismus muss
Grundlagen einer kooperativen Ordnungspolitik für das
21. Jahrhundert entwerfen, einer Politik, die Zonen der
Ordnungslosigkeit nicht mehr zulässt, die auf eine Welt-
ordnung zielt, die allen Völkern eine volle und gerechte
Teilhabe ermöglicht und die durch konsequente Orientie-
rung an einem gemeinsamen Werterahmen die Globali-
sierung gerecht gestaltet.
Erfolgreiche Friedenspolitik der Vereinten Nationen
erfordert eine konzeptionelle und strukturelle Weiterent-
wicklung der vorhandenen Instrumentarien. Dies gilt für
das gesamte Spektrum der zivilen, polizeilichen und mi-
litärischen Beteiligung an Friedensmissionen, von der
Prävention bis hin zur Friedenskonsolidierung. Die Bun-
desregierung engagiert sich in diesem Prozess sowohl in
der konzeptionellen Debatte als auch durch eine aktive
Politik der personellen und materiellen Unterstützung von
Friedensmissionen. Erst in dieser Woche habe ich hier in
Berlin das Zentrum für internationale Friedenseinsätze
eröffnet. Unser Engagement, sei es im Inland, sei es im
Kosovo, in Afghanistan oder Georgien, dient der Erhal-
tung oder Wiederherstellung von Stabilitä, die auch für
unsere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung unverzichtbar ist.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung des Men-
schenrechtsschutzes für die Sicherung von Frieden und
Stabilität und der Rolle der Vereinten Nationen für die
Weiterentwicklung und die Einhaltung der Menschen-
rechte bewusst. Im Hinblick auf die morgige Debatte zur
Menschenrechtspolitik möchte ich an dieser Stelle auf
eine breitere Behandlung des Themas verzichten.
Dritte Kernaufgabe der Vereinten Nationen ist die Ent-
wicklungspolitik. Die Vereinten Nationen sind das ein-
zige globale Dialogforum, in dem die Entwicklungsländer
ihre Vorstellungen, Wünsche und Forderungen an ihre
staatlichen Entwicklungspartner formulieren können. In
diesem Jahr finden zwei wichtige VN-Konferenzen im
Bereich der Entwicklungs- und Umweltpolitik statt. Auf-
bauend auf der Millenniumserklärung, in der sich die Mit-
gliedstaaten unter anderem auf richtungsweisende Ziele
zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung geeinigt ha-
ben, stehen die Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung
vom März 2002 in Monterrey/Mexiko sowie der Weltgip-
fel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg/Süd-
afrika im September 2002 im Mittelpunkt.
Angesichts weltweit wachsender Armut bleibt das Ziel
der Armutsbekämpfung und der Reduzierung des Anteils
der Armen um 50 Prozent bis zum Jahre 2015 unbestrit-
ten vorrangig. Der von der Bundesregierung verabschie-
dete Aktionsplan dient diesem Ziel.
Die Staatengemeinschaft braucht handlungsfähige Ver-
einte Nationen auch für die drängenden globalen Fragen
der Umwelt, der Biotechnologie und der Bekämpfung der
weiteren Verbreitung von HIV/Aids, aber auch von Mala-
ria und Tuberkulose. Die Millenniumserklärung enthält
auch für den Umweltschutz klare Beschlüsse, die unsere
Arbeit in den Vereinten Nationen in den kommenden Mo-
naten und Jahren leiten müssen.
Sichtbarer Ausdruck des deutschen Engagements für
die Vereinten Nationen ist auch unsere Bereitschaft, den
neuen VN-Standort Bundesstadt Bonn weiter und nach-
haltig auszubauen. Dies gilt besonders für die Bereiche
Entwicklung, Umwelt und Gesundheit, für die Bonn zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224812
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einem Schwerpunkt mit vielen Synergieeffekten mit Wirt-
schaft, Forschung, Administration und Nichtregierungs-
organisationen geworden ist. Die Vereinbarung über den
VN-Standort Bonn und das Internationale Kongresszen-
trum Bundeshaus Bonn einschließlich der Schaffung eines
VN-Campus, im ehemaligen Plenarbereich des Deutschen
Bundestages, die in Anwesenheit des Bundespräsidenten
und des VN-Generalsekretärs am 27. Februar 2002 unter-
zeichnet wurde, hat uns auf dem Weg zu einem effizien-
ten und dauerhaft lebensfähigen VN-Standort in Deutsch-
land einen entscheidenden Schritt vorwärts gebracht.
Wenn die VN in der Lage sein sollen, zur Lösung der
Menschheitsfragen beizutragen, dann muss ihre Hand-
lungsfähigkeit durch Reformen gestärkt werden. Die
Bundesregierung hat ihre Vorstellungen hierzu auf dem
Millenniumsgipfel noch einmal bekräftigt. Konzentration
und Verstärkung der Synergien innerhalb der VN-Familie
sind notwendig. Die Generalversammlung muss gestärkt
werden, der Sicherheitsrat muss repräsentativer und effi-
zienter werden und die Bemühungen zur Stärkung des
Wirtschafts- und Sozialrates intensiviert werden. Dies al-
les sind Reformen, die in der Verantwortung der Mit-
gliedstaaten liegen. Die Bundesregierung wird sich wei-
ter nachhaltig dafür einsetzen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Anwendung von Gentests in Medizin
und Versicherungen (Tagesordnungspunkt 15)
Dr. Carola Reimann (SPD): Die Problematik der
Bio- und Gentechnologie ist im Deutschen Bundestag bis-
lang mit großer Ernsthaftigkeit behandelt worden. Nicht
zuletzt deshalb haben wir die Enquetekommission „Recht
und Ethik in der modernen Medizin“ im März 2000 ein-
gerichtet. In deren Themengruppe „Genetische Daten“ ist
die Frage genetischer Tests ausführlich diskutiert worden.
Die Kommission hat kürzlich ihren Abschlussbericht
übergeben, auf den ich aufmerksam machen möchte. Die-
sen Bericht haben wir in der letzten Sitzungswoche im
Plenum diskutiert. Statt nun schnell und undifferenziert
Gesetze zu schmieden, sollten wir die umfangreiche Arbeit
der Enquete-Kommission würdigen und ihre Empfehlun-
gen sorgfältig prüfen, um auf der Basis dieser Vorschläge
den Bereich prädiktiver genetischer Tests umfassend und
angemessen zu regeln.
Gestatten Sie mir vor diesem Hintergrund einige An-
merkungen zu Ihrem Antrag. Ich beginne mit dem Positi-
vem. Auch wir sind der Meinung, dass genetische Tests
nur freiwillig, begleitet von qualifizierter fachlicher und
auch psychosozialer Beratung und nur von Medizinern
durchgeführt werden dürfen. Die Patienten müssen um-
fassend informiert sein, damit sie ihre Entscheidung für
oder gegen einen Test auf der Basis von Wissen fällen
können. So etwas, so meinen wir, ist nur durch ein diffe-
renziertes Beratungskonzept realisierbar. Für uns als SPD
steht außerdem fest: Wir wollen keine Verwertung von
prädiktiven genetischen Tests bei Abschluss von Versi-
cherungs- und Arbeitsverträgen.
Ganz kann ich mir die Kritik am Antrag der Union
nicht ersparen. Denn insgesamt ist ihr Antrag doch aus
sehr groben Holz geschnitzt. Sie sprechen von genetischer
Diagnostik ohne jede Differenzierung. Zurzeit werden
etwa 300 verschiedene Tests eingesetzt. Schon seit etwa
15 Jahren werden molekulargenetische Tests zur Diagnos-
tik klinisch apperenter Erkrankungen angewandt. So
würde zum Beispiel keiner heute auf Gentests bei der Tu-
mordiagnostik zur Differentialdiagnose, also zur Bestim-
mung des Tumortyps verzichten wollen. Dies sind geneti-
sche Tests im diagnostischen Alltag, die keiner zusätzlichen
Regelung bedürfen. Ihr Antrag zielt auf prädiktive Tests.
Jedenfalls vermute ich das; denn genaue Differenzierun-
gen und Definitionen hat sie in ihrem Papier einfach aus-
gespart.
Auf dem Gebiet der prädiktiven Gentests gibt es aber
keinen aktuellen Handlungsdruck, einen solch unvoll-
ständigen und grobgeschnitzten Antrag in ein Gesetz zu
gießen. Dies sage ich Ihnen vor allem vor dem Hinter-
grund, dass mit der Versicherungswirtschaft eine freiwil-
lige Verpflichtung abgeschlossen worden ist, genetische
Tests beim Abschluss von Versicherungen weder anzu-
nehmen noch zu fordern. Im Bereich der Krankenversi-
cherung betrifft dies zudem nur die privaten Krankenver-
sicherungen; die gesetzliche Krankenversicherung
arbeitet nach dem Solidarprinzip und kennt eine solche
Risikoselektion bei Vertragsabschluss ohnehin nicht. Und
95 Prozent unserer Bürgerinnen und Bürger sind in der ge-
setzlichen Krankenversicherung versichert. Diese freiwil-
lige Selbstverpflichtung gilt auch für Lebensversicherun-
gen bis zu 250 000 Euro. Versicherungen mit größeren als
der genannten Summe machen lediglich 1 Prozent aller
Vertragsabschlüsse aus.
Prädiktive genetische Untersuchungen ermitteln eine
Erkrankungswahrscheinlichkeit. Diese prädiktiven Tests
zielen in erster Linie auf monogene Erkrankungen. Mo-
nogen bedingte Erkrankungen sind jedoch sehr selten.
Insgesamt kann man etwa zwei bis drei Prozent aller Er-
krankungen auf monogenetische Verursachung zurück-
führen. Zurzeit gibt es nur einen einzigen prädiktiven Test
mit hoher Vorhersagekraft; das ist der Test auf Chorea
Huntington. Bei allen anderen Tests bleibt immer noch ein
großer Interpretationsspielraum, der eine fachliche Bera-
tung auch unabhängig von der psychosozialen Betreuung
unerlässlich macht.
Auf der einen Seite mühen Sie sich um Regelungen für
Dinge, die man nicht sofort und dringlich regeln muss.
Auf der anderen Seite verpassen Sie es, die wirklich sen-
siblen Themen überhaupt zu benennen. Die Entwicklung
der DNA-Chip-Technologie bleibt bei Ihnen gänzlich un-
erwähnt; dabei stellt gerade diese Technologie, dadurch
dass sie zusätzliche Informationen über den einzelnen Gen-
test hinaus gewinnt, eine Problemquelle dar. Dies allein
deshalb, weil mehrere Gentests – also Tests auf verschie-
den Sequenzen – auf einem Chip getestet und automati-
siert ausgewertet werden. Dadurch werden zusätzliche
genetische Daten gewonnen, die über die Abklärung der
aktuellen Erkrankung hinaus Ergebnisse liefern, auch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24813
(C)
(D)
(A)
(B)
wenn dies nicht explizit beabsichtigt war. Hier muss die
Sicherung bzw. Löschung dieser persönlichen Daten ge-
regelt werden. Aus der Tatsache, dass der Chip mehrere
Tests automatisiert absolviert, ergibt sich außerdem die
Problematik einer zweiten Auswertung solcher Ergeb-
nisse ohne Wissen und Einwilligung der Patienten.
Dies sind Dinge, die in ein Gesetz mit hinein gehören.
Und wenn wir schon darüber reden, was in ein solches
Gesetz gehört, dann dürfen auch die Felder Präimplanta-
tionsdiagnostik und Pränataldiagnostik sowie Screening-
programme nicht unberücksichtigt bleiben. Das alles ver-
missen wir in Ihrem Antrag. Es macht aber keinen Sinn,
einzelne Felder losgelöst voneinander gesetzlich regeln
zu wollen. In der nächsten Legislaturperiode werden wir
deshalb einen umfassenden, angemessenen und differen-
zierten Gesetzentwurf vorlegen. Dazu existieren bereits
Eckpunkte, die zusammen mit den Empfehlungen der En-
quete-Kommission eine seriöse tragfähige Basis darstel-
len. Bis dahin sollten wir nicht in Aktionismus verfallen,
sondern uns die Zeit nehmen, die für die Lösung eines
komplexen Problems nötig ist.
Der Antrag der Union ist gut gemeint, aber ein Schnell-
schuss. Ich empfehle daher ihn abzulehnen.
Katharina Reiche (CDU/CSU): Wir befinden heute
über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag unserer Fraktion
über die Anwendung von Gentests in Medizin und Ver-
sicherungen. Die öffentliche Anhörung der Sachverstän-
digen im Gesundheitsausschuss am 5. Juni 2002 hat
eindrucksvoll belegt, dass wir in Deutschland eine ge-
setzliche Regelung für den Umgang mit Gentests benöti-
gen. Das Parlament ist aufgerufen, beim Umgang mit
Gendaten Leitplanken zu setzen, um die Entwicklung in
die gewünschten Bahnen zu lenken.
Ich möchte hierzu gerne den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz, Joachim Jacobs, zitieren, der in der An-
hörung ausführte:
Wichtig ist auch die Frage, in welchen Zusammen-
hängen die über Gentests gewonnenen Informatio-
nen genutzt werden. Hier ist zunächst einmal der Ge-
setzgeber aufgerufen, die Fälle deutlich zu machen,
wo eine besondere Nutzung dieser Daten zugelassen
sein soll.
Diese Feststellung deckt sich im Übrigen mit der
62. Datenschutzkonferenz des Bundes und der Länder, die
bereits im Oktober des letzten Jahres den Bundestag auf-
forderte, genetische Untersuchungen am Menschen ge-
setzlich zu regeln. Die CDU/CSU- Fraktion ist mit diesem
Antrag genau diesem Verlangen nachgekommen und hat
unter anderem die Forderung des Bundesbeauftragten für
den Datenschutz, unerlaubte Gentests unter Strafe zu stel-
len, explizit mitaufgenommen.
Leider hat die Bundesregierung bis zum heutigen Tag
trotz anders lautender Ankündigungen keinen Gesetzent-
wurf zum Umgang mit Gentests vorgelegt. An dieser
Stelle möchte ich gerne noch einmal den Bundesbeauf-
tragten für den Datenschutz, Herrn Jacobs, zitieren, der
auf die Frage, wie weit denn die Bundesregierung mit
ihren Vorstellungen über eine gesetzliche Regelung im
Detail sei, antwortete:
Wir fragen immer nach. Uns wird dann mitgeteilt,
dass es ein sehr komplexes und schwieriges Gebiet
ist.
Die Bundesregierung hat nicht die vordringliche Auf-
gabe, eine Einschätzung darüber abzugeben, wie schwie-
rig ein Themenkomplex ist oder nicht, sie soll vielmehr
Lösungsansätze für die Probleme in diesem Land ent-
wickeln.
Die Anhörung der Sachverständigen im Ausschuss für
Gesundheit hat ergeben, dass unser Antrag in die richtige
Richtung geht und auf der Grundlage unserer Eckpunkte
dringend eine rechtliche Grundlage für die Anwendung
von Gentests in Medizin und Versicherungen erarbeitet
werden muss. Ganz deutlich hat die Anhörung auch er-
bracht, dass sich – im Gegensatz zu den diagnostischen
Tests – eine gesetzliche Regelung auf die prädiktiven
Gentests beziehen muss und wir hier zu einer klaren, all-
gemeinen Definition kommen müssen, um der außeror-
dentlich raschen Entwicklung der prädiktiven genetischen
Diagnostik gerecht zu werden. Ein Beispiel für die rasante
Entwicklung auf diesem Gebiet sind die Fortschritte und
Erfolge im Fachgebiet der Pharmakogenomik.
Erst, wenn wir wissen, ob ein Mensch die Veranlagung
für eine bestimmte Erkrankung trägt und wir sagen kön-
nen, mit welcher Wahrscheinlichkeit er an dieser erkran-
ken kann, können wir die Krankheitsprävention im Sinne
einer Verhütung oder Verzögerung des Krankheitsausbru-
ches verbessern. Ein positives Beispiel ist hierfür das Pi-
lotprojekt der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover,
die am Anfang des Jahres als erste deutsche Krankenkasse
ihre Versicherten freiwillig zu einer medizinisch-geneti-
schen Reihenuntersuchung auf die Eisenspeicher-Krank-
heit aufgerufen hatte. Die Eisenspeicher-Krankheit, die
Spätschäden wie Herzschwäche oder Leberkrebs verursa-
chen kann, ist ein typisches Beispiel dafür, dass eine
Krankheit nach Durchführung eines Gentests erfolgreich
behandelt werden kann. Bemerkenswert ist dabei, dass
sich die KKH stark an die Richtlinien der Europäischen
Gesellschaft für Humangenetik zur Durchführung von
Gentests gehalten hat. Diese Richtlinien wurden bereits
von der Amerikanischen Gesellschaft für Humangenetik
übernommen. Dies bedeutet, dass Europa Standards im
internationalen Vergleich setzen kann. Deutschland ist
deshalb aufgefordert, ebenfalls gesetzliche Richtlinien für
den Umgang mit Gentests zu entwerfen, um nicht im in-
ternationalen Vergleich zurückzufallen.
Natürlich ist die Durchführung von prädiktiven Gen-
tests sehr anspruchsvoll und stellt besonders hohe fachli-
che Anforderungen an den Untersuchenden. Doch wie
sieht die Realität in Deutschland aus? Wir haben in
Deutschland momentan eine Situation, wo man im Inter-
net einen Gentest anfordern kann und dann das Ergebnis
in schriftlicher Form mitgeteilt bekommt, ohne dass eine
umfassende Beratung gewährleistet ist oder ein Kontakt
zwischen Arzt und Patient stattfindet. Dies halte ich für
unverantwortbar. Wir haben deshalb in unserem Antrag
deutlich gemacht, dass Gentests und die entsprechende
Beratung in die Hand des Facharztes gehören und nur
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224814
(C)
(D)
(A)
(B)
durch ihn bzw. von zugelassenen und qualifizierten Stel-
len durchgeführt werden darf. Mittlerweile werden von
den genetischen Laboren in Deutschland 200 bis 300
Gentests angeboten. Tatsache ist – auch dies wurde von
den Sachverständigen in der Anhörung bestätigt –, dass
wir in Deutschland zu wenig Fachärzte für Humangene-
tik haben. Nach den Angaben der Bundesärztekammer
gibt es in Deutschland momentan lediglich 181 Fachärzte
für Humangenetik und 292 Ärzte mit Zusatzbezeichnung.
Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik sieht einen
zusätzlichen Bedarf von 400 Fachärzten bundesweit.
Eine Regelungslücke ergibt sich auch im Versiche-
rungsrecht. Zwar haben sich alle Lebens- und Kranken-
versicherungen in einer Selbstverpflichtungserklärung
dazu verpflichtet, die Durchführung eines Gentests nicht
zur Voraussetzung für den Abschluss eines Versiche-
rungsvertrages zu machen, jedoch erscheint die Kontrolle
dieser Selbstverpflichtungserklärung noch vage. Die Ver-
treter der Versicherungswirtschaft selbst haben in der An-
hörung deutlich gemacht, dass die Möglichkeit der Sank-
tionen gegen Unternehmen, die gegen dieses freiwillige
Memorandum verstoßen, sehr gering sind. Auch hier be-
steht Handlungsbedarf für die Politik.
Völlig ungeregelt ist im Übrigen der Umgang mit Gen-
tests im Arbeitsrecht. Wir wollen, dass prädiktive Gen-
tests im Rahmen von medizinischen Eignungsuntersu-
chungen weder vor dem Abschluss des Arbeitsvertrages
noch während der Dauer des bestehenden Arbeitsverhält-
nisses weder verlangt noch angenommen oder in irgend-
einer Form verwertet werden dürfen. Eine Ausnahme soll
für solche Fälle gelten, in denen mit Hilfe von prädiktiven
Tests der Ausbruch einer Krankheit prognostiziert wird,
durch die der Arbeitnehmer schlagartig funktionsuntüch-
tig wird und der plötzliche Ausfall am Arbeitsplatz eine
erhebliche Gefährdung Dritter bedeuten würde.
Wir als Fraktion haben einen Antrag zur Anwendung
von Gentests in Medizin und Versicherungen vorgelegt,
der von den Sachverständigen positiv aufgenommen wor-
den ist und der einen Leitfaden für weitere gesetzliche Re-
gelungen bilden soll. Wir hoffen, dass in der nächsten Le-
gislaturperiode eine neue Bundesregierung unter der
Einbeziehung aller Betroffenen offensiv die Problematik
des Umgangs mit Gentests aufgreifen wird und auf der
Grundlage unserer formulierten Eckpunkte dem Deut-
schen Bundestag einen Gesetzentwurf vorlegen wird.
Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Thema ist anspruchsvoll. Die Notwendigkeit, gesetzliche
Regelungen zu treffen, ist unstrittig. Unstrittig unter vie-
len Gesundheitspolitikern und Gesundheitspolitikerinnen
ist ebenfalls, dass es möglich hätte sein müssen, in dieser
Legislatur ein Gentest-Gesetz zu verabschieden.
Anders als in vielen anderen Bereichen gibt es frakti-
onsübergreifende Übereinstimmung darin, dass die neuen
diagnostischen Möglichkeiten, die genetische Beschaf-
fenheit des Menschen zu testen, danach verlangen, den
Zuwachs an Kenntnissen über Krankheitsdispositionen
mit dem tatsächlichen Zugewinn an Prävention und the-
rapeutischen Möglichkeiten auszutarieren. Zweifelsohne
bedeutet die Tatsache, dass die genetische Entschlüsse-
lung vermehrt möglich ist, nicht, dass wir in der Bundes-
republik Deutschland gänzlich neue gesetzliche Rahmen-
setzungen bräuchten, um den Schutz vor Diskriminierung
und eine sachgerechte medizinische Anwendung zu ge-
währleisten.
Am meisten beschäftigt die Menschen die Sorge, dass
das Wissen, das im Rahmen der medizinischen Diagnos-
tik erworben wird, an Versicherungen oder Arbeitgeber
weitergegeben werden könnte und sie aufgrund dieses
Wissens dann Diskriminierungen ausgesetzt sind. Das
Diskriminierungsverbot steht im Grundgesetz. Es ist also
sehr wichtig, auf Folgendes hinzuweisen: Selbst gene-
tisch bedingte Behinderungen dürfen im Versicherungs-
recht kein Kriterium sein, das zu Benachteiligungen führt.
Die gesetzliche Krankenversicherung gibt den Patien-
ten und Patientinnen und den Versicherten den maxima-
len Schutz, den ein Versicherungssystem überhaupt geben
kann, weil es völlig irrelevant ist, welche genetisch be-
dingte oder nach prädiktiven Tests zu erwartende Erkran-
kung eintritt. Durch das Sachleistungsprinzip und den
Ausschluss von Versicherungspolicen als Grundlage der
Versicherung ist eine Diskriminierung innerhalb der GKV
für die Versicherungsgeber nicht nur finanziell völlig un-
attraktiv; sie ist auch von der Sache her nicht möglich.
Deshalb sollen sich alle folgenden gesetzlichen Regelun-
gen an denen der Solidarkasse GKV orientieren.
Bei den meisten Tests sagt das diagnostische Ergebnis
nichts über den Zeitpunkt der Manifestation einer beste-
henden Krankheitsdisposition als behandlungsbedürftige
Krankheit aus. Die Tatsache, dass Menschen um ihre ge-
netische Disposition wissen, ändert zumindest nichts da-
ran, dass die Krankheit eintritt; sie träte auch ein, wenn sie
nicht um diese Disposition wüssten. An dem Versiche-
rungsumfang und dem Eintritt des Versicherungsfalls än-
dert sich also nichts.
Interessant ist das Wissen dann, wenn nach solchen
prädiktiven Tests für die betreffende Person Primär- und
Sekundärprävention im Hinblick auf den Eintritt und die
Ausformung der Krankheit hilfreich ist. Gerade dies ver-
weist aber darauf, dass wir Gentests ausschließlich im
Rahmen des ärztlichen Behandlungsauftrages zulassen
dürfen. Nur dort ist die Verschwiegenheit gewahrt, nur
dort kann der „informed consent“ überhaupt hergestellt
werden und nur dort ist ein Regelwerk vorhanden, um ia-
trogene Schäden zu begrenzen und zu vermeiden, die
durch eine Diagnostik bei der Patientin bzw. bei dem Pa-
tienten ausgelöst werden.
Niemals dürfen Gentests frei verkäufliche Waren sein.
Niemals darf man Gentests zu einem weiteren Marktseg-
ment im ärztlichen Sektor der Privatliquidation, zu einer
IGEL-Leistung machen.
Vielfach übersehen wir auch, dass aussagekräftige
Gentests nicht nur die genetische Disposition der ge-
testeten Person offenbaren, sondern zugleich tief in das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der
genetisch Verwandten eingreifen. Wegen deren Selbst-
bestimmungsrechtes kommt es gerade bei der Gendia-
gnostik unausweichlich zu einem Grundrechtekonflikt
unter genetisch verwandten Menschen. Ihr Recht auf
Wissen müssen wir als Gesetzgeber genauso wahren wie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24815
(C)
(D)
(A)
(B)
ihr Recht auf Nichtwissen. Bei der Anhörung zum
CDU/CSU-Antrag wurde vom Datenschutzbeauftragten
dieses nahezu unauflösbare Dilemma eindrücklich illus-
triert, das genetisch Verwandten durch Gendiagnostik
aufgedrängt würde.
Noch einige Worte zu prädiktiven Tests im Rahmen der
Pränataldiagnostik. Die Diagnostik zur Identifizierung
der genetischen Beschaffenheit des Fötus hat sich zu ei-
ner Routineuntersuchung entwickelt, bei der die aufge-
zeigten Anforderungen des „informed consent“ in der Re-
gel nicht erfüllt zu sein scheinen. Obwohl in der
medizinischen Praxis die Standards der Einwilligung
nach erfolgter Aufklärung über die getesteten Merkmale,
die Aussagesicherheit des Tests, sein therapeutischer
Gewinn, die bei einem positiven Testergebnis bestehen-
den Handlungsmöglichkeiten und das Risiko, schwere
Schwangerschaftskonflikte auszulösen, Voraussetzung
für die Durchführung eines Gentests sind, um die Ver-
wirklichung einer Körperverletzung auszuschließen,
spricht vieles dafür, dass diese bei schwangeren Frauen
nicht eingehalten werden.
In Deutschland besteht ein bürgerrechtlich-freiheitli-
ches, staatlichen Eingriffen weitgehend entzogenes Arzt-
Patienten-Verhältnis. Im SGB V werden keine Indikati-
onskataloge festgelegt. Das gilt auch für die Gentests am
Embryo und Fötus. Der Staat kann unerwünschte Fehl-
allokationen – hier screenings mit eugenischer Implika-
tion – nur über mittelbar wirkende Steuerungselemente,
nicht jedoch über Verbote oder Indikationskataloge, die
ethisch nicht umstritten sind, verhindern.
Dem Grundsatz folgend, dass nur die ärztliche Indika-
tion zur medizinischen Intervention im Rahmen des ärzt-
lichen Behandlungsauftrages eine Finanzierungspflicht
der Leistung seitens der Gesetzlichen Krankenversiche-
rungen auslöst, müssen die Empfehlungen für eine medi-
zinisch und ethisch vertretbare Indikationsbegrenzung der
Gentests am Fötus im Rahmen der Selbstverwaltung und
der ärztlichen Berufsethik gelöst werden. Wie hier der
konkrete Gesetzestext aussehen könnte, hat die CDU
noch nicht beantwortet. Ihr Anliegen aber teile ich.
Zur Selbstbestimmung und Konsumentensouveränität
noch ein Gedanke. Genetische Daten offenbaren intimste
Informationen. Sie müssen aufgrund des Grundrechts auf
informationelle Selbstbestimmung effektivstem Daten-
schutz unterliegen. Mit dem Recht auf Wissen allein kann
eine allgemeine Zugänglichkeit oder Verordnungsfähig-
keit von Gentests nicht begründet werden. Das via Gen-
tests erlangte Wissen über genetische Bedingungen bleibt
nicht auf die Getesteten beschränkt.
Worüber angesichts eines Gentest-Gesetzes unbedingt
gesprochen werden muss, ist Folgendes: Über die rechtli-
chen Regelungen hinaus beeinflusst dieses neue geneti-
sche Wissen die sozialen Beziehungen der Menschen und
das individuelle und gesellschaftliche Verständnis von ei-
nem „gelungenen“ Leben. Da Gesellschaft und Medizin
für dieses menschheitsgeschichtlich und kulturell völlig
neue Phänomen noch keine adäquaten ethischen und mo-
ralischen Normen entwickelt haben, kann nur mit einer re-
striktiven Handhabung der Gendiagnostik reagiert wer-
den. Da sich neben diesen zentralen Fragen aber auch
Regelungsnotwendigkeiten, wie zum Beispiel im Arznei-
mittelrecht, im Medizinproduktegesetz oder im Patent-
recht ergeben, die im Rahmen schon bestehender Regel-
werke durch Novellierung befriedigt werden können,
macht es großen Sinn, in der Federführung des BMG ein
Gentest-Gesetz zu verabschieden.
Der DBG hat, was das Arbeitsrecht und tarifrechtliche
Bedingungen angeht, auf der öffentlichen Ausschuss-
anhörung wichtige Beiträge geliefert. Solange sich die
private Versicherungswirtschaft durch Selbstbeschrän-
kung an ein „imaginiertes Recht“ hält und keine schweren
Rechtsverletzungen im Vertragsgeschehen zu erwarten
sind, bleibt es letztlich nicht wirklich verständlich, warum
die Regierung und das BMG insbesondere auf das Gen-
test-Gesetz verzichtet hat.
Der nächsten Regierung mögen die, wie ich meine,
sehr fundierten Vorarbeiten der Enquete-Kommission und
die Debattenbeiträge der fachkundigen Abgeordneten, die
es in all diesen Fragen in allen Fraktionen gegeben hat,
nützlich sein, damit von der Arbeit, bei der ich die Freude
hatte, sie auf diesem neuen wichtigen Feld leisten zu kön-
nen, etwas bleibt, sodass die nachkommenden Abgeord-
neten zügig und kompetent das Geleistete komplettieren
und alsbald ein Gesetz verabschieden können. Erwartet
wird ein Gentest-Gesetz in der Bevölkerung schon heute.
Detlef Parr (FDP): Nach der Anhörung zu der Frage,
ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen
Gentests in Medizin und Versicherungen Anwendung fin-
den können, ist eines noch deutlicher geworden: Der Bun-
destag muss handeln und präventiv Regeln erlassen, die
Rechtssicherheit schaffen und Missbrauch verhindern. In-
sofern sollten wir der Aufforderung der Enquete-Kom-
mission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ bald
folgen. Für die FDP steht dabei im Mittelpunkt: Jede Art
von Diskriminierung muss ausgeschlossen werden und
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darf
nicht angetastet werden.
Die Ergebnisse prädiktiver und diagnostischer Gen-
tests können erhebliche Auswirkungen auf den weiteren
Lebensweg der Testperson haben. Die persönliche Ent-
scheidung, sich nach aufgetretenen Erkrankungen in der
Familie „nur zur Beruhigung“, sozusagen im Vorbeige-
hen, einem Test zu unterziehen, kann fatale Folgen haben.
Deshalb ist es unabdingbar, auch und besonders vor dem
Hintergrund eines wachsenden Gentest-Marktes die Be-
völkerung verstärkt aufzuklären. Es muss jedem Men-
schen deutlich werden, dass eine intensive humangeneti-
sche Beratung über Chancen und Risiken vor einer
solchen Untersuchung absolut notwendig ist. Gentests
dürfen keine Frage von Lifestyle werden, sondern es be-
darf einer besonderen Verantwortung aller an solchen Ver-
fahren Beteiligten. Gentests sollten nur von dafür qualifi-
zierten Ärzten vorgenommen werden. Die FDP stimmt
ausdrücklich der Forderung der Bundesärztekammer zu,
dass jede genetische Analyse streng zweckorientiert sein
muss und es keine undifferenzierten Globaleinwilligun-
gen eines Patienten zur Erhebung von genetischen Daten
geben darf. Testergebnisse dürfen nur dem Betroffenen
selbst mitgeteilt, eine Information Dritter gegen den Wil-
len des Patienten muss ausgeschlossen werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224816
(C)
(D)
(A)
(B)
Eines sollte selbstverständlich sein: Nach einem posi-
tiven Testergebnis darf der Betroffene nicht alleine gelas-
sen werden. Eine psychologische Betreuung und Beglei-
tung im Hinblick auf die veränderten Lebensverhältnisse
muss sichergestellt werden.
Ein weiteres Problem bedarf dringend einer Lösung:
Wie können wir falsche positive Testergebnisse und die
damit verbundenen Zukunftsängste vermeiden? Der Arzt-
vorbehalt ist die eine Seite. Ein zweiter Test eines anderen
Labors sollte eine weitere Voraussetzung sein.
Wir müssen in der nächsten Legislaturperiode konkrete
Rahmenbedingungen für die Anwendung von Gentests
erarbeiten und beschließen. Der Antrag der Union bietet
dafür eine gute Grundlage. Wie weit wir mit ausdrückli-
chen Verboten in einem eigenen Gesetz gehen müssen oder
ob die geltende Rechtsauffassung und das Datenschutzge-
setz ergänzt durch notwendige Ausnahmevorschriften aus-
reichend sein können, wird die weitere Debatte zeigen. Die
Selbstverpflichtung der Versicherungswirtschaft, der sich
auch die Arbeitgeber anschließen sollten, gibt uns genü-
gend Zeit, um die brisanten Fragen in Ruhe und sachorien-
tiert zu diskutieren.
Angela Marquardt (PDS): Bei der ersten Lesung die-
ses Antrages haben wir hier im Hause eine außergewöhn-
lich große Übereinstimmung erlebt. Das macht den An-
trag der Union nicht verkehrter. Er ist durchaus sinnvoll
und weist absolut in die richtige Richtung.
Inzwischen gibt es auch von anderen Fraktionen und
Ministerien Initiativen, die sogar noch besser sind. Ich
denke, dass vor allem die Bewertung und Empfehlungen
der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der moder-
nen Medizin“ Grundlage für ein umfassendes Gentestge-
setz werden sollte. Allerdings darf ein solches Gesetz
letztlich keine Tür für Massengentests öffnen – egal aus
welcher Motivation, und auch nicht unter noch so hohen
Auflagen.
Das Anliegen, Gentest grundsätzlich an die Zustim-
mung des Betreffenden zu binden, ist richtig. Ebenso fin-
det die Forderung, den Einsatz und die Verwendung von
Ergebnissen in bestimmten Bereichen auszuschließen,
meine Zustimmung. Sowohl in der Arbeitswelt als auch
bei Versicherungen müssen Gentests umfassend verboten
werden. Nur das schafft Schutz vor Diskriminierung be-
stimmter Bevölkerungsgruppen.
Allerdings geht der Antrag nicht weit genug. Natürlich
ist der Grundsatz der freiwilligen Zustimmung bei Gen-
tests ein guter Grundsatz. Aber er wird nicht verhindern,
dass es trotzdem zu einer flächendeckenden Ausbreitung
von Gentests kommt und damit auch zu Diskriminierun-
gen aufgrund genetischer Disposition.
Es ist nur ein Beispiel, aber auch die pränatale Dia-
gnostik war in den 70er-Jahren freiwillig und anfangs auf
so genannte Risikofrauen beschränkt. Heute ist sie Regel-
leistung. Wir haben ein nahezu flächendeckendes Scree-
ning mit einer stukturell eugenischen Folgewirkung.
Meine Befürchtung ist, dass wir trotz des Vorbehalts einer
individuellen Zustimmung eine zunächst langsame, dann
jedoch rasante Ausweitung von Gentests erleben werden,
Sind die Ergebnisse erst einmal vorhanden, wird nicht
mehr durchzusetzen sein, dass diese von Versicherungen
oder Arbeitgebern nicht verwendet werden dürfen. Sie
selbst müssen dabei gar keine Tests verlangen, sondern
nur die Offenlegung früherer Ergebnisse.
Durch die so genannte Entdeckung immer neuer Gen-
Korrelationen mit bestimmten Erkrankungen oder Behin-
derungen werden immer neue „Risikopersonen“ geschaf-
fen, die einen Andrang auf Gentests auslösen werden.
Denken sie an die unzähligen Gene, die mit Krebserkran-
kungen in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden.
Ich glaube deshalb, dass der erste Schritt wäre, die
massive Förderung der Entwicklung von Gendiagnostik
über den Haushalt des BMBF endlich zu stoppen. Außer-
dem brauchen wir ein Moratorium für Gentests. Nur so
kann die unkontrollierte Dynamik des Diagnostikmarkts
angehalten werden. Dann muss möglichst schnell ein
Gentestgesetz auf den Tisch, in dem auch ein Diskrimi-
nierungsverbot von Menschen wegen ihrer genetischen
Ausstattung enthalten sein muss ebenso wie ein Verbot so
genannter Reihenuntersuchungen. Bei all dem scheint mir
darüber hinaus höchste Eile angesagt zu sein. Sonst wer-
den immer mehr Fakten geschaffen, bevor die Politik
überhaupt zu Handeln begonnen hat. Und das erleben wir
leider schon viel zu häufig.
Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatsekretärin im
Bundesministerium für Gesundheit: Ich gehe davon aus,
dass wir uns darin einig sind, dass Gentests nur zum Wohl
der getesteten Menschen durchgeführt werden sollten.
Gleichwohl kann ich Ihrem Antrag so nicht folgen. Wie
Sie ja wissen, bereiten wir im Bundesministerium für Ge-
sundheit bereits einen Gesetzentwurf vor. Aber bei der
Regelung dieser Materie betreten wir in gewisser Weise
Neuland. Wir sollten deshalb alle Facetten dieser kom-
plexen Materie bedenken und die Ergebnisse der Enquete-
Kommission mit einbeziehen. Auf Grundlage dessen
sollte eine breite öffentliche Diskussion geführt werden,
die selbstverständlich über die Anwendungsbereiche der
Medizin hinausgehen muss. Auch der Nationale Ethikrat
wird sich dem Thema widmen. Diese Voten werden wir in
die Diskussion einbeziehen.
Mit den erweiterten Möglichkeiten der Feststellung ge-
netischer Eigenschaften sind die möglichen Auswirkun-
gen genetischer Untersuchungen – sowohl Chancen als
auch Risiken – verstärkt in das öffentliche Bewusstsein
gerückt. Der qualifizierten Information der Bevölkerung
kommt daher besondere Bedeutung zu. Wir wollen für die
Durchführung von Gentests klare Kriterien und vor allem
Transparenz. Deshalb soll in der nächsten Legislaturperi-
ode ein Gesetz verabschiedet werden, das die Durch-
führung von Gentests und den Umgang mit genetischen
Daten regelt; denn die Prinzipien der Freiwilligkeit und
der selbstbestimmten, informierten Entscheidung über die
Inanspruchnahme genetischer Tests sind in jedem Fall zu
berücksichtigen.
Der Schutz des grundrechtlich gewährleisteten allge-
meinen Persönlichkeitsrechts bei der Durchführung gene-
tischer Untersuchungen und der Verwendung ihrer Ergeb-
nisse, die Zulässigkeitsvoraussetzungen von genetischen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24817
(C)
(D)
(A)
(B)
Tests, insbesondere auch im Hinblick auf das erhöhte
Schutzbedürfnis von Minderjährigen und Nichteinwilli-
gungsfähigen, der Arztvorbehalt, das Erfordernis einer in-
dividuellen humangenetischen Aufklärung und Beratung
vor und nach dem Test, das Diskriminierungsverbot, der
Datenschutz sowie die Information der Bevölkerung über
die Chancen und Risiken genetischer Untersuchungen
werden wesentliche Punkte dieser Regelungen sein.
Sie sollen sicherstellen, dass das Recht auf Nichtwis-
sen des Einzelnen gewahrt bleibt und genetische Untersu-
chungen nur aus medizinischen Gründen zum Wohl des
Betroffenen durchgeführt werden.
Die genetische Diagnostik bei erblich bedingten und
gut behandelbaren oder gar vermeidbaren Krankheiten ist
unbestritten sinnvoll.
Das trifft gerade auch bei einigen wichtigen Krebser-
krankungen wie zum Beispiel Darmkrebs zu. Durch so ge-
nannte prädiktive genetische Tests, mit denen Veranlagun-
gen für bestimmte Erkrankungen festgestellt und Aussagen
über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Erkrankun-
gen getroffen werden können, kann immer mehr Gewiss-
heit über individuelle Gesundheitsrisiken erlangt werden.
Mit einer frühzeitig einsetzenden Behandlung könnten hier
schwere Krankheitsverläufe vermieden werden.
Aber nicht jede Erkenntnis aus einem Test kann so un-
mittelbar in Prävention und Behandlung umgesetzt wer-
den. Es muss ein Ausgleich geschaffen werden zwischen
den diagnostischen Möglichkeiten, die die Genomfor-
schung bietet und die wir für die Patienten nutzen wollen
und dem berechtigten Interesse der Menschen, ihre gene-
tische Veranlagung zu kennen oder eben nicht zu kennen.
Auch genetische Tests und die Verwendung ihrer Er-
gebnisse im Zusammenhang mit privaten Versicherungen
sowie im Arbeitsrecht sollen mit diesem Gesetz geregelt
werden, um zu verhindern, dass zum Zwecke der Risiko-
selektion und Ausgrenzung auf Personen Druck ausgeübt
werden kann, einen Gentest durchzuführen oder bereits
bekannte genetische Daten offen zu legen. Aber es sind
auch noch Fragen offen, ohne deren Klärung eine sinn-
volle und ausgewogenen Regelung nicht gelingen kann.
Wie die Anhörung im Gesundheitsausschuss gezeigt hat,
beginnt das schon mit der Grundlage des Ganzen, nämlich
mit der Frage: Was ist ein genetischer Test und welche
Formen der Untersuchung sollen geregelt werden? Wir
müssen uns auch intensiv mit der Abgrenzung diagnosti-
scher von prädiktiv eingesetzten Gentests befassen. Das
halte ich für einen wesentlichen Punkt, denn es ist ein
grundlegender Unterschied, ob ein Gentest zu Stellung
oder Absicherung einer Diagnose eingesetzt wird, oder ob
ganz allgemein ein Blick auf die genetische Ausstattung
geworfen werden soll. Und das womöglich unter der Be-
dingung, dass das gewonnene Wissen belastend ist und
Vorbeugung oder Therapie nicht möglich sind. Diskussi-
onswürdig sind genetische Untersuchungen aber auch
deshalb, weil durch sie genetische Informationen Ver-
wandter gewonnen werden können. In diesem Bereich
wird es schwer möglich sein, Dritte wirkungsvoll davor
zu schützen, ungewollt mit Erkenntnissen über ihre gene-
tische Disposition konfrontiert zu werden. Andererseits
werden wir für die medizinische Forschung auch weiter-
hin genetische Daten benötigen. Nur so kann sich das
Wissen um genetische Prozesse und um den Anteil, den
genetische Faktoren an der Entstehung von Krankheiten
haben, weiter vermehren und praktischen Nutzen bringen.
Auch diesen Bereich werden wir zu regeln haben.
Unsere Eckpunkte sehen dabei vor, dass bei de Erhe-
bung und Verwendung von personenbezogenen Daten ne-
ben der unbedingten Erfordernis der Einwilligung und
Freiwilligkeit das Forschungsvorhaben vorher durch eine
Ethik-Kommission zu beurteilen ist. Ein Informationsan-
spruch des Betroffenen über die für seine Gesundheit re-
levanten Forschungsergebnisse soll gewährleisten, dass
die Ergebnisse dieser Forschung auch dem Betroffen zu-
gute kommen können.
Das Gesetz wird auch Voraussetzungen für genetische
Reihenuntersuchungen festlegen müssen. Diese sollen
grundsätzlich nur dann vorgenommen werden dürfen,
wenn mit der Untersuchung genetische Eigenschaften mit
Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Er-
krankung festgestellt werden. Außerdem müssen sich aus
der Untersuchung Konsequenzen im gesundheitlichen In-
teresse der untersuchten Person ergeben. Dies soll dem
Gedanken Rechnung tragen, dass den Risiken von gene-
tischen Screenings, wie Stigmatisierung oder Druck zur
Teilnahme, große Chancen gegenüberstehen, den Aus-
bruch einer Krankheit zu verhindern oder ihren Verlauf
positiv zu beeinflussen.
Für ein solches Gesetz brauchen wir größtmögliche
Akzeptanz in der Bevölkerung; deshalb sollten wir nicht
überstürzt ein Gesetzgebungsverfahren beginnen, das wir
schon aus Zeitgründen in dieser Legislaturperiode nicht
mehr beenden können.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Änderung der Ge-
schäftsordnung des Deutschen Bundestages –
Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen
Bundestages (Tagesordnungspunkt 16)
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Hinter dem etwas
bürokratischen Titel des Antrages, den wir hier heute be-
raten, verbirgt sich ein Thema, das nicht das erste Mal das
Plenum beschäftigt. Es geht um die Erweiterung der Of-
fenlegungspflicht der Abgeordneteneinkünfte. Die letzte
Debatte führte der Bundestag im September 1995, als im
Zuge der Beratungen zur Parlamentsreform auch ein ent-
sprechender Antrag der Abgeordneten Norbert Gansel
und Peter Conradi sowie 150 weiterer Mitglieder des
Deutschen Bundestages beraten wurde. Schon damals
hatten die Initiatoren des Antrages die Nebeneinkünfte im
Blick. Das Vorhaben, mehr Transparent zu schaffen,
wurde aber in namentlicher Abstimmung von der Mehr-
heit des Hauses abgelehnt. Die Argumente, die damals die
Kollegen Conradi und Gansel dazu veranlassten, den An-
trag einzubringen, sind auch sieben Jahre später noch
richtig. Es geht nicht um den ,,gläsernen Abgeordneten“.
Aber Wählerinnen und Wähler sollen wissen, welchen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224818
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– durchaus legitimen – Interessen ihr politischer Vertreter
um welchen Lohnes willen verpflichtet ist.
Deshalb wollen wir mit einer Änderung der Geschäfts-
ordnung erreichen, dass Angaben zu Beraterverträgen, zu
gutachterlicher und publizistischer Tätigkeit, die heute
nur dem Bundestagspräsidenten anzuzeigen sind, veröf-
fentlicht werden. Die Regelungen, die wir vorschlagen,
sind ein angemessener Ausgleich zwischen dem berech-
tigten Interesse der Öffentlichkeit auf Offenlegung von
Interessenbeziehungen und dem Schutz der individuellen
Grundrechte des einzelnen Abgeordneten.
Eine solche Regelung ist lange überfällig. Schon vor
27 Jahren führte das Bundesverfassungsgericht im fünf-
ten Leitsatz seines Diätenurteils aus, dass Art. 48 Abs. 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 ge-
setzliche Vorkehrungen dagegen verlange, dass Abgeord-
nete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis, aus einem
so genannten Beratervertrag oder ähnlichem, ohne die da-
nach geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erhalte,
weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird,
dass sie im Parlament die Interessen des zahlenden Un-
ternehmens oder des zahlenden Verbandes vertreten und
nach Möglichkeit durchsetzen.
Peter Conradi wies 1995 auf diesen Leitsatz des Verfas-
sungsgerichtes hin und musste feststellen, dass seither
nichts geschehen sei. Das war vor sieben Jahren – und noch
immer gibt es keine Regelung. Unser Antrag ist ein Anfang.
Niemand in diesem Hause muss deshalb auf Beratertätig-
keiten verzichten oder nicht gutachterlich tätig sein – ich
meine allerdings, es wäre besser, sich solchen Abhängig-
keiten nicht auszusetzen. Die Quellen der Nebeneinkünfte
neben den Diäten sollen lediglich veröffentlicht werden.
Damit sollen verdeckte Interessenkollisionen verhindert
werden, damit soll, wie es mein Wahlkreisvorgänger
Norbert Gansel 1995 in der Debatte sagte „... für Wähle-
rinnen und Wähler kontrollierbar werden, ob die Abgeord-
neten ihre ganze Arbeit wirklich der Volksvertretung wid-
men. Wer das nicht tun kann oder will, soll wenigstens
verpflichtet sein, sich seinen Wählerinnen und Wählern zu
erklären.“ Aus dem gleichen Grund wollen wir die Beteili-
gungen an Kapital- und Personengesellschaften in die Ver-
öffentlichungspflicht einbeziehen.
Das unsere Vorschläge, wie der Abgeordnete von
Klaeden vor einigen Tagen der „Welt“ sagte, „unklar“
seien, kann ich nicht sehen. Klarer geht es nicht. Unklar
ist mir, wie man dagegen sein kann. Lassen Sie uns heute
gemeinsam diesen kleinen Schritt tun.
Wenn der Wahlkampf vorbei ist und der neue Bundes-
tag sich konstituiert hat, sollten wir uns dann noch einmal
grundsätzlicher mit der Frage der Reform der Rechtsstel-
lung der Abgeordneten beschäftigen. Der Beschluss, den
wir in dieser und der kommenden Woche anstreben, ist ein
erster wichtiger Schritt zu einem transparenteren Parla-
ment.
Christian Lange (Backnang) (SPD):Mit dem Antrag
zur Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des
Deutschen Bundestages haben wir uns zum Ziel gemacht,
durch eine Ausweitung der Offenlegungspflichten außer-
parlamentarische Interessenbeziehungen des einzelnen
Abgeordneten parlamentsintern und für die Öffentlichkeit
transparenter als bisher zu machen. Seit meiner Wahl in
den Bundestag 1998 ist es mir ein ganz besonderes Anlie-
gen, dafür zu sorgen, dass Abgeordnete die Tätigkeiten, die
sie neben Mandat und Beruf ausüben, auch für die Öffent-
lichkeit und den interessierten Bürgerinnen und Bürgern
anzuzeigen haben. Bisher waren Nebentätigkeiten ledig-
lich gegenüber dem Bundestagspräsidenten offenzulegen.
Neu ist nun die Veröffentlichungspflicht auch im amtli-
chen Handbuch des Bundestages. Somit würden diese In-
formationen für jedermann zugänglich und jeder Bürger
bzw. Wähler könnte sich umfassend über wirtschaftliche
Einflüsse Dritter, zum Beispiel von Firmen oder Verbän-
den, auf Parlamentarier informieren. Natürlich wären
diese wichtigen Informationen auch im Internet abrufbar.
Selbstverständlich wird bei der Ausgestaltung der Ver-
haltensregeln die verfassungsrechtliche Stellung des Ab-
geordneten, Art. 38 GG, und die Grundrechte, die auch für
die Mitglieder des Deutschen Bundestages gelten, berück-
sichtigt. Diesbezügliche Sorgen sind völlig unbegründet.
Der gläserne Abgeordnete, der seine Einkommensteuerbe-
scheide vorlegt ist nicht das Ziel, auch nicht aufgrund ver-
fassungsrechtlicher Bedenken. Mit den Änderungen der
Verhaltensregeln wird endlich ein angemessener Aus-
gleich zwischen dem berechtigten Interesse der Öffent-
lichkeit auf Offenlegung von Nebentätigkeiten der Mit-
glieder des Deutschen Bundestages und dem Schutz der
individuellen Grundrechte des einzelnen Abgeordneten
– unter besonderer Berücksichtigung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts – erreicht. Die bisherige Systematik
der Verhaltensregeln wird dabei beibehalten. Ich betone
nochmal, dass die Änderungen nicht auf die Schaffung
des „gläsernen Abgeordneten“ zielen, der seine gesamten
persönlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Verhält-
nisse offen zu legen hat. Es geht vielmehr darum, dass es
für den Bürger in Zukunft transparenter ist, ob ein Abge-
ordneter während seines Mandats durch Verträge über Be-
ratung, Vertretung oder ähnliche Tätigkeiten gebunden
ist. Auch über Tätigkeiten, die ein Abgeordneter neben
dem Beruf und dem Mandat ausübt, insbesondere über
gutachterliche, publizistische und Vortragstätigkeiten,
wird die Öffentlichkeit eingehend informiert. Ebenso
werden die Beteiligungen an Kapital oder Personenge-
sellschaften dann veröffentlicht, wenn sie einen wesentli-
chen wirtschaftlichen Einfluss auf das Unternehmen be-
gründen. Durch die Neuregelung ist also sichergestellt,
dass der Bürger über jede wirtschaftliche Einflussmög-
lichkeit eines Dritten auf einen Abgeordneten zeitnah und
umfassend informiert ist.
Diese Idee ist übrigens nicht neu; schon Norbert
Gansel und dem baden-württembergischen SPD-Abge-
ordneten Peter Conradi war sie eine Herzensangelegen-
heit. Leider scheiterte die gute Idee immer wieder an den
Widerständen und Bedenken insbesondere bei der Union
und der FDP. Ihre Einwände sind aber prinzipiell alte
Hüte, die schon in früheren Debatten gebetsmühlenartig
geltend gemacht wurden. Unsere Initiative enthält ja ge-
rade nicht die Offenlegung der Einkommensteuerer-
klärung, denn auch wir wollen, dass weiterhin Bäcker,
Ärzte oder Rechtsanwälte für den Bundestag kandidieren.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24819
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Diesbezügliche Kritik zeigt doch nur, dass unser Antrag
nicht genau gelesen wurde. Deshalb die Unterscheidung
zwischen Beruf und Nebentätigkeit. Dies ist auch nicht
kompliziert, denn wir alle müssen uns daran schon heute
halten. Es ist geltendes Recht. Die Neuerung ist nur, dass
die Information nicht im Tresor des Bundestagspräsiden-
ten verschwindet, sondern veröffentlicht wird.
Bei der Bevölkerung dürfte dieser Antrag breite Zu-
stimmung auslösen: Man kann endlich sehen, ob und in
welcher Weise der zuständige Abgeordnete äußeren Ein-
flüssen ausgesetzt ist. Ist er etwa ein verkappter Lobbyist?
Vertritt er die Interessen eines Verbandes oder einer
Firma? Hier wird endlich offen gelegt, was Parteienkriti-
ker seit langem verlangen und was den Bürger interessiert
und bei seiner Entscheidungsfindung bei Bundestagswah-
len beeinflussen wird.
Die Bedeutung des Antrags zeigt sich auch mal wieder
an der traurigen Aktualität des Falls des CSU-Abgeord-
neten Hollerith, wie erst am Montag, 24. Juni 2002, in der
„Süddeutschen Zeitung“ nachzulesen war. Den CSU-Bun-
destagsabgeordneten wird teuer bezahlter Lobbyismus
vorgeworfen, weil er gleichzeitig als Aufsichtsrat und Be-
rater bei dem Unternehmen MWG Biotech tätig war. Im
abgelaufenen Geschäftsjahr hat er neben seinen Einkünf-
ten als Aufsichtsratsmitglied zusätzlich 204 517 Euro netto
dafür erhalten, dass er dem in seinem Wahlkreis ansässi-
gen Unternehmen staatliche Fördermittel und Kredite ver-
mittelt hat. Wie in der heutigen Ausgabe der „Süddeut-
schen Zeitung“ zu lesen war, wird Hollerith nun nicht
mehr für den Bundestag kandidieren. Damit wäre er von
den neuen Regelungen nicht betroffen. Das ist allerdings
kein sehr eleganter Weg, um das Problem zu lösen, wie ich
finde.
Im Übrigen kann ich mir vorstellen, dass es für alle Be-
teiligten angenehmer wäre, solche Informationen ganz re-
gulär vorab veröffentlicht zu sehen. Wenn solche Akti-
vitäten per Zufall aufgedeckt werden, ist dies nicht nur für
den Einzelnen unangenehm, sondern wirft ein schlechtes
Licht auf Mandatsträger im Allgemeinen.
Dass sich Union und FDP gegen eine solche Regelung
wehren, ist ein Trauerspiel. Der Vorschlag der Koalition
schützt Selbstständige mit Blick auf das Grundgesetz vor
unziemlicher Einsicht in interne Geschäftsabläufe. Inso-
fern drängt sich der Verdacht auf, dass die Opposition mit
ihrer Geheimniskrämerei allein Parteipolitische Klientel-
interessen vertritt. Die Wähler werden daraus ihre
Schlüsse zu ziehen haben.
Ich bin der Ansicht, dass sich Offenheit letztlich für
alle Beteiligten auszahlen wird. Ganz bestimmt aber für
einen demokratischen Parlamentarismus, der von Glaub-
würdigkeit lebt.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Bemerkenswert
ist, dass SPD und Grüne ihren Antrag heute, eine Woche
vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause, kurz vor
Ende der Wahlperiode einbringen. Das ist bemerkenswert,
weil sie genau wissen, dass damit die notwendige sorgfäl-
tige Behandlung im Geschäftsordnungsausschuss nicht
mehr möglich ist. Sie wissen ganz genau, dass ihr Antrag
in die Diskontinuität fallen wird. Zeit genug hätten sie ge-
habt, schließlich haben die Fraktionen angeblich über
2 Jahre beraten. Aber sie haben offensichtlich kein Ergeb-
nis gefunden, dass nach ihrer eigenen Überzeugung gut ge-
nug gewesen wäre, die geltenden Verhaltensregeln zu än-
dern. Sonst hätten sie den Antrag eher gestellt. Jetzt ist
ausgeschlossen, dass ihre Vorschläge noch in dieser Wahl-
periode beschlossen werden. Sie haben uns heute einen
klassischen Schaufensterantrag vorgelegt.
CDU/CSU sind der Überzeugung, dass sich die gelten-
den Regeln bewährt haben. Sie beruhen auf dem Gedan-
ken der Transparenz und ermöglichen ein Nebeneinander
von Mandat und beruflicher Tätigkeit ohne übermäßigen
Eingriff in die Privatsphäre des Abgeordneten. Transpa-
renz ist ein unverzichtbares Gut. CDU/CSU bekennen
sich ausdrücklich dazu. Wir stehen zu den geltenden Ver-
haltensregeln, die einen umfangreichen Katalog von an-
zeigepflichtigen Tatbeständen enthalten, von Tätigkeiten,
die neben dem Mandat ausgeübt werden.
Richtig ist, dass die Öffentlichkeit einen Anspruch da-
rauf hat, dass die Einkünfte der Abgeordneten, die sich
unmittelbar aus der Abgeordnetentätigkeit ergeben, öf-
fentlich gemacht werden. Daran gibt es keinen Zweifel.
Zweifel gibt es in der Frage, wie weit wir darüber hinaus
gehen sollen. Es muss auch über Nebentätigkeiten soweit
berichtet werden, dass Abhängigkeiten vermieden oder
zumindest bekannt werden. Eine Neuformulierung von
Verhaltensregeln für Abgeordnete des Deutschen Bundes-
tages verlangt aber immer eine sorgfältige und gewissen-
hafte Behandlung. Schließlich sind hier wesentliche
Rechtsgrundsätze tangiert; ich nenne hier als Beispiel die
informationelle Selbstbestimmung und die Berufsfreiheit.
Die weit gehende Veröffentlichung aller Beratungs-
und Vertretungsverträge, Gutachtenerstattungen und Be-
teiligungen an Kapital- und Personengesellschaften führt
zu einer weit gehenden Offenlegung von beruflichen und
eben auch finanziellen Details, auch wenn sie betonen,
dass der gläserne Abgeordnete, der seine Einkommens-
verhältnisse offenbart, gerade nicht ihr Ziel ist. Gerade die
Offenlegung von so genannten Nebentätigkeiten stellt bei
freiberuflich und selbstständig Tätigen einen massiven
Eingriff in die Berufsfreiheit dar, weil Konkurrenten weit
gehende Einblicke in deren unternehmerische Tätigkeit
erhalten. Dadurch entstehen Wettbewerbsnachteile, die
zu einer Unzumutbarkeit solcher Offenlegungspflichten
führen können.
Außerdem haben wir auch den Schutz der Grundrechte
Dritter zu beachten. Diese könnten bereits dann berührt
sein, wenn parlamentarische Offenlegungspflichten zu ei-
nem Bekanntwerden eines – beispielsweise – geschäftli-
chen Kontakts zu einem Abgeordneten führen.
Aus dem Grundsatz des freien Mandats und dem Recht
auf einen für alle Wahlberechtigten gleichen Zugang zum
Mandat ergibt sich aber das Verbot, einzelne Berufsgrup-
pen in einer Weise zu belasten, die einer faktischen Zu-
gangssperre gleichkommt. Denken Sie an die Schutzwir-
kung, die Beratungsverträge bei Rechtsanwälten und
Steuerberatern mit sich bringen. Da kann nichts veröf-
fentlicht werden und da darf nichts veröffentlicht werden.
Da können Sie nicht mehr Transparenz erreichen, da sind
Ihnen die Hände gebunden. An diesem Beispiel können
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Sie schon erkennen, dass eine nicht gerechtfertigte Un-
gleichbehandlung anderer Berufsgruppen die Folge ihrer
Vorschläge wäre. Die Folge ist Scheintransparenz.
Wir haben in diesem Parlament ein Defizit an Freibe-
ruflern, an Handwerkern, an Mittelständlern. Wir dürfen
nichts tun, was zu einer weiteren Benachteiligung dieser
Berufsgruppen führt; denn ansonsten ist hier weiterhin
der öffentliche Dienst überrepräsentiert. Wer aus seinem
Handwerksbetrieb in die Politik wechselt, muss sich un-
ter erheblichem Problemdruck um seinen Handwerksbe-
trieb kümmern, um die Chance zu haben, dass dieser Be-
trieb noch existiert, wenn er in sein mittelständisches
Gewerbe zurückkehren muss oder zurückkehren will.
Konsequenz Ihrer Vorschläge wäre eine weitere Ge-
fährdung der ohnehin schon zu beamtenlastigen Zusam-
mensetzung des Bundestages. Denn für viele Selbststän-
dige und Freiberufler wäre Ihre Neuregelung unzumutbar.
Einseitig werden diese Berufsgruppen zu einer weit ge-
henden Offenlegung ihrer beruflichen und finanziellen
Details gezwungen. Was wird die Folge sein? Die wach-
sende Unattraktivität des Abgeordnetenmandats. Der be-
reits jetzt bestehende starke Hang zum Funktionärs- und
Beamtenparlament würde verstärkt. Das können auch Sie
nicht wollen. Deshalb kann Ihr Antrag auch in der breiten
Öffentlichkeit keine Zustimmung erfahren. Die Bürgerin-
nen und Bürger müssen ein Interesse daran haben, dass
sich das Parlament nicht einseitig aus Berufsgruppen des
öffentlichen Dienstes zusammensetzt. Der Bundestag ist
auf Abgeordnete aus beratenden Berufen angewiesen.
Lehrer und Gewerkschaftsfunktionäre haben wir ohnehin
schon genug. Was dem Bundestag fehlt, sind Selbststän-
dige, Ärzte, Ingenieure, Wirtschafts- und Steuerberater.
Eine weitere Verarmung der Berufsvielfalt bei den Mit-
gliedern des Bundestages muss verhindert werden.
Die Damen und Herren von SPD und Grünen üben im-
mer mal wieder heftige Kritik an einigen Kolleginnen und
Kollegen in diesem Haus, die hauptamtliche Aufgaben in
Verbänden übernommen haben. Erlauben Sie mir dann
aber auch den Hinweis, dass diesem Parlament immer
wieder hervorragende Gewerkschaftsführer angehören
und angehört haben. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu,
dass diese Kollegen diesem Hause angehören. Aber ak-
zeptieren Sie auch, dass Geschäftsführer und Vorsitzende
von anderen Verbänden hier tätig sind und sein sollen.
Die Formel, dass wir gerade keinen gläsernen Abge-
ordneten wollen, muss auch bei einer Neugestaltung der
Verhaltensregeln ernst genommen werden. Bereits die
Kissel-Kommission, die im Jahre 1993 einen viel beach-
teten Bericht zur Reform des Abgeordnetenrechts vorge-
legt hat, führt aus:
Der gläserne Abgeordnete garantiert weder ausrei-
chenden Schutz vor Fehlverhaltensweisen, noch
trägt dieses Bild dazu bei, qualifizierte Mitglieder für
die Bewerbung um ein Mandat zu gewinnen. Wel-
cher Selbständige oder Freiberufler könnte, ohne
beruflich Schaden zu nehmen, Einkommenszahlen
veröffentlichen, die seinem Konkurrenten Wettbe-
werbsvorteile bringen würden.
Und weiter führt der Bericht aus:
Eine solche Verfahrensweise käme dem Offenba-
rungseid sehr nahe und könnte nach dem Verständnis
der Kommission auch nicht im Entferntesten mit der
im Übrigen vom Bürger zu Recht eingeforderten
Transparenz von Abhängigkeiten und wirtschaft-
lichen Verbindungen begründet werden. Die Veröf-
fentlichungen im Handbuch des Bundestages erfül-
len den angestrebten Zweck.
Die geltenden Regeln sind nach meiner Überzeugung
geeignet, das etwas komplizierte Nebeneinander von
Rechten und Pflichten aus dem Mandat und gleichzeitig
von vielen, nicht von allen, ausgeübten beruflichen Tätig-
keiten zu ermöglichen und transparent zu gestalten.
Ich möchte dazu aus der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung vom 8. Februar 2000 einen Beitrag von Professor
Dr. Naßmacher, einem Politologen aus Oldenburg und,
nebenbei bemerkt, SPD-Mitglied, zitieren. Er hat sich mit
den amerikanischen Verhältnissen beschäftigt, die ja eine
Veröffentlichung der Steuerverhältnisse des einzelnen
Abgeordneten vorsehen. Ich zitiere:
Bereits in den Vereinigten Staaten kann und will nie-
mand die offen gelegten Beträge gründlich analysie-
ren. Der vielstimmige Chor der öffentlichen Infor-
mationen erzeugt keine Musik mehr, sondern nur
noch Geräusch. Wer sich außerhalb des Gesetzestex-
tes mit der Rolle des Geldes in der Politik dieser Län-
der beschäftigt, wird zunächst auf eine Kette von
Korruptionsskandalen und eine Fülle von Umge-
hungsmöglichkeiten stoßen. Sie alle machen deut-
lich, dass durch „symbolische Politik“ der politische
Einfluss des Geldes nur scheinbar gezähmt wurde.
Auch Ihrem Vorschlag, die Wertgrenze für Gastge-
schenke anzuheben, kann ich nicht zustimmen. Sie wol-
len die Wertgrenze fast verdoppeln. Das würde in der Öf-
fentlichkeit nicht verstanden werden. Er passt auch nicht
in diese Zeit.
Mit welcher Scheinheiligkeit Sie arbeiten, wird durch
Folgendes deutlich: Bereits zum Ende der letzten Wahlpe-
riode haben Sie eine Initiative zur Änderung der Verhal-
tensregeln für Abgeordnete gestartet. Aus guten Gründen
hatte die Mehrheit des Deutschen Bundestages damals die-
sen aus unserer Sicht verfassungsrechtlich zweifelhaften
Antrag abgelehnt. Sie haben in der Debatte im Februar
1998 in Bezug auf die Offenlegung von Nebeneinkünften
einen erheblichen Reformbedarf gesehen. Sie haben sogar
angekündigt, die Diskussion weiterführen zu wollen.
Doch vier Jahre haben wir hierzu von Ihnen nichts ver-
nommen. Wie beim Volksabstimmungsgesetz wollen Sie
mit Schaufensteranträgen doch nur im letzten Moment
Ihre Klientel beruhigen, wo Sie doch wissen, dass dieser
Antrag keine Aussicht mehr hat, im Parlament verabschie-
det zu werden. Ich zitiere wörtlich aus der damaligen Rede
des Abgeordneten Wilhelm Schmidt, Salzgitter:
... wir hatten sehr schnell den Eindruck, dass sie – ge-
meint ist die Koalition von CDU/CSU und FDP– von
vornherein die Absicht haben, die Überprüfung der
Verhaltensregeln zu verschleppen und zu blockieren.
Das spricht – vier Jahre später – für sich.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
alle wissen: Das Amt eines Abgeordneten ist schwer. Oft
arbeiten wir von morgens bis spät in die Nacht. Und wenn
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für andere Leute das Wochenende kommt, geht es bei uns
erst richtig los: Sitzungen, Parteiveranstaltungen, Tagun-
gen und Kongresse, bei denen die Mitwirkung des zu-
ständigen Abgeordneten erwartet wird. Freizeit bleibt für
die meisten von uns kaum über. Trotzdem ist es auch ein
schönes Amt. Es erlaubt ein Maß an Freiheit, Verantwor-
tung und Mitgestaltung, das weit über das fast aller ande-
ren Berufe hinausgeht. Wäre es nicht so, würden sich
wohl kaum die meisten von uns bei den bevorstehenden
Wahlen um ein Mandat bewerben.
Aber es gibt schwarze Schafe. Als Helmut Kohl Bun-
deskanzler war, haben namhafte Politiker der Union sich
von Personen bzw. Unternehmen Geld geben lassen, die
gleichzeitig Gegenstand ihrer politischen Entscheidungen
waren. Ähnliches ist gerade auch in der nordrhein-west-
fälischen SPD passiert.
Solche Vorgänge schaden der Politik und den Politi-
kern, sie schaden dem Gemeinwesen. Es liegt daher im In-
teresse unserer Demokratie, dort, wo politische Macht
gegeben ist, größtmögliche Transparenz herzustellen. Wir
wollen damit bei uns selbst anfangen. Abgeordnete sind
Volksvertreter und sollten das nie vergessen. Wer einen
Abgeordneten wählt, erwartet zu Recht, dass dieser in Re-
den und Abstimmungen vor allem die Interessen seines
Volkes, der Bürgerinnen und Bürger – und nicht die eige-
nen Interessen oder die unbekannter Auftraggeber – im
Auge hat. Deshalb gilt: Die Bürgerinnen und Bürger ha-
ben ein Recht, zu erfahren, in welcher Weise ein Abge-
ordneter äußeren Einflüssen ausgesetzt ist.
Deshalb soll zukünftig transparent werden, „ob ein Ab-
geordneter während seines Mandats durch Verträge über
Beratung, Vertretung und ähnliche Tätigkeiten gebunden
ist“. Darauf zielt unser heutiger Antrag.
Diese Reform unserer Verhaltensregeln ist deshalb so
wichtig, weil das Vertrauen in die Politik in den letzten
Jahren erschüttert worden ist. Affären und Skandale von
Politikern haben nicht nur die jeweiligen Parteien sondern
auch das Vertrauen in die gesamte Politik schwer belastet.
Deshalb sind wir auch alle gemeinsam in der Pflicht, An-
strengungen zu unternehmen, dieses Vertrauen wieder zu
stärken. Hierzu ist dieser Antrag ein wichtiger Schritt.
Die Idee geht auf eine Initiative von Bündnis 90/Die
Grünen zurück. Bereits in meiner ersten, der 11. Legisla-
turperiode, habe ich entsprechende Anträge gestellt. In der
13. Legislaturperiode haben wir dann den zweiten Anlauf
unternommen. Auch damals scheiterten unsere Anträge für
mehr Transparenz und eine Offenlegung von Nebenein-
künften noch an der Mehrheit der damaligen Koalition, die
Verdächtigungen und den schlechten Eindruck in der Öf-
fentlichkeit noch eher hinnehmen wollte als Öffentlichkeit
und Transparenz. Ob zwischen dieser Ablehnung und der
Tatsache, dass sich die eklatantesten Fälle von Nebenein-
künften, die schließlich alle Abgeordneten – meist zu Un-
recht – in ein schlechtes Licht stellten in den Reihen der
damaligen Koalition befanden, ein Zusammenhang be-
steht, weiß ich nicht zu sagen. Eines aber will ich deutlich
sagen: Wenn sich jemand als Abgeordneter wählen lässt
und anschließend für ein Gehalt oder Honorar, das seine
Abgeordnetendiäten um ein Mehrfaches übersteigt, zum
Beispiel bei einem Industrieverband annimmt dessen Ge-
schicke er durch seine Abstimmungen im Bundestag ent-
scheidend beeinflussen kann, können sich daran schon
Zweifel an seine Unabhängigkeit knüpfen.
Die Wähler haben, wenn sich schon so etwas nicht ver-
bieten lässt, zumindest ein Recht darauf, über solche In-
teressenverflechtungen Bescheid zu wissen. Sie werden
dann hoffentlich ihre Schlüsse daraus ziehen. Nun haben
sich die Mehrheitsverhältnisse geändert. Wir Grünen sind,
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, fest ent-
schlossen, für mehr Demokratie und mehr Transparenz in
unserem Land zu sorgen. Unsere Entscheidung, Loya-
litäts- und Interessenkonflikte von Bundestagsabgeordne-
ten offen zu legen, ist ein weiterer wichtiger Beitrag
hierzu. Es ist zugleich ein Antrag mit Augenmaß. Natür-
lich haben wir die Privatsphäre und die Persönlichkeits-
rechte der Abgeordneten hinreichend berücksichtigt. Un-
ser Antrag wird auch nicht – wie der von mir sonst sehr
geschätzte Kollege von Klaeden behauptet – zu einer
„Verarmung der Berufsvielfalt“ des Bundestages führen.
Denn die Beratungsverträge, die etwa ein Rechtsanwalt in
Ausübung seines angezeigten Berufes schließt, sind von
der Veröffentlichungspflicht eindeutig ausgenommen. Es
geht hier lediglich um Nebentätigkeiten, um Beratung-
stätigkeit, Gutachterverträge und publizistische Tätigkeit,
die ein Abgeordneter neben seinem Beruf ausübt.
Im Übrigen: Wer sich so verhält, dass er Interessenkol-
lisionen konsequent vermeidet, braucht die Veröffentli-
chung von eventuell neben dem Mandat bestehenden Ein-
künften, Honoraren etc. keineswegs zu fürchten. Was aber
durch die Neuregelung transparent werden wird, sind In-
teressenverflechtungen, die mit der notwendigen Unab-
hängigkeit eines Bundestagsabgeordneten unvereinbar
sind. Und das ist auch gut so. Es ist richtig, dass diese In-
formation künftig nicht nur im Safe des Bundestagspräsi-
denten liegt, sondern dass Bürgerinnen und Bürgern und
Journalisten sich darüber künftig im Amtlichen Handbuch
informieren können. Die Kollegen, die bislang unserem
Antrag kritisch gegenüberstehen, sollten bedenken: Mehr
Offenheit ist doch im ureigensten Interesse eines jeden
Abgeordneten, da dies auch helfen wird, ungerechtfertigte
Verdächtigungen und Vorurteile zu widerlegen.
Der Antrag verlangt auch, dass künftig die Beteiligung
eines Abgeordneten an Unternehmen offen gelegt werden
muss, wenn diese ein solches Ausmaß erreicht, dass damit
ein wesentlicher wirtschaftlicher Einfluss auf das Unter-
nehmen begründet wird. Auch diese Regelung ist wichtig
und richtig.
Hier mehr Offenheit zu schaffen, schadet niemanden.
Wir müssen uns als Bundestagsabgeordnete immer darü-
ber im Klaren sein, was eigentlich im Kern unsere Auf-
gabe ist. Die von uns selbst festgesetzten Bezüge sollen
auch wirtschaftlich die Unabhängigkeit jedes einzelnen
Abgeordneten sichern. Diese besondere Stellung der Bun-
destagsabgeordneten ist auch nötig, damit wir unsere Ar-
beit im Parlament so ausüben können, wie es Artikel 38
des Grundgesetzes vorsieht: „ ... an Aufträge und Weisun-
gen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterwor-
fen.“
Daraus folgt aber auch, dass es bei der Offenlegung
von Nebeneinkünften um mehr geht als um eine in unser
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224822
(C)
(D)
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(B)
politisches Belieben gestellte Entscheidung. Es geht mei-
nes Erachtens vielmehr um Pflichten; die sich zwingend
aus unseren ganz besonderen und beileibe nicht unbedeu-
tenden Rechten ergeben. Das folgt übrigens auch schon
aus dem Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts von
1975: Die besondere Stellung der Abgeordneten verlangt
...gesetzliche Vorkehrungen dagegen, dass Abgeord-
nete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis, aus
einem so genannten Beratervertrag oder ähnlichem,
ohne die danach geschuldeten Dienste zu leisten, nur
deshalb erhalten, weil im Hinblick auf ihr Mandat er-
wartet wird, sie würden im Parlament die Interessen
des zahlenden Arbeitgebers, Unternehmers oder der
zahlenden Großorganisation vertreten und nach
Möglichkeit durchzusetzen versuchen.
Einkünfte dieser Art sind mit dem unabhängigen Sta-
tus der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf
gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Man-
dat unvereinbar.
Zu Recht beobachten die Bürgerinnen und Bürger auf-
merksam, ob und wie wir solche verfassungsrechtlich ge-
forderten Anforderungen umsetzen.
Mit dem heutigen Antrag tun wir einen weiteren, wich-
tigen Schritt zur Stärkung der Demokratie, der Transpa-
renz und damit auch des Vertrauens der Öffentlichkeit in
ihre Vertreter und Institutionen. Denn solange wir eine
fast ausschließlich repräsentative Demokratie haben ist es
nötig, dass die Bürger ihren Abgeordneten vertrauen kön-
nen. Ich bin stolz – da dies meine letzte Rede im Deut-
schen Bundestag sein wird – so viel und so gut ich konnte
daran mitgewirkt zu haben, dass dieses Vertrauen und vor
allem auch, dass die Demokratie gestärkt und in der Rich-
tung auf mehr Transparenz und eine Stärkung der Bürger-
beteiligung weiterentwickelt wird.
Es ist kein Geheimnis, dass ich gerne noch deutlich
mehr erreicht und durchgesetzt hätte. Ein Blick in das von
mir schon in der vergangenen Legislaturperiode vorge-
legte „Große Demokratiepaket“ macht dies deutlich. Aber
Politik ist mühsam und bewegt sich, gerade in solchen
Fragen, nur in kleinen Schritten. Durch Beharrlichkeit,
Überzeugungskraft und klare, nie vernachlässigte Ziele
haben wir nun aber doch einige wichtige Schritte ge-
schafft. Ich hoffe, dass noch weitere gemacht werden.
Lassen Sie mich eines zum Schluss noch sagen: Es ist
mir nicht möglich, über dieses Thema zu reden, ohne an
Kristin Heyne zu erinnern. Sie, die so warmherzige,
kluge, bescheidene und unbestechliche Kollegin, die bis
vor kurzem noch unsere Parlamentarische Geschäftsfüh-
rerin war und dann so furchtbar früh gestorben ist, hat
ganz entscheidend zum Zustandekommen dieses Antra-
ges beigetragen.
Jörg van Essen (FDP): Der Bundestag hat mit den
Verhaltensregeln für seine Mitglieder bislang gute Erfah-
rungen gemacht. Die dort vorgesehenen Offenlegungs-
pflichten sind notwendig und dienen der Transparenz.
Weiteren Reformbedarf sehen wir in diesem Bereich
nicht. Für die FDP besteht daher auch keinerlei Notwen-
digkeit, die Verhaltensregeln zu ändern in dem Sinne, wie
der uns heute vorliegende Antrag von Rot-Grün dies vor-
sieht. In der Begründung zu dem Antrag heißt es, die vor-
gesehenen Änderungen zielten nicht auf den „gläsernen
Abgeordneten“ ab, der seine gesamten persönlichen, be-
ruflichen und wirtschaftlichen Verhältnisse offen zu legen
habe. Aber gerade dies will der Antrag. Der Abgeordnete,
der neben der Ausübung seines Mandats noch einer frei-
beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt oder Steuerberater
nachgeht, muss seine Mandantenverhältnisse offen legen.
Dass dies mit allen berufsstandesrechtlichen Grundsätzen
kollidiert, interessiert Rot-Grün offensichtlich wenig.
Wenn wir uns die Zusammensetzung des Bundestages
im Hinblick auf die Berufsorientierung ansehen, werden
wir feststellen, dass die Vertreter der freien Berufe nicht
gerade überrepräsentiert sind. Wir müssen aber ein Inte-
resse daran haben, dass auch die Vertreter der freien Be-
rufe ihr politisches Engagement durch eine Mitglied-
schaft im Deutschen Bundestag zum Ausdruck bringen.
Durch eine derartige Änderung der Verhaltensregeln wird
es uns aber nicht gelingen. Im Gegenteil: Eine Offenle-
gung von persönlichen und beruflichen Verhältnissen in
diesem Umfang wird jeden Freiberufler von einer Tätig-
keit im Bundestag abhalten. Der Antrag ist wieder ein ty-
pisches Beispiel für „gut gemeint“. So lässt sich aber
keine Politik machen. Der Antrag ist praxisuntauglich und
daher kein geeigneter Beitrag zur Reform des Parla-
mentsrechts.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Die Erweiterung der zu
veröffentlichenden Angaben von Abgeordneten über Ne-
bentätigkeiten, zusätzliche Einkünfte und Abhängigkei-
ten hätte, wenn es ehrlich gewollt ist, zu Beginn und nicht
erst am Ende der Wahlperiode erfolgen können. Ausge-
rechnet der Gesetzgeber braucht für die Umstellung von
der D-Mark auf den Euro in seinen eigenen Regelungen
Monate.
Inhaltlich ist an den vorgeschlagenen Änderungen
nichts falsch, auch wenn ich anmerken möchte, dass die
wirklichen in diesem Zusammenhang stehenden Pro-
bleme mit diesen Änderungen der Verhaltensregeln für
Bundestagsabgeordnete nicht gelöst werden.
Bundestagsabgeordnete haben nach 48 Art. GG An-
spruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit si-
chernde Entschädigung. Was darunter zu verstehen ist,
wissen wir spätestens seit dem so genannten Diätenurteil
des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. November 1975.
Unsere angemessene Entschädigung ist demnach eine
„Vollalimentation aus der Staatskasse“. Wenn die Infor-
mationen über die Arbeit der Bundestagsabgeordneten in
den vom Bundestag herausgegeben Broschüren und wei-
teren Publikationen stimmen, besteht diese „Vollalimen-
tation“ angesichts des Fulltimejobs mit teilweise bis zu 14
Stunden Arbeitszeit am Tag zu Recht. Unverständlich ist
deswegen, warum Bundestagsabgeordnete in größerem
Umfang in zahlreichen Aufsichtsräten sitzen oder anderen
profitablen Nebentätigkeiten nachgehen können.
Die Abhängigkeiten von der Wirtschaft und Verbänden
sowie die Empfänglichkeit für Spenden sind und bleiben
ein Problem. Zu Recht vermerkte „Der Spiegel“ im April
dieses Jahres, dass bei Korruption für Abgeordnete bis
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24823
(C)
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heute Sonderregeln gelten, die dafür sorgen, dass Parla-
mentarier bislang noch nie wegen Bestechlichkeit verur-
teilt wurden. Diesbezügliche Vorschläge der PDS-Bun-
destagsfraktion hat dieses Haus in großer Einmütigkeit
abgelehnt. Auch die Veröffentlichung der Höhe der Ein-
künfte von Bundestagsabgeordneten sollte künftig zu un-
seren Verhaltensregeln gehören.
Die Koalitionsfraktionen empfehlen dem Bundestags-
präsidenten, bei der Änderung der Ausführungsbestim-
mungen die anzeigungspflichtigen Beträge durch Neben-
tätigkeiten im Zusammenhang mit der Euro-Umstellung
„behutsam“ von 5 000 DM auf 3 000 Euro im Monat bzw.
30 000 DM auf 18 000 Euro im Jahr anzuheben. Alles,
was darunter liegt, braucht ein Abgeordneter nicht beim
Bundestagspräsidenten anzuzeigen, geschweige denn öf-
fentlich zu machen. Ich halte dieses Ansinnen für falsch
und empfehle dem Bundestagspräsidenten deshalb, die
anzeigenpflichtige Höhe von Nebeneinkünften deutlich
abzusenken.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
– zu dem Antrag des Bundesministeriums der Fi-
nanzen: Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2000 – Vorlage der Haushaltsrech-
nung und Vermögensrechnung des Bundes (Jah-
resrechnung 2000)
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech-
nungshof: Bemerkungen des Bundesrechnungsho-
fes 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
(einschließlich der Feststellung zur Jahresrech-
nung des Bundes 2000)
(Tagesordnungspunkt 17)
Josef Hollerith (CDU/CSU/): Es ist nicht nur eine
gute Übung, sondern mir ein besonderes Anliegen, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesrechnungs-
hofes für die hervorragende Unterstützung unserer Arbeit
im Rechnungsprüfungsausschuss herzlich zu danken. Der
Bundesrechnungshof arbeitet gewissenhaft, zuverlässig
und allein im Interesse der Sache. Da diese Controlling-
arbeit im Ergebnis zur Vermeidung von Ausgaben führt
und zur Aufdeckung von Fehlleistungen der Verwaltung
und überhöhter bzw. nicht vereinnahmter Einnahmen bei
den Steuern – zum Beispiel Umsatzsteuerbetrug – führt,
ist künftig zu überlegen, inwieweit der Bundesrechnungs-
hof von den generellen Personalkürzungen ausgenommen
werden soll. Ich bin der Meinung, dass dieses Personal im
Ergebnis mehr Geld einbringt, als es kostet. Insoweit plä-
diere ich, den Bundesrechnungshof bei den generellen
Stellenkürzungen künftig auszunehmen.
Mein besonderer Dank gilt unserer Ausschussvorsit-
zenden Uta Titze-Stecher, die mit hoher menschlicher
Kompetenz, Umsicht und Leitungsqualität den Rech-
nungsprüfungsausschuss als Vorsitzende geführt hat. Da
sie mit dieser Wahlperiode ihre Arbeit im Deutschen Bun-
destag beenden wird, wünsche ich ihr für ihren weiteren
Lebensweg vor allem viel Gesundheit und alles Gute.
Mein Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen, die
als Mitglieder im Rechnungsprüfungsausschuss tätig wa-
ren. Die Zusammenarbeit war stets kollegial, offen und
sachlich. Bezeichnenderweise hat auch der Rechnungs-
prüfungsausschuss in 99 Prozent der Fälle einstimmig ab-
gestimmt. Dies ist auch richtig, weil ein solches Verhalten
die gemeinsame Absicht aller Fraktionen ihre Controlling-
aufgabe ernst zu nehmen, dokumentiert. Mein besonderer
Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ausschusssekretariats, die uns bei unserer Arbeit vorbild-
lich unterstützt haben.
Die Beschlussempfehlung lautet, der Bundesregierung
nach Art. 114 GG in Verbindung mit § 114 der Bundes-
haushaltsverordnung die Entlastung für das Haushaltsjahr
2000 zu erteilen. Insbesondere wird die Bundesregierung
aufgefordert, bei der Aufstellung und Ausführung der Bun-
deshaushaltspläne die Feststellungen des Haushaltsaus-
schusses zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
zu befolgen, Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaft-
lichkeit unter Berücksichtigung der Entscheidungen des
Ausschusses einzuleiten und die Berichtspflichten fristge-
recht zu erfüllen, damit eine zeitnahe Verwertung der Er-
gebnisse bei den Haushaltsberatungen gewährleistet ist.
Dabei umfasst diese Aufforderung die Drucksache der Be-
schlussempfehlung und den Bericht des Haushaltsaus-
schusses mit insgesamt 102 DIN-A-4-Seiten. Dies ist ein
beachtlicher Umfang von Rügen und Aufforderungen, de-
ren Umsetzung die Bundesregierung durch Ausschussbe-
schluss und Beschluss des Hauses verpflichtet.
In den folgenden Ausführungen möchte ich ihre Auf-
merksamkeit auf die Probleme für den Bundeshaushalt
aufgrund der Zahlungspflichten für die Postbeamtenver-
sorgungskasse richten. Der dramatische Kursverfall der
T-Aktie, die gegenüber ihrem Höchststand fast 90 Prozent
ihres Kurswertes verloren hat, führt schon 2002 und 2003
im Bundeshaushalt zu Finanzierungsproblemen für die
Postbeamtenversorgungskasse. Langfristig sind diese
Lasten des Bundes – auf diesem Kursniveau – aus den An-
teilen des Bundes an den Postnachfolgeunternehmen nur
noch zu Bruchteilen finanzierbar. Die falsche Wirtschafts-
und Finanzpolitik der rot-grünen Bundesregierung, die
für Deutschlands Wirtschaftsschwäche verantwortlich ist,
muss dringend korrigiert werden, um die sich hier ab-
zeichnenden massiven zusätzlichen Belastungen der
Steuerzahler zurückzuführen. Vor mehr als einem Jahr hat
sich Finanzminister Eichel seine Taschen mit den Erlösen
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen in Höhe von
51 Milliarden Euro prall gefüllt. Mitgeboten hatte auch
die Telekom, die heute ihre drastischen Verluste auch mit
den hohen Aufwendungen für die UMTS-Lizenzen be-
gründet. Nicht anders geht es den anderen Bietern von da-
mals. Mittlerweile herrscht die Meinung vor, dass die
UMTS-Technik die Kosten ihrer Einführung niemals wird
erwirtschaften können. Man erinnert sich: Der Kurs der
Telekom-Aktie stieg, Millionen von Kleinaktionären
zeichneten die Papiere. Eichel hat erst aus dem Verkauf
von Telekom-Aktien und dann über die „Konsumsteuer“
UMTS nochmals kräftig kassiert. Nicht vergessen werden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224824
(C)
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darf, dass es Eichel war, der die Freistellung der Post von
der Umsatzsteuer in Höhe von fast 1 Milliarde Euro be-
schlossen hatte und selbst durch die Privatisierung hieraus
kassiert hat. Mittlerweile macht sich bei den Aktionären
von Telekom und Post, unter ihren Millionen von
Kleinaktionären, Katerstimmung breit. Die Kurse beider
Postnachfolgeunternehmen sind im Keller.
Entsprechend dem 1995 verabschiedeten Postperso-
nalrechtsgesetz, das die Postreform begleitete, muss der
Bund die jederzeitige Auszahlungsverpflichtung der drei
Postnachfolgeunternehmen Telekom AG, Post AG, Post-
bank AG über die gegründete Postbeamtenversorgungs-
kasse gewährleisten.
Nach einem versicherungsmathematischen Gutachten
von November 2000 bedeuten die Zahlungsverpflichtun-
gen dieser Postbeamtenversorgungskasse in den Jahren
2001 bis 2090 für den Bund einen Barwert von rund
150 Milliarden Euro Anfang 2001. Diesen Ausgabever-
pflichtungen des Bundes stehen bei den derzeitig niedrigen
Aktienkursen von Telekom und Post Vermögenswerte des
Bundes in Höhe von lediglich knapp 34 Milliarden Euro
gegenüber, mithin eine Unterdeckung von 116 Milliarden
Euro, ein gewaltiges Haushaltsrisiko für künftige Jahre.
Für das laufende Haushaltsjahr 2002 mag Eichel noch
mit einem „blauen Auge“ davonkommen. Die Ausgaben
für die Postbeamtenversorgungskasse in Höhe von
5,4 Milliarden Euro kann er durch den Rückgriff aus dem
beim „Treuhandvermögen Bundesanstalt für Post und Te-
lekommunikation“ noch vorhandenen Mitteln in Höhe
von rund 5 Milliarden Euro finanzieren. Probleme dürfte
es geben, die im Bundeshaushalt 2002 mit weiteren
2,8 Milliarden Euro – 2001: 3,7 Milliarden Euro – einge-
stellten Privatisierungserlöse zur allgemeinen Haushalts-
finanzierung zu realisieren. Auch hier sind Verkäufe von
weiteren Telekom- und Post-Aktien vorgesehen. In Anbe-
tracht der niedrigen Kurse würde ein Marktverkauf die
Kurse weiter belasten und neuerliche Platzhalterlösungen
bei der Kfw kämen einer Verschleuderung von Vermö-
genswerten gleich. Ohnehin hat die Kfw gewaltige Mittel
durch diese Platzhalterlösungen gebunden und damit ste-
hen dem eigentlichen Gegenstand des Unternehmens, der
Förderung der deutschen Wirtschaft – insbesondere des
Mittelstandes – , entsprechend weniger Mittel zur Verfü-
gung, da die Bank ihre Anteile nur im Einvernehmen mit
dem Bund verkaufen darf.
Wie man es auch dreht und wendet: Eichel hat mit sei-
ner Finanzpolitik mit dazu beigetragen, dass die Mittel für
die Finanzierung der Postbeamtenversorgungskasse er-
schöpft sind und künftigen Bundeshaushalten gewaltige
Finanzierungsprobleme hierdurch entstehen. Insbeson-
dere der dramatische Kursverfall der Telekom-Aktie ist
eine schwere Erblast, die Eichel bei seinem Abgang nach
dem 22. September 2002 hinterlässt.
Für mich endet mit dieser Rede die Arbeit im Deut-
schen Bundestag. Ich blicke dabei auf zwölf erfolgreiche
Jahre Arbeit als Bundestagsabgeordneter zurück. Ich
freue mich, dass ich den Menschen im Lande dienen
konnte, viel für den Wahlkreis bewegt habe und meine
Handschrift einige Gesetze wie zum Beispiel das Bauge-
setz mitgeprägt hat.
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Jahresabschluss 2000 zeigt, dass wir in diesem Jahr die
Wende zu einer soliden und nachhaltigen Haushaltspolitik
vollzogen haben. Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms
2000 wurde trotz des massiven Gegenwinds das angepeilte
Sparvolumen von 30 Milliarden DM fast punktgenau er-
reicht. Die Neuverschuldung wurde auf 46,5 Milliarden
DM reduziert. Das sind 3,0 Milliarden DM weniger als
veranschlagt und 9,9 Milliarde DM weniger als 1998.
Gleichzeitig unterschreitet die Neuverschuldung die
Investitionsausgaben von 55 Milliarden DM um 8,5 Milli-
arden DM. Damit liegt sie deutlich unter der verfassungs-
rechtlichen Verschuldungsobergrenze des Artikel 115 GG.
In 1998 lag der Abstand nur bei 0,7 Milliarden DM und in
den zwei Jahren zuvor war die Neuverschuldung sogar
höher als die Investitionsausgaben: 1996 um 17,3 Milliar-
den DM und 1997 um 7,3 Milliarden DM.
Der erfolgreiche Jahresabschluss 2000 resultiert vor al-
lem aus der strikten Haushaltsdisziplin der rot-grünen
Bundesregierung. Die Gesamtausgaben liegen mit 478 Mil-
liarden DM um 0,8 Milliarden DM unter dem veran-
schlagten Soll. Mit strikter Ausgabendisziplin konnten
nicht nur der vorgegebene Ausgabenrahmen unterschrit-
ten, sondern auch erhebliche zusätzliche Mehr-Belastun-
gen aufgefangen werden. So wurden Ausgaben für die
Zwangsarbeiterstiftung von 4,6 Milliarden DM, das
Wohngeld von 1,5 Milliarden DM und die Heizkosten-
pauschale von 1,1 Milliarden DM kompensiert. Auch bei
der Einnahmenstruktur konnten weitere Verbesserungen
erreicht werden. Während 1998 noch Privatisierungser-
löse von 19,8 Milliarden DM zur Deckung laufender Aus-
gaben benötigt wurden, wurden hierfür in 2000 nur noch
3,7 Milliarden DM eingesetzt.
Neben der konsequenten Umsetzung unseres Zukunfts-
programms war in 2000 die größte finanzpolitische Leis-
tung die Verwendung des Versteigerungserlöses bei den
UMTS-Lizenzen. Statt diese Einmaleinnahmen von fast
100 Milliarden DM für zusätzliche Maßnahmen zu ver-
wenden sind wir unserem Leitbild einer nachhaltigen
Haushaltspolitik treu geblieben. Die Mittel wurden in
vollem Umfang zur Tilgung alter Schulden eingesetzt.
Damit haben wir nicht nur eine dauerhafte Entlastung bei
den Zinsausgaben erzielt, sondern unsere Verlässlichkeit
in der Finanzpolitik bewiesen.
Unsere Politik der strikten Haushaltsdisziplin hat sich
bewährt. Die von uns vorgelegte Finanzplanung bis 2006
dokumentiert, dass wir auch in der neuen Legislaturperiode
an unserem Konsolidierungskurs konsequent festhalten
werden. Dieser Kurs ist die Basis für unser Ziel, im Jahre
2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Demge-
genüber zeigen die völlig unseriösen Wahlversprechen der
Opposition, dass sie an das Jahr 1998 anknüpfen wollen
und wieder mit dem Schuldenwahn beginnen wollen.
Jürgen Koppelin (FDP): Ich spreche der Vorsitzen-
den des Rechnungsprüfungsausschusses, der Kollegin
Uta Tietze-Stecher, meinen Dank für die vertrauensvolle
Zusammenarbeit aus. Dieser Dank gilt selbstverständlich
auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Rech-
nungsprüfungsausschusses und den Mitgliedern des Bun-
desrechnungshofes.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24825
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Zur Debatte steht heute der Antrag des Bundesministe-
riums der Finanzen zur Entlastung der Bundesregierung
für das Haushaltsjahr 2000. Innerhalb der mir zur Verfü-
gung stehenden Zeit von dreieinhalb Minuten kann si-
cherlich nicht alles gesagt werden, was von Relevanz für
diesen Haushalt wäre. Daher werde ich mich nur auf ei-
nige wesentliche Punkte konzentrieren.
Im Haushaltsgesetz 2000 vom 28. Dezember 1999
wurden die Einnahmen und Ausgaben des Bundes auf
478,8 Milliarden DM festgestellt und das Bundesministe-
rium der Finanzen zu einer Nettokreditaufnahme bis zur
Höhe von 49,5 Milliarden DM ermächtigt.
Im Haushaltsvollzug lagen die Einnahmen ohne Münz-
einnahmen und Einnahmen aus der Aufnahme von Kredi-
ten um rund 2,1 Milliarden DM über dem veranschlagten
Soll. Die Ausgaben waren mit 478 Milliarden DM rund
0,8 Milliarden unter dem Ausgabesoll.
Auffällig ist, dass das Haushaltsjahr 2000 mit Steuer-
einnahmen in Höhe von rund 389 Milliarden DM abge-
schlossen hat. Diese sind historisch betrachtet die höchs-
ten Steuereinnahmen in der Geschichte Deutschlands. Sie
lagen im Vollzug um gut 1,3 Milliarden DM über dem ver-
anschlagten Soll. Verglichen mit dem Vorjahr betrug der
Zuwachs bei den Steuereinnahmen insgesamt 12,4 Milli-
arden DM; dies entspricht einem Plus von 3,3 Prozent.
Ursächlich dafür waren die stärkere Besteuerung des
Energieverbrauchs durch die Erhöhung der Mineralöl-
steuer und Stromsteuer – Ökosteuer – und das höhere Auf-
kommen der veranlagten Einkommensteuer wegen hoher
Nachzahlungen für vergangene Veranlagungszeiträume
und hohe Vorauszahlungen.
Die Gesamtausgaben erführen gegenüber dem Vorjahr
eine leichte Reduzierung um 1 Prozent auf 478 Milliarden
DM. Dabei verharrte der Anteil der konsumptiven Ausga-
ben mit 88,5 Prozent bzw. 423 Milliarden DM auf weiter-
hin hohem Niveau. Den größten Anteil davon belegten die
Sozialausgaben – darunter die Sozialversicherungen,
Renten und Unterstützungsleistungen – sowie Zinsausga-
ben. Sie erreichten zusammen 260,5 Milliarden DM oder
61,6 Prozent der konsumptiven Ausgaben.
Auffällig ist der Anteil der investiven Ausgaben an den
Gesamtausgaben. Im Haushaltsvollzug erab sich eine Re-
duzierung der investiven Ausgaben um 2,5 Milliarden
DM auf 55 Milliarden DM. Dies entspricht einer Investi-
tionsquote von 11,5 Prozent und bedeutet eine weitere
Absenkung im Vergleich zu den Vorjahren. Dabei ist vor
allem die Reduzierung der Sachinvestitionen, also bei-
spielsweise der Baumaßnahmen, von 13,9 Milliarden auf
13,2 Milliarden DM bedeutsam.
Hinzuweisen wäre bei den Ausgaben auf die Leistungen
des Bundes zur Zahlung eines einmaligen Heizkos-
tenzuschusses. Die Ursache war eine von der Bundesregie-
rung zu verantwortende Verteuerung der Energiekosten.
Mit 1,1 Milliarden DM hat die Bundesregierung seinerzeit
ein Winterhilfepaket geschnürt. Zu Mehraufwendungen
kam es bei der Arbeitslosenhilfe in Höhe von 3,5 Milliar-
den DM. Diese Unterveranschlagung wird, vergleicht man
die letzten Haushaltsjahre, regelmäßig durch die rot-grüne
Bundesregierung praktiziert und verkommt mehr und mehr
zu einer Unsitte bei der Haushaltsaufstellung.
Allerdings möchte ich nicht erneut eine Generaldebatte
über den Haushalt 2000 führen. Die Bemerkungen des
Bundesrechnungshofes 2001 zur Haushalts- und Wirt-
schaftsführung des Bundes sind die Grundlage für die
Entlastung der Bundesregierung durch den Bundestag im
Haushaltskreislauf. Insofern haben die Bemerkungen des
Bundesrechnungshofes eine große Wirkung, da sie fi-
nanzwirtschaftlich bedeutsam sind und die Kritik mit
konkreten Verbesserungen und Vorschlägen verbunden
wird. Allein mit 66 Bemerkungen des BRH hat sich der
Rechnungsprüfungsausschuss befassen müssen. Fast alle
Ressorts waren betroffen. Dies zeigt auch, dass es im Ver-
waltungsbereich und innerhalb der Bundesministerien
noch viele Unzulänglichkeiten gibt und hier weiterhin ein
großes Einsparpotenzial besteht. Daher ist dem Bundes-
rechnungshof Dank zu sagen für seine Anstrengungen so-
wie für seine Vorschläge und Anregungen.
Heidemarie Ehlert (PDS): In diesem Jahr ist es ge-
lungen, die Haushaltsrechnung des Bundes für das Jahr
2000 ziemlich zeitgleich mit den Bemerkungen des Bun-
desrechnungshofes in den jeweiligen Ausschüssen einzu-
reichen und zu behandeln. Das ist gut so; denn nur im Ver-
gleich beider Dokumente können die Erfolge und die
Beanstandungen hier und heute behandelt werden.
Vorab möchte ich für die PDS die Zustimmung zur Ent-
lastung signalisieren, obwohl der BRH sehr kritische An-
merkungen zur Erstellung der Haushaltsrechnung im All-
gemeinen und auch zu den einzelnen Ministerien im
Besonderen ausgewiesen hat.
Unsere Kritik bezieht sich auf folgende Schwerpunkte:
Erstens. Der Bundesrechnungshof stellte fest, dass die
Bundesregierung eine fehlerhafte Jahreshaushaltsrech-
nung vorgelegt hatte, die widersprüchliche, unzutreffende
oder unklare Angaben enthielt. Meines Erachtens hat es
eine solche Feststellung noch nie gegeben, dass der Bun-
desrechnungshof die vorgelegte Jahresrechnung korrigie-
ren musste.
Zweitens. Immer wieder fordert der BRH die Verwal-
tung auf, mit den Haushaltsmitteln sparsam und effektiv
umzugehen. Aber noch immer werden Haushaltsmittel in
Größenordnungen verschwendet; ich denke dabei an die
Ministerien und Ämter wie das Auswärtige Amt, den
BGS, das Innenministerium, das Verteidigungsministe-
rium und den IT-Bereich. Das wird vor allem immer von
der Opposition, aber auch von Mitgliedern der Regie-
rungsfraktionen kritisiert.
Dem aber könnte man entgegenwirken, als Politiker,
als Steuerzahler oder als Vereinigung, wenn Sie heute un-
serem Antrag zur „Bestellung einer Amtsanklägerin/eines
Amtsanklägers“ zugestimmt hätten. Es hat sich in der Ver-
gangenheit gezeigt, dass auch das ausgefeilte Sanktions-
instrumentarium wirkungslos bleiben muss, solange sich
niemand konsequent um die Durchsetzung der Ansprüche
gegen Steuergeldverschwender kümmert. Nur durch öf-
fentliche Kontrolle kann Verschwendung eingedämmt
werden. Bisher fehlte aber die Bereitschaft, diesbezüglich
überhaupt tätig zu werden.
Der Umgang mit öffentlichen Mitteln muss sich an den
Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ori-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224826
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entieren. Bei verfehlten Ausgaben der öffentlichen Hand
muss am Ende der Steuerzahler für diese aufkommen. Die
unermüdliche Anprangerung dieser Situation ist zwar in
Einzelfällen durchaus wirkungsvoll, doch hat sie eine
grundlegende Beseitigung des Missstandes bisher nicht
bewirken können.
Der Bund der Steuerzahler fordert bereits seit 1982 durch
die Einführung einer Amtsanklägerin bzw. eines Amts-
anklägers der Verschwendung von Haushaltsmitteln entge-
genzuwirken. Aber noch immer werden die Bemerkungen
des BRH zwar zur Kenntnis genommen, aber der Ver-
schwendung kein Einhalt geboten. Damit muss angesichts
der desolaten Haushaltslage Schluss gemacht werden.
Anlage 15
Zu Protokoll gegeben Reden
zur Beratung
– der Beschlussempfehlung und des Berichts: Die Ge-
meinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur als regelgebundenes Förder-
system erhalten
– des Antrags: Regionalpolitik stärken – Chancen
nutzen
(Tagesordnungspunkt 18 und Zusatztagesordnungs-
punkt 13)
Christian Müller (Zittau) (SPD): In den letzten zehn
Jahren gab es immer wieder kritische Situationen für die
GA. Sie resultierten aus dem Spannungsfeld aufeinander-
treffender Förder- und Nichtfördergebiete ebenso, wie aus
der Reduzierung der Haushaltsmittel. Dabei war den Re-
gionalpolitikern im Deutschen Bundestag immer klar,
dass insbesondere die Ausstattung der GAWest mit ange-
messenen Haushaltsmitteln eine der Voraussetzungen für
das Zustandekommen der Rahmenpläne für ost- und west-
deutsche Fördergebiete im Bund-Länder-Planungsaus-
schuss ist.
Parallel dazu entwickelte sich die Einflussnahme der
Europäischen Kommission auf die Regionalförderung an
sich, was besonders in Phasen der Neuabgrenzung der
Fördergebiete zunehmende Konflikte zur Folge hatte. Un-
sere eigenen Interessen waren und sind darauf gerichtet,
angesichts vorhandener und wachsender regionaler
Disparitäten, auch in der Folge der europäischen Erweite-
rung, nationale Spielräume für die Regionalpolitik zu er-
halten oder zurückzugewinnen. Die Europäische Kom-
mission sollte sich auf eine Missbrauchskontrolle im
Beihilferecht zurückziehen. Sowohl in der nationalen als
auch in der europäischen Diskussion geht es jetzt um die
Zukunft der Regionalförderung. Darin liegen einige poli-
tische Herausforderungen.
Die Ministerpräsidenten der Länder haben im Juni
2001 auf ihrer Sonderkonferenz Beschlüsse zur Neuord-
nung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Län-
dern gefasst. Bis zum Abschluss der Europäischen Regie-
rungskonferenz im Jahr 2004 soll mit dem Bund die
Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfi-
nanzierungen vereinbart werden. Im Jahr 2003 sollen
dazu entsprechende Verhandlungen zwischen dem Bund
und den Ländern erfolgen, eine Position des Bundes für
das weitere Vorgehen in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe
soll im Herbst formuliert werden. Ich halte es in diesem
Zusammenhang für unannehmbar, dass in den Arbeits-
gruppen die Wirtschaftsministerien weder auf Bundes-,
noch auf Landesebene vertreten sind.
Im Kontrast dazu haben erst vor wenigen Wochen, am
6. Mai, die Wirtschaftsminister des Bundes und der Län-
der im Planungsausschuss der GA bekräftigt, dass die
Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstrukturen erhalten werden sollte. Es ist heute
der nahezu letztmögliche Zeitpunkt, dazu eine Position
des 14. Deutschen Bundestages zu diskutieren und zu
verabschieden. Wir werden im Ergebnis den vorliegen-
den Antrag mit breiter Mehrheit verabschieden. Damit
geben wir der Bundesregierung den Auftrag zu prüfen,
wie die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstrukturen erhalten werden kann.
Wir halten fest, die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstrukturen hat als ein ef-
fizientes, regelgebundenes Fördersystem klare Struktu-
ren des Zusammenwirkens von Bund und Ländern
entwickelt. Im Bund-Länder-Planungsausschuss werden
nicht nur die Rahmenpläne erarbeitet und verabschiedet,
sondern auch alle Probleme im Zusammenwirken von
Ländern mit Fördergebieten vernünftig geregelt. Die
Rahmenpläne eröffnen auf diese Weise Möglichkeiten
zur geförderten Entwicklung der wirtschaftsnahen Infra-
struktur, von Qualifizierungsmaßnahmen und den Ein-
satz von Regionalmanagern. Ein unverzichtbares Ziel der
GA ist und bleibt die Sicherung wettbewerbsfähiger
Arbeitsplätze in der Folge von Investitionen in stabile
Unternehmen.
Diese gut organisierte Gemeinschaftsaufgabe zur Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstrukturen ist ein un-
verzichtbarer Ordnungsrahmen für die Regionalentwick-
lung. Er sichert in einem bundeseinheitlichen Verfahren
die Gleichbehandlung von Regionen und verhindert einen
ungebremsten Subventionswettlauf der Länder um An-
siedlungen. Dies ist ein Systemansatz, der angesichts des
eher zunehmenden regionalpolitischen Handlungsbedarfs
fortentwickelt werden muss, denn auch die kommenden
Jahre werden von einem ständigen Strukturwandel be-
gleitet sein. Insbesondere die bevorstehende Erweiterung
der Europäischen Union wird in dieser Hinsicht eine be-
sondere Herausforderung darstellen. Deshalb sollten der
Bund und die Länder sich stärker als Initiatoren, Media-
toren oder auch Moderatoren in den Regionen einbringen.
Mit dem Instrumentarium der GA ist es möglich, die
raumwirksamen Politikbereiche des Bundes, wie Mittel-
stands-, Forschungs-, Städtebau- und Arbeitsmarktpoli-
tik projektbezogen zu koordinieren. Die daraus erwach-
senden Synergieeffekte führen zu Effizienzgewinnen
und einer dauerhaften Entwicklung in den Regionen.
Wir brauchen also auch künftig die Gemeinschaftsauf-
gabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
turen. Deshalb bitte ich Sie alle, dem vorliegenden An-
trag zuzustimmen. Zugleich sollten wir auch gemeinsam
die Einbeziehung der Wirtschaftsministerien in die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24827
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Bund-Länder-Arbeitsgruppe fordern, was ich von mei-
ner Seite jedenfalls unterstreichen möchte.
Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Ich denke, es besteht
parteiübergreifend Konsens, dass die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“
als modernes und leistungsfähiges Instrument der Wirt-
schaftsförderung beibehalten werden muss. Mit ihr kön-
nen wir regionale Entwicklungsunterschiede abbauen hel-
fen und dauerhaft Arbeitsplätze sichern und schaffen. Sie
gewährt einen breiten Gestaltungsspielraum mit regiona-
ler Schwerpunktsetzung. Vorhandene Strukturprobleme
können dadurch effizient und zielgerichtet gelöst werden.
Flexibilität und Eigenständigkeit wird in den Ländern ge-
fördert. Besonders für die neuen Bundesländer ist die Ge-
meinschaftsaufgabe das entscheidende Mittel gezielter
Investitionsförderung.
Bei Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe wäre dem
Bund das Instrumentarium entzogen, um wirksam den
Strukturwandel zu erleichtern und gesamtwirtschaftliche
Aspekte in die regionale Strukturpolitik einzubeziehen.
Einzelfallbezogene Interventionen des Bundes könnten
an die Stelle des regelgebundenen und transparenten För-
dersystems der Gemeinschaftsaufgabe treten. Die Fremd-
bestimmung der Länder drohte verstärkt zu werden. Glei-
ches wäre mit Blick auf die Zentralisierungstendenzen der
Struktur- und Beihilfepolitik der EU-Kommission zu er-
warten. Die Koordinierung zwischen den Ländern würde
sich erheblich erschweren. Dies ist nicht akzeptabel. Die
Regionalförderung war in der Vergangenheit unersetzbar
notwendig und ist es auch in der Zukunft.
Der 31. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe setzt
im Wesentlichen den 30. Rahmenplan fort. Für mich als
Abgeordneten aus den neuen Bundesländern ist jedoch
festzustellen, dass erneut die Mittelausstattung für die
Gemeinschaftsaufgabe Ost gekürzt wurde. Waren es im
Jahre 1998 für die neuen Bundesländer und Berlin noch
1 494,5 Millionen Euro sind für das Jahr 2002 nur noch
868,5 Millionen Euro vorgesehen. Die Arbeitslosenquote
in den neuen Bundesländern besteht derzeit bei circa
18 Prozent, obwohl die Abwanderung im vergangenen
Jahr so hoch war wie kurz nach der Wende. Allein dieses
Beispiel zeigt die dramatische wirtschaftliche und soziale
Situation in den neuen Bundesländern. Eine Reduzierung
der Barmittel für die Gemeinschaftsaufgabe Ost können
wir daher nicht akzeptieren.
Das ist besonders kritisch zu sehen, weil unter anderem
das Auslaufen der jetzigen Förderperiode im Jahre 2006
und die bevorstehende EU-Osterweiterung einen neuen
Anpassungsdruck mit sich bringen. Hiervon werden die
Fördergebiete der Gemeinschaftsaufgabe, also die struk-
turschwachen Regionen und insbesondere die Grenzre-
gionen zu den Beitrittsländern betroffen sein.
Es ist nicht daran zu zweifeln, dass die EU-Osterwei-
terung politisch notwendig ist und im wirtschaftlichen In-
teresse Deutschlands liegt. Jedoch sind die Risiken nicht
zu unterschätzen. Standortverlagerungen und Kundenbe-
wegungen in die Beitrittsländer sind nur ein kleiner Aus-
schnitt anstehender Probleme. Erhebliche Wettbewerbs-
verzerrungen sind zu erwarten, wenn die Bundesregierung
die Strukturnachteile nicht ausgleicht und Hilfe zur An-
gleichung an die neuen Bedingungen anbietet.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Förderbe-
dingungen entsprechend den Regionalproblemen noch
mehr zu harmonisieren und transparenter zu gestalten.
Gleichzeitig sind die Instrumente der Investitionsförde-
rung gezielter aneinander anzupassen, um damit die Effi-
zienz zu erhöhen.
Die Strukturpolitik ist als Thema wesentlich intensiver
und entschiedener bei den Beitrittsverhandlungen in
Brüssel einzubeziehen; die einzelnen Politiken sind bes-
ser aufeinander abzustimmen. Die Bundesregierung muss
darauf hinwirken, die Kompetenz für die Regionalförde-
rung bei den Mitgliedsländern zu belassen und zu stärken.
Die Tendenz der Ausweitung der Beihilfekontrolle der EU-
Kommission ist auf eine Missbrauchskontrolle zurückzu-
führen und der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten
zu bewahren und auszubauen.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur“ weiterzuentwickeln und engagierter die Interes-
sen des Bundes, der Länder und der Wirtschaft in Brüssel
zu vertreten.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Erhalt ländlicher Regionen als attraktive Lebensräume ist
unser besonderes Anliegen. Daher setzen wir uns mit un-
serem Antrag für den Erhalt der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ein.
Unterstützt werden wir dabei von den Wirtschaftsminis-
tern, die in ihrem Beschluss vom Mai diesen Jahres die
Notwendigkeit der Gemeinschaftsaufgabe zur Stärkung
ländlicher Regionen bestätigt haben.
Die Gemeinschaftsaufgabe hat sich als wirksames In-
strument zur gezielten Förderung ländlicher Regionen er-
wiesen. Besonders für die neuen Bundesländer ist sie un-
verzichtbar. Jeder einzelne Betrieb in Ostdeutschland ist in
den letzten zwölf Jahren massiv über die GA gefördert
worden. Im vorläufigen Bericht der Bundesregierung über
die Gemeinschaftsaufgabe ist nachzulesen, dass die einge-
setzten Mittel zur Neuschaffung von circa 34 000 und zur
Absicherung von weiteren 80 000 Arbeitsplätzen beigetra-
gen hat. Die meisten davon sind in Ostdeutschland.
Ohne die Gemeinschaftsaufgabe besteht die Gefahr,
dass es zu einer zunehmenden Auseinanderentwicklung
der Regionen und zu einem Subventionswettlauf der Län-
der um Ansiedlungen kommt. Denn die Beteiligung des
Bundes an der Gemeinschaftsaufgabe sichert die Gleich-
behandlung und verhindert Abhängigkeiten der struktur-
schwachen Regionen. Sie garantiert, dass die Förderung
regelgeleitet, das heißt anhand bestimmter Förderkriterien
und -richtlinien geschieht anstatt willkürlich und unter-
schiedlich je nach Region und politischer Zuständigkeit.
Sie schützt vor Förderung nach dem Einzelfallprinzip in
Form von Ad-hoc-Interventionismus, von der nur verein-
zelte Regionen profitieren. Zusätzlich stellt die Gemein-
schaftsaufgabe die Koordination zwischen der Förderpoli-
tik von EU und Deutschland sicher. Der Bund muss daher
seinen Einfluss behalten und seine koordinierende Funk-
tion wahrnehmen.
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Die EU-Osterweiterung wird die Regionen vor neue
Herausforderungen stellen. Sie wird erhebliche Chancen
für die regionale Entwicklung bieten. Sie wird jedoch
auch zu Verschärfungen im Wettbewerb führen. Hier müs-
sen wir den Ländern die Möglichkeit schaffen, aktiv Hilfe
zur Anpassung an die neuen Bedingungen anzubieten.
Entscheidend für die Wirksamkeit der Gemeinschafts-
aufgaben ist, dass sie an die sich verändernden Rahmen-
bedingungen, zum Beispiel durch die EU-Erweiterung,
angepasst werden. Für die Gemeinschaftsaufgabe zur
Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes
ist die Diskussion um die Reformierung bereits in vollem
Gange. Im Zuge des Mid-Term-Reviews der Agenda 2000
soll bereits im nächsten Jahr eine Umorientierung der EU-
Agrarfördermittel stattfinden; weg vom reinen Produkti-
onsbezug und hin zur Förderung von nachhaltigen Pro-
duktionsweisen und von Arbeitsplätzen. Mit den Geldern
aus der Verordnung Ländlicher Raum sollten in Zukunft
beispielsweise auch kleine Handwerksbetriebe unterstützt
werden können oder der Aufbau neuer Erwerbszweige in
ländlichen Regionen wie die Nutzung erneuerbarer Ener-
gien oder Anbau und Verarbeitung von nachwachsenden
Rohstoffen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den
Ländern die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes bereits im Hinblick
auf die EU-Entwicklung reformiert. Auch in dieser Ge-
meinschaftsaufgabe muss der Tendenz der Länder, die
notwendigen Kofinanzierungsmittel nicht zur Verfügung
zu stellen, entgegengewirkt werden. Im Haushalt werden
daher die GA-Mittel gekürzt – eine gefährliche Entwick-
lung.
Die vordringlichsten Ziele einer Reform der Gemein-
schaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur sind Verbesserungen in der Transparenz
der Mittelverwendung, eine stärkere Regionalverantwor-
tung durch verbindliche regionale Entwicklungskonzepte
und eine bessere europäische Abstimmung der Förderkri-
terien. Die Regionalförderung sollte konsequenter als bis-
her darauf ausgerichtet sein, lang- und mittelfristig Stand-
ortnachteile von Förderregionen zu beseitigen bzw.
auszugleichen, und sie sollte fest in Entwicklungskon-
zepte der Region integriert sein. So kann sie als effektive
und modernes Instrument die langfristige Entwicklung
und Stärkung strukturschwacher Regionen fördern.
Gudrun Kopp (FDP): Zur Sachlage: Ende 2003 läuft
die Genehmigung der Förderregeln und des Fördergebie-
tes der Gemeinschaftsaufgabe aus. Dies bedeutet, dass
zum Januar 2004 ein neues Fördergebiet in Brüssel noti-
fiziert und genehmigt werden muss.
Zentrale Frage in der Zukunft der Regionalförderung
wird sein, wie die EU-Förderung aussehen wird, vor al-
lem nach dem Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten.
Klar ist: Diese Staatenerweiterung wird deutliche Rück-
wirkungen auch und gerade auf Deutschland – und hier
besonders auf die neuen Länder – haben. Klar ist für die
FDP aber auch, dass Deutschland weiter in der Förderung
bleiben muss. Wir Liberalen verknüpfen diese Forderung
mit sehr konkreten Vorstellungen über eine Verbesserung
des bisherigen Fördersystems.
Die FDP fordert erstens eine strikte, EU-weite Bei-
hilfekontrolle; zweitens den Abbau der verworrenen
Mischfinanzierung zwischen EU sowie Bund und Län-
dern; drittens eine Stärkung der Entscheidungs- und Fi-
nanzautonomie der Länder.
Diese Maßnahmen werden entscheidend zum Abbau
von Bürokratie, zur Reduzierung der Verwaltungskosten
führen und sich zugunsten von mehr Fördertransparenz
und Eigenverantwortung im jeweiligen Mitgliedsland
auswirken. Vor Ort, in den Ländern, ist das Wissen über
eine fehlende ausgewogene Wirtschaftsstruktur und die
nötigen Problemlösungen besser bekannt als fernab in den
Europäischen Kommissionen in Brüssel. Das bewährte
Subsidiaritätsprinzip braucht freie Entfaltungsmöglich-
keiten.
Rolf Kutzmutz (PDS): SPD und Bündnisgrüne waren
offensichtlich sehr erstaunt, dass die PDS mit ihrem Vor-
schlag zur Reformierung der Gemeinschaftsaufgaben in
die Offensive gegangen ist. Drei Wochen nach der De-
batte des PDS-Vorschlages legten sie ein paar windelwei-
che, weit ausdeutbare Vorschläge vor. Die beheben aber
nicht den Mangel an qualifizierten, realistischen und auf
Dauerhaftigkeit angelegten politischen Projekten zu einer
Angleichung der Lebenverhältnisse in Ostdeutschland
und den strukturschwachen Regionen Westdeutschlands.
Obwohl die Regierungsparteien feststellen, dass gerade
strukturschwachen Regionen bei der EU-Osterweiterung
hoher Konkurrenzdruck droht, schieben sie die Verant-
wortung auf die EU und die Regionen selbst ab. Der Bund
müsse nur dafür sorgen, dass die EU alle notwendigen
Schritte unternimmt. Der schwarze Peter wird den Regio-
nen zugeschoben, die mehr Eigenanstrengungen beim
Strukturwandel unternehmen und selbigen mehr selbst
tragen sollen. Selbst wenn wir beiden Parteien eine gute
Absicht zubilligen: Sie verraten sie uns nicht, in welcher
Form, mit welcher höheren Wirksamkeit mit welcher Mit-
telausstattung nach ihrer Vorstellung die Gemeinschafts-
aufgaben erhalten bleiben sollen.
Auch nach unserem Vorschlag sind bessere Abstim-
mungen und integrierte Lösungsansätze von Regionen,
Bund und Ländern und einer engen Verzahnung von Poli-
tikbereichen nötig und machbar; aber nicht, wenn dies nur
zusätzlich zum politischen Alltagsgeschäft erfolgen soll.
SPD und Grüne erweisen sich mit ihrer Vorstellung zur
Rolle von Bund und Ländern als Informationsgarant, Ini-
tiator, Moderator und Mediator, dann auch eher als Ter-
minator der Anstrengungen der Regionen zu einer kom-
plexen und integralen Entwicklung. Bekanntermaßen
sind die Informationsbereitstellung ohnehin normale Auf-
gaben von Bund und Ländern, Mediationsergebnisse un-
verbindlich und Moderatorenrollen zeitlich stark einge-
schränkt. Das hier wesentlich mehr Gelder langfristig
verlässlich fließen müssen und die Initiative sowie die
speziellen Bedürfnisse der Regionen im Vordergrund ei-
ner ökologisch-sozialen Entwicklung stehen müssen,
bleibt ausgeblendet.
Es war gerade unser Ansatz, die überfällige Struktur-
fondsreform in Europa und die Reform der Gemein-
schaftsaufgaben zu nutzen, um endlich Voraussetzungen
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für die Herausbildung von Verkehrs-, Energie-, Abfall-,
Wärmestrukturen in der Fläche herzustellen, eine räumli-
che Entwicklung von Natur, Stadt und ländlichem Raum
im sozial und ökologisch verträglichen Zusammenhang
ermöglichen und darin gesundheits- und bildungspoliti-
sche Entwicklungen einzubetten. Doch offensichtlich
überfordert ein solch komplexer Politikansatz die Koali-
tion. Dies ist besonders erstaunlich, da die Bündnisgrünen
solche übergreifende Entwicklung ja auch bis 1998 ge-
fordert hatten. Und obwohl selbst der stellvertretende
SPD-Vorsitzende Michael Müller ein Weiterdenken von
der Ökosteuer zu einer Primärenergiesteuer für den öko-
logischen Umbau keinesfalls ausschließt. Wir meinen
nach wie vor, dass ein sozial-ökologischer Umbau bei ent-
sprechenden politischen Willen möglich ist, und das mit
einer Verteilungspolitik zulasten großer Gewinne, Ein-
kommen und Vermögen ohne höhere Angaben- und Steu-
erbelastung für die breite Masse der Bürgerinnen und Bür-
ger.
Eine nachhaltige Entwicklung in derzeit struktur-
schwachen Regionen und eine Angleichung der Lebens-
verhältnisse von Ostdeutschland erfordert entsprechende
finanzielle, strukturelle und infrastrukturelle Maßnah-
men. Die sind auch langfristig nur in einer abgestimmten
gemeinsamen, rechtlich verbindlichen Politik von Bund
und Ländern zu schultern. Trotz seiner Unverbindlichkeit
lehnen wir diesen Antrag der Koalition nicht ab. Schließ-
lich rafft sie sich – anders als die CDU/CSU – wenigstens
zu einem Bekenntnis zum Erhalt des GA-Mechanismus
auf und stellt sich damit gegen einen gemeisamen Be-
schluss der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers.
Die PDS wird Rot-Grün an den heutigen Beschluss erin-
nern, falls sie auch nach dem 22. September weiter in Re-
gierungsverantwortung bleiben sollte.
Zum Schluss noch ein paar Worte zum Antrag der
CDU/CSU: Ich finde es schon bemerkenswert, dass sie die
Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstrukturen aus-
drücklich in Länderverantwortung legen will. Angesichts
der Finanzmisere der neuen Länder erweist sich damit
nicht nur ihr Wahlkampfgetöse zum Aufbau Ost als leeres
Geschwätz. Vierlmehr entpuppen sich auch ihre vernünf-
tigen Forderungen zur Grenzland- und zur übrigen Regio-
nalförderung als reines Bayern-Programm. So weiß man
zwar, wo die Reise hinginge, falls Ministerpräsident
Stoiber nach Berlin ziehen darf. Das wir eine solche Rich-
tung nicht unterstützen, das dürfte aber ebenso klar sein.
Ditmar Staffelt Dr. Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Die Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur“, abgekürzt die GA, hat sich zu einem modernen,
leistungsfähigen Instrument der regionalen Wirtschafts-
förderung entwickelt.
Der Bund stellt für die GA in diesem Jahr rund 1 Milli-
arde Euro für die neuen Bundesländer und die struktur-
schwachen Regionen in Westdeutschland zur Verfügung,
das heißt für Errichtungs- und Erweiterungsinvestitionen,
um neue Arbeitsplätze zu schaffen, für Modernisierungs-
investitionen, die bestehende Betriebe wettbewerbsfähiger
machen und die Arbeitsplätze langfristig sichern, für lohn-
kostenbezogene Zuschüsse, damit innovative, personalin-
tensive Unternehmen und Dienstleister gezielter gefördert
werden, für wirtschaftsnahe Infrastrukturprojekte, um die
regionalen Standortbedingungen zu verbessern, für nicht
investive Unternehmensaktivitäten von kleinen und mitt-
leren Unternehmen sowie für integrierte regionale Ent-
wicklungskonzepte und Regionalmanagementvorhaben,
um die regionalen Aktivitäten vor Ort zu stärken.
Der Erfolg der GA-Förderung lässt sich in Zahlen be-
legen:
Von 1999 bis 2001 wurden rund 8,7 Milliarden Euro
GA-Mittel von Bund und Ländern bewilligt: Damit wurde
ein Investitionsvolumen von rund 36 Milliarden Euro aus-
gelöst.
Durch die gewerbliche Investitionsförderung in den
letzten drei Jahren wurden direkt rund 139 000 neue
Arbeitsplätze geschaffen und rund 382 000 Arbeitsplätze
gesichert. Die GA-Förderung wird im nächsten Jahr wir-
kungsvoll fortgesetzt: Der Bewilligungsrahmen 2003 für
neue GA-Projekte in den neuen Bundesländern und in den
westdeutschen Fördergebieten beträgt voraussichtlich
rund 2,3 Milliarden Euro, einschließlich Kofinanzierung
der Länder und eingesetzter EU-Strukturfondsmittel.
Die Bundesregierung begrüßt den Antrag der Koali-
tionsfraktionen.
Erstens ist es wichtig, dass die Diskussion über die Zu-
kunft der Regionalförderung auch im Deutschen Bundes-
tag und in den Ausschüssen geführt wird. Zweitens ist es
richtig, das Thema zum jetzigen Zeitpunkt aufzugreifen.
In Kürze steht eine Reihe von Terminen und politischen
Entscheidungen an, die sich unmittelbar auf das GA-För-
dersystem, das zentrale Instrument von Bund und Län-
dern zur regionalen Wirtschaftsförderung, auswirkten:
Bis Herbst diesen Jahres soll eine erste Bestandsauf-
nahme über die Gemeinschaftsaufgaben und weitere
Mischfinanzierungen vorgelegt werden, die die Grund-
lage für die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
im Zusammenhang mit der Neuordnung des Bund-Län-
der-Finanzausgleichs bilden. Die beihilferechtliche Ge-
nehmigung für die Investitionsförderung in Deutschland
läuft Ende 2003 aus. Die Beschlüsse zum Solidarpakt 11
ab 2005 müssen instrumentell umgesetzt werden. Wich-
tige Entscheidungen über die EU-Osterweiterung sollen
noch in diesem Jahr getroffen werden. Modelle für die
Ausgestaltung der Strukturfondsförderung nach 2006
werden bereits erörtert.
Vor diesem Hintergrund hat der Planungsausschuss der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, das heißt die Wirtschaftsminister
von Bund und Ländern sowie der Bundesfinanzminister,
in seiner Sitzung am 2. Mai 2002 in Hamburg eine Grund-
satzdiskussion zur zukünftigen Ausgestaltung der Regio-
nalförderung in Deutschland geführt.
Der vom Planungsausschuss in breitem Konsens zu zen-
tralen Grundsatzfragen gefasste Beschluss liegt Ihnen vor.
Erlauben Sie mir dennoch, einige Punkte herauszugrei-
fen, die sich auf den vorliegenden Antrag beziehen: Der
Planungsausschuss spricht sich dafür aus, diese Gemein-
schaftsaufgabe beizubehalten. Eine Abschaffung wäre mit
der Gefahr verbunden, dass sich die Regionalförderung zu
einer diskretionären und einzelfallbezogenen Politik
zurückentwickeln würde. Die GA ermöglicht einen regio-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224830
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nalpolitischen Konsens zwischen Bund und Ländern, der
insbesondere Voraussetzung für das hohe Förderniveau in
Ostdeutschland ist. Den Ländern bietet die GA weitge-
hende Eigenständigkeit und Flexibilität bei der Durch-
führung der Förderung.Es ist kein alternatives Instrument
bekannt, das die notwendige Koordinierung, zum Beispiel
gegenüber der EU-Kommission, mit einem geringeren
Aufwand leisten kann. Soweit Anpassungen als notwendig
erscheinen, sollte zunächst geprüft werden, ob diese in-
nerhalb des bestehenden Systems vorgenommen werden
können. Der Planungsausschuss spricht sich dafür aus, die
Effizienz und Transparenz der Investitionsförderung zu er-
höhen. Die einzelnen Instrumente, zum Beispiel Zu-
schüsse, zinsverbilligte Kredite und Bürgschaften, sollten
besser aufeinander abgestimmt werden. Eine echte Har-
monisierung der Förderbedingungen sieht der Planungs-
ausschuss als Voraussetzung dafür an, dass die verschie-
denen Instrumente nach 2003 von den Investoren
gleichzeitig in Anspruch genommen werden können.
Bund und Länder haben auf Arbeitsebene am 13. und
14. Juni 2002 die ersten Schritte zur Umsetzung des Be-
schlusses in die Wege geleitet.
Im Übrigen hat der Vorsitzende des Planungsausschus-
ses den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz zu-
geleitet, die die Debatte über die Mischfinanzierungen
zwischen Bund und Ländern angestoßen hat.
Der Antrag zielt daneben auf ein stärkeres Engagement
von Bund und Ländern als Moderator, Initiator oder Me-
diator in den Regionen. Dass hierfür ein Bedarf besteht,
zeigt sich insbesondere an der guten Resonanz des GA-
Modellprojekts Regionalmanagement.
Nach Einführung des neuen Fördertatbestands im
Sommer 2000 werden derzeit über 30 Regionen mit GA-
Mitteln unterstützt, um ihr regionales Entwicklungspo-
tenzial zu mobilisieren und die regionalen Entwicklungs-
aktivitäten zielgerichtet zu organisieren.
Die fortschreitende Globalisierung und die EU-Ost-
erweiterung, um nur zwei Beispiele zu nennen, werden
auch in Zukunft strukturelle Veränderungen in den Re-
gionen auslösen.
Zur Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufbaus in den
neuen Ländern, zur Flankierung des Strukturwandels und
zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen in
den strukturschwachen Gebieten brauchen wir in
Deutschland weiterhin eine zielgerichtete und effiziente
regionale Wirtschaftsförderung. Die Bundesregierung
wird den Antrag bei ihren Überlegungen berücksichtigen.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Verteilung
und Verteilungswirkungen der Steuern und Ab-
gaben (Tagesordnungspunkt 19)
Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD): Ja, es steht fest
und namhafte Wirtschaftsinstitute bestätigen es: Die Steuer-
reform wirkt! Eigentlich müsste man der PDS dankbar
sein, diese Große Anfrage gestellt zu haben. Denn die
Antwort verdeutlicht anschaulich und unmissverständ-
lich: Die rot-grüne Regierung hat den Begriff der sozialen
Gerechtigkeit wieder zu einer festen Bank in der Steurpo-
litik gemacht. Steursenkungen von jährlich insgesamt
56,1 Milliarden Euro gegenüber 1998 kommen Beziehern
kleinern und mittleren Einkommen, Familien und kleinen
und mittleren Unternehmen zugute. Dies ist die größte
Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland, und das – was die Union schier zur Ver-
zweiflung bringt, weil sie dazu nie fähig war – sogar noch
solide finanziert. Wir senken die Steuern und die Netto-
neuverschuldung.
Arbeitnehmer haben mehr Geld in der Tasche. Mit unse-
rer Steuereform haben wir den Grundfreibetrag von rund
6 300 Euro im Jahr 1998 auf rund 7 700 Euro ab dem Jahr
2005 erhöht. Den Eingangssteuersatz haben wir von rund
26 Prozent auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz von
53 Prozent auf 42 Prozent im Jahr 2005 gesenkt. Eine vier-
köpfige Familie mit einem Bruttoverdienst von 40 000 Euro
zahlt im Jahr 2002 2 189 Euro bzw. 4 281 DM weniger
Lohnsteur als 1998. Das ist sozial gerecht und erhöht spür-
bar die Nettolöhne.
Das Ergebnis: Die Nettolöhne und -gehälter sind in un-
serer Regierungszeit um 8,4 Prozent gestiegen, während
sie in der vorigen Legislaturperiode – der Regierungszeit
von CDU/CSU und FDP – sogar um 0,48 Prozent gesun-
ken sind. Sie haben den Arbeitnehmern das Geld aus der
Tasche gezogen, um Besserverdienende belohnen zu kön-
nen. Das ist das Markenzeichen der Union bis heute.
Der Anteil der Steuern am Arbeitsnehmerentgelt ist
– dies zeigt die Antwort der Bundesregierung – mit
11,3 Prozent auf der niedrigsten Stand seit derWiederver-
einigung gefallen. Die Steuerlast der Arbeitnehmer sinkt,
weil wir eine gute Steuerreform gemacht haben. Wir ge-
ben den Arbeitnehmern das Geld zurück, das die Vorgän-
gerregierung ihnen genommen hat. Das ist das Marken-
zeichen unserer Politik.
Zur Familienförderung. Wir haben das Kindergeld
dreimal um insgeamt über 80 Milliarden DM pro Monat
auf heute 154 Euro angehoben. Wir haben damit die
steuerliche Familienförderung auf 35,5 Milliarden Euro
aufgestockt – ein deutliches Plus von 38,7 Prozent im Ver-
gleich zu 1998. Allein dadurch hat eine Familie mit zwei
Kindern 1 000 Euro pro Jahr mehr zur Verfügung. Jedes
Kind ist uns gleich viel wert. Deshalb bleibt es unser Ziel,
durch weitere Erhöhung des Kindergelds den Kinderfrei-
betrag überflüssig zu machen.
Nachgewiesene Betreuungskosten aufgrund von Er-
werbstätigkeit können erstmals bei allen Famlilien steuer-
lich berücksichtigt werden. In der nächsten Legislaturpe-
riode werden wir den Familienleistungsausgleich weiter
ausbauen und uns um besssere Beteuungsmöglichkeiten
kümmern. 4 Milliarden Euro für mehr Betreuung sorgen
für mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies wol-
len unsere Familien. Das so genannte Familiengeld der
Union wird von allen Verbänden als reine Prämie fürs Zu-
hausebleiben abgelehnt. Ihr Familienbild ist antiquiert
und geht völlig an der Realität vorbei.
Wir haben insbesondere den so genannten Durch-
schnittsfamilien die Steuerlast genommen. 1998 zahlte
eine Familie – 60 000 DM Jahresbrutto, verheiratet,
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2 Kinder – noch 6 290 DM Steuern und erhielt 5 280 DM
Kindergeld. In diesem Jahr zahlt die gleiche Familie nur
noch 4 542 DM Steurn und erhält 7 229 DM Kindergeld.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepbulik er-
hält eine Durchschnittsfamilie mehr Kindergeld, als sie
Steuern zahlt. Wir haben ihr die Steuerlast genommen.
Wir fördern die Familien nachweisbar und solide finan-
ziert. Union und FDP verbreiten nichts als Worthülsen –
Versprechungen, die nicht finanzierbar sind. Aber was
will man von bestens bekannten Schuldentreibern anderes
erwarten?
Der Mittelstand wird gestärkt, Kommunalfinanzen
werden geschont. Handwerk und Mittelstand profitieren
von der allgemeinen Senkung des Einkommensteuertarifs
genauso wie Arbeitnehmer. Die Zusatzbelastung durch
die Gewerbesteur haben wir für Personenunternehmen
faktisch abgeschafft, ohne dass die Kommunen dadurch
etwas verlieren. Denn die den Gemeinden zustehende Ge-
werbesteuer können die Personenunternehmer pauschal
mit ihrer Einkommensteuerschuld verrechnen. Mittel-
ständische GmbHs sind durch die Senkung des Körper-
schaftsteuersatzes auf 25 Prozent ebenfalls deutlich ent-
lastet worden.
Eine Benachteiligung des zum größten Teil als Perso-
nenunternehmen organisierten Mittelstands im Vergleich
zu Kapitalgesellschaften gibt es nicht. Sie wird von der
Opposition künstilich hochstilisiert – ein Phantom, das in
der Praxis nicht existiert. Ein verheirateter Personenun-
ternehmer mit einem Gewinn von 50 000 Euro – immer-
hin 78 Prozent aller Personenunternehmen haben einen
Gewinn bis zu 50 000 Euro – zahlt in diesem Jahr nur noch
10 313 Euro Steuern im Vergleich zu 12 465 Euro im Jahr
1998. Das sind über 17 Prozent weniger Steuern als zu
ihrer Regierungszeit.
Hätte dieser Unternehmer eine GmbH mit dem glei-
chen Gewinn und würde diesen gänzlich im Betrieb be-
lassen, müsste er in diesem Jahr 19 323 Euro Steuern zah-
len, also mehr als ein Personenunternehmer, aber
immerhin über 31 Prozent weniger als 1998. Denn sie ha-
ben in Ihrer Regierungszeit Investitionen in den Betrieb
verhindert, da hierauf unverhältnismäßig hohe Steuern zu
entrichten waren. Wir mussten also auch hier erst einmal
Steuergerichtigkeit herstellen.
Personengesellschaften und Einzelunternehmer wer-
den durch die Maßnahmen bei der Einkommensteuer und
den faktischen Wegfall der Gewerbesteuer entlastet. Ka-
pitalgesellschaften werden durch die Senkung der Kör-
perschaftsteuer auf einheitlich 25 Prozent entlastet. Damit
ist der deutsche Körperschaftsteuersatz endlich auf einem
international konkurrenzfähigen Niveau. Gleichzeitig
wurden große Unternehmen durch eine neue Bewertung
ihrer Rückstellungen steurlich erheblich belastet – Kern-
kraftwerksbetreiber circa 13,7 Milliarden DM, Versiche-
rungswirtschaft 8,75 Milliarden DM – sodass ein Großteil
ihrer Entlastungen bereits vorfinanziert wurde.
Der aktuelle Rückgang der Körperschaftsteuereinnah-
men um rund 45 Milliarden DM im Jahr 2001 beruht – wie
prognostiziert – zu einem Drittel auf der Senkung des Kör-
perschaftsteurtarifs zu einem weiteren Drittel auf kon-
junkturellen Entwicklungen und besonderen Effekten –
wie zum Beispiel der steuerlichen Anerkennung der
UMST-Aufwendungen und der Zwangsarbeitentschädi-
gung – sowie zu einem letzten Drittel auf einem nicht in
diesem Maße erwarteten Ausschüttungsverhalten der Un-
ternehmen. Diese Ausschütttungen an die Anteilseigener
der Kapitalgesellschaften haben auf der anderen Seite
aber einen Anstieg der Kapitalertragsteuer in etwa glei-
cher Höhe bewirkt.
Wer dies nicht glaubt, möge sich doch einfach einmal
die jüngst veröffentlichten Zahlen des Steuerabschlusses
2001 anschauen: Mehreinnahmen bei der Kapitalertrags-
steuer von über 14 Milliarden DM und weitere Mehrein-
nahmen bei der veranlagten Einkommensteuer. Die wei-
ter ansteigenden Einnahmen bei der Körperschaftssteuer
in diesem Jahr – circa 28 Milliarden DM – zeigen, dass es
sich 2001 um Einmaleffekte gehandelt hat. Die falschen
Parolen der Union entlarven lediglich, dass der Grund für
den Steuerausfall 2001 in ihrem investitionsfeindlichen
Körperschaftsteuersystem gelegen hat.
An dieser Stelle ein Wort zu den Gemeindefinanzen.
Der Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen in vielen
Städten und Gemeinden hat mit der Unternehmensteuer-
reform nichts zu tun. Dies zeigen schon die großen Un-
terschiede in der Aufkommensenwicklung von Kommune
zu Kommune. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der
Unternehmensbesteuerung haben wir im Gegenteil die
Einnahmebasis der Kommunen kurzfristig um circa
700 Millionen Euro gestärkt. Hätten wir dies nicht getan,
wäre der Rückgang noch stärker gewesen.
Allerdings ist die von unseren Vorgängern immer weiter
ausgehöhlte wichtigste eigene Einahmequelle der Gemein-
den, die Gewerbesteuer, inzwischen extrem konjunkturab-
hängig. Das bestätigen sowohl die Aufkommenzuwächse
der Jahre 1997 bis 2000 wie auch der scharfe Rückgang im
vergangenen Jahr. Deshalb wollen wir – erstmals seit über
30 Jahren – eine umfassende Reform der Gemeindfinanzen
beschließen, die vor allem auch für stetigere Einnahmen
sorgt. Eine Kommission unter Mitwirkung der kommuna-
len Spitzenverbände hat ihre Arbeit aufgenommen und
wird uns Vorschläge vorlegen.
Soziale Gerechtigkeit bedeutet Verteilungsgerechtig-
keit. Ein Markenzeichen der früheren CDU/CSU-FDP-
Regierung war die massive Entlastung der Spitzenverdie-
ner zulasten von Arbeitnehmern und Familien. Das
Verfassungsgerichtsurteil zu einer gerechteren Familien-
besteuerung ist ein deutlicher Beweis hierfür – eine Ohr-
feige für 16 Jahre Familienpolitik von CDU/CSU und
FDP. Steuersparmodelle und Abschreibermodelle für
Besserverdienende gabe es an jeder Ecke. Leer stehende
Wohnungen, Überkapazitäten im Osten waren die Folge.
Allein im Jahr 1995 liefen 51,3 Milliarden DM an Verlus-
ten aus Vermietung und Verpachtung auf. 1993 bis 1998
führte dies zu Steuerverlusten von 43,7 Milliarden DM.
Dies beweist, dass dieses Strohfeuer vollkommen unge-
steuert nur auf Vermögensbildung im Westen ausgerichet
war und keine tragfähige Struktur im Osten aufgebaut hat.
In meinem Wahlkreis Hochtaunus wohnen statistisch
gesehen die meisten Einkommensmillionäre. Diese konn-
ten bis 1998 Steurschulpflöcher ausnutzen und ihre Ein-
kommensteuerschuld auf null reduzieren. In den Medien
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224832
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häuften sich die Berichte, dass Reinemachefrauen bei
Zahnärzten in Bad Homburg mehr Steurn zahlten als ihr
Arbeitgeber. Dies war eine schreiende soziale Ungerech-
tigkeit.
Unsere Steuerreform hat mit dieser Ungerechtigkeit
aufgeräumt. Die Streichung von über 70 Abschreibungs-
tatbeständen und die Einführung einer Mindeststeuer
sorgt dafür, dass Besserverdienende ihren Beitrag zum
Steueraufkommen leisten müssen. Diese Regelungen zei-
gen bereits Wirkungen: 1997 musste mein Finanzamt in
Bad Homburg noch 6 Millionen DM mehr an veranlagter
Einkommensteur auszahlen, als es eingenommen hat.
2001 ist die Bilanz wieder in Ordnung: Das Finanzamt hat
250 Millionen DM mehr eingenommen als ausgegeben.
Die Einkommensmillionäre in meinem Wahlkreis zahlen
wieder Steuern – und das ist gut so!
Insgesamt haben wir durch unsere sozial gerechte
Steuereform dafür gesorgt, dass Einkommensmillionäre
wieder mehr zum Steueraufkommen beitragen. In diesem
Jahr tragen Einkommensmillionäre mit ihren Steuern be-
reits mit 11,3 Prozent zum Steueraufkommen bei.
Fazit: Die soziale Schieflage in der Steuerpolitik durch
16 Jahre CDU/CSU-FDP-Regierung ist in vielen Berei-
chen bereits abgebaut worden. Wir sind auf dem richtigen
Weg. Sozial gerecht werden Familien, Arbeitnehmer und
der Mittelstand entlastet – und dies ist alles sogar noch so-
lide finanziert, bei gleichzeitiger Senkung der Nettoneu-
verschuldung. Besserverdienende tragen wieder zum
Steueraufkommen bei und können sich nicht arm rechnen.
Soziale Gerichtigkeit ist und bleibt das Markenzeichen
dieser Bundesregierung.
Wolfgang Steiger (CDU/CSU):Man kann es eigent-
lich immer nur wiederholen: Wenn es um das Thema Steu-
ern und Abgaben, um die Finanzpolitik der rot-grünen
Bundesregierung geht, muss jeder Beobachter und vor al-
lem jeder Betroffene zu dem Schluss kommen, dass diese
Politik schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
Kürzlich konnten wir lesen, dass viel weniger Deut-
sche in diesem Sommer planen, in Urlaub zu fahren. Der
Grund: Es bleibt immer weniger Geld in der Tasche; vor
allem herrscht eine quälende Ungewissheit, was Rot-
Grün in der nächsten Zeit noch so anstellt. Die Menschen
spüren, dieser Bundesregierung fehlt eine generelle Vor-
stellung von ordnungspolitischem Denken und vor allen
Dingen das Bewusstsein, dass eben Wirtschaftspolitik, Fi-
nanzpolitik und Arbeitsmarktpolitik ineinander wirken.
Ich muss auch den Vorwurf machen, dass nahezu alle
Versprechen von Gerhard Schröder aus dem Wahlkampf
1998 gebrochen wurden. Wenn etwas gemacht worden ist,
dann war es nur das Herumdoktern an einzelnen Sympto-
men. In nunmehr vier Jahren haben wir keine Aktivitäten
feststellen können, mit denen die Wurzel eines Übels
bekämpft wurde. Vier Jahre Rot-Grün waren verlorene
Jahre für Deutschland.
Als Fazit müssen wir feststellen: Unser Land hat sich
von den anderen Ländern der Europäischen Union abge-
koppelt. Die Hauptgründe sind nicht der 11. September
und die Hoffnung auf das Anspringen der Konjunktur in
den USA, es sind hausgemachte Probleme. Für diese Aus-
sagen haben wir einen Kronzeugen, auf den Sie viel mehr
hören sollten, als dies gegenwärtig der Fall ist, nämlich
Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Wo Schmidt Recht
hat, hat er Recht. So verzeichnen Länder wie Spanien oder
Irland höhere Wachstumsraten als die Bundesrepublik
Deutschland. Und wenn wir über das Vertrauen von Men-
schen, von Unternehmen und von Märkten in unserer Fi-
nanzpolitik reden, dann müssen wir feststellen, dass ge-
rade der Umgang mit dem angedrohten blauen Brief aus
Brüssel mehr als kontraproduktiv war. Sie wissen heute
schon, dass Sie das Versprechen, einen ausgeglichenen
Haushalt für 2004 vorzulegen, nicht halten können. Eine
solche Aussage kann im Prinzip nur von jemandem ge-
macht werden, der entweder fernab der Realitäten steht
oder der fest damit rechnet, im Jahr 2004 nicht mehr im
Amt zu sein.
Das Bedrückende ist: Es werden keine positiven Ef-
fekte für Wachstum und Beschäftigung erreicht. In einer
Zeit, in der eben Mobilität und Flexibilität auf der Tages-
ordnung ganz oben stehen, antwortet diese rot-grüne Bun-
desregierung mit starren Korsetten, die verhindern, dass
die Herausforderung der Zukunft bewältigt werden kann.
Deshalb bin ich sehr dankbar für diese Debatte, bei der
wir die Gelegenheit haben, auch über die miserable
Steuer- und Abgabenpolitik der Bundesregierung zu re-
den. Ihre Steuerreform ist geprägt durch die unglaubliche
Unterscheidung in gute und schlechte Unternehmer. Der
Mittelstand hat bei Ihrer Regierungspolitik nichts Gutes
zu erwarten, im Gegenteil.
Das Ergebnis Ihrer Steuer- und Abgabenpolitik, Ihrer
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind 40 000 Insol-
venzen. Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Und nach dem Höchststand in 2001 wird für 2002 ein wei-
terer Anstieg prognostiziert. Das kommt nicht von unge-
fähr. Eine solche Entwicklung fällt nicht vom Himmel,
eine solche Entwicklung hat etwas damit zu tun, dass völ-
lig falsche Rahmenbedingungen in Deutschland herr-
schen, und das Schlimme dabei ist, dass diesen vielen,
vielen, tausend Insolvenzen immer weniger Unterneh-
mensneugründungen gegenüberstehen.
Aber solche Ergebnisse sind nicht verwunderlich bei
einem Finanzminister, der aufgrund seiner politischen
Vorgaben sagt, dass ihm Kapitalgesellschaften wichtiger
seien als die vielen mittelständischen Unternehmen in
diesem Land. Besonders bedrückend ist, dass Ihnen die
Politik zulasten des Mittelstandes und zugunsten der
Großkonzerne noch nicht einmal gedankt wird. In diesen
Tagen lesen wir immer wieder Meldungen, dass Groß-
konzerne, die nahezu keine Körperschaftsteuer zahlen
und denen die politischen Rahmenbedingungen zugute
gekommen sind, massenhaft Personal entlassen. Fakt ist:
Ihre Politik ist gescheitert, und das eigentlich Beachtliche
daran ist, dass die Gewerkschaften aus tiefer Solidarität zu
diesem Vorgang schweigen. Die Gewerkschaften verraten
in diesen Tagen massiv die Interessen der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
Ich sage Ihnen, wenn wir es nicht schaffen, dass wir
auch den Mittelstand in eine wettbewerbsfähige Situation
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24833
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versetzen, dann wird er seine große Aufgabe, die meisten
Arbeitsplätze zu schaffen und dafür Sorge zu tragen, dass
junge Menschen eine Ausbildung erhalten, nicht leisten
können. Mittelstandspolitik muss wieder wirklich auf der
Tagesordnung stehen und darf nicht nur in irgendwelchen
Sonntagsreden vorkommen.
Sie haben dem Mittelstand einiges aufgebürdet; 630-
Mark-Gesetz, Betriebsverfassungsgesetz, Mitbestim-
mungsgesetz, Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbst-
ständigkeit. Auch die Entwicklung um Basel II hat
Rot-Grün verschlafen. Hätte die Union nicht in einem An-
trag auf die Thematik aufmerksam gemacht, Rot-Grün
hätte die Bedeutung und die Tragweite gar nicht erkannt.
Auch beim gegenwärtigen Zustand unserer Kommu-
nen in Deutschland sind die Worte von „Versprochen, ge-
brochen“. angebracht. Ihr Ziel war doch, das steht auch in
der Koalitionsvereinbarung von 1998 – die Stärkung der
Gemeindefinanzen. Fakt ist, dass wir massive Einbußen
bei den kommunalen Einnahmen verzeichnen müssen.
Ich will wieder einen Sozialdemokraten als Kronzeugen
nehmen, nicht einmal einen aus den Reihen der Christ-
lich-Demokratischen Union, nämlich Oberbürgermeister
Schmalstieg aus Hannover. Er hat gesagt hat: In Anbe-
tracht der Haushaltslage müssen wir uns über die Zukunft
der kommunalen Selbstverwaltung ernsthafte Gedanken
machen.
Ich stelle fest: Die Steuer- und Abgabenpolitik dieser
Bundesregierung ist die größte Bedrohung für die kom-
munale Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Dies werden Sie auch nicht dadurch kaschieren, dass
Sie vor der Wahl in hektische Betriebsamkeit verfallen.
Sie arbeiten offensichtlich nach dem Motto: Am Abend
werden die Faulen fleißig.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen Konzepte, anstatt Aktio-
nismus. Wir brauchen nach der Bundestagswahl zunächst
einmal einen umfassenden, ehrlichen Kassensturz. Wir
brauchen eine massive Senkung von Steuern und Abga-
ben. Wir brauchen vor allen Dingen keine Neubelastun-
gen, sondern eine intelligente Steuerpolitik, um auch den
Eigenkapitalsektor unserer Unternehmen, der kleinen und
mittelständischen Firmen, nicht zuletzt im Zuge der Dis-
kussion um Basel II zu stärken. Gerade wenn wir die Ei-
genkapitalausstattung verstärken, machen wir die mittel-
ständischen Unternehmen weniger krisenanfällig, und wir
werden dafür Sorge tragen, dass es zwischen Banken und
Unternehmen durch die Diskussion um Basel II sogar po-
sitive Effekte zu verzeichnen geben wird.
Fakt ist: Vier Jahre Rot-Grün waren bedauerlicher-
weise vier verlorene Jahre für Deutschland. Wir brauchen
dringend eine andere Politik, ein anderes Angebot an die
Bürger und an die Unternehmen in unserem Land. Die
Hoffnung der Menschen in diesem Lande ist der 22. Sep-
tember. Für diese Koalition ist der Wahltag der Tag der
Abrechnung; er wird zum Zahltag. Und es wird Edmund
Stoiber gelingen, mit seiner Mannschaft eine bessere Po-
litik zu machen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die
Steuerpolitik der rot-grünen Koalition hat soziale Gerech-
tigkeit mit ökologischer Notwendigkeit verbunden. Die
Steuerrefrommaßnahmen werden – insbesondere durch
die dreistufige Einkommensteuerreform –, nach vollstän-
diger Umsetzung im jahr 2005 die Steuerzahler jährlich
um rund 56 Milliarden Euro gegenüber 1998 entlasten.
Drei Viertel der Entlastung kommen den privaten Haus-
halten, also vor allem Arbeitnehmern, Selbständigen und
Familien zugute.
Durch die Senkung des Eingangssteuersatzes von
25,9 Prozent im Jahr 1998 auf 15 Prozent im Jahr 2005 um
rund elf Punkte und die Anhebung des Grundfreibetrages
von rund 6 300 Euro um fast 1 400 Euro auf rund 7 700 Euro
werden gerade kleine und mittlere Einkommen erheblich
entlastet. Eine Familie mit 2 Kindern und einem Jahre-
seinkommen in Höhe von 30 000 Euro wird im Jahr 2005
um 2 421 Euro jährlich gegen über dem Jahr 1998 entlas-
tet. Die gleiche Familie muss im jahr 2002 bereits über
1 885 Euro weniger Steuern zahlen als 1998. Auch wenn
die Mehrbelastung dieser Familie durch die Ökosteuer
berücksichtigt wird, bleibt im Saldo eine erhebliche Ent-
lastung bestehen. Das verfügbare Einkommen ist in den
letzten 4 Jahren in jedem Jahr gestiegen.
Fakt ist auch, dass die Ökosteuer ihre Wirksamkeit be-
wiesen hat. Der Energieverbrauch ist heute eine wichtige
Größe, wenn Familien einen neuen Kühlschrank oder eine
neue Waschmaschine kaufen. Ebenso haben Unternehmen
viel mehr in die Entwicklung und Produktion von regene-
rativen Energien und Energiespartechnologien investiert
und dabei Arbeitsplätze geschaffen. Das Dreiliterauto ist
nur Symbol dieser realen Entwicklung. Verhaltensverän-
derungen können auch Mehrbelastungen durch die Öko-
steuer vermeiden helfen.
Das Verhältnis des Steueraufkommens zwischen direk-
ten und indirekten Steuern hat sich unter anderem durch
die Einführung der Ökosteuer von 1998 bis 2005 um
1,5 Prozentpunkte zulasten der indirekten Steuern ver-
schoben. Trotzdem bleiben die Steuereinnahmen aus di-
rekten Steuern mit einem Anteil von 50,6 Prozent auch im
Jahr 2005 immer noch höher als die Steuereinnahmen aus
indirekten Steuern.
Wir Bündnisgrüne begrüßen die Strategie, den Faktor
Arbeit zu entlasten und den Faktor Umwelt zu belasten.
Unsere ökologische Steuerreform ist eben etwas erheblich
anderes als eine Belastung der Haushalte mit einer erhöh-
ten Mehrwertsteuer à la CDU/CSU und FDP. Gerade
diese wollen wir nicht.
Wir haben das Kindergeld um rund 40 Prozent auf
154 Euro pro Kind erhöht. Die Vorgaben aus dem Famili-
enurteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1998 ließen
aber eine reine Kindergeldlösung nicht zu. Zusätzlich
zum bestehenden Kinderfreibetrag haben wir deshalb ei-
nen neuen Freibetrag für den Betreuungs-, Ausbildungs-
und Erziehungsbedarf eingeführt. Insgesamt haben wir
die steuerlich für jedes Kind zu berücksichtigenden Frei-
beträge auf jährlich 5 808 Euro gesteigert.
Die Erhöhung hat aber auch eine Schattenseite. Heute
ist die Zahl der Haushalte, die von der steuerlichen Entlas-
tung durch die Freibeträge stärker profitieren als vom Kin-
dergeld größer als 1998. Diese Entwicklung gefällt mir
überhaupt nicht. Jedes Kind sollte dem Staat gleich viel
wert sein, deshalb streben wir im Rahmen der mittelfristi-
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gen Haushaltskonsolidierung weiterhin ein einheitliches
Kindergeld an. Im Jahr 2005 bei einem Spitzensteuersatz
von 42 Prozent wird bei 200 Euro Kindergeld pro Kind pro
Monat eine gleiche und gleichzeitig verfassungsfeste Ent-
lastung für alle Eltern erreicht. Damit wäre dann eine so-
ziale Unerechtigkeit im Steuerrecht aufgehoben.
Mit der Unternehmensteuerreform haben wir attraktive
steuerliche Rahmenbedingungen für in- und ausländische
Investoren geschaffen. Der Mittelstand ist nicht benach-
teiligt; denn wir haben im Grundsatz eine steuerlich ver-
gleichbare Belastung zwischen Kapitalgesellschaften und
Personengesellschaften hergestellt. Kapitalgesellschaften
werden mit einem Definitivsteuersatz bei der Körper-
schaftsteuer von 25 Prozent und mit einer Gewerbesteuer
belastet. In der Summe ergibt sich eine Gesamtbelastung
von rund 39 Prozent. Für Personengesellschaften wird die
Steuerbelastung in drei Stufen abgesenkt. Im Jahr 2005
gilt auch für sie der Eingangssteuersatz von 15 Prozent
und der Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Außerdem
können die Personenunternehmen ihre Gewerbesteuer
pauschal knapp hälftig auf die Einkommensteuerschuld
anrechnen, sodass zusammen mit dem Abzug der Gewer-
besteuer als Betriebsausgabe faktisch keine Belastung aus
der Gewerbesteuer mehr bleibt.
Im Ergebnis werden damit rund 95 Prozent der Perso-
nengesellschaften niedriger besteuert als Kapitalgesell-
schaften. Das ergibt sich ganz einfach daraus, dass diese
95 Prozent der Personengesellschaften einen Gewinn von
unter 165 000 Euro für Verheiratete bzw. unter 82 000 Euro
für Alleinstehend und damit eine geringere Durchschnitts-
belastung als 39 Prozent haben. Der Vergleich zeigt eindeu-
tig: Die angeblich ungerecht Behandlung von Personalun-
ternehmen im Vergleich zu Kapitalunternehmen gibt es
nicht.
Bei der Berurteilung der Entwicklung der Beträge zu
den Sozialversicherungen ergibt sich ein differenziertes
Bild. Die Rentenversicherungsbeiträge konnten von
20,3 Prozent auf 19,1 Prozent um 1,2 Prozentpunkte ab-
gesenkt werden. Dies ist das Resultat der Einführung der
Ökosteuer zur Entlastung der Rentenversicherungsbeiträge.
Die Beiträge zur Arbeitslosen- und Pflegeversicherung blie-
ben stabil. Die explodierenden Gesundheitsausgaben verur-
sachten leider einen Anstieg der Beitragssätze zur Gesetz-
lichen Krankenversicherung um 0,4 Prozentpunkte. In
den letzten beiden Bereichen besteht großer Reformbe-
darf, um die Lohnnebenkosten weiter senken zu können.
Im Saldo aller Sozialversicherungsbeiträge ergibt sich im
Jahr 2002 im Vergleich zu 1998 eine Minderung der Bei-
tragsbelastung um 0,8 Prozentpunkte. Ich gebe zu, ich
hätte mir mehr erwünscht.
Gisela Frick (FDP): Die Absicht, die die PDS mit der
vorliegenden Großen Anfrage verfolgt, lässt sich bereits
an der Vorbemerkung der Fragestelle ablesen. Es wird der
Zusammenhang hergestellt zwischen dem Ausblenden
von Reichtum und seiner Konzentration sowie der „Lö-
sung gesellschaftlicher Aufgaben“. Auch ist die Rede von
„realen Belastungen und Belastungsmöglichkeiten“.
Wie nicht anders zu erwarten, hat sich am Denken der
PDS nichts geändert. Wo Geld und Vermögen sind, muss
man es wegnehmen, um alle möglichen sinnvollen oder
für sinnvoll gehaltenen Projekte zu finanzieren. Ich kann
es für die FDP kurz zusammenfassen: Mit uns nicht. Die
PDS hat immer noch nicht die Grundsätze der sozialen
Marktwirtschaft begriffen. Es geht nicht darum, Leistung
zu bestrafen, indem man deren Früchte wegnimmt. Es
geht darum, Chancengleichheit für alle zu schaffen, damit
jeder möglichst in der Lage ist, für sich zu sorgen. Der
Staat ist nicht für alles zuständig. Der Staat ist erst dann
an der Reihe, wenn der Einzelne allein es nicht schafft.
Unterschwellig wird von der PDS mit ihrer Anfrage
auch unterstellt, dass Bezieher größerer Einkommen zu
wenig zum Steueraufkommen beitragen. Auch hier sage
ich für die FDP: Das stimmt nicht. Wie der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage zu entnehmen ist,
finanzieren die 15 Prozent der Bürger mit den höchsten
Einkommen im Jahr 2001 über 61 Prozent des Einkom-
mensteueraufkommens. Die 50 Prozent der Bürger mit
den niedrigen Einkünften finanzieren nicht einmal 20 Pro-
zent des Lohn- und Einkommensteueraufkommens.
Fazit: Unser System der Besteuerung nach der Leis-
tungsfähigkeit funktioniert. Wer mehr verdient, zahlt auch
mehr Steuern. Ich sehe keine Veranlassung, daran etwas
zu ändern.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
Berichte:
– Weltweite Märkte fürMeerestechnik erschließen
– Zukunft Meer – Für eine verantwortungsbewuss-
te Nutzung der Meerestechnologie
(Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit der Bestel-
lung eines nationalen maritimen Koordinators und der er-
folgreichen Durchführung von mehreren nationalen Kon-
ferenzen in Emden, Rostock und demnächst auch in
Lübeck hat die Bundesregierung gezeigt, dass sie dem
maritimen Bereich eine stärkere Bedeutung zumessen
will, als dieser unter der früheren Bundesregierung hatte
und dass sie sich hierzu um eine entsprechende konzep-
tionelle Unterfütterung bemüht. Sie hat damit schon vor
längerem eingeleitet, was die CDU mit ihrem vorliegen-
den Antrag zur Zukunft des Meeres erst jetzt einfordert.
Die CDU folgt im Übrigen der Initiative aus der
SPD-Bundestagsfraktion und dem Bündnis 90/Die Grü-
nen, die mit ihrer Initiative „weltweite Märkte für Mee-
restechnik erschließen“ auch von parlamentarischer Seite
aus diesen positiven Prozess, wie er von der Regierung ini-
tiiert, geleitet und gefördert wird, mit zusätzlichen Impul-
sen versehen will.
Da Innovation, Forschung und Entwicklung ein Vor-
rangthema der dritten Konferenz sein sollen, die im Früh-
jahr 2003 in Lübeck stattfinden wird, und auch das Bun-
desministerium für Bildung und Forschung bereits am
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30.August dieses Jahres eine entsprechende Fachkonfe-
renz in Kiel vorbereitet, ist es außerordentlich sinnvoll,
dass auch wir seitens des Parlaments deutlich machen, wo
wir Handlungsfelder, Schwerpunkte und zusätzliche Ver-
besserungsmöglichkeiten, speziell im FuE-Bereich, se-
hen. Entscheidend ist hierbei, dass wir alle zusammen da-
ran arbeiten, die Meerestechnik in einem umfassenden
Sinne zu verstehen und nicht nur auf den klassischen
Schiffsbau zu beziehen. Insoweit freuen wir uns, dass
auch der Antrag der CDU das gesamte große Aufgaben-
potenzial von maritimer Technologie und deren techni-
sche, betriebliche und investive Herausforderungen be-
schreibt.
Als Koalitionsfraktion wissen wir uns einig mit der Re-
gierung, die seit Beginn dieser Legislaturperiode über das
Wirtschaftsministerium und eben auch das Ministerium
für Forschung und Bildung hier aktiv geworden ist. So
wurde nicht nur mit dem vom Forschungsministerium ini-
tiierten und mitfinanzierten Zentrum für maritime Tech-
nologien CMT ein deutliches Signal für Forschung und
Entwicklung von Meerestechnik gesetzt, sondern werden
in den vier Forschungsprogrammen „Schifffahrt- und
Meerestechnik für das 21. Jahrhundert“, „Inno-Regio“,
„Meeresforschung“ und „Polarforschung“ die Forschung
und Entwicklung in den Bereichen Schifffahrt, Schiffbau,
Offshoretechnik, Unterwassertechnik, Meeresumwelt-
schutz, integriertes Küstenmanagment, marine Aquakul-
tur und Hydrographie gefördert, um nur die wichtigsten
Stichworte zu nennen. Insbesondere mit dem For-
schungsprogramm ,,Schifffahrt und Meerestechnik für
das 21. Jahrhundert“ hat die Bundesregierung Anfang
2000 Innovationen im maritimen Sektor neue Impulse
gegeben. Mit der Aufnahme der nicht schiffbaulichen
Meerestechnik als neuen Förderschwerpunkt in das For-
schungsprogramm hat die Bundesregierung dem Stellen-
wert Rechnung getragen, der dieser maritime Wirt-
schaftsbereich wegen seines hohen Wachstumspotenzials
zukommt. Dabei werden insbesondere in den Technolo-
giefeldern Offshoretechnik, maritime Umwelttechnik und
Polartechnik für die deutsche meerestechnische Industrie
und Wirtschaft wie für die meerestechnische Wissen-
schaft und Forschung neue Perspektiven im weltweit ex-
pandierenden Meerestechnikmarkt eröffnet.
Dies schlägt sich auch in realen Zahlen nieder. In den
vergangenen Jahren konnte die Förderung der nicht
schiffbaulichen Meerestechnik von 0,5 Millionen Euro in
1999 auf 3,6 Millionen Euro in 2001 erhöht werden. Da-
mit stieg der Förderanteil der Meerestechnik im For-
schungsprogramm von 4,6 Prozent in 1999 auf beachtli-
che 20,7 Prozent in 2001. Dieser Trend setzt sich weiter
fort, wenn wir feststellen können, dass im Rahmen des
Programms „Schiffbau und Meerestechnik für das 21. Jahr-
hundert“ das BMBF 54,9 Millionen Euro für Forschungs-
und Entwicklungsprojekte bewilligt hat. Hinzu kommen
8,6 Millionen Euro für maritime Projekte innerhalb des
Inno-Regio-Programms. Dabei entfallen in der Gesamt-
summe aktuell 17,6 Millionen Euro, das heißt rund
28Prozent, auf Forschungs- und Entwicklungsprojekte
der nicht schiffbaulichen Meerestechnik, davon 8,4 Milli-
onen Euro für Unterwassertechnik und Polartechnik,
6,5Millionen für Offshoretechnik und 2,7 Millionen Euro
für maritimen Umweltschutz und für Ölunfallbekämp-
fung. Hinzu kommen die Programme Meeresforschung
und Polarforschung, die zusammen pro Jahr Fördermittel
in Höhe von 20 Millionen Euro zur Verfügung haben. Ne-
ben der Vertiefung des Wissens über die Ozeane und Po-
largebiete und deren Rolle im Klimageschehen der Welt
wird die Umsetzung der Kenntnisse in politische Ent-
scheidungen zum Schutz des Ökosystems und der Res-
sourcen angestrebt. Nicht vergessen werden sollte hier,
dass die Bundesregierung auch erhebliche Mittel dem
Bau eines eisrandfähigen Meeresforschungsschiffes wid-
met.
Mit ihrem Antrag wollen die Koalitionsfraktionen hier
vor allen Dingen noch einmal den Gesichtspunkt der in-
novativen nachhaltigen Ansätze der Meerestechnik betont
wissen. Ich nenne drei Handlungsfelder:
Erstens. Wir stellen uns vor, dass die Anwendungen er-
neuerbarer Energien und nachwachsender Rohstoffe, zum
Beispiel biogener Treib- und Schmierstoffe, der Solar-
energie zum Antrieb und zur Energieversorgung und auch
der Einsatz von Windkraft in ihren Möglichkeiten noch
besser untersucht und dann auch entwickelt werden. Glei-
ches gilt für Ansätze, die zum Ziel haben, die Energieef-
fizienz in der Meerestechnik zu erhöhen und die Senkung
des Ausstoßes von Schadstoffen und Klimagasen zu sen-
ken. Schließlich ist die Meerestechnik auch eine große
Chance, die Belastung der Meere zu reduzieren. Die Ent-
wicklung unschädlicher Anstriche auf Basis der Nano-
technologie ist ein Beispiel dafür, wie Spitzenprodukte
bei den Zukunftstechnologien unmittelbar zu nachhalti-
gen ökologischen Verbesserungen beitragen können. Dies
gilt auch für die Nutzung der erneuerbaren Energien auf
See, die sich gegenwärtig vor alle Dingen mit der Planung
von Offshore-Windparks verbinden. Hier ist nach unseren
Kenntnissen noch erhebliche Entwicklungsarbeit und ge-
zielte Begleitforschung erforderlich, um die Windparks
im Meer sicher, naturverträglich und kostengünstig bauen
zu können. Es wäre sicherlich begrüßenswert, hier würde
möglichst schnell eine Pilotanlage im kleineren Maßstab,
aber zu realen Bedingungen entstehen können, um die be-
stehenden Zweifel an der Realisierbarkeit solcher Anla-
gen in tieferen Gewässern im positiven Sinne widerlegen
zu können.
Zweitens. Forschungsrelevant ist auch die Ausrichtung
der Meeresforschung an den Klima- und Umweltschutz-
zielen, was speziell die Forschung an Gashydraten wie
konkret den Methanhydraten rangeht. Wenn die Koaliti-
onsfraktionen in ihrem Antrag fordern, nach heutigem
Sachstand sich auf die Erforschung der Klima- und Um-
weltschutzfragen zu konzentrieren und diesen Grundla-
genbereich in allen Konsequenzen zu erforschen, so ist
dies angesichts der potenziellen Gefahren, die von einer
Aktivierung dieser Energieträger im Meeresboden ausge-
hen können, allemal berechtigt. Wir freuen uns, dass auch
die Bundesregierung in ihren Forschungsschwerpunkten
entsprechende Akzente setzt.
Drittens. Nicht vergessen werden soll, dass die For-
schungsunterstützung auch aufzubauen ist für das wich-
tige und zunehmend bedeutender werdende meerestech-
nische Handlungsfeld der marinen Aquakultur. Wir
können die Bestrebungen des BMBF nur nachdrücklich
unterstützen, den Bau von technischen Pilotanlagen, die
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Forschung für eine bessere Produktqualität zu betreiben.
Die Fangerträge der Fischereiflotten sinken weltweit, bis-
herige Aquakulturanlagen verschmutzen die Küstenge-
wässer, in den Shrimps aus asiatischen Ländern finden
sich Medikamentenrückstände, sodass die EU mittler-
weile Importverbote für Garnelen aus Indonesien, Thai-
land und Vietnam aussprechen musste. Mit anderen Wor-
ten: Die herkömmliche Aquakultur ist kein Garant für
eine ökologisch verträgliche Produktion von Meeresorga-
nismen mehr. Die Entwicklung einer nachhaltigen Kreis-
lauftechnologie für Aquakulturanlagen ist deshalb ein
hoch anzusiedelndes Forschungs- und Entwicklungsziel.
Von Forschungsseite aus möchten wir zu dem Antrag
der Koalitionsfraktion weiter hervorheben, dass bei der
Umsetzung der Forschungsprogramme noch mehr Wert
als schon in der Vergangenheit geschehen auf die nach-
haltige Förderung von kleinen und mittleren Unterneh-
men gelegt werden sollte. Wir begrüßen es, dass diese be-
reits gegenwärtig auf die regulär bewilligte Fördersumme
einen besonderen Zuschlag in Höhe von 10 Prozent als
Bonus erhalten. Dieser Bonus hat ja auch schon Wirkung
gezeigt. So konnte der Anteil der KMU-Förderung an der
Gesamtförderung von etwas 30 Prozent im Jahre 1999 auf
36,8 Prozent im Jahre 2001, also auf mehr als ein Drittel
der verfügbaren Fördersumme angehoben werden. Ähn-
lich positiv entwickelte sich die Zahl der KMU als Zu-
wendungsempfänger 2001. Mit mehr als einem Drittel
KMU-Anteil liegt die maritime Forschungs- und Ent-
wicklungsförderung deutlich über dem Durchschnitt. Der
vom Ministerium eingerichteten Arbeitsgruppe „Verbes-
serungen der Förderpraxis in Schifffahrt und Meerestech-
nik“ ist deshalb weiterhin viel Erfolg zu wünschen bei
ihrem Bemühen, an Reduzierungsmöglichkeiten für den
Antrags- und Bearbeitungsaufwand sowie an vereinfach-
ten Bonitätsprüfungen an der Minimierung der externen
Beratung und der Erweiterung von Pauschalierungen zu
arbeiten. Wir haben bereits in der Vergangenheit mit Be-
friedigung aufgenommen, dass sich ein negativer Stau
von streitigen Förderanträgen im Bereich der mittleren
Unternehmen im Schiffbaubereich erfolgreich aufgeklärt
und aufgearbeitet hat. Wir sind sicher und möchten dies
auch mit unserem Antrag unterstützen, dass das Antrags-
verfahren im Forschungsbereich noch effektiver koordi-
niert werden kann, wenn alle Beteiligten hierfür klare und
einfache Regeln definieren.
Erlauben Sie, dass ich zum Schluss noch zwei Hin-
weise, speziell aus der Sicht eines Forschungs- und Bil-
dungspolitikers geben möchte:
Erstens. Wenn der Antrag der Koalitionsfraktionen ins-
besondere auch die Leistungsfähigkeit unserer hydrogra-
phischen Institute anspricht und die Anstrengungen for-
ciert sehen möchte, um zielgerichtet am internationalen
Markt von Dienstleistungen und Aufträgen bei hydrogra-
phischen Leistungen zu partizipieren, dann liegt eine be-
sondere Chance nach den Fachgesprächen und Erkundi-
gungen, die wir hierzu einziehen konnten, bei den
internationalen Angeboten zur Aus-, Fort- und Weiterbil-
dung sowie der wissenschaftlichen Kooperation im hy-
drographischen Bereich. Wir regen an, dass die Regierung
hier mit relativ geringem Mitteleinsatz den Boden be-
reiten kann, um in langfristiger Kooperation nicht nur
Leistungen zu internationalisieren, sondern auch Partner
in anderen Ländern für die Zukunft zu finden.
Zweitens. Aus der Diskussion mit Ländern, wie zum
Beispiel Schleswig-Holstein, die sich intensiv um eine
Entwicklung ökologischer Strukturen für den Bereich der
marinen Aquakultur bemühen, wird der Wunsch an uns
heran getragen, auch bei der Entwicklung der Berufsbilder
rechtzeitig die neuen Bedingungen zu beachten. Der
Fischwirt alter Prägung wird nicht mehr das Berufsbild für
die marine Aquakultur der Zukunft sein können. Auch hier
rechtzeitig Ausbildungsberufe umzustrukturieren, ist eine
Aufgabe, die wir im Bereich von Bildung und Forschung
mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Meerestechnik im
weiteren Sinne aufgreifen und umsetzen müssen.
Das BMBF hat für seine Fachkonferenz „Maritime In-
novationen – Wettbewerbsvorsprung und Standortvorteile
durch Forschung und Entwicklung“ am 30. August in Kiel
vier Workshops vorbereitet, die Themen bearbeiten wie
„Innovationen in Schifffahrt und Schiffbau – Wett-
bewerbsvorteile durch Forschung und Entwicklung“,
„Maritime Netzwerke und regionale Kompetenzzentren –
Standortvorteile durch Kooperation und Vernetzung“ so-
wie „Probleme und Potenziale für die Entwicklung der
Meerestechnik“ und „Marine Aquakulturtechnologien –
neue Herausforderungen für innovative KMU“. Damit
sind zentrale Felder so beschrieben, wie sie auch von den
Koalitionsfraktionen in unserem Antrag, angesprochen
sind. Es wird nicht zuletzt auch am Deutschen Bundestag
liegen, diesen konstruktiven Prozess, wie er aus der Exe-
kutive heraus gestaltet wird, parlamentarisch mit zu be-
gleiten. Wir regen deshalb an, spätestens nach der dritten
maritimen Konferenz zu Innovation, Forschung und Ent-
wicklung im Frühjahr 2003 in Lübeck dieses Thema zum
Gegenstand von intensiven Erörterungen in den zuständi-
gen Fachausschüssen zu machen. Die wirtschaftlichen In-
teressen und ökologischen Verpflichtungen rechtfertigen
dies allemal.
Dr. Margrit Wetzel (SPD): Welch ein Tag der Freude
für die maritime Wirtschaft. Endlich ist auch die nicht-
schiffbauliche Meerestechnik einmal im Focus des Parla-
ments, erfährt Wohlwollen und fraktionsübergreifend die
Zusage für nachdrückliche politische Unterstützung.
Auch wenn die Oppositionsfraktionen sich alle Mühe ge-
ben, das grüne Haar in der Suppe zu finden, sich von un-
serem Antrag zu distanzieren und eigene Anträge noch
schnell auf den Markt des Parlaments zu bringen – nein,
wer genau hinschaut, sieht, dass wir zu 98 Prozent über-
einstimmen. Und das ist ein voller Erfolg für die Unter-
nehmen dieser zukunftsträchtigen Branche.
Der CDU/CSU-Antrag setzt die Schwerpunkte etwas
anders und unterscheidet sich in seinen Forderungen nicht
wesentlich von unseren, ist also eigentlich überflüssig.
Die FDP verkennt offenbar, dass es für die Grundlagen-
forschung bei Gashydraten unverzichtbar ist, die Risiken
unter Umwelt- und Klimagesichtspunkten sehr ernst zu
nehmen und dass die mögliche nachhaltige Nutzung von
Gashydraten erst in Jahrzehnten, also erst künftigen Ge-
nerationen überhaupt möglich wäre.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24837
(C)
(D)
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(B)
Alle Forschungseinrichtungen, die auf diesem Gebiet
tätig sind wie GEOMAR in Kiel, das Geoforschungszen-
trum in Potsdam, das Alfred-Wegener-Institut in Bremer-
haven oder die Bundesanstalt für Geowissenschaften und
Rohstoffe, beteiligen sich äußerst verantwortungsbewusst
an dieser Grundlagenforschung im Wissen um die mögli-
chen Zielkonflikte, die die Nutzung von Gashydraten mit
sich bringen kann. Das ist richtig so und das wird auch so
bleiben. Es gibt keinen Grund dafür, ausgerechnet jetzt im
Jahr der Geowissenschaften irritierende Signale in die
eine oder andere Richtung auszusenden. Ich freue mich
schon darauf, dass die Meerestechnik Schwerpunkt der
dritten Maritimen Konferenz sein wird und dann endlich
auch in breiter Öffentlichkeit Aufsehen, Ansehen und An-
erkennung erfährt. Diese Branche hat es verdient.
Die Weltmeere sind nicht nur Verkehrsträger, sie sind
genauso Wirtschaftsraum wie die Kontinente, sie liefern
Nahrung, sind Energiequelle, bestimmen wesentlich unser
Klima, der Meeresboden enthält vielfältigste Boden-
schätze, die Hydrosphäre ist Gegenstand zahlloser techni-
scher Dienstleistungen aller naturwissenschaftlichen Spar-
ten – Hochtechnologie, mit dem gesamten dazugehörigen
anlagentechnischen Umfeld. Forschung, Entwicklung,
wissenschaftliche und ingenieurstechnische Ausbildung,
in internationaler Zusammenarbeit die eigene System-
kompetenz fortzuentwickeln – welch ein gewaltiges wirt-
schaftliches Potenzial wartet darauf, nicht nur von deut-
schen Unternehmen erschlossen zu werden, sondern sie als
Marktführer an der Spitze zu sehen. Ich möchte, dass das
Bundeswirtschaftsministerium sich mit dieser Branche
noch mehr identifiziert, ihre Bedeutung für den Weltmarkt
aktiv aufgreift, wie das Forschungsministerium es in Ge-
stalt einschlägiger Programme bereits begonnen hat.
Die Küstenländer der Welt sind durch das UN-Seerecht
verpflichtet, in den nächsten Jahren ihre Wirtschaftszonen
zu vermessen, wenn sie ihre exklusiven Rechte auf die
Bodenschätze ihrer Festlandssockel geltend machen wol-
len. Viele Küstenländer sind dazu technisch und finanziell
überhaupt nicht in der Lage. Die deutsche Hydrographie
würde geradezu verkümmern, wenn sie ihre Möglichkei-
ten auf den kleinen nationalen Küstenanteil beschränken
müsste. Unsere Möglichkeiten, anderen Küsten-Industrie-
ländern, aber auch den Schwellen- und Entwicklungs-
ländern die Vermessung ihrer Festlandssockel durch tech-
nische Hilfe und wissenschaftliche Ausbildung zu
ermöglichen, dadurch ihre Rechte zu wahren, aber zu-
gleich den Einstieg in die bilaterale meerestechnische Zu-
sammenarbeit zu gewährleisten, öffnet dauerhaft interna-
tionale Märkte und stabile Wirtschaftsbeziehungen zum
Nutzen aller Beteiligten. Das ist Entwicklungshilfe, in der
die so vielfach beschworene neudeutsche „Win-win-Si-
tuation“ tatsächlich für beide Seiten greift.
Unsere kleinen Unternehmen können sich Wachstums-
märkte erschließen, selber wachsen und zugleich die
Wirtschaft, die Wissensgrundlage und die Rechte anderer
Länder befördern helfen. Da wird Wirtschaftspolitik ein
Stück weit zur Friedenspolitik. Die Bedürfnisse der Bran-
che belegen, wie wichtig und richtig es war, dass Bundes-
kanzler Gerhard Schröder die maritimen Themen zur
Chefsache gemacht, die Stelle des Maritimen Koordina-
tors geschaffen und mit Herrn Dr. Gerlach so kompetent
und engagiert besetzt hat. Die ressortübergreifende Ver-
tretung der Brancheninteressen ist nicht nur international
von größter Bedeutung, sondern derzeit sogar national
noch unverzichtbar. Warum? Es gibt in der Branche kaum
große Unternehmen mit den dazugehörigen Lobbyisten in
Berlin. Die kleinen, flexiblen, kreativen und leistungs-
fähigen Unternehmen, mit denen wir es hier zu tun haben,
sind aber allein nicht noch zusätzlich in der Lage, ihre In-
teressen gegenüber dem Staat – zum Beispiel bei der Ent-
wicklung von Modellen der Public-Private-Partnership –
oder im Ausland wirksam zu vertreten: Ihre jeweiligen
Ansprechpartner sitzen im Verkehrsministerium ebenso
wie im Forschungs-, im Verteidigungs-, im Ernährungs-
oder Umweltministerium, im Wirtschafts- und Entwick-
lungshilfeministerium und bei internationaler Zusam-
menarbeit allemal im Auswärtigen Amt. Und welch eine
Verschwendung von Ressourcen ist es, wenn in den
Außenwirtschaftskammern, in den Botschaften und Kon-
sulaten engagierte Mitarbeiter auf die Aktivitäten deut-
scher Unternehmer vergeblich warten, nur weil die hier
herumirren müssen und von einer Nicht-Zuständigkeit
zur nächsten weitergereicht werden – nein, das ist nicht
die Perspektive des Erfolgs. Genau an der Stelle brauchen
wir Koordination, Kooperation und konkrete Hilfe und
Unterstützung für die so vielfach beschworenen „Klei-
nen“, die KMU, die bei uns Arbeitsplätze schaffen und si-
chern wollen. Dazu gehört, dass administrative Hürden
abgebaut werden und die Sensibilität für die ressortüber-
greifende Unterstützung marktnaher Innovationen in den
Behörden geschärft wird.
Andererseits dient unsere heutige Debatte aber auch
dazu, die kleinen Unternehmen über das zu informieren,
was sie an Hilfe bereits ins Anspruch nehmen können. So
hat das BMBF eine Arbeitsgruppe „Verbesserung der
Förderpraxis“ eingerichtet, prüft die Vereinfachung der
Bonitätsprüfung und die Erweiterung von Pauschalierun-
gen. Das Wirtschaftsministerium prüft derzeit, ob ein In-
ternetportal für die deutsche maritime Wirtschaft, das
auch die Meerestechnik mit abdecken könnte, zur Vernet-
zung beitragen würde; der „Serviceverbund Außenwirt-
schaft“ im Internet-Außenwirtschaftsportal iXPOS, eine
Koordinierungsstelle für Auslandsprojekte und zinsgüns-
tige Kredite der KfW für Auslandsinvestitionen kleiner
Unternehmen tragen bereits deutlich zur Unterstützung
der Branche bei. Auch die zunehmende Bedeutung der
Marikultur sieht das BMWi durchaus.
Ich will die Märkte und die Möglichkeiten der deut-
schen Meerestechnik nicht weiter zitieren, sondern ver-
weise auf den Antrag der Koalitionsfraktionen, der diese
ausführlich beschreibt. Unsere Beratungen in den Aus-
schüssen haben die fraktionsübergreifende breite Zustim-
mung zu den wesentlichen Inhalten bestätigt: Die Bran-
che sollte sich also von den demokratischen Spielchen der
Opposition nicht irritieren lassen, sondern die tatsächliche
breite politische Unterstützung zur Kenntnis nehmen, nut-
zen und in der betrieblichen Praxis zukünftig wo nötig
auch energisch einfordern. Die dritte Maritime Konferenz
kann ihr Schwerpunktthema im Wissen um die nach-
drückliche parlamentarische Unterstützung vorbereiten.
Die Unternehmen der nicht schiffbaulichen Meerestech-
nik können sich auf uns ebenso verlassen wie die deut-
schen Werften.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224838
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Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU ): „Mehr
Meer“ ist für die Union kein Schlagwort, sondern Hand-
lungsaufforderung. Bereits in der letzten Legislaturperi-
ode haben wir in zahlreichen Initiativen die Perspektiven
aufgezeigt. Diese sind von der rot-grünen Bundesregie-
rung nicht aufgegriffen worden; vier Jahre ist im Bereich
Meerestechnik nichts geschehen. Jetzt, kurz vor Tores-
schluss wird von der Regierung hektischer Aktionismus
betrieben; vier verlorene Jahre.
Verantwortungsbewusstes Regierungshandeln hätte
1998 unsere Initiativen aufgegriffen, nicht so viel Zeit
verschenkt.
Wir stellen fest: In der Meerestechnik gibt es große,
entwicklungsfähige Potenziale; gewaltige Wachstums-
chancen für unsere Küstenländer; Schätze, die es zu he-
ben gilt. Zum Thema „mehr Meer“ haben wir einen Kata-
log mit 17 Feststellungen und vier konkreten Forderungen
aufgestellt. Wie bei „17 und 4“ gilt es auch in der Mee-
restechnik, gut zu rechnen und Chancen zu ergreifen.
Die erste Feststellung lautet: Allein das Marktvolumen
der Offshore-Technik wird weltweit auf mehr als 80 Mil-
liarden Euro geschätzt, doch der Anteil Deutschlands da-
ran von rund 1 Milliarde Euro entspricht keineswegs dem
technischen, betrieblichen und investiven Potenzial.
Die zweite Feststellung lautet: Der Weltmarkt für
Aqua- und Marikultur wächst jährlich um stolze 12 Pro-
zent und beträgt mittlerweile 15 Milliarden Euro, unser
Anteil daran sind gerade einmal 100 Millionen Euro. Nor-
wegen ist hier inzwischen führend und versorgt den deut-
schen Massenmarkt mit Meeresprodukten, die noch vor
wenigen Jahren gut betuchten Feinschmeckern vorbehal-
ten waren. Derzeit werden weltweit über 150 Fischarten,
etwa 40 verschiedene Schalentiere und mehr als 70 Mu-
schel- bzw. Weichtierarten neben zahlreichen Algen, Was-
serpflanzen, Fröschen, Schildkröten und Krokodilen in
Aquakultur erzeugt.
Der Weltmarkt für Fisch sowie Krusten- und Schalen-
tiere belief sich 1999 nach FAO-Statistiken auf insgesamt
knapp 126 Millionen Tonnen pro Jahr. Davon entfielen
circa 33 Millionen Tonnen auf die Aquakultur; fast
30 Prozent der maritimen Nahrungsmittelproduktion. In
diesen Zahlen ist die immer wichtiger werdende Aufzucht
von Pflanzen und Algen noch nicht enthalten. Die ge-
samte Aquakulturproduktion hat sich in den Jahren 1990
bis 1999 um 150 Prozent erhöht, die Produktion ist heute
mehr als zweieinhalb mal so groß wie vor zehn Jahren.
Die dritte Feststellung: Im Bereich Unterwassertech-
nik und Seekabel beträgt der Weltmarkt 14 Milliarden
Euro, Deutschland ist daran mit 300 Millionen Euro be-
teiligt.
Viertens: In der Meeresforschungstechnik sieht es noch
schlechter aus: Mit gerade einmal 150 Millionen Euro sind
wir an einem 10 Milliarden Euro umfassenden Weltmarkt
beteiligt. Unser Anteil beträgt gerade einmal 1,5 Prozent,
exakt genau der gleiche Anteil, den wir an der Weltbevöl-
kerung stellen. Das bedeutet, der Pro-Kopf-Anteil
Deutschlands am Weltmarkt ist im Durchschnitt genau so
hoch wie der eines Einwohners des vom Krieg zerstörten
Binnenlandes Afghanistan. Ich meine: Eine Katastrophe
für ein Land, dessen einzige Ressource das Wissen und
Können seiner Menschen ist. Die Meeresforschung darf
nicht länger vernachlässigt werden.
Die fünfte Feststellung: Das Marktvolumen für die
Meerestechnik insgesamt beträgt 131 Milliarden Euro,
daran ist Deutschland mit 2,9 Milliarden Euro oder
2,2 Prozent beteiligt.
Die sechste Feststellung ist: In den nächsten Jahren
müssen weltweit 8 000 Öl- und Gasplattformen entsorgt
werden, 700 allein in der Nordsee, für deren Beseitigung,
oder Umnutzung mit einem zweistelligen Miliardenbe-
trag gerechnet wird.
Siebtens. Deutsche Firmen haben bereits bewiesen,
dass sie das notwendige Know-how in der Umwelttech-
nik besitzen. Wir erinnern uns an die Proteste als Versen-
kung der Ölplattform Brent Spar bevorstand. Greenpeace
übergab der damaligen Bundesumweltministerin Angela
Merkel ein Flugticket auf die britischen Shetland Inseln
und bot ihr den Transfer zur Plattform Brent Spar an. Bei
der anschließenden Pressekonferenz sprach sich Angela
Merkel klar gegen die Versenkung der Plattform aus. Da-
mals wurde der Weg frei gemacht für einen völlig neuen
Industriezweig im Interesse der Umwelt.
Die achte Feststellung lautet: Für den Bau von Off-
shore-Windparks rechnen Experten mit einem Investiti-
onsvolumen von circa 25 Milliarden Euro in den nächsten
20 Jahren allein in den deutschen Seegebieten. Nicht ein-
gerechnet ist hierbei der Bedarf an Forschungsaktivitäten,
insbesondere zur Weiterentwicklung der Anlagentechnik,
eingeschlossen Gründung, Netzanbindung und Montage.
Doch fehlen die notwendigen Rahmenbedingungen – wie
unsere Große Anfrage gezeigt hat – um die Initialzündung
auszulösen.
Neuntens stellen wir fest: Auch der klassische Schiff-
bau hat sich zu einem hochinnovativen Industriesektor
entwickelt, der mit seinen Spezialschiffen einen weltwei-
ten Markt anspricht und einen Anteil von deutlich über
20 Prozent am Gesamtumsatz deutscher Werften hat. So
produziert zum Beispiel die Flensburger Schiffbaugesell-
schaft mit ihren hochinnovative Ro-Ro- und Ro-Pax-
Fähren global nachgefragte „schwimmende Landstraßen“.
Zehntens stellen wir fest: Weltweit die einzigen mit
Brennstoffzellen betriebenen U-Boote werden bei HDW
in Kiel hergestellt.
Und als elftes stellen wir fest: Mit dem „Forschungs-
schiff der Zukunft“ entwickelt die Lindenau-Werft, eben-
falls in Kiel, derzeit ein modular und damit flexibel kon-
struiertes Forschungsschiff, das es in dieser Form bisher
noch nicht gegeben hat.
Die zwölfte Feststellung lautet: Die Kvarner-Werft in
Rostock lieferte 2001 mit der Offshore-Bohrplattform
Stena Don seit Jahren wieder die erste Bohrplattform aus
Deutschland ab, ein Koloss mit 32 700 Tonnen Wasser-
verdrängung.,
Der dreizehnte Punkt lautet: Unter den Einschätzun-
gen der globalen Erwärmung und des Klimaschutzes
wird das Aufgabenfeld des „Integrierten Küstenzonen-
Managements“ eine neue Bedeutung gewinnen. Das hat
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Auswirkungen auf Forschung und Entwicklung. Hier
geht es um die Integration der Nutzungs- und Schutzan-
sprüche im Küstenraum.
Unsere vierzehnte Feststellung: Zu den traditionellen
Nutzungen wie Tourismus, Hafenwirtschaft und Fischerei
kommen neue wirtschaftliche Chancen und Herausforde-
rungen hinzu. Die Anforderungen an Ozean-Überwa-
chungssysteme werden dementsprechend beständig stei-
gen. Hier ist die Unterstützung der Grundlagenforschung
besonders gefragt.
Die fünfzehnte Feststellung: Ein Umsatzpotenzial in
bedeutender Größenordnung wird auch von der Schiff-
bauzulieferindustrie erbracht. Mit einer breiten Palette in-
novativer Produkte vom Schiffsantrieb bis hin zu den
modernsten Navigations- und Positionierungssystemen
entfällt auf diese Industrie bis zu 70 Prozent der Wert-
schöpfung eines Schiffsneubaus. Mit dem europäischen
Satelliten-Navigationssystem GALILEO schlagen wir die
Brücke zwischen Meerestechnik und Raumfahrt.
Die sechzehnte Feststellung: Globalisierung und
Wachstum des Welthandels finden ihren deutlichen Nie-
derschlag im Wachstum von Schifffahrt und Hafenum-
schlag. Davon profitieren auch die Häfen in Deutschland.
Neue Technologien für Ausrüstung, Umschlag und Ent-
sorgung erschließen zusätzliche Wachstumspotenziale.
Die letzte und siebzehnte Feststellung: Weitere hohe
Entwicklungspotenziale weltweit liegen in der Hydrogra-
phie, der marinen Umweltschutztechnik und als Grund-
lage, um die Offshore-Technik überhaupt nutzen zu kön-
nen, die Unterwassertechnik, wie Seekabel, Öl- und
Gaspipelines und die dazugehörige Logistik.
Ich hatte angekündigt, unser Katalog zum Thema
„mehr Meer“ steht unter dem Motto „17 und 4“. Aus un-
seren 17 Feststellung folgen genau vier konkrete Forde-
rungen an die Bundesregierung:
Erstens, die Erweiterung der Forschungsförderung so-
wohl für die Grundlagenforschung als auch für anwen-
dungsbezogene Projekte sowie die Vereinfachung der
Bewilligungsverfahren von Forschungs- und Entwick-
lungsanträgen.
Zweitens, den Technologietransfer zwischen Wissen-
schaft und Wirtschaft im Bereich Meerestechnik mit Sys-
tem auszubauen und durch die unbürokratische Genehmi-
gung und politische Begleitung von Pilotanlagen den
Wissenstransfer beschleunigen.
Drittens, die Unterstützung der Unternehmen der Mee-
resforschungstechnik bei der Bündelung und internatio-
nalen Vermarktung ihrer Produkte und Systeme, insbe-
sondere durch die Förderung der Teilnahme, deutscher
Firmen an den Programmen internationaler Organisatio-
nen insbesondere bei internationalen Umweltprojekten
wie Weltbank, UNO und UNIDO durch zielgerichtete In-
formation potenzieller deutscher Teilnehmer.
Viertens, die Erstellung eines Gesamtkonzepts zum
Thema Ausbau der Meerestechnologie unter Berücksich-
tigung von Umwelt-, Klimaschutz- und Finanzierungsbe-
dingungen.
Der Antrag der Regierungskoalition ist auf der ersten
Blick anerkennenswert. Er enthält hehre Ziele für die
weltweite Zukunft der Meerestechnik. Darin teilen wir die
Auffassung der Antragsteller. Doch stellen wir auf den
zweiten Blick fest, es handelt sich hier um eine offen-
sichtliche Alibi-Initiative. Alle Maßnahmen sollen dem
Diktat der Klima- und Umweltschutzziele unterliegen.
Keine Grundlagenforschung soll möglich sein, keine
Neuentwicklung von Meerestechnologien, so steht es im
vorletzten Absatz dieses Antrages. Deutschlands mari-
time Wirtschaft braucht Zukunft, aber nicht mit einem
Flaggschiff ohne Schraube.
Der Grundlagenforschung dürfen nicht von vornherein
Scheuklappen aufgesetzt werden; auch nicht wenn sie im
schicken Gewand von Klima- und Umweltschutz daher-
kommen. So schneiden wir deutschen Unternehmen Ent-
wicklungschancen ab, überlassen den schnell wachsen-
den Weltmarkt anderen Ländern und verhindern die
Schaffung neuer, hochwertiger Arbeitsplätze. Grundla-
genforschung muss möglich sein, sonst wandern qualifi-
zierte Fachkräfte weiter ins Ausland ab.
Wir norddeutschen Abgeordneten der Union anerken-
nen die Unterstützung durch Edmund Stoiber für die
Werften und die maritime Wirtschaft. So gehörte zu einer
seiner ersten Amtshandlungen als Kanzlerkandidat der
Besuch bei HDW in Kiel. Dort bekräftigte er, Deutsch-
land müsse ein starker Werftenstandort bleiben und kriti-
sierte die mangelnde Unterstützung der Europäischen
Union gegen die seit Jahren anhaltende Dumpingpreis-
Politik Südkoreas. – Heute Vormittag hat der EU-Minis-
terrat endlich die seit zwei Jahren angekündigte WTO-
Klage beschlossen und für die Dauer des Verfahrens eine
Abwehrbeihilfe von 6 Prozent genehmigt.
Anerkennung zollen wir auch dem unermüdlichen Ein-
satz des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik und
seinem Hauptgeschäftsführer, Dr. Werner Schöttelndreyer,
dem Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,
Dr. Axel Gerlach, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für
Maritime Technik und begeisterten Polarforscher,
Dr.-Ing. Joachim Schwarz, den deutschen Werften und
ihren Betriebsräten, den Universitäten und Fachhoch-
schulen, um nur einige verdienstvolle Einrichtungen stell-
vertretend zu nennen, die im Bereich der Meerestechnik
engagiert tätig sind.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland hat eine große Tradition im Schiffsbau und der
Meerestechnik. Viele Arbeitsplätze sind direkt oder indi-
rekt mit der Meerestechnik verbunden. Der Rückgang der
Werftenindustrie muss aufgefangen werden durch neue in-
novative Techniken. Daraus ergeben sich neue Chancen für
den riesigen Weltmarkt. Das Marktpotenzial liegt weltweit
über 150 Milliarden Euro.
Mit dem bereits im Jahr 2000 aufgelegten Forschungs-
programm „Schifffahrt und Meerestechnik für das 21. Jahr-
hundert“ hat die Bundesregierung diese Herausforderung
bereits erfolgreich angenommen. Der vorliegende rot-
grüne Antrag baut auf diesem Forschungsprogramm auf
und will weitere Akzente setzen.
Vor allem die Umweltfreundlichkeit muss weiter in
den Mittelpunkt rücken. So gilt es, die bisherigen Meeres-
technologien umweltfreundlicher zu gestalten. Die Ver-
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schmutzung zum Beispiel bei der Ölgewinnung ist auf
null zu reduzieren.
Die Energieversorgung der Meerestechnikanlagen soll
verstärkt auf erneuerbare Energien umgestellt werden.
Schmieröle aus Pflanzenölen bzw. Windkraft, Biomasse
und Solarenergie zur Stromversorgung reduzieren die Ge-
fahr auslaufender Betriebsmittel und den Schadstoffaus-
stoß auf null. Die alltägliche Verschmutzung mit Ölen
wird dann der Vergangenheit angehören.
Auch muss das Problem der giftigen Anstriche gelöst
werden. Hier hat es in der jüngsten Zeit mithilfe der Na-
notechnologie wichtige Fortschritte gegeben. Wir müssen
diesen Weg schnell weiter gehen.
Aquakulturen für die Produktion von Seefischen soll-
ten möglichst umweltfreundlich sein. Sie dienen dann
nicht nur dem Umweltschutz, sondern auch der Gesund-
heit der Verbraucher.
Das breite Spektrum der Unterwassertechnik – zum
Beispiel in der Kommunikationstechnologie ist auf den
Schutz der Meerestiere auszurichten. Zum Beispiel steht
Unterwasserlärm im Verdacht, die Wale zu schädigen.
Meine Damen und Herren, die Meerestechnik be-
kommt eine völlig neue Chance. Diese Chance heißt: er-
neuerbare Energien. Konkret handelt es sich um die
Windenergie und die Meeresenergien, die mit Meeres-
strömungskraftwerken, Wellenkraftwerken und Gezeiten-
kraftwerken genutzt werden können. Alleine in Deutsch-
land sollen bis 2020 Offshore-Windkraftanlagen mit einer
Leistung von 25 000 Megawatt installiert werden. Dies ist
eine große Chance für den Klimaschutz und eine große
Chance für die Werften.
Sehr viel versprechend sind auch die Anstrengungen
zur Nutzung des Meeresströmungen und der Wellenkraft.
Die ersten Pilotprojekte sind in Schottland, England und
Japan bereits im Entstehen. Auch die Gezeitenenergie hat
gute Chancen. Wir wollen die deutsche Industrie auch für
diese Zukunfts-Energietechnologien fit machen.
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen die Meerestech-
nik in vielen Bereichen. Aber wir verschweigen die Pro-
blemfelder nicht. Angesichts der Klimagefahren wollen
wir keine Staatsmittel für die Exploration von fossilen
Rohstoffen ausgeben. Diese Forschungsmittel müssen
stattdessen für klimaneutrale Technologien ausgegeben
werden.
Besonders gefährlich wäre die Erschließung der Me-
thanhydrate. Die Schätzungen über deren Vorkommen ge-
hen weit auseinander. Wir halten es für sinnvoll, für die
Klimaforschung mehr über deren Vorkommen zu erfah-
ren. Für den Fall, dass diese Methanhydrate wirklich in
großen Mengen vorkommen, gehen wir aber ein unver-
antwortliches Risiko ein, wenn wir diese Methanhydrate
fördern; denn das beim Verbrennen freigesetzte Kohlen-
dioxid heizt das Treibhaus Erde an. Lassen wir die Me-
thanhydrate auf dem Meeresboden! Die Energie, die wir
brauchen, geben uns die Meere über Wind und Wellen,
Meeresströmungen und Gezeitenkraft. Wir müssen nur
zugreifen. Es wäre töricht, das Weltklima zu riskieren, in-
dem wir auf einen Rohstoff zurückgreifen, den wir nicht
brauchen.
Die Union und die FDP werfen uns einen Angriff auf
die Forschungsfreiheit und auf die Grundlagenforschung
vor. Dieser Vorwurf ist vollkommen absurd, auch weil un-
ser Antrag sich explizit dafür ausspricht, Methanhydrate
zu erforschen. Die Grundlagenforschung ist somit nicht
angetastet. Wir sprechen uns sogar explizit für die Klima-
forschung bei den Methanhydraten aus. Aber wir sind
auch ebenso explizit gegen die Vorlaufforschung für die
Exploration von Methanhydraten.
Die Forscherfreiheit ist überhaupt nicht tangiert. Jeder
Forscher, der hier forschen will, kann dies tun, es steht
hier nichts von Verbot wie zum Beispiel beim Import
neuer Stammzelllinien. Es gibt kein grundgesetzliches
Anrecht des Forschers auf staatliche Forschungsmittel.
Der Staat hat die Aufgabe, mit seinen Forschungsmitteln
verantwortlich umzugehen. Er soll die Mittel eben dort
einsetzen, wo sie Nutzen versprechen und nicht dort, wo
vor allem mit Schaden gerechnet werden muss. Ange-
nommen, die Vorkommen an Methanhydraten wären
wirklich so groß wie von einigen Wissenschaftlern be-
hauptet, dann liegt auf der Hand, dass ihr Abbau eine Ka-
tastrophe für das Klima wäre. Aufgabe des Staates ist es,
das Klima zu schützen – wozu etwa die Erforschung der
energetischen Nutzung der Erdwärme gehört. Aufgabe
des Staates ist es nicht, den Treibhauseffekt zu fördern.
Ich entnehme den Anträgen der CDU/CSU und der
FDP, dass sie dies anders sehen. Die Herren Wissmann
und Börnsen in der Union verstiegen sich am 10. Juni so-
gar zu folgender Aussage in einer Pressemitteilung:
Die Entwicklung der Meerestechnik wird durch die
rot-grüne Bundesregierung gehemmt, wenn sie Wis-
senschaft und Forschung unter das Diktat der Klima-
und Umweltschutzziele stellt.
Daraus können wir entnehmen, dass der Union die Ent-
wicklung auch klimaschädlicher Meerestechnik wichtiger
ist als der Klima- und Umweltschutz selbst.
Die FDP setzt noch eins drauf und fordert sogar „die
Technologien zum wirtschaftlichen Abbau von Gashydra-
ten, insbesondere in den Permafrostgebieten, zur Siche-
rung der Energieversorgung künftiger Generationen wei-
ter zu fördern“.
Wir sind der Union und der FDP sehr dankbar, dass sie
so offen zugeben, dass Umwelt- und Klimaschutz für sie
keine Rolle spielen, wenn sie wirtschaftlichen Interessen
entgegenstehen. Wir Grünen sehen das anders. Wir neh-
men die Klima- und Umweltprobleme ernst und wollen
sie lösen anstatt zu verschlimmern.
In dem heute zur Debatte stehenden gemeinsamen An-
trag von Rot-Grün sind die neuen Chancen der Meeres-
techniken gut herausgestellt. Damit werden dem Um-
weltschutz und der deutschen Meerestechnikindustrie
gemeinsam neue große Perspektiven eröffnet.
Hans-Michael Goldmann (FDP):Die heute mir vor-
liegenden „Weltweite Märkte für Meerestechnik er-
schließen“ und „Zukunft Meer – Für eine verantwor-
tungsbewusste Nutzung der Meerestechnologie“ geben
uns sehr gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass der
maritime Sektor und hier speziell die Meerestechnik
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großartige Zukunftschancen für das Küstenland Deutsch-
land bietet. Es ist viel zu wenig im Bewusstsein der Bür-
gerinnen und Bürger, dass über 70 Prozent der Erde von
Ozeanen bedeckt sind, 90 Prozent des Außenhandels der
Europäischen Union verschifft werden und die Ozeane
– das Wasser insgesamt – für unsere Klimaentwicklung
ausschlaggebend sind. Mit Bewunderung sollten wir zur
Kenntnis nehmen, dass seit vielen Millionen Jahren die
Weltmeere ein ungeheuer großes Biokraftwerk mit uner-
messlichen Vorräten an Nahrungsmitteln, an Lebens- und
Heilkraft von bedeutender Qualität, Quantität und Vielge-
staltigkeit sind. Die Weltmeere sind das Erbe der Mensch-
heit. Dieses Erbe gilt es zu pflegen und zu intensivieren.
Meerespolitik befindet sich global in einer dynamischen
Entwicklung, dabei kommt der maritimen Technologie eine
qualitativ hochwertige Bedeutung als Investitions-, Arbeits-
platz- und Zukunftsmotor zu. Ein Teilbereich der maritimen
Wirtschaft Deutschlands ist die Meerestechnik. Der
Meerestechnik kommt neben den Bereichen Schifffahrt,
Schiffbau und Hafenwirtschaft auf der Grundlage folgender
Technikfelder herausragende Bedeutung für eis maritimes
Hochleistungsland wie die Bundesrepublik Deutschland zu:
Aquakultur bzw. Marikultur, Hydrographie, Meeresfor-
schungstechnik, maritime Umweltschutztechnik, maritime
erneuerbare Energien, maritime Informations- und Lei-
tungssysteme, Küstenzonenmanagement und Wasserbau,
Offshore-Technik, Polartechnik, Unterwassertechnik und
Seekabel.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Meerestechnik in
Deutschlalnd kann gar nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Das weltweite Marktpotenzial der Meerestechnik
wird zurzeit pro Jahr auf über 150 Milliarden Euro Jahres-
umsatz geschätzt und ist damit schon heute ein dem
Schiffbau vergleichbarer, bedeutsamer Faktor mit erheb-
lichem Wachstumspotenzial. Den weitaus größten Anteile
daran hat mit 80 Milliarden Euro die Offshore-Industrie.
In Deutschland wurde in einem vergleichbaren Zeitraum
ein Jahresumsatz von circa 3 Milliarden Euro erzielt. Die-
ser Umsatz entspricht in keinster Weise dem Technologie-
und Wirtschaftspotenzial Deutschlands. Zwar werden auf
einigen Wirtschaftsfeldern der Meerestechnik die Märkte
von nationalen Zugangsbehinderungen geprägt, aber die
Erfahrungen zeigen, dass mit innovativer Technologie,
die zu kostengünstigen und umweltschonenden Produk-
ten führt, der Zugang zu diesen Märkten nicht nur er-
reicht, sondern auch ausgebaut werden kann. Unerlässlich
erscheint in diesem Zusammenhang eine verstärkte, zwi-
schen Wirtschaft und Politik intensiver koordinierte
Markterschließungstrategie, aber auch eine angemessene
Förderung von Forschung und Entwicklung. Gerade in
diesen Bereichen wird die FDP-Bundestagsfraktion in der
nächsten Periode deutliche Akzente setzen, die Rot-Grün
bis jetzt verpasst hat.
Das vom Bundesministerium für Bildung und For-
schung vor zwei Jahren vorgelegte Forschungsprogramm
Schifffahrt und Meerestechnik für das 21. Jahrhundert
wurde in der Branche zwar positiv aufgenommen, der An-
satz muss aber deutlich ausgebaut werden. Die Perspekti-
ven der Meerestechnik für die nächsten zehn bis 20 Jahre
sind außerordentlich positiv einzuschätzen. Sie werden
hauptsächlich durch umweltpolitische und wirtschaftli-
che Entwicklungen bestimmt. Dabei steht die verstärkte
Nutzung erneuerbarer Energien zum Beispiel Offshore-
Windparks, der umweltverträgliche Rückbau und die
Entsorgung von Offshore-Anlagen, die nachhaltige Nut-
zung mariner Ressourcen und die Unfallverhütung und
Bekämpfung im Zentrum der Überlegungen.
Damit das enorme Wachstumspotenzial der Meeres-
technik auch wirklich realisiert werden kann und die
Chancen für mehr Investitionen und Arbeitsplätze zügig
genutzt werden, sind nach meiner Auffassung folgende
Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen
für die meerestechnische Wirtschaft zwingend notwendig:
Alle an der Wirtschaft Beteiligten, aber auch die Bun-
desregierung, die Länderregierungen und die staatlichen
Stellen sind für das enorme Wachstumspotenzial der Mee-
restechnik zu sensibilisieren. Innovation und Produktent-
wicklung bedürfen einer punktgenauen Förderung. Eine
Reduzierung administrativer und strukturpolitischer Hin-
dernisse ist notwendig. Gerade den kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, die sich im Bereich der Mee-
restechnik betätigen, muss eine Förderung in Hinblick auf
Innovation und Produktentwicklungen zugute kommen.
Die internationale Vermarktung bedarf verstärkter Unter-
stützung. Die Informations-, Koordinations- und Koope-
rationsvernetzung der Meerestechnik im Rahmen der ma-
ritimen Wirtschaft sind zu unterstützen. Es ist sicherlich
zu überlegen, ob eine Institution zur Koordination von In-
formationsbeschaffung von Vernetzung und Kooperation
so zu fördern ist, dass sie den Unternehmungen, die im
Bereich der Meerestechniken aktiv sind, Zukunftschan-
cen eröffnet.
Die FDP unterstützt mit großem Nachdruck das Strate-
giepapier zur Förderung der Meerestechnik als Teil der
maritimen Wirtschaft Deutschlands, das von der Gesell-
schaft für maritime Technik e.V., GMT, vorgelegt worden
ist. Die FDP und ich ganz persönlich sehen in dem vorge-
legten Strategiepapier eine gute Grundlage, um die Tech-
nikfelder der Meerestechnik konsequent zu fördern und
weiterzuentwickeln.
Ich bin davon überzeugt, dass der Bereich der Meeres-
technik mit seinen differenzierten Technikfeldern ein
Wachstumsmotor für den Wirtschaftsstandort Deutsch-
land ist. Das gilt in ganz besonderer Weise für die Off-
shore-Technik, die gerade der norddeutschen Küstenre-
gion große Perspektiven im Hinblick auf Investitionen
und Arbeitsplätze, aber auch als energiepolitische Alter-
native bietet.
Das Nahrungsmittel Fisch wird immer teurer, der Ei-
weißbedarf immer notweniger, Aquakulturen und Mari-
kulturen bieten in diesen Bereichen eine Zukunftschance,
die besonders in Schleswig-Holstein schon jetzt realisiert
wird. Der CDU/CSU-Antrag zur Meerestechnik ist ein
guter Antrag, wir werden diesem daher zustimmen. Der
Antrag der Regierungskoalition greift die Zukunftschan-
cen der Meerestechnik nur unzureichend auf, wir werden
ihn deshalb ablehnen.
Wolfgang Bierstedt (PDS): Zum Ende der Legisla-
turperiode leistet das Parlament schier Übermenschliches.
Alle noch anstehenden Anträge sollen in marathonähnli-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224842
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chen Nachtsitzungen durchgezogen werden. Leider geht
die wichtige Parlamentsarbeit nicht nur an der interessier-
ten Öffentlichkeit vorbei, auch die Kultur des politischen
Meinungsstreits leidet nachhaltig darunter.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion fordert
ziemlich unverblümt eine verdeckte Wirtschaftsförderung
für die Not leidenden deutschen Werftunternehmen im
Sinne einer Förderung verschiedener Forschungsprojekte,
die sich mit praxisorientierten Meerestechnologien be-
schäftigen. Aus diesem Antrag nehmen wir zur Kenntnis,
dass die Innovationspotenziale der deutschen Werften
groß sind (auch in der Rüstungsproduktion), mit einer
breiten Palette innovativer Produkte vom Schiffsantrieb
bis zu modernsten Navigationssystemen. Dieser Antrag
beschäftigt sich auch mit den Wachstumschancen der ma-
ritimen Aquakultur bzw. „Blauen Biotechnologie“. Es ist
richtig, dass sich „auf verschiedenen Gebieten der Bio-
technologie zurzeit eine rasante Entwicklung vollzieht,
die neue Chancen für Wissenschaft und Wirtschaft eröff-
nen“. Wir behalten dabei aber den erforderlichen Um-
weltschutz der Weltmeere im Auge. Für die Gewährleis-
tung eines vorsorgenden Meeresumweltschutzes tragen
alle Disziplinen der maritimen Technikforschung hohe
Verantwortung. Wir treten für eine umfassende Nutzung
des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ein, wo-
durch die Meerestechnologie immer mehr zu einem Be-
reich der angewandten Wissenschaft wird. Zugleich be-
wahren wir aber kritische Distanz zu dem technisch
Machbaren, wenn dieses unübersehbare Risiken für
Meere, Natur und Mensch in sich birgt. So bedarf jeder
Schritt in der Nutzbarmachung der so genannten blauen
Biotechnologie, in der Aquakulturproduktion strikter, ge-
setzlich gesicherter Kontrollen, öffentlicher Aufklärung
und hoher außerparlamentarischer Aufmerksamkeit und
nicht zuletzt eines angemessenen Schutzniveaus für die
Aquakulturen, die Umwelt und die potenziell betroffenen
Verbraucher. Der Stand der Forschung zur Biotechnologie
und Gentechnik lässt insgesamt die Risiken für die Um-
welt und Gesundheit noch nicht absehen. Die derzeit ver-
fügbaren Methoden für gentechnische Veränderungen bei
Fischkulturen für die Lebensmittelproduktion aber auch
Shrimps sowie Algen sind noch wenig effizient und ber-
gen – einmal in die Umwelt gelangt – große Gefahren für
das ökologische Gleichgewicht. Aufgrund der genannten
biotechnologischen Risiken und einer verstärkten Förde-
rung technologischer Forschungsergebnisse auch in der
militärischen U-Bootproduktion wären wir geneigt, die-
sen Antrag grundsätzlich abzulehnen. Da wir uns aber
auch der notwendigen Sicherung der Arbeitsplätze gerade
in diesem Bereich der zivilen maritimen Industrie nicht
verwehren wollen, werden wir uns der Stimme enthalten.
Die Regierungskoalition hat sich mit dem Antrag –
Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen – viel
vorgenommen. Auch von ihr wird eine gewisse Unter-
stützung bei der Produktentwicklung der Meerestechnik
versprochen.
Die weltweite Vermarktung von maritimen Umwelt-
schutztechniken zur Verhinderung und Bekämpfung von
Ölunfällen auf hoher See und zur Sanierung von ver-
schmutzten Küsten und Stränden können wir mittragen.
In der Frage der effektiven Energiegewinnung und -ver-
sorgung meinen wir, dass eine Energiewende durch bes-
sere Nutzung regenerativer Energien eingeleitet werden
muss. Dabei sind entwicklungs- und anwendungsseitige
Forschungen in ihrer Vielfalt und in der Breite zu nutzen.
Der Antrag der Regierungskoalition regt zur Entwicklung
bestimmter meerestechnischer Technologiebereiche auch
eine Kooperation zwischen kreativen KMU an, mit maß-
geblicher Unterstützung durch staatliche Einrichtungen
und Institutionen. Solcherart Kooperationen wurden im
InnoRegio-Projekt „Maritime Allianz“ in Mecklenburg-
Vorpommern bereits begonnen und finden auch unsere
Zustimmung. Wir müssen aber feststellen, dass sich in
diesem Antrag die versprochene Unterstützung auch der
Bundesregierung für die Industrie bei der Erschließung
der Weltmärkte nur auf die Floskeln „prüfen“, „achten“,
„koordinieren“ und „Anstrengungen unterstützen“ be-
schränkt. Wir sind uns sicher einig, dass eine solche rela-
tiv unbestimmte Handlungsweise der deutschen For-
schungslandschaft und der Werftindustrie nicht hilfreich
ist. Deshalb enthalten wir uns auch hier der Stimme.
Votum: Bundestagsdrucksache 14/9223 Enthaltung
Votum: Bundestagsdrucksache 14/9352 Enthaltung
Dr. Ditmar Staffelt, Parl Staatssekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Es freut mich,
heute das Thema Meerestechnik im Bundestag anspre-
chen zu können: Wie die Anträge der Regierungskoalition
und der CDU/CSU-Fraktion belegen, ist das Interesse an
der Meerestechnik deutlich gestiegen. Trotz ihrer Rolle
als wichtiger Impulsgeber für die deutsche maritime Wirt-
schaft wurde bislang die Meerestechnik in der Öffentlich-
keit nicht hinreichend beachtet. Die Meerestechnik ist ein
Bereich, der sich durch eine sehr starke Heterogenität aus-
zeichnet. Zu diesem Bereich gehören unter anderem pro-
duzierende Unternehmen, Ingenieursbüros, Universitäten
und Forschungsinstitute. Die Bandbreite der Tätigkeiten
reicht dabei von der Hydrographie bis hin zum Bau von
Unterwasserfahrzeugen. Daraus folgt eine vielfältige
Wirtschaftsorientierung mit durchaus unterschiedlichen
Interessenlagen der Akteure.
Es bestehen aber auch Gemeinsamkeiten: Die Anfor-
derungen an das Know-how der Mitarbeiter sind in allen
meerestechnischen Betrieben sehr hoch. Das hängt eng
mit der High-Tech-Orientierung des meerestechnischen
Wirtschaftszweiges zusammen. Ein weiteres gemeinsa-
mes Merkmal ist die starke klein- und mittelständische
Orientierung dieser Branche.
Ein Problem liegt für die meerestechnische Branche
darin, dass aufgrund der geringen Größe des heimischen
Marktes ein nachhaltiges Wachstum der deutschen mee-
restechnischen Betriebe nur im globalen Kontext möglich
ist. Andererseits prognostiziert die Gesellschaft für Mari-
time Technik für Deutschland bis 2005 im meerestechni-
schen Bereich eine Verdopplung der Umsätze auf circa
3,5 Milliarden Euro. Eine Prognose, die mit lukrativen
Entwicklungen in diesem Bereich zusammenhängt.
Die Bundesregierung hat sich die Stärkung des mariti-
men Standortes in Deutschland zum Ziel gesetzt. Auftakt
des damit verbundenen Arbeitsprozesses war die Erste Na-
tionale Maritime Konferenz 2000 in Emden. Als zentrale
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24843
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Herausforderung wurde damals die Identifikation von
Vernetzungspotenzialen innerhalb der maritimen Wert-
schöpfungskette erkannt. Damit wurde der entscheidenden
Rolle von innovativen Netzwerken bei der Erhöhung der
Produktivität einer Branche Rechnung getragen. Um das
Kooperationsniveau im maritimen Bereich zu steigern,
wurde im Juli 2000 ein maritimer Koordinator eingesetzt.
Um Vernetzungspotenziale in der maritimen Wirtschaft zu
erkennen und nutzbar zu machen, wurde vom Bundesmi-
nisterium für Wirtschaft und Technologie eine Analyse in
Auftrag gegeben, deren Ergebnisse und Implikationen
kürzlich auf einer Fachkonferenz im BMWi diskutiert
worden sind.
Die Meerestechnik wird eine angemessene Berück-
sichtigung im Vernetzungsprozess finden. Sie wird auch
bei der kommenden nationalen maritimen Konferenz in
Lübeck als ein Schwerpunkt thematisiert. Die Bundesre-
gierung wird prüfen, ob – entsprechend einer Empfehlung
der genannten Analyse zu Vernetzungspotenzialen – ein
Internetportal für die deutsche maritime Wirtschaft zur
besseren Vernetzung beitragen könnte. Ein solches Portal
könnte auch den Bereich der Meerestechnik abdecken.
Für den Bereich der Forschung und Entwicklung hat das
BMBF das Internetportal für Schifffahrt und Meerestech-
nik, das so genannte ma-tec-Netz bereits zur Verfügung
gestellt.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin alles tun, um
die Entwicklung der Meerestechnik zu fördern. Ein wich-
tiger Ansatz hierbei ist die Unterstützung von F+E-Akti-
vitäten, da die Entwicklung neuer Technologien die
Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit deut-
scher Unternehmen darstellt. Die Meerestechnik profitiert
in diesem Zusammenhang unter anderem von dem For-
schungsprogramm der Bundesregierung „Schifffahrt und
Meerestechnik für das 21. Jahrhundert“, das auch für klei-
nere und mittlere Unternehmen konzipiert ist.
Die Bundesregierung ist bereit, die internationale Ver-
marktung der Produkte und Dienstleistungen deutscher
Meerestechnik zu unterstützen. Deutsche Auslandsvertre-
tungen und Außenhandelskammern können die konkreten
Projekte flankieren. Auf Initiative des BMWi haben sich
die wichtigsten Akteure der Außenwirtschaftsförderung
zum „Serviceverbund Außenwirtschaft“ zusammengefun-
den und sind im Internet-Außenwirtschaftportal iXPOS
vertreten. Auslandsinvestitionen kleiner und mittlerer Un-
ternehmen werden durch zinsgünstige Kredite im Rahmen
des KfW-Mittelstandsprogramms Ausland erleichtert.
Erfolgversprechend ist auch die Nutzung erneuerbarer
Energien im maritimen Bereich, insbesondere der Off-
Shore-Windenergie. Die Bundesregierung hat durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz für die Entwicklung dieser
Branche stabile Rahmenbedingungen geschaffen. Ziel des
EEG ist es, den Anteil erneuerbarer Energien an der
Stromversorgung bis zum Jahr 2010 zu verdoppeln. Um
die erheblichen Potenziale von Offshore-Windparks mög-
lichst schnell erschließen zu können und die nötigen Rah-
menbedingungen zu schaffen, hat die Bundesregierung
im Januar 2002 eine Strategie zur Windenergienutzung
auf See vorgelegt.
Eine mittel- und langfristige Steigerung der maritimen
Aquakultur – oder so genannte Marikultur – zur Deckung
des zunehmenden weltweiten Bedarfs an Nahrung, Eiweiß
und den Wirkstoffen für die Pharmaindustrie erfordert ei-
nen deutlich stärkeren Einsatz ökologisch verträglicher ge-
schlossener Kreislaufanlagen. Derzeit bestehen in
Deutschland jedoch nur geringe Erfahrungen mit
Marikulturanlagen. Nach allen derzeit vorliegenden Pro-
gnosen wird sich der Markt für solche Anlagen in den
kommenden Jahren aber deutlich erhöhen. Hier ist ein
wichtiges Betätigungsfeld mit Zukunftsorientierung für
das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft gegeben.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Baugesetzbuches (Kommunale
Rechte bei Windkraftanlagen stärken) (Tages-
ordnungspunkt 21)
Wolfgang Spanier (SPD): Der Gesetzentwurf zur Än-
derung des Baugesetzbuchs hat durchaus einen sachlichen
Hintergrund. Ich weiß aus der Erfahrung in meinem Wahl-
kreis, dass es in vielen Gemeinden durchaus Konflikte
gibt, dass es Initiativen gibt gegen die Errichtung von
Windkraftanlagen, dass es äußerst problematische Anträge
gibt mit Standorten, die zu einer Beeinträchtigung der
Wohnbevölkerung führen. Wir müssen die Probleme der
Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen. Dieser Gesetzent-
wurf ist hierfür aber vollkommen ungeeignet.
Nach dem Regierungswechsel 1998 haben wir eine
Wende in der Energiepolitik eingeleitet. Mehr Energieeffi-
zienz und Klimaschutz sind die Hauptziele dieser Ener-
giepolitik. Neben der Vereinbarung zum Atomausstieg, der
ökologischen Steuerreform, dem Ausbau der Kraft-
Wärme-Kopplung, der Energieeinsparverordnung, den
Programmen zur Wohnraummodernisierung und zur CO2-Minderung ist die Förderung der erneuerbaren Energien,
insbesondere durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
eine der wichtigsten energiepolitischen Initiativen.
Langfristig ist nur eine Energieversorgung auf der
Grundlage erneuerbarer Energien wirklich nachhaltig und
zukunftsfähig. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist
daher ein zentrales politisches Vorhaben. Überdies ist der
Ausbau der erneuerbaren Energien auch beschäftigungs-
politisch mittlerweile bedeutsam. Mehr als 100 000 Men-
schen arbeiten in diesem Bereich.
Wir haben den Beitrag der erneuerbaren Energien zu
unserer Stromversorgung in den letzten vier Jahren von
4,6 Prozent auf 7,1 Prozent erhöhen können – ein Zu-
wachs von mehr als 50 Prozent. Bis zum Jahr 2010 wol-
len wir die Stromerzeugung aus Wind, Wasser, Biomasse,
Geothermie und Solarenergie auf mindestens 12 Prozent
erhöhen und weiter ausbauen. Wir unterstützen die Ziel-
vorgabe der Europäischen Union, bis zur Mitte des
21. Jahrhunderts die Hälfte unseres Energiebedarfs aus er-
neuerbaren Quellen zu speisen.
Deutschland ist „Windweltmeister“. Gut ein Drittel der
weltweiten Windkraftleistung gewinnt Deutschland.
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Ende 2001 wurden bei uns 11 440 Windkraftanlagen mit
einer Leistung von 8 754 Megawatt betrieben. Diese lie-
ferten 3 Prozent des deutschen Stromverbrauchs und spar-
ten 10 Millionen Tonnen CO2 ein. Die Anlagen werdenimmer effizienter und größer. In dieser Legislaturperiode
hat sich die Zahl der Anlagen knapp verdoppelt, ihre Leis-
tung hat sich jedoch fast vervierfacht. Im Windenergie-
sektor sind rund 35 000 Menschen beschäftigt. Mittler-
weile sind Windkraftanlagen ein deutscher Markenartikel
und Exportschlager.
Zwei gesetzliche Regelungen haben maßgeblich zu
dieser Entwicklung beigetragen. Wir haben 1996 mit den
Stimmen aller im Bundestag vertretenen Parteien die Vor-
schrift zur Privilegierung von Windkraftanlagen im § 35
des Baugesetzbuches beschlossen. Im Jahre 2000 haben
wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz beschlossen und
die Festlegung der Vergütung auf 9,1 Cent/kWh.
Die Änderung des Baugesetzbuches von 1996 ermög-
licht die Privilegierung von Windkraftanlagen und fordert
die Gemeinden im Rahmen der Flächennutzungspläne
auf, besondere Vorranggebiete für die Windenergienut-
zung auszuweisen. Davon haben viele Gemeinden Ge-
brauch gemacht – in Nordrhein-Westfalen sind es 60 Pro-
zent der Gemeinden mit stark steigender Tendenz. Der
vorliegende Gesetzentwurf von einer Gruppe von Abge-
ordneten der CDU/CSU und der FDP will nun die Ände-
rung des Baugesetzbuches erreichen, um auf diese Weise
den Bau von Windkraftanlagen zu erschweren.
Es ist schon auffällig, dass dieser Antrag weder von der
Fraktion der CDU/CSU noch von der Fraktion der FDP
unterstützt wird. Er hat auch nicht die Zustimmung der
Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker der beiden Fraktio-
nen gefunden. Es ist auch deutlich, dass dieser Gesetzent-
wurf wohl eher den Charakter eines Show-Antrages trägt.
Weil natürlich den Antragstellern bewusst ist, dass eine
Änderung des Baugesetzbuches nicht nur sorgfältig in den
zuständigen Gremien des Bundestages beraten werden
muss, sondern genauso sorgfältig in dem zuständigen
Gremium des Bundesrates. Das ist allein vom zeitlichen
Ablauf her von vornherein unmöglich. Deswegen ist allen
Beteiligten klar, dass dieser Gesetzentwurf in dieser Le-
gislaturperiode nicht mehr abschließend beraten und be-
schlossen werden kann.
Der Antrag gibt vor, die Planungshoheit der Kommu-
nen stärken zu wollen. Die Vorschläge sind dafür untaug-
lich. Das geltende Recht gibt den Gemeinden genügend
rechtliche Möglichkeiten, die Genehmigung von Wind-
kraftanlagen zu versagen, wenn öffentliche Belange be-
einträchtigt werden. Die Länder Nordrhein-Westfalen und
Baden-Württemberg haben in jüngster Zeit noch einmal
alle einschlägigen gesetzlichen Regelungen zusammen-
gestellt, die von den Kommunen dabei zu beachten sind.
Das gilt zum Beispiel für die TALärm, das gilt für andere
emissionsrechtliche Schutzbestimmungen, das gilt auch
für Umweltverträglichkeitsprüfungen, wenn mehrere An-
lagen beantragt werden. Die Gemeinden verfügen also
über genügend rechtliche Instrumente, um nicht sinnvolle
Windkraftanlagen verhindern zu können. Allerdings ist
eine wichtige Voraussetzung die Ausweisung von so ge-
nannten Vorranggebieten innerhalb des Flächennutzungs-
plans.
Besonders problematisch ist der Vorschlag, den § 245 b
BauGB zu ändern. Er sieht vor, Anträge über die Zuläs-
sigkeit von Windkraftanlagen bis zum 31. Dezember 2003
zurückzustellen. Ursprünglich war vom Gesetzgeber eine
Frist bis zum 31. Dezember 1998 eingeräumt worden, um
Zeit zu haben für die Vorbereitung von entsprechenden
Flächennutzungsplänen. Nach Ablauf der Frist vor über
drei Jahren jetzt erneut eine Frist einzuräumen, um lau-
fende Genehmigungsanträge zurückzustellen ist rechtlich
nicht vertretbar.
Die Gemeinden hatten seit In-Kraft-Treten der Privile-
gierung von Windkraftanlagen vor nunmehr fünf Jahren
ausreichend Zeit, ihre Flächennutzungspläne auf die neue
Rechtslage einzustellen. Wir können nicht willkürlich ge-
setzliche Änderungen vornehmen. Planungssicherheit ist
ein hohes Rechtsgut – gerade auch auf der kommunalen
Ebene. Der Antrag ist also in keiner Weise geeignet, die
Planungshoheit der Kommunen zu verbessern.
Es ist aber nur allzu offenkundig, dass es den Antrag-
stellern darum auch gar nicht geht. Das eigentliche Ziel ist
es, dass Erneuerbare-Energien-Gesetz auszuhöhlen. In
den Wahlprogrammen von CDU/CSU und FDP wird
deutlich, dass sie dieses Gesetz kippen wollen.
Das ist natürlich auch kein Wunder. Wer die energie-
politische Zukunft auf die Kernenergie setzt, der hat
natürlich kein Interesse daran, die erneuerbaren Energien
wesentlich auszubauen. Allerdings: Wer den Weg der
Kernenergie gehen will, der muss zwei Fragen beantwor-
ten. Erstens, wie er sich die Endlagerung vorstellt und
zweitens, wie er sich die Genehmigung und den Bau von
neuen Kernkraftwerken vorstellt, weil die bestehenden
19 Kernkraftwerke sicherlich in absehbarer Zeit – wenn
die dauerhafte Nutzung der Kernenergie denn politisch
gewollt ist – erneuert werden müssen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist also aus fachpoliti-
scher Sicht völlig untauglich. Das sehen auch die Fach-
politiker von CDU/CSU und FDP so. Er ist letztlich nicht
ernst gemeint, weil den Antragstellern völlig bewusst ist,
dass die Änderung des Baugesetzbuches in dieser Legis-
laturperiode allein schon aus zeitlichen Gründen über-
haupt nicht mehr beschlossen werden kann. Und er gibt
nur vor, die Planungshoheit der Kommunen erhöhen zu
wollen – letztlich geht es um eine energiepolitische
Wende rückwärts.
Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dass
wir die berechtigten Interessen von Anwohnern von Wind-
kraftanlagen ernst nehmen. Wir wollen Belastungen ver-
meiden. Deshalb ist es sicherlich richtig, in der nächsten
Legislaturperiode, wenn wir ohnehin die Novellierung des
Baugesetzbuches angehen müssen, auch noch einmal zu
überprüfen, wie wir in dem einen oder anderen Punkt mög-
licherweise Klarstellungen und damit Hilfen für die Ge-
meinden erreichen können. Eines aber muss klar sein: Über
das Baugesetz die Förderung der Windenergien auszuhe-
beln, dass kann und darf nicht unser politisches Ziel sein.
Sollte es allerdings Lücken geben, die wir schließen
müssen, um Windkraftanlagen, die zur Beeinträchtigung
der Wohnbevölkerung führen, leichter und schneller ver-
hindern zu können, dann ist das sicherlich eine sinnvolle
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24845
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Aufgabe im Rahmen der Beratungen zur Novellierung
des Baugesetzbuches. Voraussetzung ist eine sorgfältige
Beratung im Bundestag und Bundesrat.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
Baden-Württemberg hat im Mai 2002 ein Signal gesetzt,
indem der Planungsausschuss des Verbandes der Region
Stuttgart mit breiter Mehrheit beschlossen hat, die Pla-
nung von Windkraftanlagen bis auf weiteres zu stoppen.
Für die Schwarzwaldregionen gibt es neue restriktive
Richtlinien und andere Regionen in Baden-Württemberg
werden folgen. Grund und Ursache war die Flut von An-
trägen auf Bau von Tausenden von Windkrafträdern, auch
in Baden-Württemberg.
Und hier setzt der Antrag der Gruppe der Abgeordne-
ten aus CDU/CSU und FDPmit immerhin 80 Mitgliedern
des Deutschen Bundestages ein, die sich bereits im März
2002 zusammenfanden, um den Wildwuchs von Wind-
krafträdern in den schönsten Teilen Deutschlands zu stop-
pen. Wir wollen erreichen, dass nur mit vernünftiger Pla-
nung, unter Abwägung von Grundsätzen entschieden
wird, nämlich „die natürlichen Lebensgrundlagen für die
zukünftigen Generationen zu erhalten“, und das in der Re-
gel bei den entsprechenden Landschaften nicht durch Ver-
schandelung, sondern durch Erhaltung der Unberührtheit
der Landschaft.
Auf der einen Seite kann dort, wo der Wind ständig und
stark weht, durch Windkrafträder Energie erzeugt werden,
die auch sinnvoll in die Netze einspeisbar ist, auf der an-
deren Seite stehen die so genannten windarmen Gebiete –
oft in landschaftlich reizvollen Gegenden, die der Erho-
lungsfunktion der Bevölkerung, dem Gleichgewicht der
Natur sowie der Flora und Fauna dienen, die nunmehr
auch für Windenergie genutzt werden sollen.
Durch mächtige Befürworter der Windenergie ist eine
gigantische Industrie daraus geworden, die sich rühmt,
Millionen Tonnen von Stahl zu verbrauchen – zweite
Stelle nach der Automobilbranche – und Arbeitsplätze zu
schaffen und die den Landschaftsverbrauch und die Ein-
schränkung der Erholungsfunktion sowie die Gefährdung
der Tierwelt und der Umwelt als gering einschätzt, ge-
genüber dem wirtschaftlichen, ökonomischen und ökolo-
gischen Wert von Windkraftanlagen.
Profitstreben ist auch nichts Negatives, wenn andere
nicht beeinträchtigt werden. Aber um in den windarmen
Gegenden von West-, Mittel- und Süddeutschland Ener-
gie zu einigermaßen vernünftigen ökonomischen Bedin-
gungen zu erzeugen, müssen die geplanten Windkraft-
anlagen zu „Riesenwindkraftanlagen“ mutieren, die
immer höher und immer größer werden und dadurch wird
die Beeinträchtigung der Landschaft unerträglich.
So wird unumwunden von den Herstellern von Wind-
krafträdern mitgeteilt, dass wenn die Nabenhöhe auf
50 oder 60 Meter beschränkt würde – damit eine Gesamt-
höhe von 100 Metern erreicht würde – die Erzeugung von
Strom aus Windkraft in windarmen Gegenden uninteres-
sant sei. Deswegen sind die meisten neuen Windkraftan-
lagen mit 100 oder 130 Metern Nabenhöhe, teilweise
schon 160 Metern Nabenhöhe und damit Gesamthöhen
von 130 bis 200 Metern geplant. Sie sind dadurch zum
Teil wesentlich höher als der Kölner Dom – 157 Meter –
und das Ulmer Münster – 161 Meter – und werden – nach
dem Willen der Hersteller und Betreiber – in Zehntausen-
den von Exemplaren quer über die Republik verteilt. Hier
stimmt etwas nicht und dem wollen wir entgegenarbeiten.
Bei der Verabschiedung der Änderung des § 35 Bun-
desbaugesetzes wurde die Privilegierung unter anderem
von Windkrafträdern aufgenommen, dabei aber deutlich
in § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB die Gemeinden bzw. Pla-
nungs- oder Regionalgemeinschaften ermächtigt, Stand-
orte von Windenergieanlagen restriktiv zu steuern, indem
in Flächennutzungsplänen, Bebauungsplänen oder auch
Regionalplänen geeignete Standorte positiv festgelegt
werden. Damit konnten andere Flächen ausgeschlossen
werden, eine Ausnahme von der regelmäßigen Aus-
schlusswirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB könnte nur
bei Vorliegen besonderer Umstände zu bejahen sein.
Über die Auslegung dieser regelmäßigen Ausschluss-
wirkung gab es die verschiedensten verwaltungsrechtli-
chen, aber auch juristische Meinungen, die zu den unter-
schiedlichsten Entscheidungen führten.
In den windarmen Gegenden Mittel- und Süddeutsch-
lands wurden in der Regel keine „geeigneten Standorte“
ausgewiesen, weil bis zum Jahre 2000 nur wenige auf die
Idee kamen, dort Windkrafträder zu errichten. Zu diesem
Zeitpunkt war klar, dass Windkrafträder nur dort geplant
werden können, wo der Wind im Durchschnitt sechs Me-
ter pro Sekunde nicht unterschreitet. Erst mit dem neuen
Einspeisungsgesetz der rot-grünen Regierung im Jahre
2000 wurden auch diese Standorte, durch besondere lang-
fristige Garantien, lukrativ und die großen norddeutschen
Windkraftunternehmen stürzten sich auf die Räume, die
noch keine Vorzugszonen ausgewiesen hatten, um dort
Windkrafträder aufzustellen. Alleine in Baden-Württem-
berg liegen, nach einer überschlägigen Schätzung, circa
2000 Anträge vor.
Weil es bei den Entscheidungen, die zum Teil noch
nicht rechtskräftig sind, immer wieder um die Frage von
Regel und Ausnahme geht, haben die Gesetzesinitiatoren
die Änderung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB vorgeschla-
gen, wonach bei Windkraftanlagen das ,,Regel-Aus-
nahme-Verhältnis“ aufgehoben wird und ausgewiesene
Vorranggebiete einen Ausschluss von andern Windkraft-
anlagen, auch Einzelanlagen, bedeuteten. Diese, vom Ge-
setzgeber schon 1996 gewollte Stellung der kommunalen
Entscheidungsträger, wird dadurch verdeutlicht und klar-
gestellt.
So hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-West-
falen im November 2001, bei der Frage von Vorzugs-
gebieten bereits entschieden:
Gemeinden haben bei dieser Ausweisung keine beson-
dere Pflicht zur Förderung der Windenergie, sie sind
auch nicht verpflichtet einen wirtschaftlich optimalen
Ertrag der Windenergienutzung sicher zu stellen.
Das bedeutet insbesondere, dass die Gemeinden oder
die Kommunalen Entscheidungsträger nicht verpflichtet
sind, gigantische Windkrafträder – in der Größenordnung
von über 100 bis 200 Metern – zuzulassen weil nur in die-
ser Höhe wirtschaftlich aus Wind Energie gewonnen wer-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224846
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den kann, wenn dadurch Landschaften großflächig in der
Eigenart ihrer Schönheit und ihrer Erholungsfunktion be-
einträchtigt werden.
Die Beeinträchtigung von Menschen durch Geräusche,
Windschatten und die optische, psychische Beeinträchti-
gung durch sich dauernd drehende Flügel und bei Höhen
ab 100 Metern in der Regel notwendige nächtliche Be-
leuchtung, sind noch viel zu wenig untersucht worden. So
urteilen die Gerichte unterschiedlich über Ortsabstands-
grenzen zwischen 300 und 500 Metern. Nach Erkenntnis-
sen von Arbeitsmedizinern müssten diese mindestens auf
1 000 Meter festgelegt werden. Dabei spielt die Haupt-
windrichtung insbesondere in bevölkerungsarmen, ländli-
chen Gebieten eine Rolle, weil es dort keinen Geräusch-
pegel wie am Rande von Autobahnen, Städten oder
Industriegebieten gibt.
Gerade also dort, in den ruhigen und unberührten Ge-
genden, wollen die Windkraftradbetreiber ihre Anlagen
aufbauen, weil sie glauben, dort am wenigsten Rücksicht
auf die dort lebenden Menschen und die Abstände zu Ge-
meinden, Dörfern und Wäldern nehmen zu müssen. Der
ökonomische Nutzen für Erbauer und Betreiber liegt in
den hohen direkten und indirekten Subventionen, insbe-
sondere in dem hohen garantierten Abnahmepreis, den der
Bürger direkt als Verbraucher von Energie bezahlt.
Dabei ist der ökologische Nutzen vom Windstrom
höchst umstritten, weil in Deutschland nicht ein einziges
Atomkraftwerk, nicht ein einziges Kohlekraftwerk oder
sonstiges Energiekraftwerk und nicht ein einziger von den
rund 300 000 häßlichen Strommasten abgebaut bzw. still-
gelegt oder abgeschaltet werden kann, selbst wenn die
utopische Zahl von 50 000 Windkrafträdern – derzeit sind
es 11 000 – oder die Träume von Herrn Scheerer mit
166 000 Windkrafträdern wahr werden, denn „der Wind
weht wann er will und nicht wenn der Strom gebraucht
wird“!
Eine naive Begründung ist, man würde dadurch Atom-
kraftwerke oder Kohlekraftwerke stilllegen können, weil
man ja durch den Verbund mit anderen Ländern notfalls
von dort Strom bekomme. Dies ist schon ein Hohn für je-
den denkenden Menschen, weil uns zugemutet wird, in
Deutschland bei Windstille den billigen Atomstrom aus
Frankreich oder sonstwoher zu beziehen. Die politischen
Grenzen der Länder sind keine Grenzen der Luft und auch
nicht der Atmosphäre.
Der Verbrauch an Land, die Versiegelung oder Schot-
terung von Zehntausenden von Kilometern Wegen, Hun-
derttausenden von Kilometern Leitungen, die in den Bo-
den getrieben werden, um den Strom marktgerecht
anbieten zu können, die Hunderttausende von Tonnen Ei-
senbeton, die für die Stabilität von Windkrafträdern, ins-
besondere „Riesenwindkrafträdern“ aufgewendet werden
müssen und die Millionen Tonnen von Stahl, die zur Er-
richtung benötigt werden, werden alle nicht umwelt-
freundlich erzeugt.
Bei rund 400 Tonnen Stahl pro Anlage – und der Ver-
brauch wird steigen, je größer die Anlagen werden – sind
für die bestehenden 11 000 Anlagen rund 4 Millionen
Tonnen Stahl erzeugt und verbraucht worden. Bei weite-
ren geplanten 50 000 Anlagen wären es bereits 20 Millio-
nen Tonnen Stahl. Hier darf man mit Fug und Recht fra-
gen, ob die Ökobilanz noch stimmt.
Auch die Auswirkung auf den Arbeitsmarkt ist nicht
messbar, denn die angeblich 30 000 Arbeitsplätze, die
durch Windkraftenergieanlagenbau gesichert werden,
sind laut Wirtschaftsministerium eine Mogelpackung. Bei
direkten oder indirekten Subvention von 3 Milliarden
Euro pro Jahr – laut Wirtschaftsministerium – könnte man
ohne weiteres 100 000 Menschen mit 30 000 Euro jähr-
lich beschäftigen, die sich mit anderen sinnvollen öko-
logischen Energieträgern, wie zum Beispiel Biomasse,
Solartechnik, Wasserkraft und Brennstoffzellen beschäf-
tigen. Dänemark, das viel gepriesene Vorreiterland, hat
bereits einen Schlussstrich unter Windenergie gezogen.
Dort werden praktisch keine neuen Windkraftanlagen
mehr gebaut.
Ein sehr emotional ausgetragener Streitpunkt ist auch
der Schutz von Tieren, insbesondere Vögeln. Niemand
will mehr verantwortlich sein für das Zitat in der „Welt am
Sonntag“, 10. Februar 2002, in dem festgestellt wird, dass
Naturschützer den Tod von bis zu 500 000 Vögeln jähr-
lich bei den vorhandenen 11 000 Windkraftanlagen schät-
zen, die zu gigantischen Zahlen bei weiteren 50 000
Windkraftanlagen führen würde. Es darf aber auch nicht
nur auf die Zahl ankommen, sondern die Sache als solche,
dass wir ohne Not, um angeblich die Natur zu schützen,
andere auch durch das Grundgesetz geschützte Tiere wie
Vögel in großem Umfang gefährden.
Windkraftanlagenerbauer und Betreiber laufen Sturm
gegen diese Behauptung und insbesondere die Forderung,
Windkrafträder mit Schutzgittern zu versehen. Dies ist
natürlich technisch möglich, aber teuer, und deswegen ist
der Protest der Interessierten verständlich.
Diesen Streit sollen die Naturschützer und Tierschützer
mit den Herstellern und Betreibern von Anlagen austra-
gen, weil es darum in dieser Initiative nicht geht.
Wir wollen erreichen, dass die Kommunen wieder die
Planungshoheit zurückgewinnen und gegebenenfalls
auch mutig genug sein können, festzustellen, dass in
ihrem Gebiet aus verschiedenen, aber natürlich stichhal-
tigen Gründen, überhaupt keine Windkraftanlagen mög-
lich sind oder sie auf bestimmte Gebiete zu beschränken
sind. Dabei ist Ziel unserer Initiative, dass den Kommu-
nen nicht mit der Argumentation der Wirtschaftlichkeit
Riesenwindkraftanlagen als „Privilegiertes Muss“ auf-
oktroyiert werden. Es gibt gute und stichhaltige Gründe,
insbesondere die Einsehbarkeit auf Höhen oder großen
Ebenen, dass die Windkrafträder auf 50 Meter Nabenhöhe
beschränkt werden.
Die Kommunen sind nicht verpflichtet, um nochmals
das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen zu zi-
tieren, für die Wirtschaftlichkeit der Windkraftbetreiber
zu sorgen.
Um den Kommunen die nötige Planungszeit und Si-
cherheit zu gewähren, schlagen wir vor § 245 b BauGB
insoweit zu ändern, dass Anträge für Windkraftanlagen
bis Dezember 2003 zurückgestellt werden können. Bis
dahin gibt es sicher auch neue Erkenntnisse über Immis-
sions- und Emissionsbeeinträchtigungen und über die
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Frage der Gefährlichkeit von Windkraftanlagen. Dabei
sollte berücksichtigt werden, dass neben Bränden von
Windkraftanlagen, Abknicken durch Sturmwindschleu-
dern von Eisenteilen und Abschleudern von Eisteilen bei
Frost eine relativ große Gefährdung für Menschen aus-
geht, sodass auch hier größere Abstände zu Straßen und
begehbaren Wegen gefordert werden müssen. Völlig un-
verständlich ist, dass diese Riesenwindkraftanlagen mit
400 bis 600 Tonnen Stahl, in Höhen bis zu 200 Metern,
nicht regelmäßig einer TÜV-Prüfung unterworfen sind,
wenn sie denn nach dem Willen der Hersteller und Be-
treiber über Jahrzehnte genutzt werden sollen. Auch hier
sollte der Gesetzgeber eingreifen.
Ich selbst hege große Sympathien für Vorschläge aus
den Reihen der CDU, aber auch insbesondere der FDPaus
Nordrhein-Westfalen, die generelle Privilegierung in § 35
Abs. 1 Ziffer b BauGB für Windkraftanlagen abzuschaf-
fen und diese Anlagen einer Einzelprüfung zu unterwer-
fen. Wir wollen mit der Initiative versuchen, mit einem
geringeren Eingriff, vernünftige Zustände in der Bundes-
republik Deutschland herzustellen, sodass der Schritt der
Aufhebung der Privilegierung erst dann gegangen werden
müsste, wenn weiterhin die Planungshoheit der Gemein-
den, in Bezug auf die Windkrafträder, eingeschränkt wird.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Windkraftanlagen
gehören dorthin, wo der Wind so weht, dass eine Wind-
kraftanlage ohne hohe Subventionen rentabel arbeiten
kann. Die so eingesparten Subventionen für ungünstige
Standorte, sollten als Zuschüsse für die Erzeugung von
Bioenergie, Wärmekraftkopplungsanlagen, Solaranlagen,
Wasserenergie und insbesondere die Entwicklung von
Brennstoffzellen sinnvoll ausgegeben werden.
Dann könnten wir unserem Ziel, eine Verbesserung der
regenerativen Energien, die dann Strom oder Wärme er-
zeugen, wenn man sie braucht, näher kommen und wür-
den Menschen und Tiere, Landschaft und Umwelt scho-
nen und den größeren Dienst erweisen.
Mit diesen Ausführungen verabschiede ich mich nach
zwölfjähriger Zugehörigkeit vom Deutschen Bundestag.
Ich war gerne und leidenschaftlich Abgeordneter und be-
danke mich für Entmutigung und Ermutigung bei den
Kollegen aus verschiedenen Fraktionen. Mein Dank gilt
aber insbesondere der Unterstützung durch meine eigenen
Mitarbeiter, den Mitarbeitern der Arbeitsgruppen, der
Fraktion und des Deutschen Bundestages insgesamt. Ich
wünsche den Mitgliedern des 15. Deutschen Bundestages
eine glückliche Hand für die Zukunft Deutschlands.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN):
Die Förderung der erneuerbaren Energien ist einer der Er-
folge der rot-grünen Bundesregierung. Gerade die Wind-
energie hat einen sehr großen Anteil daran. Das werden
auch Sie mit Ihrer energiepolitisch rückschrittlichen
Sichtweise nicht übersehen können.
In Ihrem Antrag verdrehen Sie die Fakten gründlich. Es
ging 1995 in der Neufassung des § 35 des Baugesetzbu-
ches nicht um eine grundsätzliche Privilegierung der
Windenergie, sondern um die Gleichbehandlung der er-
neuerbaren Energien mit anderen Elektrizitätsformen.
Davor waren fossile und atomare Stromerzeugungsanla-
gen privilegiert, umweltfreundliche und emissionsfreie
Erneuerbare-Energie-Anlagen jedoch nicht. Dieser wi-
dersinnige Umstand wurde damals korrigiert.
Sie machen sich in Ihrem Antrag zum Fürsprecher für
die Gemeinden, die angeblich unter den Windkraftanla-
gen leiden. Dabei lassen Sie aber völlig außer Acht, wel-
che Möglichkeiten vorhanden sind, um den Ausbau der
Windenergie voranzutreiben, ohne dass es vor Ort zu
Spannungen kommt. Der wichtigste Grundsatz ist immer
gewesen, dass die Gemeinden vor Ort am besten wissen,
wo sie Windenergieanlagen aufstellen sollten. Die Grund-
lage einer Standortentscheidung ist immer die Eignung
des Gebietes hinsichtlich des Windes, der Umwelt und der
Anwohner. Und genau für diesen Abwägungsprozess bie-
tet der existierende § 35 des Baugesetzbuches eine her-
vorragende Grundlage. Kommunen können Vorrangge-
biete ausweisen, auf denen Windenergieanlagen errichtet
werden können. Dadurch gibt es eine Konzentration der
Windenergieanlagen auf einen geeigneten Standort. Wenn
solche Vorranggebiete ausgewiesen sind, können in den
übrigen Gebieten Anträge auf Baugenehmigung von
Windkraftanlagen mit Verweis auf eben diese Vorrangge-
biete abgelehnt werden. Es bleibt in der Entscheidung der
Kommune, ob sie diese Möglichkeit nutzen oder nicht.
Das ist ein funktionierendes Planungsinstrument, an dem
nicht ohne Not herumgepfuscht werden sollte.
Besonders ärgert mich an Ihrem Antrag, dass Sie wie-
der mit dem altmodischen Argument der „Verspargelung
der Landschaft“ hausieren gehen. Sie haben sich anschei-
nend immer noch keine Gedanken darüber gemacht, dass
circa 12 000 Windkraftanlagen etwa 250 000 Hochspan-
nungsmasten gegenüberstehen. Eine fortschrittliche
Energiepolitik mit dezentraler Energieerzeugung führt
auch zu einer Verringerung der Zahl der Hochspannungs-
masten. Und außerdem tun Sie so, als wäre die Alterna-
tive zur Windenergie die freie unberührte Natur. Das ist
falsch. Die Alternative zur Windenergie sind Braunkohle-
tagebaue, die quadratkilometerweise die Landschaft zer-
stören, sind Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke. Das
bedeutet nicht nur Flächenverbrauch sondern auch Emis-
sionen und strahlenden Abfall. Dieses Bild sollten Sie sich
vor Augen halten, wenn Sie über Windenergie reden.
Wir haben in dieser Legislaturperiode einen beispiello-
sen Boom der erneuerbaren Energien angestoßen. Mit un-
serer breit angelegten Förderung von Wind, Sonne, Bio-
masse, Wasser und Erdwärme haben wir einen breiten
Ansatz, der noch viel Entwicklungspotenzial hat. Wir ha-
ben mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz ein Förderin-
strument, das Vorbild für die Förderung erneuerbarer Ener-
gien auf der ganzen Welt ist. Unsere Förderprogramme wie
das Marktanreizprogramm und das 100 000-Dächer-Pro-
gramm haben ein Vielfaches an Mittelausstattung vergli-
chen mit den Förderprogrammen der alten Bundesregie-
rung. Bis heute sind etwa 120 000 Arbeitsplätze angesichts
der erneuerbaren Energien entstanden.
Auch unsere Bilanz der letzten Wochen kann sich se-
hen lassen: Wir haben den Deckel für Photovoltalik im Er-
neuerbare-Energien-Gesetz auf 1 000 MW angehoben.
Damit besteht jetzt Planungssicherheit für die Errichtung
von Photovoltaikfabriken und damit auch Planungssi-
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cherheit für neue Arbeitsplätze. Jetzt sind alle Biotreib-
stoffe von der Steuer befreit. Mit der neuen Regelung wird
die bisherige Steuerbefreiung von Pflanzenölen wie zum
Beispiel Biodiesel auf alle biologische Treibstoffe ausge-
dehnt. Dies betrifft unter anderem Biogas sowie syntheti-
sches Benzin und Diesel aus fester Biomasse, Bioethanol,
Biomethanol und Wasserstoff aus Biomasse. Das Bun-
deskabinett hat beschlossen, die Fördermittel für das
Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien für 2003
um 30 Millionen Euro auf 230 Millionen Euro aufzu-
stocken.
Wenn ich mir neben diesen Erfolgsmeldungen Ihren
Antrag anschaue, kommt mir noch eine Bürgeranfrage in
den Sinn, die ähnlich weit daneben lag. Dort wurde nach
dem Einfluss von Windkraftanlagen auf die Erdrotation
gefragt.
Marita Sehn (FDP): Ein Kampf gegen Windmühlen
ist nicht zu gewinnen. Das ist historisch belegt und es gibt
in diesem Hohen Hause wohl auch keine Ritter von einer
traurigen Gestalt, die einen solchen Kampf aufnehmen
wollen.
Es geht nicht um ein Ja oder Nein zur Windenergie,
sondern es geht darum, wie der Ausbau der Windenergie
natur- und umweltverträglich erfolgen kann. Genau die-
ses ist das Ziel des vorliegenden Antrages.
Die massive Förderung von Windenergieanlagen hat in
vielen Regionen zu regelrechten Mikadolandschaften ge-
führt. Auch im Hunsrück, in der Eifel und in der Region
Trier ist die Landschaft mittlerweile gespickt von Wind-
rädern. Die anfängliche Begeisterung für die Windenergie
ist längst einer Ernüchterung gewichen. Die Gemeinden
und Kommunen sind gespalten in Befürworter und Geg-
ner dieser Form der Energiegewinnung. Der Widerstand
gegen den hemmungslosen Ausbau der Windenergie auf
Kosten der Natur, auf Kosten der Landschaft und der
Menschen wächst. Das EEG hat sich zu einem ökologi-
schen Rohrkrepierer entwickelt.
Die überzogene Förderung der Windenergie führt
dazu, dass Betreiber von Windkraftanlagen mittlerweile
bereit sind, fast jeden Preis für neue Standorte zu zahlen.
Kann es Sinn und Zweck einer nachhaltigen Energiepoli-
tik sein, aus kurzfristigen ökonomischen Überlegungen
heraus langfristig die Landschaft und den Naturhaushalt
zu zerstören?
Wir reden heute nicht mehr von kleinen Windmühlen,
sondern von riesigen Windkraftanlagen mit einer Höhe von
über 200 Meter. Damit wird jede Form der Landschaftspla-
nung ad absurdum geführt. In weiten Teilen Deutschlands
ist ein weiterer Ausbau der Windenergie nicht mehr ver-
tretbar. Das ungehemmte Windmühlenwuchern führt zu ei-
nem zunehmenden Widerstand und Widerwillen gegen die
Windenergie in der Bevölkerung. Er richtet sich gegen die
Verschandelung der Landschaft, die Lärmbelästigung und
den Schattenwurf. Die Windenergie hat in großem Maße an
Akzeptanz und Sympathie verloren.
Unsere Bürgerinnen und Bürger sind nicht gegen die
Windenergie, aber sie sind gegen den Wildwuchs und den
ungehemmten Landschaftsverbrauch durch immer neue
Windkraftanlagen. Wir sollten deshalb alles in unserer
Macht Stehende tun, dass der Ausbau der Windenergie na-
tur- und landschaftsverträglich erfolgt.
Die Energiewende hat die rot-grüne Bundesregierung
in eine ideologische Sackgasse geführt: auf der einen
Seite das Bundesnaturschutzgesetz und die Forderung
nach Erhalt und Schutz von Natur und Landschaft um ih-
rer selbst willen, auf der anderen Seite die Förderung ei-
nes ungehemmten Windräderwachstums. Hier hat sich die
grün-rote Katze ganz fest in den eigenen Schwanz verbis-
sen.
Windkraftanlagen gehören dorthin, wo sie am wenigs-
ten stören und am meisten nutzen. In diesem Sinne kön-
nen Off-Shore-Windparks eine interessante Alternative
sein. Der vorliegende Antrag weist in die richtige Rich-
tung. Die Planungshoheit muss bei den Kommunen und
den örtlichen Planungsbehörden bleiben; denn das heißt
im Endeffekt auch mehr Akzeptanz vor Ort. Für die Zu-
kunft der Windenergie ist die gesellschaftliche Akzeptanz
von ganz entscheidender Bedeutung. Warum sollen un-
sere Steuerzahler mit 9,1 Cent pro Kilowattstunde die
Zerstörung unserer Kulturlandschaft subventionieren?
Noch ist es an der Zeit, die Weichen in eine Richtung
für eine natur- und landschaftsverträgliche Nutzung der
Windenergie zu stellen. Eine stärkere Einbindung der
Kommunen und Gemeinden und damit der Menschen vor
Ort ist erforderlich. Damit gelingt es, mehr Akzeptanz und
damit mehr Zukunftssicherheit für die Windenergie zu er-
reichen. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie den vorlie-
genden Antrag und lassen Sie uns den Ausbau der
Windenergie natur-, landschafts- und damit auch bürger-
verträglich gestalten! Windenergie für Mensch und Natur
und nicht auf Kosten von Mensch und Natur – so sollte
unsere gemeinsame Forderung lauten.
Christine Ostrowski (PDS): 25 Abgeordnete der
CDU und der FDPwollen das Baugesetzbuch ändern und
damit die kommunalen Planungsrechte beim Bau von
Windkraftanlagen stärken. Die Kollegen haben diesen
Gesetzentwurf eingereicht, weil nach jetzigem Recht
Windkraftanlagen privilegiert und erleichtert genehmi-
gungsfähig sind: Wer Windkraftanlagen bauen will, hat
einen Rechtsanspruch auf Genehmigung. Spannend ist,
dass dieses Privileg aus dem Jahr 1996 stammt, also aus
einer Zeit, in der dieselben Abgeordneten in Regierungs-
verantwortung standen, die dieses Privileg jetzt wieder
abschaffen wollen. Aber sei es drum. Mit der Regelung
aus 1996 sollte grundsätzlich der Bau von Windkraftanla-
gen in windreichen Regionen ermöglicht werden. Mittler-
weile sind – durch neu eingeführte steuerliche Förderun-
gen – Windparks auch an Standorten errichtet, die
ursprünglich nicht angedacht waren.
Ziel des Gesetzentwurfes ist es, die Entscheidungsfrei-
heit von Kommunen in Hinblick auf die Standorte von
Windkraftanlagen zu sichern und zu stärken. Dabei er-
kennen die Einreicher die Notwendigkeit der Förderung
erneuerbarer Energien an, allerdings nur, solange die In-
teressen der Gemeinden gewahrt bleiben und negative
Faktoren wie Beeinträchtigung des Landschafts- und
Ortsbildes, Lärmbelästigung, Schattenwurf und Sonnen-
reflektion nicht überwiegen bzw. eingedämmt werden.
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Ein „Wildwuchs“ von Windkraftanlangen soll vermie-
den werde.
Im Einzelnen geht es um folgende Änderungen:
Erstens. Beim Bauen im Außenbereich, speziell bei
Windkraftanlagen, soll neu geregelt werden, dass Wind-
kraftanlagen öffentlichen Belangen nicht nur in der Regel,
sondern generell entgegenstehen, wenn im Flächennut-
zungsplan oder in Raumordnungszielen der Gemeinde
bereits eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt oder
vorgeschlagen ist.
Zweitens. Bei den Überleitungsvorschriften für Vorha-
ben im Außenbereich, speziell für Windkraftanlagen, soll
die Frist für die Gemeinden, eine Entscheidung über die
Zulässigkeit von Windkraftanlagen auszusetzen, von
1998 auf 2003 verlängert werden, wenn die Gemeinde be-
schlossen hat, einen Flächennutzungsplan aufzustellen,
zu ändern oder zu prüfen, bzw. wenn die Raumordnungs-
behörde eine Änderung der Aufstellung, Änderung oder
Ergänzung von Zielen der Raumordnung zu Windener-
gieanlagen eingeleitet hat.
Aber andererseits stellt der Deutsche Städtetag in sei-
ner Stellungnahme vom April 2002 fest, dass die pla-
nungsrechtlichen Steuerungsmöglichkeiten für die Ge-
meinden ausreichen; sie müssten von den Gemeinden nur
konsequent angewendet werden. Der Städtetag verweist
auf den so genannten Planvorbehalt, mit dem die Ge-
meinden Vorranggebiete oder Auschlussgebiete für die
Windkraftanlagen ausweisen können. Die Gemeinden
sollten sich bemühen, ein schlüssiges Planungskonzept
zur Ausweisung bzw. Nichtzulässigkeit von Windkraftan-
lagen rechtzeitig zu erarbeiten, und mit den Nachbarge-
meinden abzustimmen. Darüber hinaus böten Baunut-
zungsverordnungen und Bauordnungen der Länder
ausreichend Spielraum, über Größe, Höhe und Abstands-
kriterien von WKAzu bebauten Gebieten zu entscheiden.
Die angestrebte Gesetzesänderung konkretisiert je-
doch „in der Rangfolge“. Sie stellt richtigerweise die
Raumordnung und den Flächennutzungsplan als überge-
ordnetes Ziel voran, dem auch der Bau von Windkraftan-
lagen untergeordnet werden soll. Windkraftanlagen wer-
den damit nicht verhindert. Aber der übergreifende
Aspekt von Raumordnung und Flächennutzung wird ge-
stärkt.
Raumordnung und Flächennutzungsplan als überge-
ordnete Ziele wurden und werden, wie die Praxis zeigt, oft
genug vergewaltigt, besonders wenn es um Ansiedlungen
von Unternehmen, um den Bau von Gewerbeparks und
Einkaufszentren, den Bau von Eigenheimsiedlungen geht.
Wenn Investoren winken und die Gemeinde glaubt, einen
Vorteil im ökonomischen Wettbewerb zu erzielen, werden
in der Regel Flächennutzungspläne im Handumdrehen
geändert, wird an Raumordnung nicht mehr gedacht.
Dieser reale Zustand hat Sie, die Sie plötzlich auf die
übergeordneten raumordnerischen Ziele hinsichtlich des
Baus von Windkraftanlagen bestehen, weder in ihrer Re-
gierungszeit besonders beunruhigt, noch beunruhigt es
Sie es jetzt.
Mich beunruhigt es aber. So gern ich ihren vernünftig
scheinenden Gesetzesänderungen zustimmen möchte, es
macht mich stutzig, dass Sie die gleiche Sorge bei ande-
ren großen Bauvorhaben nicht äußern, die Sie haben,
wenn Bauvorhaben in die Stadtplanung, die Flächennut-
zung, die Umwelt und Raumordnung in gleich störendem
Maß oder in größer störendem Maße eingreifen als die
Windkraftanlagen.
Und so bleibt ein leicht bitterer Beigeschmack. Ob es
Ihnen nicht doch nur darum geht, Rot-Grün eins auszuwi-
schen?
Doch es ist ja erst die erste Lesung, wir müssen noch
nicht entscheiden. Ich freue mich auf die fachpolitische
Diskussion in den Ausschüssen. Da werde ich ja sehen, ob
Ihnen die übergeordneten Ziel der Raumordnung und der
Flächennutzung wirklich so viel wert sind, wie Sie uns
hier mit diesem Gesetzentwurf glauben machen wollen.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einrichtung eines Registers über unzuverlässige
Unternehmen (Tagesordnungspunkt 12)
Klaus Wiesehügel (SPD): Würde es die Opposition
insbesondere von CDU/CSU und FDP in diesem Hause
ernst meinen mit der Bekämpfung illegaler Beschäftigung
und Schwarzarbeit, mit einem der Hauptprobleme, unter
dem vor allem die Baubranche seit Jahren leidet, dann
könnten wir uns diese heutige Debatte wahrlich sparen.
Diese Regierung hat der illegalen Beschäftigung und
Schwarzarbeit von Anfang an den Kampf angesagt. Das
ist ein Problem, das über Jahre von der heutigen Opposi-
tion verschleppt und durch ihre damalige Politik ver-
schärft wurde. Und nun, wo wir die Hausaufgaben ge-
macht haben, stellt sich die Opposition ein weiteres Mal
hin und blockiert, – dazu noch untereinander uneins – zen-
trale Gesetzesvorhaben – wie das Gesetz zur Tariftreue im
Bundesrat. Da sie dieses mehr als notwendige und über-
fällige Gesetz blockiert bringen wir das heutige Gesetz
zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Un-
ternehmen, das Bestandteil des Tariftreuegesetzes ist, als
eigenständiges Gesetz ein.
Uns allen sollte klar sein: Mit Unternehmen, die sich il-
legaler Praktiken bedienen, will und darf der Staat kein
Geschäft machen. Wem dies klar ist, der sollte mit uns ge-
meinsam dafür sorgen, dass korrupte oder in sonstiger
Weise unzuverlässige Unternehmen keine öffentlichen
Aufträge mehr bekommen. Das wollen wir mit dem Kor-
ruptionsregister erreichen.
Es ist doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit, ja
sogar geltendes Recht, dass an unzuverlässige Unterneh-
men keine öffentlichen Aufträge erteilt werden dürfen.
Gerade die öffentliche Hand hat eine besondere Vorbild-
funktion. Leider ist es aber so, dass aufgrund der Vielzahl
von Stellen in Deutschland, die öffentliche Aufträge ver-
geben – dies sind circa 35 000 –, die Bekämpfung illega-
ler Beschäftigung an dieser Stelle nicht effektiv genug ist
und hier eine erhebliche Schwachstelle besteht. Diesem
Missstand müssen wir ein Ende machen.
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Durch die Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbs-
beschränkungen werden wir gewährleisten, dass öffentli-
che Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
Kenntnis über die Zuverlässigkeit der Unternehmen er-
langen. Ziel ist es, dass an unzuverlässige Unternehmen
keine öffentlichen Aufträge erteilt werden dürfen. Unter-
nehmen, denen schwere Verfehlungen – wie beispiels-
weise Korruption, illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit
oder Verstöße gegen die Tariftreueregelung – nachgewie-
sen werden können, werden in dieses Register aufgenom-
men und können dann von der Vergabe öffentlicher Auf-
träge ausgeschlossen werden.
Das Gesetz wird zwei ganz wesentliche Folgen haben.
Erstens. Wir bekommen mit der Einrichtung des Registers
unzuverlässige Unternehmen mehr Transparenz in das öf-
fentliche Auftragsverfahren. Das ist für alle Beteiligten
von Vorteil. Zweitens. Wir werden eine erhebliche Ab-
schreckungswirkung auf Unternehmen erzielen, die sich
illegaler Praktiken bedienen.
Ich fordere Sie deshalb nachdrücklich auf, Sorge dafür
zu tragen, dass in Zukunft mit Unternehmen, die sich ille-
galer Praktiken bedienen, keine Geschäfte der öffentli-
chen Hand gemacht werden. Leisten Sie auch ihren Bei-
trag zur wirksamen Bekämfpung von Korruption und
illegaler Beschäftigung. Machen Sie mit. Sorgen Sie für
Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt und dafür, dass
gute Jobs besser geschützt werden. Stimmen Sie dem heu-
tigen Gesetzentwurf zu.
Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Koalition bringt ein eigenständiges Gesetz
über ein Korruptionsregister auf den Weg. Die Schaffung
eines Registers über unzuverlässige Unternehmen wird
von der Union blockiert. Unternehmen, die der Beste-
chung überführt worden sind, sollen darin erfasst werden,
damit sie von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen wer-
den können. Diese Regelung ist Teil des Tariftreuegeset-
zes, das von der Union im Bundesrat blockiert wird.
Wir hatten auf eine Einigung zum Tariftreuegesetz
im Vermittlungsausschuss gehofft – eine Regelung, die
die Interessen Ostdeutschlands berücksichtigt. Leider
blockieren FDP und Union hier – obwohl viele unionsge-
führte Länder selbst Tariftreuegesetze haben. Bayern
hatte im Dezember 2000 eine entsprechende Bundesrats-
initiative gestartet. Jetzt ist Bayern dagegen. Das verstehe
wer will. In vielen – auch unionsgeführten – Ländern be-
stehen bereits Korruptionsregister dennoch sprechen
Union und FDP sich gegen unser Gesetzesvorhaben aus.
Offensichtlich haben Union und FDP kein Interesse da-
ran, wirksame Instrumente zur Korruptionsbekämpfung
einzuführen – obwohl 80 Prozent der Bürgerinnen und
Bürger dies wollen, obwohl internationale Initiativen ge-
gen die Korruption wie Transperancy International unser
Gesetzesvorhaben unterstützen.
Bündnis 90/Die Grünen stehen für transparente Verfah-
ren, auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Nach dem
Gesetzentwurf wird beim Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle ein Register über unzuverlässige Unter-
nehmen eingerichtet, die von öffentlichen Auftraggebern
wegen Unzuverlässigkeit von der Vergabe öffentlicher
Aufträge ausgeschlossen worden sind. Öffentliche Auf-
traggeber werden damit in die Lage versetzt, das geltende
Vergaberecht besser anzuwenden. Sie können erfahren,
welche Unternehmen sich Korruptionsdelikten schuldig
gemacht haben, Damit können diese auf der Grundlage des
geltenden Vergaberechtes von der Auftragsvergabe ausge-
schlossen werden. Öffentliche Aufträge sind an zuverläs-
sige, fachkundige und leistungsfähige Unternehmen zu
vergeben. Wer sich der Bestechung, wettbewerbsbe-
schränkender Absprachen oder des Betruges schuldig ge-
macht hat, ist nicht zuverlässig.
Die Aufnahme in das Korruptionsregister bedeutet
nicht den automatischen Ausschluss von der Erteilung öf-
fentlicher Aufträge. Er gibt den vergebenden Stellen In-
formationen darüber, dass ein bestimmtes Unternehmen
bereits von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausge-
schlossen worden. Diese Information ermöglicht es der
vergebenden Stelle umso genauer zu prüfen, ob das Un-
ternehmen das im Vergaberecht vorgesehene Kriterium
der Zuverlässigkeit erfüllt. Die Einführung des Korrupti-
onsregisters wird einen wichtigen Beitrag zur Bekämp-
fung der Korruption in Deutschland leisten. Die überwie-
gende Mehrheit der legal arbeitenden Unternehmen
werden damit besser als bisher vor illegal arbeitenden
Konkurrenten geschützt.
Gudrun Kopp (FDP): Die rot-grüne Bundesregierung
will noch während der letzten Sitzungstage ihrer Regie-
rungsmacht ein weiteres weit reichendes Gesetz im Eil-
gang durch den Deutschen Bundestag peitschen.
Das Gesetz über die Einrichtung eines Registers über
unzuverlässige Unternehmen und die Korruptionsregis-
ter-Verordnung werfen viele rechtlich höchst brisante Fra-
gen auf, die für die Existenz von Firmen und ihre Arbeits-
plätze von entscheidender Bedeutung sein können.
Deshalb ist hier besondere Sorgfalt und intensive Bera-
tung erforderlich, um schwerwiegende Fehler zu vermei-
den. Zu einer solchen sorgfältigen Erörterung aller rele-
vanten Fragen gehört für die FDP unverzichtbar die
Einholung von Expertenrat in Form einer Anhörung. Rot-
Grün sah aber keine solche zwingende Notwendigkeit
und hätte auf eine Anhörung aus Zeitmangel gern ver-
zichtet. Besonders von der FDP kam aber Widerstand und
nicht nur die Forderung nach einer Anhörung, sondern
auch nach einem formal korrekten Beratungsverfahren.
Die Regierungsfraktionen muten nun den Ausschussmit-
gliedern und den anzuhörenden Experten zu, sich inner-
halb nur eines Werktages auf die Anhörung vorzubereiten.
Das hat es im Deutschen Bundestag noch nie zuvor gege-
ben und ist ein besonderer Ausweis von unsachgemäßer,
beinahe fahrlässiger politischer Arbeit.
Die gegenwärtigen Fassungen des Gesetzentwurfs und
des Korruptionsregisters werfen Fragen auf, die umfas-
send beantwortet werden müssen:
Die Bundesregierung muss darlegen, weshalb das an-
gepeilte Ziel nicht durch bereits vorhandene Instrumente,
nämlich das Bundeszentralregister bzw. das Gewerbezen-
tralregister, erreicht werden kann. Jede Einrichtung eines
neues Registers führt zu zusätzlicher Bürokratie, Intrans-
parenz und verlängert Entscheidungswege, was zulasten
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der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Bundesre-
publik Deutschland geht. Die rechtliche Zuverlässigkeit
der Ausschreibungsteilnehmer wird für Bauaufträge ab
5 Millionen Euro schließlich auch jetzt schon durch die
Vorlage aktueller Auszüge aus dem Bundeszentral- bzw.
Gewerbezentralregister geprüft.
Bei dem Regierungsvorhaben handelt es sich nicht um
ein reines Korruptionsregister, sondern um ein Register,
in dem nach § 2 Korruptionsregister-Verordnung alle
möglichen Verstöße aufgeführt sind, unter anderem wett-
bewerbsbeschränkende Absprachen und illegale Beschäf-
tigung. Eine Eintragung in ein Register darf es aber nur
bei rechtskräftiger Verurteilung geben. Die Vermutung ei-
ner Verfehlung kann nicht ausreichen. Das würde auch der
in unserem Rechtssystem zu Recht verankerten Un-
schuldsvermutung widersprechen.
Die Löschung aus dem Register ist ebenso wie die
Handhabung von Fällen fehlerhafter Eintragungen oder
die Möglichkeit der Beschreitung des Rechtsweges gegen
die Eintragung nicht klar geregelt. Es darf nicht im Er-
messen jedes einzelnen Vergabebeamten liegen, ob er Un-
ternehmer an einer Vergabe ausschließt. Korrekturmecha-
nismen gegenüber dem Register müssen konkret benannt
werden; der Rechtsweg gegen unberechtigte Eintragun-
gen muss sichergestellt werden. Es besteht angesichts des
weiten Ermessens öffentlicher Verwaltungen die Gefahr,
dass Anbieter aus fremden Bundesländern oder Landkrei-
sen gezielt benachteiligt werden bzw. „Heimatanbieter“
begünstigt werden.
Ein sehr großes Problem wirft auch die Übertragung
der Vorschrift auf Nachunternehmer auf. Zum einen muss
der Hauptauftragnehmer gezwungen werden, seinen
Nachunternehmer zu benennen. Zum anderen erfährt er
automatisch im Falle einer Ablehnung eines Nachunter-
nehmers, dass dieser aus Sicht der öffentlichen Verwal-
tung „unzuverlässig“ ist. Daraus ergeben sich Konflikte
mit dem Datenschutz.
Ursula Lötzer (PDS): Zunächst einmal möchte ich
feststellen: Dass wir heute erneut in erster Lesung über
das Korruptionsregister beraten, liegt an der Verweige-
rungshaltung der CDU/CSU-geführten Länder gegenüber
dem Tariftreuegesetz im Bundesrat. Der ÖPNV soll aus-
geschlossen werden. Da sollen wohl erst Dumpingzu-
stände wie auf dem Bau herbeigeführt werden, bevor Sie
über Tariftreue nachzudenken bereit sind. Da soll der re-
präsentative Tarifvertrag ausgeschlossen werden. Damit
würden Sie Dumping über die Konkurrenz von Tarifver-
trägen forcieren. Obwohl es in Bayern ein Tariftreuege-
setz gibt, lehnen Sie es jetzt im Bundesrat ab. Wir werden
in der Konsequenz im Wahlkampf deutlich machen, was
Sie für soziale Demokratie und die Lebens- und Arbeits-
bedingungen der Menschen mit dieser Haltung übrig ha-
ben. Sie verweigern den Betrieben den Schutz vor ruinö-
sem Wettbewerb und bieten den Menschen und ihren
Familien Armut trotz Arbeit. Das ist nicht auf den Bau und
den öffentlichen Personennahverkehr beschränkt. Ihre
Angriffe auf den Flächentarifvertrag im Wahlprogramm
werden alle in diese Abwärtsspirale hineinziehen.
Aber jetzt zum vorgelegten Entwurf zum Korruptions-
register. Öffentliche Auftragsvergabe ist zurzeit als
Selbstdienungsladen für Politikerinnen und Parteien im
Gespräch. Während man den Beschäftigten den sozialen
Schutz raubt, sind Unternehmen offensichtlich bei Politi-
kerinnen und Politikern freigebig. Es geht hier nicht um
die Verfehlungen Einzelner. Der Korruptionswahrneh-
mungsindex, den Transperency International jährlich er-
stellt, zeigt: In Deutschland wird immer mehr geschmiert.
Seit 1995 ist Deutschland von Platz 13 der Liste auf
Platz 20 abgestiegen, hinter Chile, Finnland und Sin-
gapur, knapp vor Botswana. Wer so laut, wie die Vertreter
der Bundesregierung nach „Good governance“ in Ent-
wicklungsländern ruft, sollte erst einmal vor der eigenen
Haustür gründlich kehren.
Korruption hebelt den Wettbewerb zwischen Unter-
nehmen aus und belastet die Kommunen und damit die
Bürgerinnen und Bürger mit hohen Kosten und Über-
schuldung. Kleine und mittelständische Unternehmen
werden oft ausgeschlossen, da ihnen die notwendigen
Mittel fehlen. Die Privatisierungswelle und Public-Pri-
vate-Partnership-Modelle sind der Nährboden, auf dem
Korruption zunehmend gedeiht. Die Konkurrenz um die
lukrativen Märkte der öffentlichen Daseinsvorsorge tobt
heftig.
Insofern sind wirksame Schritte gegen Korruption
längst überfällig. In verschiedenen Bundesländern sind
bereits Korruptionsregister eingeführt. Allerdings ist de-
ren Verbindlichkeit sehr eingeschränkt. Das bundesweite
Korruptionsregister ist ein Schritt, den wir begrüßen. Es
kann nicht sein, dass eine Firma in Köln wegen Korrup-
tion auffällt und in Frankfurt oder Leipzig dann den
nächsten Auftrag mit Bestechung erhält.
Allerdings fehlt uns auch in diesem Gesetz die Ver-
bindlichkeit. Es fehlen die Sanktionen. Wir halten einen
zwingenden befristeten Ausschluss für dringend erforder-
lich. Es fehlen Maßnahmen für mehr Transparenz in der
öffentlichen Auftragsvergabe und im Hinblick auf das Re-
gister. Auch Unternehmen müssen durch regelmäßige öf-
fentliche Auskunft über Beraterverträge und Spenden in
die Korruptionsbekämpfung einbezogen werden.
Wiedergewinnung von Akzeptanz setzt entschlossenes
Handeln gegenüber Korruption voraus. Deshalb fordere
ich Sie auf, in diesem Sinne nachzubessern. Die An-
hörung nächste Woche wird Ihnen das sicherlich erleich-
tern.
Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie: Ihnen liegt
heute der Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung eines
Registers über unzuverlässige Unternehmen in erster Le-
sung vor. Wenn Ihnen die Vorschriften bereits bekannt
vorkommen, so ist das kein Zufall. Die vorgeschlagenen
Regelungen zur Schaffung einer Ermächtigungsgrund-
lage für ein Korruptionsregister haben Bundesregierung
und Regierungsfraktionen schon einmal – zusammen mit
dem Tariftreuegesetz – eingebracht. Leider scheitert das
Tariftreuegesetz im Bundesrat an den unionsregierten
Ländern. Der Widerstand dieser Länder richtet sich aber
allein gegen das Tariftreuegesetz. Gegen die Vorschläge
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 200224852
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 245. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 27. Juni 2002 24853
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zum Korruptionsregister sind noch keine Bedenken vor-
gebracht worden. Da eine entschlossene Korruptions-
bekämpfung dieser Bundesregierung ein besonderes
Anliegen ist, bringen wir die Vorschläge zum Kor-
ruptionsregister nun noch einmal – ohne die Bestimmun-
gen zum Tariftreuegesetz – ein. Lassen Sie mich – auch
wenn das heute eigentlich nicht das Thema ist – doch zwei
Worte zum Tariftreuegesetz sagen. Es ist bedauerlich und
den Menschen in Deutschland kaum vermittelbar, dass die
Opposition unser Bundes-Tariftreuegesetz aus wahl-
kampftaktischen Gründen stoppt, obwohl sie selbst in
Bayern, im Saarland und anderswo gute Erfahrungen da-
mit macht.
Nachdem ihr wegen ihrer eigenen Tariftreuegesetze in
der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses die Argu-
mente gegen unser Tariftreuegesetz ausgegangen sind, hat
sich die Opposition auf folgende Abwehrlinie verständigt:
„Tariftreue für den Bau ja – für den ÖPNVaber nein.“ Das
mag ihr vielleicht vordergründig aus der Patsche helfen,
da die Tariftreuegesetze Bayerns und des Saarlandes nur
für den Bau gelten. In der Sache aber leistet sie einen Of-
fenbarungseid. Warum soll etwas, was sie im Baubereich
für richtig erkannt hat, im ÖPNV denn falsch sein?
Doch nicht etwa, weil das Kind im ÖPNV – anders als
im Baubereich – noch nicht in den Brunnen gefallen ist.
Will die Opposition denn wirklich warten, bis im OPNV
Verhältnisse herrschen wie auf dem Bau?
Die Liberalisierung des ÖPNV auf EU-Ebene führt bei
Tausenden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
und ihren Familien zu Verunsicherung und Existenz-
ängsten. Ich appelliere an die Opposition: Spielen Sie
nicht mit den Ängsten der Menschen – helfen Sie uns,
dass der soziale Schutz in diesem Bereich erhalten bleibt.
Durch das Gesetz zur Einrichtung eines Korruptions-
registers wird beim Bundesamt für Wirtschaft und Aus-
fuhrkontrolle ein Register über unzuverlässige Unterneh-
men eingerichtet. Die Bundesregierung wird ermächtigt,
Einzelheiten durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
des Bundesrates zu regeln. Eine entsprechende Rechts-
verordnung wird von meinem Ministerium gerade erar-
beitet. Heute wird unser Entwurf mit den anderen Res-
sorts und den Verbänden diskutiert.
An unzuverlässige Unternehmen dürfen öffentliche
Aufträge nicht erteilt werden – das ist schon lange gelten-
des Recht. Es gibt in Deutschland aber etwa 35 000 Stel-
len, die öffentliche Aufträge vergeben: Kommunen, Kran-
kenhäuser, Stadtwerke usw. Ist ein Unternehmen bei
einem dieser öffentlichen Auftraggeber wegen schwerer
Verfehlungen aufgefallen, erfahren die anderen öffentli-
chen Auftraggeber davon oft nichts. Eine effektive
Bekämpfung illegaler Praktiken bei öffentlichen Aufträ-
gen kann deshalb bislang nicht gewährleistet werden.
Das wird jetzt anders: In dem neuen Register werden
alle Unternehmen erfasst, die wegen Korruption oder an-
derer Wirtschaftsdelikte von öffentlichen Aufträgen aus-
geschlossen worden sind. Alle öffentlichen Auftraggeber
werden so von derartigen Verstößen Kenntnis erhalten
und das betroffene Unternehmen so lange von öffentli-
chen Aufträgen ausschließen, bis es seine Zuverlässigkeit
nachweislich wiederhergestellt hat. Das Korruptionsregis-
ter wird auf diese Weise – wie die Vorbilder in einzelnen
Bundesländern zeigen – eine erhebliche Abschreckungs-
wirkung auf die Unternehmen ausüben.
Ich kenne die Stimmen, die sagen, unser Informations-
Register reiche nicht aus. Sie wollen Unternehmen, die
schwere Verfehlungen begangen haben, automatisch für
öffentliche Aufträge sperren – für mindestens drei Jahre:
Ich denke, das ginge zu weit: Wenn man einen Straßen-
baubetrieb für drei Jahre von öffentlichen Aufträgen aus-
schließt, gibt es diesen Betrieb nicht mehr. Die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer stehen auf der Straße.
Das kann aber nicht Ziel unserer Korruptionsbekämpfung
sein. Darum meine ich: Wenn ein öffentlicher Auftragge-
ber vom Register die Nachricht erhält, dass ein Unterneh-
men wegen Unzuverlässigkeit ausgeschlossen worden ist,
muss er seinerseits sorgfältig prüfen, ob die Gründe für ei-
nen Ausschluss noch fortbestehen. Nur so haben die Un-
ternehmen eine Chance, effektiv gegen schwarze Schafe
in ihren Reihen vorzugehen. Nur so verhindern wir, dass
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Fehltrit-
ten der Unternehmensführung unangemessen zu leiden
haben.
Der vorliegende Vorschlag für ein Register über unzu-
verlässige Unternehmen stellt eine ausgewogene Rege-
lung dar, die sich auf positive Erfahrungen in vielen Bun-
desländer stützen kann. Dazu gehören auch die
unionsregierten Länder Bayern, Baden-Württemberg,
Hessen und Hamburg. Die Schaffung eines entsprechen-
den Registers auf Bundesebene wird schon seit Jahren ge-
fordert: Ich erinnere nur an den Beschluss der Innenminis-
terkonferenz vom 5. Mai 2000.
Lassen Sie uns ein entschlossenes Zeichen setzen ge-
gen Korruption und Wirtschaftskriminalität. Lassen Sie
dieses Projekt nicht aus wahlkampftaktischen Gründen
scheitern.
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin