Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
24514
(C)
(D)
(A)
(B)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24515
(C)
(D)
(A)
(B)
Aigner, Ilse CDU/CSU 14.06.2002
Balt, Monika PDS 14.06.2002
Barthle, Norbert SPD 14.06.2002
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 14.06.2002
Marieluise DIE GRÜNEN
Behrendt, Wolfgang SPD 14.06.2002*
Bindig, Rudolf SPD 14.06.2002*
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 14.06.2002
Bohl, Friedrich CDU/CSU 14.06.2002
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 14.06.2002
Brüderle, Rainer FDP 14.06.2002
Bulmahn, Edelgard SPD 14.06.2002
Erler, Gernot SPD 14.06.2002
Fischer (Berlin), BÜNDNIS 90/ 14.06.2002
Andrea DIE GRÜNEN
Flach, Ulrike FDP 14.06.2002
Francke, Klaus CDU/CSU 14.06.2002
Friedrich (Altenburg), SPD 14.06.2002
Peter
Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 14.06.2002
Girisch, Georg CDU/CSU 14.06.2002
Glos, Michael CDU/CSU 14.06.2002
Gröhe, Hermann CDU/CSU 14.06.2002
Dr. Grygier, Bärbel PDS 14.06.2002
Haack (Extertal), SPD 14.06.2002
Karl-Hermann
Hampel, Manfred SPD 14.06.2002
Hartnagel, Anke SPD 14.06.2002
Helias, Siegfried CDU/CSU 14.06.2002
Hirche, Walter FDP 14.06.2002
Hofbauer, Klaus CDU/CSU 14.06.2002
Hoffmann (Wismar), SPD 14.06.2002
Iris
Dr. Hornhues, CDU/CSU 14.06.2002
Karl-Heinz
Irmer, Ulrich FDP 14.06.2002
Jelpke, Ulla PDS 14.06.2002
Jünger, Sabine PDS 14.06.2002
Kampeter, Steffen SPD 14.06.2002
Karwatzki, Irmgard CDU/CSU 14.06.2002
Kors, Eva-Maria CDU/CSU 14.06.2002
Kortmann, Karin SPD 14.06.2002
Dr. Kues, Hermann CDU/CSU 14.06.2002
Lintner, Eduard CDU/CSU 14.06.2002*
Dr. Lippelt, Helmut BÜNDNIS 90/ 14.06.2002*
DIE GRÜNEN
Lippmann, Heidi PDS 14.06.2002
Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ 14.06.2002
DIE GRÜNEN
Michelbach, Hans CDU/CSU 14.06.2002
Michels, Meinolf CDU/CSU 14.06.2002
Müller (Berlin), PDS 14.06.2002*
Manfred
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 14.06.2002
Neumann (Gotha), SPD 14.06.2002
Gerhard
Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 14.06.2002
DIE GRÜNEN
Nolte, Claudia CDU/CSU 14.06.2002
Ronsöhr, CDU/CSU 14.06.2002
Heinrich-Wilhelm
Roos, Gudrun SPD 14.06.2002
Schlee, Dietmar CDU/CSU 14.06.2002
Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 14.06.2002
Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 14.06.2002
Andreas
Schröder, Gerhard SPD 14.06.2002
Schröter, Gisela SPD 14.06.2002
Schütze (Berlin), CDU/CSU 14.06.2002
Diethard
Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 14.06.2002
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
(C)
(D)
(A)
(B)
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224516
Dr. Schwaetzer, FDP 14.06.2002
Irmgard
Seehofer, Horst CDU/CSU 14.06.2002
Dr. Stadler, Max FDP 14.06.2002
Steiger, Wolfgang CDU/CSU 14.06.2002
Thiele, Carl-Ludwig FDP 14.06.2002
Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 14.06.2002
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 14.06.2002
Dr. Westerwelle, Guido FDP 14.06.2002
Wolf, Aribert CDU/CSU 14.06.2002
Zapf, Uta SPD 14.06.2002
Zierer, Benno CDU/CSU 14.06.2002*
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur
namentlichen Abstimmung über den Antrag der
Bundesregierung über die Fortsetzung der Betei-
ligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
dem Einsatz einer internationalen Sicherheits-
unterstützungstruppe in Afghanistan auf der
Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom
20. Dezember 2001 und 1413 (2002) vom 23. Mai
2002 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
(Tagesordnungspunkt 25 a)
Die Bundeswehr ist für einen Einsatz in Afghanistan
weder ausgebildet noch ausgerüstet. Als Abgeordneter
des Deutschen Bundestages fühle ich mich durch die Bun-
desregierung über die Gefahren und die Konsequenzen
dieses Einsatzes nicht ausreichend und umfassend infor-
miert. Ebenso wenig gibt es Auskunft darüber, wann die-
ser Auslandseinsatz beendet sein wird.
Mit Betroffenheit muss ich feststellen, dass Auslands-
einsätze der Bundeswehr zu einer Routineangelegenheit
werden.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Steffi
Lemke und Christian Simmert (alle BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung
über den Antrag der Bundesregierung über die
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz einer interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Af-
ghanistan auf der Grundlage der Resolutionen
1386 (2001) vom 20. Dezember 2001 und 1413
(2002) vom 23. Mai 2002 des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 25 a)
Wir stimmen dem Antrag der Bundesregierung nicht
zu. Wir können uns zwar durchaus Situationen vorstellen,
in denen politische Prozesse von UN-Truppen sinnvoll
militärisch abgesichert werden, halten aber an dieser
Stelle die Grundkonstruktion für falsch. Die Präsenz al-
lein in der Hauptstadt vermag sicherlich die Konflikte
zwischen den Warlords im Land nicht zu entschärfen.
Weit gravierender aber ist die gleichzeitige Präsenz von
UN-Schutztruppe und kämpfender Truppe im Rahmen
von „enduring freedom“ in Afghanistan. An beiden
Einsätzen sind deutsche Soldaten beteiligt. Es ist gegen-
über den UN-Truppen aus unserer Sicht nicht zu verant-
worten, sie den aus dem Kombattanten-Status resultieren-
den zusätzlichen Gefährdungen auszusetzen. Außerdem
erschwert die Fortsetzung der Kampfhandlungen auf af-
ghanischerm Boden im Rahmen von „enduring freedom“
die Realisierung des Auftrags der Friedenssicherung. Bei
dieser Abstimmung geht es zwar nicht darum, die verhee-
rende Fehlentscheidung „enduring freedom“ zu bestäti-
gen, aber durch die Parallelität der Ereignisse, die wir bei
der ersten Abstimmung über die UN-Truppe im Dezem-
ber noch für vorübergehend hielten, sind die beiden Ebe-
nen faktisch miteinander vermischt, was uns eine Zustim-
mung nicht möglich macht. Gleichzeitig findet mit dieser
Entscheidung ein weiterer Schritt zur „Enttabuisierung“
von Militär als Mittel der Politik statt; eine falsche Wei-
chenstellung für die Entwicklung einer Gesellschaft, die
nicht den Einstieg in eine neue Rüstungsspirale braucht,
sondern Engagement dafür, dass sie ziviler und demokra-
tischer wird.
Anlage 4
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Verordnung über die Entsorgung von
gewerblichen Siedlungsabfällen und von be-
stimmten Bau- und Abbruchabfällen (242. Sit-
zung, Tagesordnungspunkt 19)
Rainer Brinkmann (Detmold) (SPD): Wir sprechen
heute über eine Verodnung, auf die viele in der Abfall-
wirtschaft gewartet haben. Die Situation der Abfallwirt-
schaft hat sich im zurückliegenenden Jahrzehnt vollkom-
men gewandelt. Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre
führte vor allem die Knappheit der Beseitigungskapazitä-
ten dazu, dass die ökologischen Vorzüge der Abfallver-
wertung höher eingeschätzt wurden. Auch der Gesetzge-
ber trug dem mit Rechtsänderungen Rechnung. Mit dem
1994 beschlossenen und im Oktober 1996 in Kraft getre-
tenen Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz wurde das
frühere Abfallgesetz der neuen Philosophie angepasst und
die Verwertung von Abfällen zur allgemeinen Rechts-
pflicht erhoben. Jede Verwertung ist wirtschaftlich inte-
ressant, wenn sie weniger kostet als die Beseitigung.
Hohe Umweltstandards für die Abfallbeseitigung mit den
daraus resultierenden Kostenbelastungen steigern damit
gleichzeitig die Attraktivität der Verwertung.
Die weitaus wichtigste Rolle spielen gegenwärtig al-
lerdings die innerdeutschen Unterschiede in den Entsor-
gungspreisen. Diese beruhen darauf, dass die Anforde-
rungen der technischen Anleitung Siedlungsabfall (TASI)
bislang nur eingeschränkt beachtet werden. Auch die feh-
lende Abgrenzung zwischen Abfällen zur Beseitigung
und Abfällen zur Verwertung im geltenden Recht führt zu
erheblichen Fehlentwicklungen. Diese Entwicklungen
können grob mit den Stichworten „Scheinverwertung“
und „Mülltourismus“ beschrieben werden. Dies ist aller-
dings nur die eine Seite der Medaille. Denn neben der
ökologischen Betrachung der Ströme in der Abfallwirt-
schaft gibt es natürlich auch eine finanzielle Auswirkung.
Die Entsorgungsanlagen, die von den entsorgungspflich-
tigen Gebietkörperschaften in den letzten Jahren auf ho-
hem Umweltniveau errichtet worden sind, werden von
vielen Abfallbesitzern umgangen. Es hat sich bundesweit
ein Abfallspotmarkt entwickelt, da für die Verwertungs-
abfälle keine Andienungspflicht besteht.
Die größten Lasten dieser Fehlentwicklung tragen die
Gebührenzahlerinnen und -zahler in den privaten Haus-
halten. Die Unterschiede in der Preisgestaltung zwischen
privaten Haushaltsabfällen und gewerblichen Verwer-
tungsabfällen belaufen sich im Einzelfall bis zu einem
Verhältnis von 1:3. Im Klartext heißt dies: Abfälle aus den
privaten Haushalten sind bis zu dreimal so teuer wie Ab-
fälle aus der gewerblichen Wirtschaft. Die private Wirt-
schaft trägt aber in genau dem gleichen Maße zu den jet-
zigen und zukünftigen Kosten der Abfallwirtschaft bei
wie die privaten Haushalte. Wir stellen also eine Subven-
tionierung der gewerblichen Abfälle durch die privaten
Haushalte fest. Diese Situation ist für uns nicht hinnehm-
bar.
Auch die ökologische Seite des hier entstandenen Müll-
tourismus ist auf Dauer nicht tragbar. Abfälle zur Verwer-
tung, die aber de facto beseitigt werden, werden über
Strecken bis zu 400 km transportiert. Dies ist ökologisch
und ökonomisch unsinnig. Durch diese Entwicklung wird
auch eine ökologisch hochwertige Verwertung verhindert.
Wir hatten daher ursprünglich eine umfassende Änderung
des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes geplant, die
sich allerdings aufgrund noch ungeklärter euoparechtli-
cher Fragen bislang nicht verwirklichen ließ. Daher legen
wir ihnen nach intensiven Diskussionen mit den beteilig-
ten Kreisen die heutige Verordnung vor. Diese Verordnung
hat übrigens im Bundesrat eine breite Mehrheit gefunden.
Nach der erstmaligen Befassung des Bundestages mit die-
ser Verodnung hat der Bundesrat einige Änderungen be-
schlossen, die wir mit einer Ausnahme ausdrücklich be-
grüßen. Im Kern beinhaltet diese Verordnung nun vier
wesentliche Änderungen gegenüber der jetzigen Rechts-
lage: Erstens. Das Getrennthaltungsgebot für die verschie-
denen Abfallfraktionen wird verschärft. Zweitens. Die ver-
mischten Abfallfraktionen, die dennoch verwertet werden
sollen, gelten nur dann als Verwertungsabfälle, wenn in
den Sortieranlagen eine Verwertungsquote von mindestens
85 Prozent erreicht wird. Drittens. Jeder Gewerbebetrieb
wird in Zukunft über eine Resttonne verfügen müssen, da
in jedem Betrieb Abfälle anfallen, die nicht sinnvoll ver-
wertet werden können. Viertens. Durch eine Hausmüllde-
finition wird sichergestellt, dass der Abfall, der bei priva-
ter Lebensführung anfällt, nicht mehr als Gewerbeabfall
und Verwertungsabfall umdefiniert werden kann.
Auch wenn diese Verodnung nicht die gleiche Wirkung
wie eine Gesetzesänderung hat, erfüllt sie dennoch einige
wichtige Ziele. Sie ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie wird für die kommunalen entsorgungspflichtigen Ge-
bietskörperschaften mehr Planungs- und Rechtssicherheit
schaffen und gleichzeitig genügend Anreize für eine hoch-
wertige Verwertung sicherstellen. Die kommunalen Spit-
zenverbände und die Länderarbeitsgemeinschaft Abfall
sind derzeit bereits dabei, für die Kommunen entspre-
chende Handreichungen zu erarbeiten, damit eine Umset-
zung dieser Verordnung möglichst schnell erfolgen kann.
Dennoch werden wir in der nächsten Legislaturperiode
eine umfassende Novellierung des Kreislaufwirtschafts-
und Abfallgesetzes einbringen. Diese Novelle wird die
entsprechenden Urteile des europäischen Gerichtshofes
berücksichtigen und somit auch zu mehr Rechtssicherheit
führen. Es kann nicht angehen, dass die Mehrzahl der Ver-
tragsverletzungsverfahren im Abfallbereich geführt wer-
den und dass deutsche Verwaltungsgerichte mit Hunderten
von Fällen zur Auslegung des derzeitigen Abfallrechtes
beschäftigt sind. Die Rechtsssicherheit auch in diesem Be-
reich muss verbessert werden.
Eine zukünftige ökologisch orientierte Abfallwirt-
schaft muss Wettbewerb sicherstellen, aber auch an den
Zielen der Nachhaltigkeit orientiert sein. Nachhaltige Ab-
fallwirtschaft bedeutet zuallererst die Erreichung mög-
lichst hoher Umweltziele. Aber auch unter Fragen der so-
zialen Gerechtigkeit und der finanziellen Zumutbarkeit
müssen die zukünftigen Gesetzesvorhaben beurteilt wer-
den. Ein ökologisches Ziel der Abfallwirtschaft wird in
Zukunft die Ressourcenschonung sein. Wir werden noch
einmal eine intensive Debatte über die unterschiedliche
Bewertung von stofflicher und energetischer Verwertung
zu führen haben. Diese Debatte wird frei von allen Ideo-
logien geführt werden müssen.
Mit großer Sorge verfolgen wir zurzeit die Diskussio-
nen in der bundesdeutschen Politik, die eine vollständige
Liberalisierung der Abfallwirtschaft beabsichtigt. In Zu-
kunft sollen nach diesen Vorstellungen nicht mehr die
Kommunen zuständig für die Abfallentsorgung sein, son-
dern diese Aufgabe komplett an Private abgeben. Im Klar-
text führt dies zu einem Häuserkampf, weil die Entsor-
gungsbetriebe jeden einzelnen Haushalt als Kunden
gewinnen müssen. Gleichzeitig würde dies aber auch zu
einer weiteren Konzentration in der Abfallwirtschaft
führen, weil die kleinen und mittelständischen Entsor-
gungsbetriebe, die zum Teil nur über wenige Beschäftigte
verfügen, den Verwaltungsaufwand überhaupt nicht be-
wältigen könnten. Eine weitere Konzentration in der Ent-
sorgungswirtschaft wäre allerdings verheerend.
Schon heute beobachten wir mit großer Sorge, wie ei-
nige große Entsorger ganze Regionen dominieren. Dabei
kommt es auch zu den von uns allen beklagten Missstän-
den. Dennoch will ich an dieser Stelle einmal klarstellen,
dass die Entsorgungswirtschaft in ihrer überwiegenden
Mehrheit gute und rechtlich einwandfreie Arbeit leistet.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24517
(C)
(D)
(A)
(B)
Es ist nur eine kleine Minderheit, die skrupellos Lücken
in der Gesetzgebung ausnutzt, um wirtschaftliche Vorteile
zu erzielen, und die ohne Rücksicht auf die Umwelt und
die nachfolgenden Generationen handelt. Wenn bei dieser
Minderheit dann auch noch Korruption im Spiel ist, muss
dies für uns Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen
sein. Die Sicherstellung der mittelständischen Struktur in
der Entsorgungswirtschaft ist ein hohes Gut und der Ga-
rant für die Beibehaltung des Wettbewerbes im Abfall-
markt. Das Miteinander zwischen öffentlichen und priva-
ten Entsorgern hat sich im Wesentlichen bewährt. Ich rege
an, bei den mit hohen Investitionen zu errichtenden oder
bereits bestehenden Entsorgungsanlagen nicht nur auf die
großen Beteiligungen von strategischen Partnern zu
schielen, sondern auch ganz neue und unkonventionelle
Formen der Finanzierungsbeteiligung zu überdenken. Die
Funktionalität der Abfallwirtschaft würde nicht gefährdet,
wenn sich viele kleine Entsorger an diesen Anlagen betei-
ligen würden oder wenn Aktiengesellschaften mit Hun-
derten von Kleinaktionären an diesen Anlagen beteiligt
würden.
Sie sehen also, dass die Abfallwirtschaft auch in Zu-
kunft spannend bleibt und viele Aufgaben vor uns liegen.
Wir werden uns diesen Herausforderungen stellen und in
der nächsten Legislaturperiode hierzu eine Reihe von Ini-
tiativen ergreifen. Wir werden der Verordnung zustimmen
und selbstverständlich den vorliegenden Entschließungs-
antrag der FDP-Fraktion ablehnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerfreistellung
von Arbeitnehmertrinkgeldern
– des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ein-
kommensteuergesetzes (Abschaffung der Trink-
geldbesteuerung)
(Tagesordnungspunkt 28)
Barbara Höll (PDS): Die PDS unterstützt das Anlie-
gen, Trinkgelder von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern von der Besteuerung zu befreien. Wir begrüßen auch
die am Mittwoch im Finanzausschuss vorgenommene
Änderung am Gesetzentwurf. Damit sind auch Trinkgel-
der eingeschlossen, die nicht aufgrund einer konkreten
Dienstleistung von Kunden oder Gästen zusätzlich zum
Rechnungsentgelt gezahlt werden. Die Krankenschwes-
ter, der Verkaufsfahrer oder der Postbote werden also
zukünftig keine Steuern auf erhaltenes Trinkgeld zahlen
müssen.
Ich möchte betonen: Die Regelung in ihrer jetzt vorlie-
genden Form war Wille aller Fraktionen im Finanzaus-
schuss, auch wenn die Koalition den entsprechenden
Änderungsantrag – entgegen der Absprache auf Refe-
rentenebene – allein eingebracht hat. Hier hat Rot-Grün
wieder einmal ein Possenspiel vorgeführt, wie es trauriger
nicht sein kann. Aber derzeit geht es eben um Wahlkampf,
nicht um Sachpolitik.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu, obwohl grundsätz-
lich natürlich alle Einkünfte eines Steuerpflichtigen be-
steuert werden sollten, egal warum sie ihm zufließen.
Wir meinen aber, dass es – gerade im Dienstleistungs-
bereich – viel zu viele Menschen gibt, die in prekären Be-
schäftigungsverhältnissen arbeiten oder einen niedrigen
Lohn erhalten. Oft reicht das Verdiente gerade aus, um die
eigene Existenz abzudecken. Da sind Trinkgelder eine
Chance, den Lohn aufzubessern.
Die Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern
ist für uns aber kein Plädoyer für Niedriglöhne oder
prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die Begründung der
Koalition im Gesetzentwurf weise ich ausdrücklich
zurück. Sie führen aus, dass die steuerliche Belastung von
Trinkgeldern eine Ursache für die zu geringe Beschäfti-
gungsanzahl im Niedriglohnsektor ist. Vielleicht sollten
Sie die Ursache der geringen Beschäftigungszahl im Nied-
riglohnbereich eher darin sehen, dass Menschen für geleis-
tete Arbeit auch angemessen bezahlt werden wollen. Der
Ausbau des Niedriglohnsektors ist für uns kein Konzept
zur Senkung der Arbeitslosigkeit. Wir meinen, dass es oh-
nehin schon zu viele Menschen gibt, die von ihren Löhnen
nicht leben können. Trinkgelder und ihre Steuerbefreiung
sind nicht die Lösung für dieses Problem. Hier sollten Sie
auf unseren Vorschlag der Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohnes eingehen, der in der vergangenen Woche
im Parlament diskutiert wurde. Die Steuerfreistellung von
Arbeitnehmertrinkgeldern darf auch kein Feigenblatt für
ein Lohndumping seitens der Arbeitgeber sein.
Ein weiterer wesentlicher Grund unserer Zustimmung
ist die Schwierigkeit, Trinkgelder überhaupt zu erfassen.
Derzeit wird dies durch Schätzungen anhand des Umsatzes
oder durch die Angabe des Arbeitgebers der Betroffenen
geleistet. Hier aber sehe ich das Problem des so genannten
„Erfassungsdefizits“. Das BVG hat 1991 im Zusammen-
hang mit der Erfassung von Kapitalerträgen festgestellt,
dass eine Steuerbelastung nicht nur die erklärungsbereiten
Bürgerinnen und Bürger treffen darf. Dies widerspricht
dem Gebot der steuerlichen Lastengleichheit. Wer aber
mag die Höhe der Trinkgelder kontrollieren. Derzeit sind
Finanzämter schon damit überlastet sind, Betriebsprüfun-
gen im gesetzlich vorgeschriebenen Turnus durchzuführen.
Ich möchte daran erinnern, dass noch bis zum vergange-
nen Jahr alle bisherigen parlamentarischen Initiativen zur
Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern von Rot-
Grün abgelehnt wurden. Damals wurden die Argumente der
Steuersystematik und der Einnahmeausfälle angebracht.
Umso mehr freue ich mich, dass sich die Koalition – so kurz
vor der Wahl – noch zu einer arbeitnehmerfreundlichen
Maßnahme durchringen konnte. Sollte sich da die Erkennt-
nis durchgesetzt haben, dass die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer durch die Politik der Koalition zu kurz gekom-
men sind?
Vielleicht ringt sich die Koalition angesichts dieser Er-
leuchtung auch noch dazu durch, unseren Forderungen
nachzukommen. Wir warten noch immer auf die verspro-
chene Erhöhung des Freibetrages für Arbeitnehmerabfin-
dungen und auf die Aufhebung der Zweijahresfrist für
die Absetzbarkeit der Kosten der doppelten Haushalts-
führung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224518
(C)
(D)
(A)
(B)
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– der Großen Anfrage: Entwicklung und Stand der
Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland
– der Beschlussempfehlung und des Berichts: Teil-
zeitbeschäftigung wirtschaftsverträglich und fami-
liengerecht fördern
(Tagesordnungspunkt 29)
Klaus Brandner (SPD): In dieser Legislaturperiode
haben wir Fehlentwicklungen korrigiert und das Arbeits-
recht konsequent modernisiert. Der Reformstau wurde
zugunsten einer aktiven Unternehmenskultur aufgelöst.
Flexibilität und Sicherheit werden nun in ausgewogener
Weise gewährleistet.
Auch wenn Sie von der Opposition es nicht wahrhaben
wollen, unsere Zahlen können sich im internationalen
Vergleich sehen lassen. Die Flexibilisierung der Arbeits-
zeit ist in Deutschland weit fortgeschritten. Sie ist für die
Unternehmen wichtiges Instrument zur Bewältigung der
Arbeitsspitzen und zur Steigerung der Produktivität. Sie
ist wichtig für den beschäftigungswirksamen Abbau von
Überstunden, die Beschäftigungssicherung und die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen. Arbeitszeitflexibilisierung ist
auch ein Ansatz für mehr Chancengleichheit von Frauen
und Männern im Erwerbsleben, für eine bessere Verein-
barkeit von Familie und Beruf und für ein Mehr an indi-
vidueller Zeitsouveränität.
Die CDU/CSU hat nicht einmal gemerkt, dass sich ihr
Antrag im Wesentlichen durch das bereits am 1. Januar
2001 in Kraft getretene Teilzeit- und Befristungsgesetz
erledigt hat. Die Forderung, den Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit wieder aufzuheben, ist allerdings ein
gesellschafts- und sozialpolitischer Rückschritt. Die SPD
lehnt das entschieden ab. Arbeitsmarkt-, familien- und
gleichstellungspolitischen Zielen kann oder will sie mit
der angestrebten Begrenzung des Teilzeitanspruchs nicht
gerecht werden. Entgegen ihrer Aussage werden Arbeit-
geber durch unser Gesetz nicht unzumutbar belastet. Im
Gegenteil: In den meisten Fällen vereinbaren Arbeitgeber
und Arbeitnehmer einvernehmlich eine vernünftige inte-
ressengerechte Lösung. Den Teilzeitanspruch auf soziale
Tatbestände zu begrenzen, wäre familien- und gleichstel-
lungspolitisch kontraproduktiv. Wir haben Rahmenbedin-
gungen geschaffen, damit Mann und Frau gleichermaßen
den Antrag auf Teilzeit stellen können.
Die Union provoziert mit ihrer Beschränkung auf
soziale Tatbestände regelrecht eine Einstellungshürde für
Frauen. Möglicherweise ärgert sie sich auch nur über die
Tatsache, dass die von ihr prognostizierte Prozessflut bei
den Arbeitsgerichten gar nicht eingegangen ist. Sie soll-
ten sich doch wenigstens jetzt ihren Fehler eingestehen.
Einer Untersuchung des Kölner Instituts zur Erforschung
sozialer Chancen (ISO) zufolge arbeiten in Deutschland
85 Prozent in flexiblen Arbeitszeitformen in den unter-
schiedlichsten Ausgestaltungen. Lediglich 15 Prozent der
Arbeitnehmer haben eine Vollbeschäftigung, die der
herkömmlichen Lage der Arbeitszeit entspricht, nicht
variiert und an fünf Wochentagen – Montag bis Freitag –
ausgeübt wird.
Flexible Arbeitszeitmodelle sind erfolgreich, wenn sie
sowohl an den Wünschen der Beschäftigten als auch an
betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten ausgerichtet
sind. Wir setzen im Gegensatz zu der Opposition auf
mündige Beschäftigte. Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer wissen selbst am besten, was sie wollen. Wir
wollen deshalb nicht, dass der Arbeitgeber allein entschei-
det, ob jemand in Teilzeit gehen darf oder nicht. Deshalb
haben wir den Teilzeitanspruch eingeführt. All diejenigen,
die angekündigt haben, dass mit der Einführung des
Rechtsanspruches auf Teilzeit die Teilzeitbeschäftigung
zurückgehen würde, haben sich geirrt. Die neueste Sta-
tistik, der mikrozensuns, belegt doch, dass wir viel mehr
zusätzliche Teilzeitarbeitsstellen haben und nicht
weniger. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten hat in 2001
erheblich zugenommen; er ist um 320 000 auf 6,8 Mil-
lionen gestiegen. Die Teilzeitquote beträgt nunmehr
20,8 Prozent.
Die Union will nicht nur den generellen Anspruch auf
Teilzeitarbeit wieder abschaffen. Sie will die Reformen
zurücknehmen, auf die Deutschland 16 lange Jahre ge-
wartet hat. Es wird immer wieder das Gleiche erzählt: Es
seien Arbeitnehmerrechte, die unsere Wirtschaft behin-
dern, die die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen verhin-
dern. Das ist Unsinn. Wir wissen es aus Erfahrung besser:
Als die Regierung Kohl 1996 den Kündigungsschutz be-
schnitt, wollte sie dadurch 500 000 neue Arbeitsplätze
schaffen. Es war ein riesiger Fehlschlag. Selbst der Zen-
tralverband des Deutschen Handwerks hat ein Jahr später
die Schlappe eingestanden. Nach seiner Umfrage wurden
nicht einmal 20 000 Arbeitsplätze geschaffen, stattdessen
hätten um ein Haar Millionen von Arbeitnehmern den
Kündigungsschutz verloren.
Deswegen hat die Regierung gleich nach Amtsantritt
den Kündigungsschutz wieder hergestellt. Mit der Beseiti-
gung von Arbeitnehmerrechten lässt sich Arbeitslosigkeit
nicht bekämpfen. Die OECD hat den Zusammenhang
zwischen Beschäftigungsschutz und Arbeitsmarkt in
27 Ländern untersucht. Ergebnis: Die Ausgestaltung des
Beschäftigungsschutzes hat laut OECD Employement
Gutlook 1999 wenig oder gar keine Auswirkungen auf die
Arbeitslosigkeit. Es besteht daher kein nachweisbarer
Zusammenhang zwischen Arbeitsrecht und der Höhe der
Arbeitslosigkeit.
Mit dem Gesetz über Teilzeit- und befristete Arbeits-
verträge haben wir einen effektiven Beitrag zum Be-
schäftigungsaufbau und zur Beschäftigungssicherung ge-
leistet. Wir haben die Befristung dauerhaft geregelt und
damit Rechtsicherheit hergestellt und die Vereinbarung
der europäischen Sozialpartner umgesetzt. Ein wesentli-
cher Kernpunkt in diesem Gesetz ist, den Missbrauch von
aufeinander folgenden Kettenbefristungen zu verhindern.
Diesen Missstand haben wir beseitigt ebenso wie wir dem
Mangel an Teilzeitarbeitsplätzen entgegenwirken.
Die CDU/CSU fordert die Aufhebung dieser Be-
schränkung. Sie will praktisch den alten Zustand wieder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24519
(C)
(D)
(A)
(B)
herstellen, bei dem befristete Arbeitsverträge mit und
ohne Sachgrund unbegrenzt aufeinander folgen könnten.
Kettenbefristungen laufen darauf hinaus, Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern den Kündigungsschutz zu neh-
men und darüber hinaus ihre gesamte arbeitsrechtliche
Stellung zu schwächen. Rechtlose Beschäftigte, die jeder-
zeit für Unternehmen verfügbar sind, das ist das Ziel die-
ser Forderungen. Aber niemals mit uns!
Mit der Dauerregelung im Teilzeit- und Befristungsge-
setz haben wir Rechts- und Planungssicherheit für die Ar-
beitgeber geschaffen. Zusätzlich wurde die sachgrundlose
Befristung branchenspezifisch flexibilisiert, indem die
Höchstbefristungsdauer und die Anzahl der zulässigen
Befristungen tarifdispositiv gestaltet wurden. Die Tarif-
vertragsparteien können die Ausgestaltung der befristeten
Beschäftigung also selber in die Hand nehmen. Sie sind in
der Regel näher am Ball. Unser Gesetz bietet geradezu ein
Muster an Flexibilität. Gleichzeitig bleibt ein sicheres
Fundament.
Eine erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
setzt außer der Schaffung neuer Arbeitsplätze auch eine
breitere Verteilung des vorhandenen Beschäftigungsvolu-
mens voraus. Hierzu zählen kürzere und flexiblere Ar-
beitszeiten sowie der Abbau bezahlter Mehrarbeit. Hier
sind in erster Linie die Tarifvertragsparteien gefordert.
Flexibilisierung ist von uns gewollt, wenn sie den Men-
schen ein Stück Freiheit in ihr Arbeitsleben bringt. Dies
setzt voraus, dass diese Arbeitsverhältnisse sozial und ar-
beitsrechtlich geregelt sind und tarifpolitisch gestaltet
werden können. Hinter den Forderungen der FDP aber
auch der CDU/CSU verbirgt sich dagegen allein ein mas-
siver Abbau sozialer Standards.
Die Opposition erkennt nicht oder will nicht erkennen,
dass die Möglichkeiten des Arbeitszeitgesetzes intensiv
genutzt werden. Kürzere Arbeitszeiten müssen den indi-
viduellen Bedürfnissen der Beschäftigten entgegenkom-
men. Ein existenzsicherndes Einkommen ist für viele eine
der Voraussetzungen. Auch die Altersvorsorge spielt eine
große Rolle. Deshalb haben wir die Probleme der Schein-
selbstständigen und der 325-Euro-Jobs gelöst.
Die Arbeitnehmerüberlassung hat einen vernünftigen
Sinn bei der Deckung vorübergehenden Arbeitskräftebe-
darfes. Sie darf aber nicht dazu dienen, Dauerarbeitsplätze
zu ersetzen. Wir haben die höchstzulässige Überlassung
eines Leiharbeitnehmers auf 24 aufeinander folgende
Monate verlängert. Dies gewährleistet die erforderliche
Flexibilität. Mit der Arbeitnehmerüberlassung muss so-
wohl das Interesse der Unternehmer, schnell auf kurzfris-
tigen Arbeitskräftebedarf reagieren zu können, als auch
das der Beschäftigten auf tarifliche Standards berücksich-
tigt werden.
Die Arbeitswelt hat sich grundlegend verändert. Sie ist
wesentlich differenzierter und vielschichtiger geworden.
Wir haben bei der Reform der Betriebsverfassung die Vo-
raussetzungen für moderne und flexible Betriebsrats-
strukturen geschaffen. Zudem wurden die Bedingungen
für ein effektives Tätigwerden des Betriebsrates verbes-
sert. Es wurden Modelle für eine wirkungsvolle betriebli-
che Mitbestimmung geschaffen. Eine flexible Anpassung
erfolgt durch Tarifverträge, die die Bedürfnisse der Be-
triebe und der Arbeitnehmer berücksichtigen. Es sind in
den letzten Jahren vermehrt tarifvertragliche Regelungen
vereinbart worden, die je nach Gestaltung als Öffnungs-,
Härte- oder Kleinbetriebsklauseln bezeichnet wurden.
Danach können die Betriebspartner von Tarifregelungen
abweichen. Die Tarifvertragsparteien haben damit bewie-
sen, dass sie in der Lage sind, eigenverantwortlich bran-
chenspezifische Regelungen zu treffen. Es gibt 30 000 Ta-
rifverträge. So beweglich könnte keine Gesetzgebung
sein, wie dies für die Tarifvertragspartner möglich ist. Sie
haben das Heft in der Hand. Nur so kann der Arbeitneh-
merschutz gewährleistet werden.
In den vergangenen Jahren haben insbesondere die Ar-
beitszeitkontenmodelle an Bedeutung gewonnen. Allein
von 1998 bis zum Jahr 2001 hat sich der Anteil der deut-
schen Betriebe mit Arbeitszeitkontenmodellen um fast die
Hälfte erhöht. Im Jahr 2001 nutzten 29 Prozent der deut-
schen Betriebe Arbeitszeitkontenmodelle. Für 40 Prozent
der Beschäftigten wurden Arbeitszeitkonten geführt. Dies
zeigt, dass Deutschland bei der Arbeitszeitflexibilisierung
gut dasteht. Sie ist ein bedeutender Beitrag für die Er-
werbsfähigkeit. Mit den gesetzlichen Rahmenbedingun-
gen haben wir die erforderlichen Voraussetzungen ge-
schaffen. Flexible Arbeitszeiten sind auf dem Vormarsch.
Dies wird durch die aktuellen Daten des Statistischen Bun-
desamtes, durch den Mikrozensus 2001 belegt. Beispiels-
weise haben 49 Prozent der abhängig Beschäftigten tägli-
che Arbeitszeiten mit festem Beginn und Ende, 30Prozent
verfügen über ein Arbeitszeitkonto.
Wenn man die heute vorliegenden FDP-Anträge genau
liest, dann wird leider deutlich, was dadurch tatsächlich
erreicht werden soll. Es geht nicht um Flexibilisierung,
sondern ausschließlich darum, Arbeitnehmerrechte zu be-
schneiden.
Auch der CDU/CSU nützt es nichts, dass der Kanzler-
kandidat mit wolkigen Aussagen durch die Lande reist und
verkündet, er wolle auf die Arbeitnehmer und Arbeitneh-
merinnen zugehen. Damit will der bayerische Ministerprä-
sident nur von seiner wahren Politik ablenken; denn hier
wird schwarz auf weiß offenbar, was CDU/CSU eigentlich
im Schilde führt. Die Opposition unterschätzt die Wähler.
Ihre Strategie wird durchschaut. Die Quittung wird sie spä-
testens am 22. September diesen Jahres erhalten.
Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):Wer sorgfältig
die Antwort der Bundesregierung zur Großen Anfrage der
FDP in Sachen Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland
liest, der stellt fest, dass die Flexibilisierung der betriebli-
chen Arbeitszeiten in den letzen Jahren rapide zugenom-
men hat. Ob Schicht- oder Gleitsysteme, Arbeitszeitkon-
ten oder Jahresarbeitszeiten, Teilzeit- oder befristete
Beschäftigungsverhältnisse – wir finden auf der betriebli-
chen Ebene in allen Branchen völlig unterschiedliche Re-
gelungen, die alle den Versuch unternehmen, Interessen
der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in Einklang zu
bringen.
Die Menschen wollen flexible Arbeitszeiten, wollen
Teilzeitbeschäftigung, um Arbeit und Freizeit sowie Fa-
milienleben in Einklang zu bringen. Der Gesetzgeber tut
gut daran, den Rahmen zu gestalten und den Tarifver-
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tragsparteien ein Höchstmaß an Gestaltungsmöglichkei-
ten zu geben. Betriebsräte und Gewerkschaften sowie Ar-
beitgeber sind näher dran, kennen die Notwendigkeiten
und haben bisher immer die Balance zwischen Arbeitge-
ber- und Arbeitnehmerinteressen gefunden.
Wenn allerdings Neoliberale wie die FDP über Flexi-
bilisierung oder Teilzeitbeschäftigung reden, dann bedeu-
tet das immer Verschiebung dieses Gleichgewichtes zu-
gunsten der Arbeitgeberseite. Die arbeitsmarktpolitischen
Überlegungen der FDP sind ein Rückgriff auf Vorschläge
aus der Mottenkiste. Sie heiligen die Selbstheilungskräfte
des Marktes. Für die Menschen heißt dies: Abbau des
Kündigungsschutzes, mehr befristete Arbeitsverhältnisse
– möglichst als Regelfall – und die Aushöhlung des be-
währten Flächentarifvertrages. Es geht im Kern darum,
die Rechte und den Schutz von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern schrittweise zu beseitigen unter dem
Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Wer betriebliche Realität kennt, weiß, dass die arbei-
tenden Menschen soziale Schutzrechte haben müssen, da-
mit sie nicht willkürlich den Marktgesetzen ausgeliefert
werden. Deshalb wollen wir den Kündigungsschutz er-
halten, haben wir die Befristung von Arbeitsverträgen so-
zialverträglich eingeschränkt, haben wir ein Recht auf
Teilzeitbeschäftigung geschaffen – wovon insbesondere
Frauen profitieren –, haben wir den Erziehungsurlaub
ausgebaut, haben wir die Arbeitsmöglichkeiten der Be-
triebsräte, vor allem auch in Fragen der Qualifizierung
und Arbeitszeit, weiterentwickelt.
Wir glauben nicht daran, dass die Selbstheilungskräfte
des Marktes sich automatisch positiv auswirken, sondern
es bedarf immer einer aktiven Arbeitsmarkt- und Be-
schäftigungspolitik, die die unterschiedlichen Interessen
von Arbeitnehmern und Arbeitgebern miteinander in Ein-
klang zu bringen versucht.
Sie von der CDU/CSU wollen durch eine einseitige so
genannte wirtschaftsverträgliche Gestaltung diese Ba-
lance zerstören und mit der Abschaffung des Teilzeitan-
spruches den Menschen die Möglichkeit rauben, Familie
und Beruf miteinander zu verbinden. Dabei haben wir im-
mer klar und deutlich gesagt, dass betriebliche Gründe
berücksichtigt werden müssen. Das schützt die Interessen
der Arbeitgeber in ausreichender Weise.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durch un-
ser Gesetz Freiräume zur persönlichen Entfaltung gewon-
nen. Dies steigert ihre Motivation am Arbeitsplatz, was
den Unternehmen zugute kommt und die Produktivität er-
höht. Außerdem schafft Teilzeit neue Arbeitsplätze und
verbessert damit die allgemeine Beschäftigungssituation.
Flexibilisierung darf daher nicht als Kampfbegriff für
den Abbau wichtiger Arbeitnehmerrechte missbraucht,
sondern muss als Aufforderung verstanden werden, krea-
tiv nach Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitszeit und
Arbeitsverhältnissen zu suchen. Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber sind gefordert.
Deshalb lehnen wir den Antrag der CDU/CSU ab, der
unser Teilzeit- und Befristungsgesetz wieder zurückneh-
men will. Wir haben auch keine neue „Reglementierung“
geschaffen. Die Änderungen im Betriebsverfassungs-
gesetz, im Kündigungsschutzgesetz und im Arbeitsför-
derungsrecht verbessern vielmehr die Situation der
Menschen in unserem Lande und tragen zu einem gleich-
berechtigten Miteinander im Arbeitsleben bei.
Die Entwicklung der Arbeitswelt wird unweigerlich
weitere Flexibilisierungen und neue Formen von Arbeits-
zeitregelungen mit sich bringen. Wir sollten daran arbei-
ten, den Rahmen für diese sozialen Veränderungen sozi-
alverträglich zu gestalten.
Matthäus Strebl (CDU/CSU): Letzte Woche haben
wir im Plenum über Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs-
politik debattiert. Die derzeitige Situation ist verheerend:
Im Frühling dieses Jahres waren über 4 Millionen Men-
schen in diesem Land ohne Arbeit. Viele Patentlösungen
und Rezepte gegen die Misere werden dieser Tage disku-
tiert. Eine Erleichterung der Beschäftigungssituation ist
die Möglichkeit von Teilzeitarbeit und befristeten Ar-
beitsverhältnissen.
Momentan befinden sich über 6 Millionen Arbeitneh-
mer in einer Teilzeitbeschäftigung und rund 2,8 Millionen
Menschen arbeiten in einem befristeten Arbeitsverhältnis.
Umfragen des DIWhaben ergeben, dass in Deutschland ein
höherer Anteil der Erwerbstätigen die Arbeitszeit reduzie-
ren wollten als verlängern: Im Jahr 2000 sprachen sich
28 Prozent der befragten Arbeitnehmer für eine Verkürzung
aus. Gerade Frauen würden deutlich öfter bei einer Voll-
zeitbeschäftigung ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Es
lieg also auf der Hand, dass die Teilzeitbeschäftigung ein
wichtiges Standbein in der Beschäftigungspolitik ist. Es
muss einiges dafür getan werden, damit sie vor allem auch
für Unternehmen attraktiver gemacht wird.
Doch was ist geschehen? Die Bundesregierung hat mit
ihrer gesetzlichen Regelung alles getan, damit die Arbeit
in Teilzeit für Arbeitgeber uninteressanter ist denn je! Der
Teilzeitanspruch, den Riester und Müller durchgeboxt ha-
ben, gibt der Bundesregierung auch diesmal wieder keinen
Anlass, stolz zu sein. Wenn man ihn sich anschaut, offen-
bart sich einem ein sozialistisch angehauchtes Blendwerk,
aber keine praxisnahe Lösung!
Statt die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu
stärken und den Wirtschaftsstandort Deutschland attrakti-
ver zu gestalten, wurde wieder einmal mehr Bürokratie
geschaffen. Doch was haben diejenigen davon, die auf
Teilzeitarbeit angewiesen sind? Es sind dies Frauen und
Männer, die Zeit haben wollen, um ihre Kinder zu erzie-
hen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die schwer
pflegebedürftige Angehörige betreuen, oder in der Er-
werbsfähigkeit geminderte Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, die nicht oder nur schwer in der Lage sind,
eine Vollzeitbeschäftigung auszuüben.
Der von Rot-Grün initiierte Teilzeitanspruch hilft ih-
nen nicht weiter. Er stellt einen einmaligen Systembruch
im Arbeitsrecht dar: Er greift schwerwiegend in die Ver-
tragsfreiheit ein, indem er ein Gestaltungsrecht gegen den
Willen des Arbeitgebers zulässt!
Nur ein Beispiel sei hier erwähnt: Ein Arbeitgeber kann
mit ein und demselben Arbeitnehmer über dessen gesamtes
Erwerbsleben – zumindest aber bis zum 58. Lebensjahr –
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nur einmal einen einfach befristeten Arbeitsvertrag
schließen!
Ein Anspruch auf Teilzeit für alle geht weit über das
Ziel hinaus. Ich will hier nicht den Teufel an die Wand ma-
len, aber die Konsequenz ist doch, dass ein Arbeitgeber es
sich genau überlegt, ob er bei steigender Nachfrage einen
neuen Arbeitnehmer einstellt. Ich denke, er wird wohl
eher massiv auf Überstunden ausweichen.
Es ist für Unternehmen keine richtige langfristige Per-
sonalplanung möglich, wenn die Beschäftigten über An-
fang und Ende ihrer Arbeit sowie über die Zahl der Ar-
beitsstunden frei entscheiden können. Doch genau dies ist
mit dem neuen Teilzeitgesetz der Fall: Nun darf ein Ar-
beitnehmer, der gerade erst sechs Monate in einem Ar-
beitsverhältnis ist, eine Verringerung seiner vertraglich
vereinbarten Arbeitszeit verlangen. Umgekehrt wird erst-
mals teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern das Recht ein-
geräumt, bei einem Wunsch nach Ausdehnung ihrer Ar-
beitszeit gegenüber Neueinstellungen berücksichtigt zu
werden. Die Konsequenz: Bewährte Jahresarbeitssysteme
müssen aufgegeben werden. Der Arbeitgeber hat nur eine
Möglichkeit, sich dieser Regel zu widersetzen: Wenn er
„betriebliche Gründe“ oder „unverhältnismäßige Kosten“
nachweisen kann. Doch wer vermag diese unbestimmten
Rechtsbegriffe auszulegen? Die Unternehmen bleiben,
bis höchstrichterliche Entscheidungen dazu vorliegen, „in
der Luft hängen“.
Die Bundesregierung hat die Chance vertan, endlich
den Menschen zu helfen, die auf Teilzeitarbeit angewiesen
sind. Erst kürzlich hatte der Kanzler das Thema Familie für
sich entdeckt. Das im Wahlprogramm von CDU und CSU
propagierte Familiengeld wurde als antiquiert verschrien.
Frauen würden damit zu Hause „an den Herd“ festgebun-
den, hieß es. Die einzigen, die das tun, sind die Damen und
Herren auf der Führungsbank unserer Regierung! Eine
Frau oder auch ein Mann, der arbeiten möchte, aber trotz-
dem Zeit haben möchte, um für seine Kinder da zu sein,
kann letzten Endes nur zu Hause bleiben oder sich in eine
Vollzeitbeschäftigung begeben. Denn Rot-Grün hat es mit
seiner Teilzeitregelung geschafft, die Neuschaffung von
Teilzeitjobs wesentlich zu erschweren. Wo bleibt für sie
die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie?
Das derzeitige Prinzip vom Teilzeitanspruch für jeder-
mann nutzt nichts, sondern schadet nur. Es wäre wesent-
lich nutzbringender gewesen, endlich das Arbeitsrecht
und die Sozialversicherung den neuen Beschäftigungsfor-
men anzupassen. Unser Antrag geht in die richtige Rich-
tung, nämlich denen einen Anspruch auf Teilzeit zukom-
men zu lassen, die ihn wirklich brauchen, und das, ohne
die Unternehmen in ihrer Gestaltungsfreiheit einzu-
schränken.
Zumindest bis zum Herbst müssen wir uns mit dem rot-
grünen Machtwerk begnügen, aber danach wird sich die
Gelegenheit finden, Teilzeitarbeit in Deutschland wirt-
schafsverträglich und familiengerecht zu gestalten!
Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Vor vier Jahren,
1998, verkündete der Kanzlerkandidat der SPD, Gerhard
Schröder:
Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken. Daran
werde ich mich messen lassen.“
Gemessen an diesem Ziel fällt die Bilanz nach vier Jah-
ren SPD-geführter Bundesregierung denkbar schlecht
aus. Seit Januar 2001 steigt die saisonbereinigte Zahl der
Arbeitslosen in Deutschland wieder an. Sie lag im Mai
mit 4,042 Millionen um 60 000 über der Zahl des Vormo-
nats. Dabei scheiden jährlich rund 200 000 ältere Men-
schen mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere
nachrücken. Ohne diese günstige demographische Ent-
wicklung wäre die Arbeitslosigkeit also noch höher.
Außerdem ist die Zahl der Erwerbstätigen nicht wesent-
lich gestiegen; die Zahl der Erwerbstätigen ist von Januar
2001 bis März 2002 saisonbereinigt sogar um 180 000 ge-
sunken. Der von der Regierung angepriesene Anstieg der
Beschäftigtenzahlen hat allein statistische Gründe. Durch
die Einbeziehung geringfügiger Arbeitsverhältnisse etwa
wurde die Zahl der Beschäftigten auf dem Papier erhöht.
Ob jedoch wirklich neue Arbeitsplätze geschaffen worden
sind, bleibt fraglich.
Regulierung statt Deregulierung hieß das Programm
der Bundesregierung. Der Arbeitsmarkt wurde gefesselt,
anstatt seine dynamischen Kräfte zu entfesseln: durch die
Einschränkungen bei den befristeten Arbeitsverhältnis-
sen, durch das 630-DM-Gesetz, durch das Gesetz gegen
die so genannte Scheinselbstständigkeit, durch das Be-
triebsverfassungsgesetz und durch ein Teilzeitgesetz, das
die Arbeitgeber abschreckt, Teilzeitarbeitsverhältnisse
abzuschließen.
Dabei waren wir uns am 16. November 2000 in diesem
Hause einig, dass Teilzeitarbeit einen wesentlichen Bei-
trag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation leistet.
Umso mehr verwundert die aktuelle Haltung der Bundes-
regierung zur Frage: „Welche Gesetze müssen nach An-
sicht der Bundesregierung geändert oder reformiert wer-
den, um die Flexibilisierung der Arbeitszeit zu erhöhen?“
Antwort: „Die Bundesregierung sieht derzeit keine Not-
wendigkeit, das geltende Recht zu ändern.“ Sicher, die
Flexibilisierungsmöglichkeiten werden teilweise in ho-
hem Maße genutzt. Flexible Arbeitszeitformen werden
zur Gestaltung der individuellen Lebens- und Berufsge-
staltung wahrgenommen. Teilzeitarbeit nimmt weiter zu:
Fast jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet in
Teilzeit. Arbeitszeitkonten erfreuen sich großer Beliebt-
heit: Fast zwei Fünftel aller Beschäftigten führen ein sol-
ches Arbeitszeitkonto. Insgesamt wird vom neuen Gesetz
verantwortungsbewusst und interessengerecht Gebrauch
gemacht. Das schließt jedoch nicht aus, dass weitere Fle-
xibilisierungspotenziale erschlossen werden können.
In einer Arbeitsgesellschaft, die vom technischen Fort-
schritt geprägt ist, können die Eroberung neuer Märkte,
nachhaltiges Wachstum, eine ökonomisch vernünftige
Verteilung der Erwerbsarbeit und eine flexible Gestaltung
der Arbeitszeit und Arbeitsorganisation wesentlich zur Si-
cherung und zum Aufbau neuer Beschäftigung beitragen.
Unser Leitsatz für mehr Beschäftigung lautet daher: den
Arbeitsmarkt deregulieren. Wir wollen Anreize für Ar-
beitslose schaffen und ihnen neue Chancen geben, damit
sie wirklich den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
schaffen. Deshalb werden wir für ein modernes Arbeits-
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recht sorgen, das zu möglichst vielen Einstellungen führt
und vielen Menschen neue Beschäftigungsmöglichkeiten
eröffnet. Dazu gehört, dass wir den Arbeitgebern eine fle-
xiblere Personalpolitik durch verbesserte Rahmenbedin-
gungen für Zeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse und
Teilzeitarbeit ermöglichen wollen.
Den von der Regierungskoalition eingeführten gene-
rellen Rechtsanspruch auf Teilzeit werden wir abschaffen.
Dieser wird von vielen Unternehmern als gravierendes
Problem angesehen. Dieses Teilzeitgesetz hat sich als
Bremse für Produktion und Beschäftigung erwiesen. Bei
Produktionsablauf, Personaleinsatz und Kapazitätspla-
nung sind dem Unternehmer die Hände stärker gebunden
als jemals zuvor. Die Bereitschaft, neue Arbeitnehmer
einzustellen, ist gesunken. Dies hat zur Folge, dass viele
arbeitsfähige Menschen auf der Straße bleiben und viele
Arbeitgeber Überstunden anordnen – von einer Verringe-
rung von Überstunden sind wir im Übrigen in Deutsch-
land so weit entfernt wie vor vier Jahren.
Teilzeitarbeit funktioniert nicht durch starre Regle-
mentierung, sondern nur, wenn Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer eine einvernehmliche Lösung herbeiführen. Da-
her setzen wir auf Freiwilligkeit und auf flexible
Vereinbarungen, nicht auf einen einklagbaren Rechtsan-
spruch. Deshalb sind wir auch für eine weiter gehende Ar-
beitszeitflexibilisierung.
Wir wollen aber diejenigen fördern, die neben der Kin-
dererziehung und der Pflege arbeiten müssen oder wollen.
Wir möchten diejenigen unterstützen, die Familie und Be-
ruf in Einklang zu bringen versuchen.
Teilzeitarbeit ist in erster Linie ein Thema, das Frauen
berührt. Von rund 6,5 Millionen Teilzeitbeschäftigten in
Deutschland ist nur jeder Achte ein Mann. Noch nicht ein-
mal fünf Prozent aller erwerbstätigen Männer sind teil-
zeitbeschäftigt, hingegen arbeiten knapp 40 Prozent aller
erwerbstätigen Frauen teilzeit. Dahinter steht meistens
nicht die freiwillige Entscheidung, weniger als acht Stun-
den am Tag bei der Arbeit verbringen zu wollen. Viele
Frauen haben als junge Mütter den Wunsch, während der
Kindererziehung nicht den Anschluss ans Berufsleben zu
verlieren. Viele Frauen sehen die Notwendigkeit, noch et-
was hinzuverdienen zu müssen. Viele Frauen fällen die
Entscheidung, kranke Familienangehörige selber zu pfle-
gen und nicht ins Heim zu geben. Diese Frauen – und
natürlich auch die wenigen Männer, denen es genauso
geht – wollen wir unterstützen. Für diese Menschen mit
der Doppelbelastung Beruf und Familie wollen wir den
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit beibehalten. Jeder wei-
ter gehende Rechtsanspruch ist jedoch ein Beschäfti-
gungshemmnis und als solches nicht zu rechtfertigen.
Deshalb haben wir unseren Antrag „Teilzeitbeschäftigung
wirtschaftsverträglich und familiengerecht fördern“ hier
noch einmal eingebracht.
Die verheerende Lage auf dem Arbeitsmarkt lässt sich
nur durch einen entschiedenen Kurswechsel in der Wirt-
schafts- und Finanz-, in der Sozial- und Arbeitsmarktpo-
litik ändern. Neben der Senkung der Staatsquote und der
Entlastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern von
Steuern und Abgaben brauchen wir eine Flexibilisierung
des Arbeitsmarktes und der Arbeitszeiten.
Der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder hat im
Sommer 1998 gesagt:
Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit mas-
siv zu senken, dann haben wir es nicht verdient wei-
ter zu regieren.
Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihrer damaligen Aus-
sage zu. Angesichts der verfehlten Arbeitsmarktpolitik
der vergangenen dreieinhalb Jahre haben Sie es nicht ver-
dient, weiter zu regieren.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wie die Antwort der Bundesregierung zeigt, ist die Flexi-
bilisierung der Arbeitszeit in Deutschland weit fortge-
schritten. Die Antwort zeigt aber, dass im internationalen
Vergleich noch Potenziale für mehr Teilzeitarbeit und fle-
xible Arbeitszeitmodelle gegeben sind. Wir wissen außer-
dem, dass das Teilzeitgesetz bereits zu vermehrter Inan-
spruchnahme von Teilzeit geführt hat. Grundsätzlich gilt
für uns, dass flexible und sozial verträgliche Arbeitszeit-
politik, die eine größere individuelle Wahlfreiheit gerade
auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eröffnet ,
ein Gewinn für Arbeitnehmer, aber auch ein Gewinn für
die Betriebe ist.
Regelungen der Arbeitszeit sind zuallererst Sache der
Wirtschaftsparteien selbst und sollten dies auch bleiben.
Wichtig ist daher eine tarifliche Arbeitszeitpolitik, deren
Öffnungsklauseln für flexible Regelungen in der Tarif-
politik immer mehr verankert werden. In der Tarifpolitik
haben sich in den letzten Jahren immer mehr allgemeine
kollektive Vereinbarungen herausgebildet, und in vielen
Betrieben haben sich spezielle betriebliche Lösungen ent-
wickeln lassen. Mittlerweile hat sich eine Vielfalt von Ar-
beitszeitformen eingespielt. In den alten Bundesländern
arbeitet nur noch jeder siebte Beschäftigte in normalen
Arbeitszeiten, also von Montag bis Freitag in Vollzeitar-
beit. Aber auch in den neuen Bundesländern haben rund
82 Prozent der Beschäftigen irgendeine Form flexibler
Arbeitszeit.
Flexible Arbeitszeiten können weiterhin zur Entlas-
tung des Arbeitsmarktes beitragen, aber auch die Verein-
barkeit von Familie und Beruf fördern. Wir haben deswe-
gen durch das Teilzeitgesetz die Rahmenbedingungen
deutlich verbessert. Gerade an dieser Stelle und in Rich-
tung der Opposition gesagt ist es wichtig, dass das Teil-
zeitgesetz für Männer und Frauen gleichermaßen gültig
ist. Jede andere Lösung, die sich beispielsweise nur auf
Erziehende beziehen würde, würde zu einer weiteren Be-
schäftigungsbarriere für Frauen führen. Das Teilzeit-
gesetz setzt den Rahmen, um zu einer gerechteren Ar-
beitszeitverteilung zwischen Männern und Frauen zu
kommen.
Wir wollen den Abbau von Überstunden und den Über-
stundenausgleich über Arbeitszeitkonten voranbringen,
um Qualifikationsphasen und so genannte Sabbatzeiten,
Erziehungsarbeit oder lange Erholungspausen möglich zu
machen. Bündnis 90/Die Grünen hält auch die Einführung
von Tariffonds zum Jobsharing nach dem Vorbild der nie-
dersächsischen Metallindustrie für einen sinnvollen
Schritt. Im Übrigen haben gerade Betriebe im Metallbe-
reich die fantasievollsten Formen der Arbeitszeitregelung
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gefunden. Wir wollen Teilzeitarbeit fördern, indem wir
langfristig die Altersteilzeit in einen fünfjährigen alters-
unabhängigen Förderanspruch für alle umwandeln. So
können Arbeitszeitreduzierungen auch für Kindererzie-
hung, für Pflegearbeit, für Qualifikation oder auch für in-
dividuelle Erholungsphasen genutzt werden. So kann
über den Erwerbslebenszyklus eine vernünftige Lebens-
planung erfolgen.
Im Juli 2000 haben BDAund DGB gemeinsam erklärt,
sie treten für eine differenzierte, flexibilisierte Arbeits-
zeitpolitik und den beschäftigungswirksamen Abbau von
Überstunden ein. Bei der Arbeitszeit stehen die tariflichen
Vereinbarungen von Arbeitszeitkonten, Jahresarbeitszei-
ten, die Schaffung von Jahres-, Langzeit- und Lebensar-
beitszeitkonten sowie eine bessere Verknüpfung von Ar-
beit, betrieblicher Fort- und Weiterbildung im Mittelpunkt.
Das ist gut so und scheint schon Erfolge zu bringen; denn
in den letzten Jahren ist der permanente Anstieg von
Überstunden gestoppt worden. Dies scheint auch durch
Arbeitszeitkonten ausgelöst worden zu sein.
Die bessere Abstimmung des Arbeitsvolumens mit
über das Jahr verteilten unterschiedlichen Kapazitätsan-
forderungen an die Betriebe steigert auch die betriebli-
chen Reaktionsmöglichkeiten und den Abbau von Über-
stunden. Vormals bezahlte Überstunden verschwinden.
Der Umverteilungseffekt zugunsten zusätzlicher Arbeits-
plätze entsteht aber nur, wenn verbindliche Regelungen
zu Unter- und vor allem zu Obergrenzen bestehen. Zudem
muss geregelt werden, dass das Überlaufen von Arbeits-
zeitkonten eine Anpassung der Personal- oder der Ein-
stellungspolitik nach sich ziehen sollte. Arbeitszeitkonten
gibt es allerdings häufiger in Großbetrieben als in kleinen
Betrieben. Flexible Arbeitszeitmodelle und Arbeitszeit-
konten werden allerdings in der Zukunft nur eine positive
Entwicklung nehmen, wenn gegen Geld- und Zeitklau
durch Verfall eine Sicherung eingebaut wird. Die Fest-
legung der Gestaltungselemente von Arbeitszeitkonten
zum Beispiel wie Ober- und Untergrenzen, die Aus-
gleichszeiträume, der Freizeitausgleich und vor allen
Dingen der Schutz gegen den Verfall von Guthaben wird
auch in Zukunft in erster Linie eine tarif- und betriebspo-
litische Aufgabe sein, die durch gesetzliche Rahmenbe-
dingungen unterstützt werden kann.
Zu lösen ist auch die Transferierbarkeit von Zeitar-
beitskonten beim Wechsel zwischen den Unternehmen.
So könnten Guthaben in Geld oder Creditpoints umge-
wandelt werden, mit der Option, die Werteinheiten beim
neuen Arbeitgeber in erneute Ansprüche zurückzutau-
schen. Flexible Arbeitszeiten sind ein Gewinn für alle Sei-
ten und ein Markenzeichen für eine moderne Volkswirt-
schaft.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Zunächst darf ich der
Bundesregierung für die Recherche der Antworten auf die
Große Anfrage der FDP-Fraktion zu „Entwicklung und
Stand der Arbeitszeitflexibilisierung in Deutschland“
danken. Sie liefert insgesamt interessantes Datenmaterial,
auch wenn an einigen Stellen Datenlücken vorhanden
sind. Aufgrund der Zahlen scheint die Schlussfolgerung
richtig, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeit in
Deutschland weit fortgeschritten ist.
Es ist aber bedauerlich, dass zu dem Thema Arbeits-
zeitflexibilisierung mit Blick auf den internationalen Ver-
gleich und auch die nationale Differenzierung Daten-
lücken festzustellen waren, weil dadurch Vergleiche
erschwert oder unmöglich werden. Da die Bundesregie-
rung die Bedeutung der Arbeitszeitflexibilisierung in ih-
rer Antwort selbst betont, sollte sie überlegen, Institutio-
nen wie das Statistische Bundesamt oder die ILO zu
ermuntern, ein größeres Augenmerk auf die Erfassung
von Entwicklungen im Bereich der Arbeitszeitflexibili-
sierung – Teilzeit, Wechselschicht, Sonn- und Feiertags-
arbeit, Arbeitszeitkonten – zu legen.
Unsere Fragen zu Auswirkungen der Arbeitszeitver-
kürzung je Beschäftigten und zur Veränderung der relati-
ven Stückkosten – Fragen 9, 36 und 37 – wurden sehr pau-
schal beantwortet und sind daher nicht befriedigend. Das
sind aber Fragen, die aus Sicht der Unternehmen von be-
sonderer Bedeutung sind. Hier ist eine differenziertere
Darstellung möglich und erforderlich, um Auswirkungen
von politischen und tariflichen Entscheidungen im Be-
reich der Arbeitszeitflexibilisierung besser abschätzen zu
können. Ich finde, da die derzeitige rot-grüne Bundesre-
gierung das Teilzeit- und Befristungsgesetz zum 1. Januar
2001 in Kraft gesetzt hat, sollte sie eigentlich über eine
bessere Datenbasis verfügen. Oder hat die Bundesregie-
rung bei dieser Gesetzesinitiative etwa keine seriöse Kos-
tenfolgeabschätzung vorgenommen?
Ich frage auch nach dem Grundverständnis. Die rot-
grüne Bundesregierung geht in ihren Vorbemerkungen bei
den Fragen der Arbeitszeitflexibilisierung fast ausschließ-
lich auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer und Arbeitneh-
merinnen ein. So wichtig dies ist, bleibt doch festzustel-
len: Arbeitszeitflexibilisierung muss in erster Linie vor
dem Hintergrund der Erhaltung und Verbesserung der in-
ternationalen Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden. Der
Satz „Erfolgreich können flexible Arbeitszeitmodelle nur
sein, wenn es gelingt, diese sowohl an den Wünschen der
Beschäftigten als auch an betriebswirtschaftlichen Not-
wendigkeiten auszurichten“ kommt erst gegen Schluss
und trägt dem nicht ausreichend Rechnung.
Ein weiterer Punkt: Es stimmt mich bedenklich, dass in
Deutschland seit 1995 ein im internationalen Vergleich
überdurchschnittlicher Rückgang der geleisteten Arbeits-
stunden zu verzeichnen ist. Die durch die Bundesregie-
rung gelieferten Erklärungen für diesen Sachverhalt sind
wenig stichhaltig. Weder ein stärkeres Bevölkerungs-
wachstum, noch vorhandene Arbeitskräftereserven
führen in anderen Volkswirtschaften automatisch zu ei-
nem größeren Wachstum der Beschäftigung. Die Ursa-
chen im innereuropäischen Finanzausgleich zu suchen ist
ebenso falsch, wie die Europäische Kommission erst vor
wenigen Tagen festgestellt hat. Die Ursachen für die
schlechtere Entwicklung in Deutschland dürften vielmehr
in der verfehlten Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpoli-
tik der Bundesregierung zu suchen sein. Die weitere
Zementierung des Arbeitsmarktes durch immer neue Reg-
lementierungen und die ständig steigende Sozialabgaben-
quote führen zu einer geringen Beschäftigungsdynamik.
Diesem falschen Grundverständnis folgend werden die
von der Bundesregierung in Kraft gesetzten Gesetze wie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224524
(C)
(D)
(A)
(B)
das Teilzeit- und Befristungsgesetz und das Job-AQTIV-
Gesetz mit dem Element der Jobrotation in der Antwort
völlig zu Unrecht als Beitrag zur Arbeitszeitflexibilisie-
rung genannt. Das Gegenteil dürfte der Fall sein:
Während Jobrotation bis heute in der Praxis kaum akzep-
tiert wird – sehr geringe Fallzahlen; deutliche Ablehnung
in den Unternehmen von Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern – führt insbesondere der Rechtsanspruch auf Teilzeit
in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten langfristig so-
gar eher zu einer Benachteiligung teilzeitgeneigter Perso-
nengruppen. Das sind vor allem die Frauen – insbeson-
dere im Alter von 20 bis 40 Jahren. Dadurch wird die
Chancengleichheit von Frau und Mann eher erschwert als
verbessert.
Der Antrag der Union „Teilzeitbeschäftigung wirt-
schaftsverträglich und familiengerecht fördern“ wird aus
unserer Sicht seinem selbstgesteckten Anspruch im Titel
nicht gerecht. Zu viele Fragen bleiben offen. Der Rechts-
anspruch auf Teilzeit zur besseren Vereinbarkeit von Be-
ruf und Familie ist aus liberaler Sicht im § 15 des Bun-
deserziehungsgeldgesetzes, der einen Anspruch auf
Teilzeit vorsieht, wenn ein Kind bis zum Alter von drei
Jahren erzogen wird, konstruktiv geregelt. Wir lehnen
nicht von vornherein eine Heraufsetzung der Altersgrenze
der Kinder ab. Aber warum CDU und CSU die Alters-
grenze ausgerechnet auf zwölf Jahre heraufsetzen
möchte, wird in dem Antrag nicht begründet. Schon des-
wegen ist der Antrag so nicht zustimmungsfähig.
Wir Liberale wollen die Teilzeitarbeit für alle Beschäf-
tigten, auch unabhängig von der Frage der Familienför-
derung, auf freiwilliger Basis fördern. Holland hat in den
90er-Jahren mit der freiwilligen Förderung der Teilzeit
enormen Erfolg gehabt. 1999 betrug dort die Teilzeitquote
39,4 Prozent und das bevor Holland einen Rechtsan-
spruch auf Teilzeit im Jahre 2000 einführte. Die Bundes-
republik Deutschland hat ihre Teilzeitquote ebenfalls von
14 Prozent 1991 auf fast 20 Prozent im Jahre 1999 erhöht,
ohne die einseitige gesetzliche Verpflichtung der Unter-
nehmen, wie sie mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz
eingeführt wurde. Der Gesetzgeber sollte also wieder ei-
nen Rahmen schaffen, in dem Teilzeitarbeit aufgrund frei-
williger Verabredungen gefördert wird.
Wir Liberale hoffen, dass es für eine solche effektive
und effiziente Förderung der Teilzeitarbeit in diesem
Hause nach dem 22. September 2002 eine Mehrheit gibt.
Dr. Klaus Grehn (PDS): Wir befassen uns heute mit
einer Thematik, die das Erwerbsleben von Millionen Be-
schäftigten in Deutschland beeinflusst und damit Auswir-
kungen auch auf die Lebensqualität in unserem Land hat.
Angesichts der wirtschaftlichen Lage und der tatsächli-
chen Situation auf dem Arbeitsmarkt mit den vier Milli-
onen Arbeitslosen hat uns auch zu interessieren, inwieweit
flexible und neue Formen der Arbeitszeit Auswirkungen
auf den Abbau von Arbeitslosigkeit haben. Es ist nicht so,
wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der FDP und Minister Riester in einer der letzten
Bundestagsdebatten erklärt haben, dass eine Verkürzung
der Wochenarbeitszeit auf 40 und der gesetzlich in Aus-
nahmefällen zulässigen Höchstarbeitszeit auf 50 Stunden
nichts bringen würde. Auch die Europäische Union hat zu
der gesetzlich ermöglichten hohen Wochenarbeitszeit in
Deutschland Fragen gestellt; und es bleibt der Standpunkt
der PDS, dass die Verkürzung von 48 auf 40 Stunden eine
deutlich positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt hätte.
Es ist unverständlich, warum hier die Bundesregierung so
zögerlich ist.
Natürlich unterstützt die PDS alle Anstrengungen, die
darauf gerichtet sind, durch Vereinbarungen zwischen Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern die Arbeitszeit flexibel zu
gestalten, und wir haben auch die unter starker Mitwir-
kung der Gewerkschaften entstandenen neuen gesetzli-
chen Regelungen zur Teilzeitbeschäftigung und zur Be-
fristung von Arbeitsverträgen begrüßt. Flexibilisierung
darf jedoch nicht missverstanden werden oder zulasten
der Arbeitnehmer gehen. Flexibilisierung darf nicht
heißen, dass die Erfordernisse der modernen Produktion,
des technologischen Ablaufs oder gar der jeweiligen Auf-
tragslage Warte- oder Stillstandzeiten bedingen, die durch
die Anpassung der Arbeitszeiten daran überbrückt wer-
den. Im Zentrum müssen die berechtigten Interessen der
Arbeitnehmer und ihrer Familien stehen. Flexible Ar-
beitszeiten müssen einen Zuwachs an Lebensqualität der
Beschäftigten bringen – der Mensch mit seinen Bedürf-
nissen ist und bleibt das Ziel jedes Wirtschaftens.
Auch die Überführung von Überstunden in Arbeits-
zeitkonten und deren Abbau durch Freizeit ist nicht in je-
dem Fall im Interesse der Arbeitnehmer, deren Mehrarbeit
damit nicht finanziell angemessen entgolten wird. Lohn-
einbußen oder erzwungene Teilzeitarbeit ohne Lohnaus-
gleich unter dem Schlagwort einer „Flexibilisierung“
lehnt die PDS strikt ab. Alles in allem jedoch bietet die
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage eine
Fülle von Erkenntnissen und gibt zu ihren Zwecken eine
brauchbare Momentaufnahme der gegenwärtigen Lage
auf dem deutschen Arbeitsmarkt – auch im Vergleich zu
unseren europäischen Nachbarn. Die Kollegen der FDP
haben klug gefragt.
Etwas anders verhält es sich mit dem Antrag von
CDU/CSU, der in erster Linie die Rücknahme des durch
Gesetz gerade eingeführten Anspruches auf Teilzeitarbeit
fordert. Ebenso wird die Rücknahme der erweiterten Be-
schränkung befristeter Arbeitsverträge verlangt. Es fällt
den Kolleginnen und Kollegen aus dieser Fraktion ganz
offensichtlich schwer, etwas zu verstehen oder zu unter-
stützen, was die Interessen der Arbeitnehmer denen der
Kapitalseite zumindest als gleichwertig gegenüber stellt.
Das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit ist
eine Errungenschaft, und ganz nebenbei wird damit auch
ein Weg zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze eröff-
net. Auch freiwillig in Anspruch genommene Teilzeitar-
beit muss tariflich entlohnt werden und existenzsichernd
sein und darf den Anspruch auf die vollen Sozialleistun-
gen nicht mindern. Darauf wird zu achten sein.
Es mag schon sein, dass in Einzelfällen das Verbot
einer wiederholten Befristung des Arbeitsvertrages für
denselben Arbeitnehmer eine mögliche erneute Einstel-
lung verhindert. Es wäre zu prüfen, ob das zwangsläufig
tatsächlich so eintritt. Wirksam sollte das Gesetz dahin ge-
hend werden, dass die nur vorübergehende Einstellung
von Arbeitskräften für normale, nicht saisonale Arbeit
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deutlich erschwert wird. Nicht befristete Arbeitsverträge
dienen den Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft
weit mehr, und diese Tendenz muss unterstützt und beför-
dert werden.
Deshalb lehnt die PDS-Fraktion diesen gegenläufigen
Antrag der CDU/CSU ab.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Entwurfs eines Jugendschutzgesetzes
(JuSchG)
– des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des
Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öf-
fentlichkeit (Jugendschutzgesetz – JÖSchG)
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
dem Antrag: Jugendschutz stärken
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
– zu dem Bericht der Bundesregierung über
die Auswirkungen der jetzigen Fassung des
§ 3 des Gesetzes über die Verbreitung ju-
gendgefährdender Schriften und Medien-
inhalte (GjS)
– zu dem Dritten Zwischenbericht der En-
quete-Kommission „Zukunft der Medien
in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutsch-
lands Weg in die Informationsgesellschaft“
zum Thema: Kinder- und Jugendschutz im
Multimediazeitalter
(Tagesordnungspunkt 32)
Kerstin Griese (SPD): Diejenigen von Ihnen, die
heute diesem Gesetz zustimmen, können Teil haben an ei-
nem Erfolg: Das neue Jugendschutzgesetz gibt die richti-
gen Antworten auf die technischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen, die sich im Bereich der neuen Medien
und des Jugendmedienschutzes in den Jahren seit 1985
getan haben.
Dabei kann das Jugendschutzgesetz nur ein Beitrag
sein, um Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Brutalität
zu schützen. Wir müssen Kinder und Jugendliche schüt-
zen. Und wir müssen sie stärken. Stark machen gegen Ge-
walt, stark und kompetent machen im Umgang mit neuen
Medien. Eine zweite wichtige Säule, neben dem Jugend-
schutz, ist die Medienerziehung, die Medienkompetenz
von Kindern und Jugendlichen. Die Bundesregierung hat
die Stärkung der Medienkompetenz bereits zum Schwer-
punkt ihrer medienpolitischen Arbeit gemacht. Dazu
gehören unsere Initiative „Schulen ans Netz“, die Projekte
„Kulturelle Bildung im Medienzeitalter, „Mediagenera-
tion – Kompetent in die Medienzukunft“„, das Programm
„Internet für alle“ oder auch das Bund-Länder-Programm
„Innovative Fortbildung an beruflichen Schulen“.
Natürlich müssen auch Eltern und Lehrkräfte ihre Me-
dienkompetenz weiterentwickeln. Dafür geben wir bes-
sere Möglichkeiten. Mit der Reform der Bundeszentrale
für politische Bildung im Jahr 2000 beispielsweise wurde
ein eigener Fachbereich Multimedia mit einer Koordinie-
rungsstelle Medienpädagogik gegründet.
Wichtig bleibt auch weiterhin, dass internationale Ver-
pflichtungen dazu beitragen müssen, einen wirksamen
Kinder- und Jugendmedienschutz rechtlich und technisch
auch bei Anbietern von Netzinhalten zu verwirklichen.
Wir setzen uns deshalb für die Schaffung europa- und
weltweiter Mindeststandards des Kinder- und Jugendme-
dienschutzes ein und wollen den UNESCO-Gipfel zur In-
formationsgesellschaft 2004 nutzen, um auf internationa-
ler Ebene nach Lösungen zu suchen, die Rassismus und
Gewaltverherrlichung im Internet verhindern.
Auch die EU-Kommission fordert zu Recht eine kon-
zertierte Aktion und eine bessere Zusammenarbeit von In-
dustrie und Internetanbietern. Ausdrücklich widersprechen
möchte ich dem baden-württembergischen Europaminister
Christoph Palmer, der, wie ich in einer Pressemitteilung
über die Europawoche in Stuttgart gelesen habe, meint, na-
tionaler Jugendschutz sei nicht möglich. Doch, mit unse-
rem Gesetz und mit dem Jugendmedienschutz-Staatsver-
trag, den die Länder alsbald verabschieden werden, ist es
möglich!
Auch die öffentliche Anhörung hat gezeigt, dass unser
Gesetz von den Experten sehr positiv aufgenommen wird.
Alle Sachverständigen waren der Auffassung, dass das
neue Jugendschutzgesetz verabschiedet werden kann, soll
und muss. In der Anhörung wurde auch die große Bedeu-
tung von Medienkompetenz betont.
Die wichtigsten Punkte unseres Jugendschutzgesetzes
sind: Im Bereich des Jugendmedienschutzes ist eine we-
sentliche Neuerung unseres Gesetzes, dass auf allen Bild-
trägern, die mit Filmen oder Spielen programmiert sind,
eine Alterskennzeichnung angebracht werden muss. El-
tern, Schulen und Jugendeinrichtungen wird so die Aus-
wahl altersgerechter Medien erleichtert. Diese Pflicht zur
Alterskennzeichnung entspricht auch der langjährigen
Forderung der Obersten Landesjugendbehörden und aller
Bundesländer. Die alte Bundesregierung hat dies immer
abgelehnt.
Die Arbeit und Erfahrung der Bundesprüfstelle für ju-
gendgefährdende Medien, wie sie neu benannt wird, ist
von großer Bedeutung für den Jugendmedienschutz. Die
Administration der Bundesprüfstelle wird gestrafft. So
kann das Indizierungsverfahren beschleunigt betrieben,
Angebote im Internet können unmittelbar beanstandet
werden. Wichtig ist auch, dass mit dem neuen Gesetz auch
Verbände, die im Kinder- und Jugendbereich tätig sind,
antragsbefugt sind. Außerdem kann die Bundesprüfstelle
jetzt auch ohne Antrag gegen jugendgefährdende Ange-
bote vorgehen.
Wir haben den Katalog der schwer jugendgefährden-
den Trägermedien um Gewaltdarstellungen und Darstel-
lungen, die die Menschenwürde verletzen und den Krieg
verherrlichen, erweitert. Damit unterliegen diese Träger-
medien umfassenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbever-
boten.
Das neue geschaffene Abgabeverbot von Tabak und
Zigaretten an Jugendliche unter 16 Jahren war längst fäl-
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lig. Die rot-grüne Regierung hat sich nicht gescheut, hier
auch einen Konflikt mit der Wirtschaft einzugehen, zum
Schutz der Kinder und Jugendlichen. Mit dem neuen Ab-
gabeverbot bieten wir einen vernünftigen Gesundheits-
schutz und Jugendschutz.
Auch bei der Kinowerbung für Alkohol und Zigaretten
haben wir den Jugendschutz verbessert: Diese Werbung
darf nicht vor 18 Uhr gezeigt werden. Damit vereinheitli-
chen wir den Jugendschutz.
In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion finden wir
letztendlich nichts anderes als die Forderung nach Verbo-
ten, Verboten, Verboten. Ist das Jugendschutz? Der Ent-
schließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
zeigt deutlich, welche Bedeutung wir dem Jugendschutz
geben: Jugendschutz gewährleistet das Recht junger
Menschen auf Schutz und Integrität ihrer Persönlichkeit
und gewährleistet gleichzeitig ihre Integration in die und
Teilhabe an der Gesellschaft. Wir fördern die Kreativität
und Kompetenz von Kindern und Jugendlichen. Dieses
Verständnis eines optimalen Jugendschutzes finden Sie in
unserem Gesetz.
Im Hinblick auf die Stärkung der Medienkompetenz
wäre es auch zu überlegen, wie Kindern und Jugendlichen
Zugang zu geeigneten Medien, zum Beispiel in Video-
theken, ermöglicht werden könnte. Ebenfalls denke ich,
dass wir über die Altersstufen bei der Alterskennzeich-
nung demnächst noch einmal nachdenken könnten, denn
der Sprung von sechs auf zwölf Jahre ist recht groß. Das
müsste allerdings in allen Medienbereichen gleich gere-
gelt sein.
Eine breite Zustimmung zu dem so bedeutsamen
Thema des Schutzes von Kindern und Jugendlichen würde
zeigen, dass wir, die Parlamentarierinnen und Parlamenta-
rier, gemeinsam uns um diejenigen sorgen, die die Zukunft
für unser Land bedeuten. Die intensiven Beratungen über
das Jugendschutzgesetz haben gezeigt, dass zwischen al-
len Beteiligten große Übereinstimmungen bestehen, wie
wir uns einen modernen, einen effektiven Kinder- und Ju-
gendschutz vorstellen. Deshalb frage ich mich ernsthaft,
wieso die Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfrak-
tionen nicht zustimmen könnten. Stimmen sie zu und über-
lassen sie ein so wichtiges Thema wie den Kinder- und Ju-
gendschutz nicht dem Wahlkampfkalkül von Herrn
Stoiber im Bundesrat!
Die FDP-Fraktion hat keinen Änderungsantrag zum
Entwurf des Jugendschutzgesetzes eingebracht. Ihr Ent-
schließungsantrag, den sie in letzter Minute verfasst ha-
ben, spiegelt nur wider, dass sie keinen Jugendschutz ver-
folgen, sondern wirtschaftsgläubig ihre Lobbygruppen
befriedigen möchte. Dazu sage ich: Mit uns nicht!
Die Zeit ist reif für ein neues Jugendschutzgesetz, das
modern und effektiv ist und Jugendliche schützt und
stärkt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
wollen Kinder und Jugendliche vor Gewalt schützen und
sie stark machen im Leben.
Stimmen Sie zu!
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Normalerweise hat
der Volksmund Recht, wenn er formuliert: „Was lange
währt, wird endlich gut.“ Im vorliegenden Fall, dem von
der Bundesregierung vorgelegten Gesetz zur Novellie-
rung des Jugendschutzes, ist dies nicht der Fall. Wir erin-
nern uns, dass die noch amtierende Bundesregierung
dieses Vorhaben bereits in Regierungserklärung und
Koalitionsvereinbarung angekündigt hatte. Dann ist
zunächst einmal lange Zeit nichts passiert, was aber in der
Amtszeit von Frau Bergmann ja nicht weiter erstaunlich
ist.
Dann kam, mehr oder minder aus heiterem Himmel, ein
Referentenentwurf ans Tageslicht, der in erster Linie eine
Verlängerung der Ausgehzeiten für Jugendliche zum In-
halt hatte. Man geht wohl nicht ganz fehl in der Annahme,
dass dieses Vorhaben in erster Linie auf den 22. September
dieses Jahres gerichtet war. Aber das einhellige Urteil nicht
nur der Fachwelt, dass dieses Vorhaben keinen Beitrag
zum Jugendschutz darstellt, führte dazu, dass der Entwurf
im Papierkorb des Ministeriums verschwand.
Wochen später erschütterte uns alle der Amoklauf ei-
nes Schülers in Erfurt und folgerichtig war das Thema Ju-
gendschutz wieder auf der Tagesordnung. Es herrschte
fraktionsübergreifend Einigkeit darüber, dass Handlungs-
bedarf besteht – insbesondere, was den Bereich des Ju-
gendmedienschutzes angeht. Und es war im Übrigen die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die bereits lange vor Er-
furt den Handlungsbedarf durch die Vorlage eines eigenen
Antrags unterstrichen hatte.
Was die Bundesregierung dann allerdings in der Folge
mit dem Deutschen Bundestag veranstaltet hat, das ver-
dient die Bezeichnung Gesetzgebungsverfahren im
Grunde genommen nicht. Man führe sich folgendes Pro-
zedere noch einmal vor Augen: am Montag Anhörung der
Sachverständigen, bei der auf diverse Ungereimtheiten
hingewiesen wurde; am Dienstag Beratung in den Ar-
beitsgruppen der Fraktionen; am Mittwochmorgen berät
der federführende Ausschuss; am gleichen Tag kommen
die Berichterstatter zu einer einstündigen Beratung zu-
sammen; und am Donnerstag winkt der federführende
Ausschuss noch kurz vor Beginn des Plenums das Projekt
durch. Dies ist eine Missachtung des Parlaments, denn für
eine eingehende Beratung des Gesetzes war schlicht keine
Zeit.
Es war von vornherein klar, dass ein so wichtiges ge-
setzgeberisches Vorhaben idealiter im Konsens verab-
schiedet werden sollte. Leider haben Sie uns hierzu keine
Möglichkeit eröffnet. Für uns bleiben drei zentrale Ge-
sichtspunkte, die uns die Zustimmung heute nicht mög-
lich machen, wobei wir durchaus anerkennen, dass die
Novelle in einigen Punkten durchaus eine Verbesserung
des Jugendschutzes erzielt. Folglich werden wir uns heute
der Stimme enthalten.
Erstens. Sie schaffen neu im § 1 Abs. 1 Nr. 4 die so ge-
nannte „erziehungsbeauftragte Person“. Wir haben deutli-
che Zweifel, ob hierdurch eine Stärkung des Jugend-
schutzes erreicht wird, und zwar aus zwei Gründen. Zum
einen ist so die Möglichkeit eröffnet, dass beispielsweise
ein 15-jähriger die Bestimmungen des Jugendschutzes un-
terläuft, wenn er in Begleitung seines 18-jährigen Freundes
ist, der glaubhaft versichert, er sei von den Eltern zur Be-
gleitung des Minderjährigen autorisiert. Ich frage: Wie soll
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im Einzelfall vor Ort nachvollzogen werden, ob es sich
tatsächlich um eine „erziehungsbeauftragte Person“ han-
delt oder aber ob rein zufällig der ältere Freund des Min-
derjährigen ihn begleitet? Zum zweiten ist uns auch in den
kurzen Ausschussberatungen nicht klar geworden, wie
eine Verifizierung dieser Beauftragung erfolgen soll, wenn
es etwa zu einem strafrechtsrelevanten Tatbestand kom-
men sollte. Der ältere Freund wird sich darauf berufen, von
den Eltern beauftragt zu sein, während die Eltern dies ih-
rerseits verneinen. Aussage steht gegen Aussage. Sie ent-
gegneten uns im Ausschuss auf diese Frage, es ändere sich
ja nichts an der Haftung der Eltern. Das ist richtig, macht
die Sache aber nicht besser, sondern schlimmer! Denn Sie
nehmen die Eltern für etwas ins Obligo, was sich ihrer Ein-
flusssphäre eindeutig entzieht.
Zweitens. Sie führen im Jugendschutzgesetz den so ge-
nannten „parental guide“ ein. Eltern sollen beispielsweise
selbst entscheiden können, ob sie ihre achtjährige Tochter
mit ins Kino nehmen, obwohl der Film erst ab 12 freige-
geben ist. Ich sage ausdrücklich, dass ich diese Einrich-
tung vor dem Hintergrund einer Stärkung der Erziehungs-
kompetenz der Eltern durchaus für diskutabel halte –
freilich, wenn wir zuvor eine Differenzierung der Alters-
klassifizierung bei der Freigabe von Filmen vorgenommen
hätten, die den unterschiedlichen Entwicklungsstufen von
Kindern und Jugendlichen besser als bisher gerecht wird.
Aber, wenn wir uns darauf verständigen wollen, ebendie-
sen Aspekt der Stärkung der elterlichen Erziehungskom-
petenz zu einem neuen Schwerpunkt des Jugendschutzes
zu machen, dann müssen Sie diesen Anspruch auch kon-
sequent im gesamten Gesetz durchhalten. Mit welcher Be-
rechtigung sagen Sie den Eltern, beim Eintritt ins Kino
könnt ihr ein bisschen selbst entscheiden, aber beim Ge-
nuss von Alkohol und Nikotin und bei der Werbung hier-
für wissen wir als Gesetzgeber besser Bescheid, was rich-
tig ist? Das passt nicht zusammen.
Drittens. Wir können uns trefflich darüber streiten,
welchen Einfluss die Werbung insbesondere auf Kinder
und Jugendliche hat. Und ich räume offen ein, dass es
über die Werberestriktionen für Kinobetreiber, die mit
dem neuen Jugendschutzgesetz verbunden sind, auch in
der Unionsfraktion unterschiedliche Auffassungen gibt.
Aber auch hier gibt es eine Kehrseite der Medaille, die wir
auch gewichten müssen. Als ich im Ausschuss darauf hin-
wies, dass das Werbeverbot für Alkohol und Nikotin vor
18 Uhr gerade für kleinere Kinos im ländlichen Raum hin-
sichtlich der Einnahmeausfälle eine existenzbedrohende
Wirkung entfalten könnte, hat mir auch aus den Reihen
von Rot-Grün niemand widersprochen. Vielmehr erhielt
ich für diese Bemerkung mindestens teilweise sogar zu-
stimmendes Kopfnicken. Angesichts der Tatsache, dass
die negative Wirkung der Werbung auf Kinder und Ju-
gendliche in dieser Vehemenz auch in der Fachliteratur
durchaus umstritten ist, stellt sich für mich persönlich
schon die Frage, ob dann ein solcher Schritt gerechtfertigt
ist. Schließlich stellen wir heute unter anderem den höchs-
ten Alkoholmissbrauch insbesondere in den Ländern fest,
in denen es über Jahre überhaupt keine einschlägige Wer-
bung gab oder gibt.
Quintessenz meiner Überlegungen: Sie haben die
Chance, das Jugendschutzgesetz umfassend und in
geeigneter Weise zu reformieren, vertan, weil Sie sich
zu wenig Zeit genommen haben, um gründlich arbeiten
zu können.
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit der Novelle des Jugendschutzes passen wir die
Schutzbestimmungen für Jugendliche der Realität an. Sie
wissen so gut wie ich, dass dies keine Reaktion auf Erfurt
darstellen kann. Betrachten wir diese furchtbare Tat, wird
deutlich, dass die Nachbesserung im Waffenrecht – von
den Jugendpolitikern stetig gefordert – notwendig war.
Auch für die Schützenvereine und Sportschützen gilt: wer
Jugendliche trainiert, muss entsprechend qualifiziert sein.
Ich bin froh, dass es bei den Verhandlungen um die wei-
tere Verschärfung des Waffenrechts nun endlich auch um
dieses Thema geht.
Im Bildungsbereich erwarten wir von den Länderkul-
turministern zu Recht eine stärkere Vereinheitlichung der
Abschlüsse an Schulen. An dieser Stelle möchte ich deut-
lich auf Zwischenabschlüssen an den Gymnasien hinwei-
sen. Es kann nicht sein, dass wir Jugendliche alleine las-
sen, die an einer Schulform scheitern.
Da der Jugendschutz nur den Rahmen für Jugendliche
vorgibt, sind andere Impulse des Staates und der Gesell-
schaft insgesamt, der Familie, der Schule, der Jugendar-
beit und auch der Politik aus meiner Sicht von größerer
Bedeutung.
Der Rahmen, den wir nun zusammen mit den Bundes-
ländern setzten, geht davon aus, dass Jugendliche auf der
einen Seite eigenverantwortlich handeln können und auf
der anderen Seite umfassenden Schutz bekommen. Wir
haben mit diesem Grundsatz das Jugendschutzgesetz mo-
dernisiert und den wirklichen Lebensverhältnissen von
Jugendlichen angepasst. Deshalb stellen wir Jugendlichen
zum Beispiel auch volljährige Geschwister oder Freunde
zur Seite, wenn sie sich mit 16 in Gaststätten, in Disko-
theken oder auch bei Konzerten aufhalten. Die Eltern haf-
ten nach wie vor. Hier schaffen wir aber mehr Eigenver-
antwortung für Jugendliche.
Wir schaffen aber auch mehr Schutz: Wir haben er-
reicht, dass die Abgabe von Tabak und Alkohol an unter
16-Jährige in jeder Form verboten ist. Als Erfolg werten
wir auch die Selbstverpflichtung der Kinowerber und Ki-
nos, bis 18 Uhr keine Tabak- und Alkoholwerbung zu zei-
gen. Sie zeigen hier gesellschaftliche Verantwortung, die
wir ausdrücklich begrüßen und die wir uns auch von den
privaten Rundfunkmedien wünschen würden. Spielhallen
und Glücksspiele bleiben weiterhin verboten. Wir haben
hier ein Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung
und Schutz gefunden.
Im Jugendmedienschutz passt sich der Rahmen an den
verantwortlichen Umgang auch mit den neuen Medien an.
Filme, Videos und Computerspiele werden mit Alters-
kennzeichnung versehen und auf jugendgefährdende In-
halte hin geprüft. Gewaltverherrlichung und Pornografie
in jeglichen Medien, also auch im Internet, dürfen für Ju-
gendliche nicht zugänglich sein und werden bestraft. Wir
können uns überlegen, ob Erwachsene auf solche Dar-
stellungen nicht auch verzichten können. Denn Jugendli-
che orientieren sich stärker an dem, was ihnen vorgelebt
wird, als an gesetzlichen Regelungen.
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Wir setzen bei der Kontrolle und Ahndung in diesem
Bereich stark auf die freiwillige Selbstkontrolle der Inter-
netbetreiber. Diese arbeiten eng mit der Bundesprüfstelle
und den Landesbehörden zusammen. Dadurch beschleu-
nigt sich der Prozess der Indizierung, da künftig auch Ju-
gendbehörden und Verbände auf jugendgefährdende Dar-
stellungen hinweisen können. Diese Hinweise müssen
berücksichtigt werden. Auch die neu geschaffenen Auf-
sichtsstellen der Länder gewähren eine stärkere Kon-
trolle; denn viele Augen sehen mehr als vier.
Den Eltern geben wir für das Internet nutzerautonome
Filtersysteme an die Hand, die den Zugang für Kinder und
Jugendliche zu jugendgefährdenden Websites verhindern
können. Ebenfalls haben Eltern mit dieser Novellierung
die Möglichkeit, mit ihren Kindern im Kino Filme zu se-
hen, die für eine andere Alterstufe gekennzeichnet sind.
Damit fördern wir die Auseinandersetzung in der Familie
über die Medieninhalte. Der Rahmen für einen modernen
Jugendschutz ist also gesteckt.
Um Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu
fördern und um sie ernst zu nehmen, ist Politik jedoch
weiterhin gefragt. Wir müssen am Prinzip der Generatio-
nengerechtigkeit festhalten. Das beginnt bei der Beseiti-
gung der Kinderarmut – Sie kennen unser grünes Konzept
der Kindergrundsicherung – und zieht sich durch den Be-
reich der Betreuungsangebote in Kindergärten und Schu-
len bis hin zu einer Ausbildungsplatzgaranie, die wir mit
der Verstetigung des JUMP-Programmes erreichen wol-
len.
Die Gesellschaft fordert von den Jugendlichen soziale
Kompetenz, Medienkompetenz, interkulturelle Kompe-
tenz, naturwissenscaftliche Kompetenz. Ich könnte diese
Aufzählung noch lang fortführen. Aber wo bieten wir den
Jugendlichen Lernorte an? Zahlreiche Jugendprojekte
und Verbände arbeiten in diesem Bereich ständig von Fi-
nanzierungssorgen geplagt. Besonders in den neuen Bun-
desländern fällt die Finanzknappheit auf den Kinder- und
Jugendbereich zurück. Ich frage uns alle ernsthaft, ob wir
uns dieses Signal wirklich wünschen. Ich glaube das
nicht. Deshalb lassen Sie uns alle gemeinsam um nicht
nur für ein besseren Jugendschutz, sondern auch für eine
bessere finanzielle Ausstattung im Kinder- und Jugendbe-
reich einsetzen!
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Zu Beginn meiner
Rede möchte ich noch einmal ganz deutlich machen,
worin wir uns hier fraktionsübergreifend einig sind. Wir
wollen und müssen unsere Kinder und Jugendlichen stär-
ken und schützen, deshalb ist eine Novellierung des Ju-
gendschutzes, vor allen Dingen des Jugendmedien-
schutzes dringend geboten. Der Jugendschutz muss
seinem eigentlichen Auftrag, nämlich dem Schutz der Ju-
gend wieder stärker gerecht werden. Bei der furchtbaren
Tat von Erfurt handelt es sich zwar um eine Einzeltat, de-
ren Beweggründe und auch Gesamtursachen zurzeit noch
nicht abschließend bewertet werden können. Da sich aber
die Zeitabstände zwischen einzelnen schrecklichen Vor-
fällen immer stärker verkürzen, muss man feststellen,
dass es sich doch auch um ein gesellschaftliches Problem
handelt. Daher werden wir uns auch einig sein – davon bin
ich überzeugt – dass wir gemeinsam eine breite Allianz
aufstellen müssen gegen die hemmungslose Darstellung
von Gewalt in den Medien, im Internet, in Computerspie-
len und, und, und.
Wir alle müssen Jugendliche gegen Gewalt stark ma-
chen. Die Erziehung der Kinder durch die Eltern hat da-
bei für uns höchste Priorität. Eltern übernehmen mit der
Erziehungsaufgabe eine große Verantwortung und leisten
einen außerordentlichen Beitrag für unser aller Zusam-
menleben. Deshalb müssen wir Mütter und Väter unter-
stützen und sie in ihrer Erziehungskompetenz stärken.
Das hat für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorrangige
Bedeutung und deshalb ist die dritte Säule unseres Fami-
lienkonzeptes ausschließlich der Stärkung der Erzie-
hungskompetenz der Eltern gewidmet. Wir sind davon
überzeugt, dass feste innerfamiliäre Beziehungen Jugend-
liche in ihrem Selbstwertgefühl stärken und ihr Selbstbe-
wusstsein aufbauen.
Wir müssen für unsere Kinder und Jugendlichen dafür
sorgen, dass Information und Kommunikation frei sind
von Manipulation, extremistischen Tendenzen, sozialer
Einseitigkeit und Ausgrenzung. Medienverantwortung
heißt für uns insbesondere Verantwortung für den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt, bedeutet aber auch Verant-
wortung für die Vermittlung von Normen, Denk- und Ver-
haltensmustern, die mit unserer Gesellschafts- und
Sozialordnung in Einklang stehen. Dabei müssen wir
auch auf das Spannungsverhältnis hinweisen, in dem un-
sere Kinder und Jugendlichen heute stehen. Auf der einen
Seite haben wir ihre Interessen, die natürlich berechtigt
sind und auch gefördert werden müssen, auf der anderen
Seite aber auch die Anforderungen einer modernen Infor-
mations- und Kommunikationsgesellschaft. Für uns ist es
wichtig, unserer Jugend nicht nur Verbote entgegenzuhal-
ten und die modernen Medien zu verteufeln, sondern wir
müssen ihnen die Chancen und Möglichkeiten der neuen
Medien eröffnen, damit sie diese für ihre persönliche Ent-
wicklung nutzen können. Nur so können unsere Kinder
ein selbstbestimmtes Leben leben. Deshalb muss die Stär-
kung der Medienkompetenz – sowohl der Kinder als auch
der Eltern – für uns oberste Priorität haben.
Selbst Rot-Grün hatte dies im Koalitionsvertrag der
Bundesregierung zur Jugendpolitik schriftlich fixiert; lei-
der sieht die Realität nach vier Jahren Rot-Grün anders
aus. Sie haben die dringenden Probleme des Jugend-
schutzes und Jugendmedienschutzes bisher nicht gelöst,
obwohl wir von der Union bereits zu Beginn der Legisla-
turperiode eine Novellierung des Jugendmedienschutzes
auf nationaler und internationaler Ebene gefordert haben.
Sie sind leider erst – und das muss ich sagen – durch Er-
furt aufgeschreckt worden, sodass Sie nun handeln. Ich
meine, Sie handeln überhastet, denn es gibt noch
Klärungsbedarf, das haben uns die Anhörungen gezeigt.
Nicht alles, was und wie Sie es jetzt gesetzlich regeln,.
stößt auf Zustimmung. Deshalb hatten wir darum gebeten,
dass wir die Anhörungsergebnisse in Ruhe auswerten
können, um das Jugendschutzgesetz jetzt so zu novellie-
ren, dass es eine echte Novellierung ist und nicht wieder
in kürzester Zeit nachgebessert werden muss. Sie haben
uns diese Möglichkeit nicht gegeben. Zwischen An-
hörung und abschließender Beratung im Ausschuss hatten
wir nur zwei Tage Zeit, um die Auswertung der Anhörung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24529
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vorzunehmen und zu reagieren – einfach zu wenig. Sie
selber scheinen ja auch noch Beratungsbedarf zu haben.
Denn wie sonst ist der heute vorliegende Entschließungs-
antrag zu verstehen? Wenn ich an den ersten Entwurf
denke, dann ist festzustellen, dass Sie nach der öffentli-
chen Diskussion von einigen wesentlichen Forderungen
abgewichen sind. Ich nenne hier nur die Lockerung der
Ausgehzeiten.
Der nun von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf genügt –
nicht nur nach unserer Meinung, sondern auch nach der
vieler Sachverständiger – den Anforderungen an ein über-
sichtliches, organisiertes und vernetztes Schutzsystem
mit eindeutigen Zuständigkeitsregelungen für Jugend-
ämter, Ordnungsämter, Gewerbeaufsichtsämter und Poli-
zei, auf das sich die Eltern auch verlassen können. So hat-
ten wir Ihnen Änderungsvorschläge gemacht, zum
Beispiel § 7, in dem es um jugendgefährdende Veranstal-
tungen und Betriebe geht. Wir wollten diesen konkreter
fassen. Sie haben unsere Vorschläge leider nicht ange-
nommen. Die zuständigen Behörden hätten durch diese
Klarstellung eine erleichterte Handhabung für den Voll-
zug. Sie sagen aber Nein.
Der gesamte Bereich der personensorgeberechtigten
und erziehungsberechtigten Personen muss deutlicher ge-
klärt werden. Ich möchte hier noch einmal erwähnen, dass
die Notwendigkeit besteht, die Erziehungsberechtigung
auf Dauer oder zeitweise übertragen zu können. Aber
nach dem Entwurf – das ist unser Knackpunkt – ist es
möglich, die Erziehungsberechtigung auf den volljähri-
gen Freund oder die volljährige Freundin des Kindes oder
des Jugendlichen zu übertragen. Ich glaube, dass nach ei-
nem modernen Partnerschaftsverständnis in einer Bezie-
hung nicht ein Partner die Erziehungsberechtigung über
den anderen ausüben kann, wie zum Beispiel dann bei
Freund und Freundin möglich.
Die CDU/CSU-Fraktion freut sich, dass Sie doch den
einen und anderen Gedanken von uns aufgenommen ha-
ben, so zum Beispiel bei der Notwendigkeit der Regelung
zum Jugendmedienschutz auf internationaler Ebene.
Auch die Stärkung der Medienkompetenz kommt in
Ihrem Antrag vor, ebenso Prüfaufträge. Ich persönlich
hätte mir gewünscht – das hätten wir, wenn wir mehr Zeit
gehabt hätten, auch leisten können – dass wir uns im Be-
reich der Altersfreigabe noch einmal Gedanken hätten
machen können. Es wäre meines Erachtens wichtig ge-
wesen. Nichtsdestotrotz werden wir uns heute bei der Ab-
stimmung enthalten, weil wir die Notwendigkeit einer Re-
form sehen.
Klaus Haupt (FDP): Schon seit Jahren wird über die
Notwendigkeit eines verbesserten gesetzlichen Jugend-
schutzes diskutiert. Aber erst jetzt, mitten im Vorwahl-
kampf, hat die Ministerin plötzlich das Thema für sich ent-
deckt. Die Hektik, mit der Jugendministerin Bergmann
innerhalb weniger Sitzungstage am Ende der Legislatur-
periode das Jugendschutzgesetz durch die Gremien brin-
gen will, ist unangemessen. Durch den unsinnigen Ter-
mindruck wird eine sachlich fundierte Beratung
verhindert. Das schwächt den Jugendschutz, statt ihn zu
stärken. Es sollte aufgrund aktueller, tragischer Ereignisse
nicht dazu kommen, dass wesentliche Änderungen im Eil-
verfahren durchgesetzt werden, ohne die notwendige
Bandbreite an Expertenmeinungen anzuhören. Eine brei-
tere wissenschaftliche Basis für die Gesetzesnovelle, die
zudem mit internationalen Regelungen verzahnt werden
muss, wäre erforderlich; denn für eine Reform des gesetz-
lichen Jugendschutzes ist Sorgfalt das wichtigere Gebot als
Eile. Doch das übereilte Gesetzgebungsverfahren fand und
findet nun – wie im Wahljahr zu erwarten – in einer Atmo-
sphäre großer Emotionalität statt, in der Sachargumente nur
teilweise angemessen zu diskutieren waren.
Der Gesetzentwurf enthält begrüßenswerte Elemente.
Beispielsweise kann die Alterskennzeichnung von Com-
puterspielen den Eltern bei der schwierigen Entscheidung
helfen, was sie ihren Kindern zumuten wollen und was
nicht. Die erweiterten Kompetenzen der Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Medien können helfen, effektiver
gegen solche Gefährdungen vorzugehen. Wesentliche
Punkte des Jugendmedienschutzes sind gemeinsam mit
den Ländern erarbeitet worden. Zersplitterte Jugend-
schutzregelungen werden nun in einem Gesetz zusam-
mengefasst, manche Kompetenzunklarheiten beseitigt
und Schwachpunkte in den bisherigen Regelungen besei-
tigt. Das Verbot der Abgabe von Tabakwaren analog zum
Alkoholverkaufsverbot ist systematisch wie sachlich
sinnvoll und war überfällig.
Der notwendige gesetzliche Jugendschutz darf nicht
einzig und allein von dem Ziel geprägt sein, Kinder und
Jugendliche vor Gefährdungen zu schützen. Zu berück-
sichtigen ist vielmehr auch das Recht der Kinder und Ju-
gendlichen auf ihre eigene Kultur, auf kindgerechte Me-
dien und Medieninhalte. Der notwendige Jugendschutz
einerseits ist abzuwägen gegen die andererseits für eine
Kompetenzentwicklung erforderlichen Freiheiten der
Kinder und Jugendlichen. Der Gesetzentwurf der Bun-
desregierung enthält insofern neben guten Ansätzen vie-
les, was handwerklich schlecht gemacht ist, und manches,
was politisch bedenklich ist.
Einige Punkte hat die Bundesregierung mit ihren nach-
geschobenen Änderungsanträgen zum eigenen Gesetzent-
wurf noch in letzter Minute ausgebessert so zum Beispiel
die außerordentlich fragwürdige Idee, Kinowerbung für
Alkohol und Tabak der Altersgrenzenregelung zu unter-
werfen. Schon in der ersten Lesung habe ich dies kriti-
siert; ich begrüße, dass die Regierung jetzt zur Vernunft
gekommen ist und unseren Vorschlag, weiterhin mit einer
Zeitgrenze zu arbeiten, übernommen hat. Allerdings: Die
bisherige Selbstverpflichtung, wonach es im Nachmit-
tagsprogramm keine solche Werbung zu sehen gab, hat
sich durchaus bewährt. Eine gesetzliche Regelung einzu-
führen, wo sich bisher nach einhelliger Auffassung die
freiwillige Selbstbeschränkung der Filmwirtschaft be-
währt hat, ist unsinniger Aktionismus. Diese Regelung
zeugt von einem Menschenbild, das den Akteuren in der
Gesellschaft nichts und der staatlichen Bürokratie alles
zutraut. Wir Liberalen lehnen das ab.
Die Systematik der Altersgruppendifferenzierung im
Rahmen der FSK konnte in dem übereilten Gesetzge-
bungsverfahren leider nicht problematisiert werden. Die
FDP ist der Auffassung, dass sich Kinder im Alter zwi-
schen 6 und 12 Jahren erheblich stärker verändern und
entwickeln als im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Dem-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224530
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entsprechend wäre eine zusätzliche Altersgrenze zwi-
schen 6 und 12 Jahren zu diskutieren.
Die FDP-Bundestagsfraktion macht mit ihrem Ent-
schließungsantrag deutlich, dass neben diesen Punkten
viele handwerkliche Schwächen, insbesondere unklare
Formulierungen und Definitionen, die Qualität der No-
velle beeinträchtigen. Wir denken dabei an die Frage, wie
die erziehungsbeauftragte Person ihren Auftrag darzule-
gen hat, oder die Präzisierung der Begriffe der Informati-
ons-, Instruktions- und Lehrfilme, die ebenso wie der Be-
griff der Jugendbeeinträchtigung im Gesetz noch zu
wenig genau sind.
Rechtliche Regelungen zum Jugendschutz können nie
mehr, als einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft
als Ganzes Kinder und Jugendliche vor Gefährdungen
schützt. Damit der gesetzliche Jugendschutz diese Auf-
gabe wirkungsvoll erfüllen kann, braucht es ein breites
Engagement aller für das Aufwachsen der jungen Gene-
rationen verantwortlichen Instanzen. Dazu gehört die Ver-
antwortung aller – nicht nur der staatlichen Stellen – für
den Schutz der Jugend.
Die Medien müssen ihre Rolle, ihre Verantwortung in
diesem Zusammenhang neu überdenken: Exzessive und
hochemotionale Berichterstattung von allen Arten von
Gewalttaten sind zwar ein Garant für hohe Einschaltquo-
ten. Gewalt darf aber kein probates Vehikel sein, in den
Medien Resonanz zu finden. Wenn Kinder und Jugendli-
che in den Medien exzessive Gewalt als erfolgreiches
Mittel zur Erzielung von Aufmerksamkeit erfahren, wenn
sie erleben, dass Gewalt sich lohnt, wird es schwer, sie
vom Gegenteil zu überzeugen.
In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung und
Stärkung der Medienkompetenz von Eltern und Kindern
unabdingbar. Denn bei aller Kritik an Staat oder Medien:
Die eigene Verantwortung jedes Einzelnen darf nicht aus
dem Blickfeld geraten. Wissen Eltern immer, was Ihre
Kinder gerade am Computer spielen? Wollen Sie es über-
haupt wissen? Ist es nicht eine scheinbar einfache Lösung,
Kinder mit Fernsehen und Computerspiel zu beschäfti-
gen? Machen sich Lehrer immer ausreichend Gedanken
über ihre Problemschüler? Können Sie das angesichts ih-
rer sonstigen Arbeitsbelastung überhaupt?
Unsere Kinder brauchen – auch im Jugendalter – un-
sere Zuwendung und Wärme und viel Verständnis, nicht
nur in Momenten schrecklicher Ereignisse. Wie oft bet-
teln sie stumm oder schreien laut nach Zuwendung – und
wie oft bleiben sie im lärmenden Getriebe des Alltags un-
gehört! Die Antwort auf solche Fragen ist viel schwieri-
ger und unangenehmer als die Forderung nach der Ände-
rung von Gesetzen. Jeder muss sich dieser Verantwortung
stellen.
Angela Marquardt (PDS): Der vorliegende Gesetz-
entwurf zum Jugendschutz ist durch den Änderungsan-
trag der Koalition besser geworden. Gut ist er deshalb
aber noch nicht. Wir sehen durchaus eine Reihe vernünf-
tiger Ansätze, halten aber das Gesetz für nicht ausgereift.
Ich bin vor allem froh, dass der Änderungsantrag der
Koalition ganz viel von der Kritik berücksichtigt, die bei
der Anhörung im Familienausschuss von Sachverständi-
gen geäußert wurde. Wir erleben leider viel zu selten, dass
man das Urteil der eingeladenen Sachverständigen dann
auch tatsächlich zum Anlass für Änderungen nimmt.
Ich bin zwar nach wie vor nicht glücklich darüber, dass
Sie in dem Gesetz auf Filtersoftware setzen. Gut ist aber,
dass Sie ihre Ambitionen nun zumindest auf so genannte
nutzerautonome Filter eingeschränkt haben.
Schade ist hingegen, dass als Beisitzer für die Bundes-
prüfstelle für jugendgefährdende Medien nach wie vor In-
teressenvertreter der Jugendlichen so gut wie gar nicht
vorkommen. Wo ist zum Beispiel die Deutsche Jugend-
presse, wie es die Vertreterin der Bundesschülervertre-
tung in der Anhörung vorgeschlagen hat? Ich finde es
ganz wichtig, Jugendliche an sie betreffenden Entschei-
dungen zu beteiligen. Verantwortungsbewusste Jugendli-
che bekommt man nur, wenn man ihnen auch Verantwor-
tung überträgt, nicht wenn man sie bevormundet. Und
verantwortungsbewusste Jugendliche sind immer noch
der beste Jugendschutz.
Ich sage Ihnen auch, was für den Jugendschutz am
Schlechtesten ist: Wenn Interessenvertreter und Lobbyis-
ten die Hand führen. Ich habe bei der Anhörung gefragt,
weshalb man im Kino Alkoholwerbung vor 18 Uhr ver-
bieten will, während jede Sportübertragung von Bierwer-
bung eingerahmt ist und Alkoholreklame jedes zweite
Fußballertrikot schmückt? Ist Werbung im Kino etwa
schädlicher, als wenn sie Tag für Tag im Fernsehen läuft?
Eine Studie, in der das behauptet wird, müssen Sie mir
erst einmal zeigen.
Ich bekam in der Anhörung die einzig logische Ant-
wort, nämlich dass dies wohl eine Frage der Lobby sei,
wer sich da besser durchsetzen könne als andere. Wohl-
gemerkt: durchsetzen gegenüber der Politik, gegenüber
uns! Mit diesem Gesetzentwurf macht sich der Bundestag
zum Spielball verschiedener wirtschaftlicher Interessen,
und zwar auf Kosten der Jugendlichen.
Lassen Sie mich als Letztes noch zwei Kritikpunkte der
Bundesschülervertretung aus der Anhörung vortragen. In
§ 5 Abs. 2 heißt es, die Anwesenheit von Jugendlichen un-
ter 16 Jahren auf Tanzveranstaltungen sei Ausnahmsweise
doch bis 24 Uhr gestattet, wenn es sich um Brauchtums-
pflege handele. Was, bitte, soll denn das sein? In Diskos
dürfen Jugendliche nicht, aber aufs Oktoberfest? Sie dür-
fen also ausgerechnet auf Feste, die ganz auf Erwachsene
und dementsprechend auf drastischen Alkoholkonsum
ausgerichtet sind. Das ist gelinde gesagt Unfug und ver-
antwortungslos.
Und noch eine Bemerkung der Schülersprecherin
möchte ich mir hier zu Eigen machen: Gewalt, das ist
nichts, was einem nur in den Medien begegnet, sondern
vor allem tagtäglich im realen Leben. Es war diese Bun-
desregierung selbst, die Gewalt und sogar Kriege als Mit-
tel zur Konfliktbewältigung wieder salonfähig gemacht
hat. Der Kampf gegen die Bilder von Gewalt und gegen
die Bilder von Kriegen muss für Jugendliche dann natür-
lich recht unglaubwürdig erscheinen. Und mir erscheint
das auch so.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Mit dem Entwurf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24531
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des neuen Jugendschutzgesetzes, den wir heute in zweiter
und dritter Lesung beraten, reagieren wir auf die Ent-
wicklungen, die durch die neuen Medien entstanden sind,
und setzen einen neuen Rahmen für die Zusammenarbeit
von Bund und den Ländern.
Bund und Länder sind sich im Hinblick auf den Be-
reich der Informations- und Kommunikationsdienste ei-
nig, dass die derzeitige Medienordnung zahlreiche
Schwachpunkte aufweist und einer dringenden Novellie-
rung bedarf. Der Gesetzentwurf setzt die mit den Minis-
terpräsidenten aller Bundesländer vereinbarten Eck-
punkte um und schafft zugleich die gesetzliche Grundlage
dafür, dass die Länder den elektronischen Medienbereich
umfassend in einem Staatsvertrag regeln können. Das
heißt, das neue Jugendschutzgesetz ist Voraussetzung
dafür, dass die Länder ihren Entwurf eines Jugendme-
dienschutz-Staatsvertrages verabschieden können.
Und auch die Länder sind an einem schnellen In-Kraft-
Treten der gesamten Reform der Medienordnung im Be-
reich des Kinder- und Jugendschutzes interessiert. So fin-
det noch in diesem Monat im Auftrag aller Länder die
Anhörung zu dem Staatsvertragsentwurf in Berlin statt.
Zu einem Zeitpunkt, wo Bund und Länder im Interesse
eines effektiven Kinder- und Jugendmedienschutzes an
einem Strang ziehen, hätte ich mir gewünscht, dass auch
die Opposition an diesem Strang zieht.
Sie hat sich in den Ausschuss-Sitzungen der Stimme
enthalten, also nicht mitgemacht. Dabei ist es für den
Schutz unserer Kinder und Jugendlichen dringend erfor-
derlich, zu Handeln und nicht lediglich still zu halten. Die
tragischen Ereignisse in Erfurt haben gezeigt, dass auch
die Politik aufgerufen ist, schnellstmöglich zu handeln.
Ich fordere sie deshalb nochmals auf, ihre Haltung zu dem
Gesetzentwurf zu überdenken und bei dem gemeinsamen
Vorgehen von Bund und Ländern mitzumachen.
Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Gesetz-
entwurf für die Durchsetzung eines effektiven Kinder-
und Jugendschutzes wesentliche Verbesserungen bringt.
Deshalb will ich, als Jugendministerin hier noch einmal
klar betonen: Wir brauchen dieses neue Jugendschutzge-
setz. Wir werden dadurch die Sphäre des Aufwachsen un-
serer Kinder und Jugendlichen besser schützen, ohne sie
von der Welt abzuschotten.
Klar muss sein: Die Vorstellung und Wahrnehmung un-
serer Kinder und Jugendlichen darf nicht von verherrli-
chenden Gewaltdarstellungen überflutet werden. Deshalb
ist es besonders wichtig, dass für Computerspiele eine ge-
setzliche Alterskennzeichnungspflicht eingeführt wird.
Die Notwendigkeit einer verbindlichen Alterskennzeich-
nung zeigt sich insbesondere beim Computerspiel „Coun-
ter-Strike“. Die freiwillige Selbstkontrolle der Wirtschaft,
die USK, hatte die amerikanische Originalversion zwar
als „Nicht geeignet unter 18 Jahren“ eingestuft. Da es sich
jedoch bei der USK-Kennzeichnung nach der derzeitigen
Rechtslage lediglich um eine Empfehlung ohne jede ge-
setzliche Verbindlichkeit handelt, können die Jugendäm-
ter nichts dagegen unternehmen, wenn Jugendlichen der
Zutritt zu LAN-Partys, auf denen dieses Computerspiel
gespielt wird, gewährt wird. Dies muss geändert werden
und das wird geändert.
Mit dem neuen Jugendschutzgesetz ist die Alterskenn-
zeichnung rechtlich verbindlich, Verstöße haben klare
Rechtsfolgen. Die Jugendämter haben die Möglichkeit,
hier Bußgelder bis zu 50 000 Euro zu verhängen. Wichtig
ist auch, dass das Indizierungsverfahren bei der Bundes-
prüfstelle für jugendgefährdende Medien – wie diese
zukünftig heißt – neu geregelt wird.
Sie kann zukünftig auch ohne Antrag auf Anregung
von Jugendverbänden tätig werden. Überdies wird ihre
Zuständigkeit über die herkömmlichen Medien hinaus auf
den Bereich aller neuen Medien ausgedehnt. Zudem wird
der Katalog der Trägermedien, die schwer jugendgefähr-
dend sind, insbesondere im Hinblick auf Gewaltdarstel-
lungen erweitert. Und: Schon ohne Indizierung durch die
Bundesprüfstelle werden Trägermedien, die den Krieg
verherrlichen, die Menschen in einer die Menschenwürde
verletzenden Weise darstellen oder Jugendliche in ge-
schlechtsbetonter Körperhaltung zeigen, mit weit rei-
chenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten belegt.
Wichtig im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen
sind überdies die Regelungen zum Gesundheitsschutz.
Das Verbot der Tabakabgabe an Kinder und Jugendliche
unter 16 Jahren wird schon seit vielen Jahren von Kinder-
und Jugendschützern gefordert.
Im Gesetzentwurf wird diese berechtigte Forderung
endlich umgesetzt. Darüber hinaus wird die Kinowerbung
für Alkohol und Tabak zeitlich beschränkt. Wir haben uns
jetzt darauf geeinigt, dass diese Werbefilme vor 18 Uhr im
Kino nicht gezeigt werden dürfen. Ich denke, diese Rege-
lung ist vernünftig. Nach 18 Uhr sind nach Untersuchun-
gen nur 1,4 Prozent der Besucher jünger als 16 Jahre.
Angesichts der globalen Vernetzung kann und darf es
nicht allein bei nationalen Regelungen bleiben. Die Bun-
desregierung setzt sich deshalb für die Schaffung europa-
weiter und auch weltweiter Mindeststandards des Kinder-
und Jugendmedienschutzes ein und hat hierzu schon We-
sentliches beigetragen.
Jedoch kann die Notwendigkeit für internationale Re-
gelungen zum Jugendmedienschutz nicht dazu führen,
dass national kein gesetzlicher Kinder- und Jugendschutz
mehr betrieben wird.
Auch das Internet kann und darf kein rechtsfreier
Raum sein. Manche sprechen dem Staat jegliche Legiti-
mation ab, auf das weltweite Computernetz Einfluss aus-
zuüben. Das ist nicht meine Sicht der Dinge. Der Staat ist
und bleibt verpflichtet, die Rechte seiner Bürgerinnen und
Bürger vor denjenigen schützen, die dieses System miss-
brauchen.
Rechtsfreie Räume sind nicht akzeptabel. Geschützte
Rechtsgüter wie der Kinder- und Jugendmedienschutz,
der in unserer Verfassung verankert ist, dürfen in einer im-
mer mehr vernetzten Welt nicht aufgegeben werden. Un-
sere Richtschnur ist klar: Was offline rechtlich üblich ist,
das muss auch für den Onlinebereich gelten.
Wir wissen, dass staatlicher Jugendschutz allein nicht
ausreicht: Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass
Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und Erzieher
Beratung und Unterstützung im Umgang mit den Medien
brauchen. Kompetenz im Umgang gerade mit den neuen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224532
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Medien tut Not. Deshalb werden wir die Angebote für Fa-
milien erweitern, sich auch über neue Medien besser und
umfassender zu informieren. Die Selbstkontrolle der
Computerwirtschaft wird im August die verabredete In-
ternetseite zur Verfügung stellen, auf der sich Eltern über
Inhalte, Vorzüge und Gefahren von Computerspielen in-
formieren können.
Der Kinder- und Jugendschutz kann nur erfolgreich
sein, wenn wir in unserer Gesellschaft eine breite Allianz
gegen Gewalt haben. Gewalt muss in unserer Gesellschaft
in jeder Form geächtet werden. Das beginnt in der Fami-
lie und in den Schulen. Eine gewaltfreie Erziehung, das
Erlernen von friedlichen Konfliktlösungen, ist die beste
Grundlage für das Aufwachsen von Kindern.
Diese Politik hat die Bundesregierung in den letzten
knapp vier Jahren verfolgt.
Ich möchte mich bei allen Beteiligten für das außerge-
wöhnlich zügige Gesetzgebungsverfahren bedanken.
Das zeigt auch, dass hier im Deutschen Bundestag die
Interessen von Jugendlichen und ihren Eltern sehr ernst
genommen werden.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur
Regelung der Preisbindung bei Verlagserzeug-
nissen (Tagesordnungspunkt 34)
Monika Griefahn (SPD):Die Buchpreisbindung trägt
seit über 100 Jahren dazu bei, dass im deutschsprachigen
Kulturraum eine große Titelvielfalt und flächendeckende
Versorgung möglich ist – 90 Prozent des Marktes in
Deutschland und Österreich sind von der Preisbindung er-
fasst. So soll es auch bleiben. Die bislang auf vertraglicher
Basis geregelte Preisbindung bei Verlagserzeugnissen
bekommt deshalb jetzt eine verlässliche gesetzliche
Grundlage. Das schafft für alle Beteiligten Vorteile. Die
Regelung ist für jeden Interessierten zugänglich und die
Formulierungen sind leicht verständlich. Ich werde später
näher auf die einzelnen Bestimmungen eingehen.
Dieser Doppelcharakter des Buches wurde in der De-
batte über die Aufhebung der Buchpreisbindung deutlich.
Für ein Kulturgut von so überragender Bedeutung, wie es
das Buch ist, passen die europäischen Regelungen über
den Warenverkehr nicht ohne Modifizierung. Beim Buch
sind die kulturellen wie die sozialen Komponenten zu be-
achten. Ohne eine Preisregulierung geraten auf der einen
Seite kleine Sortiments- und Spezialbuchhandlungen in
Gefahr, aber insbesondere die Buchhandlungen in der
Fläche, die neben der Funktion als Buchverkaufsstelle
auch Kommunikations- und Treffpunkt sind sowie eine
pädagogische Aufgabe wahrnehmen, nämlich zum Bei-
spiel Kinder ans Lesen heranzuführen. Auf der anderen
Seite führt ein entgleistes Preisgefüge, das sich aus-
schließlich an Markterfordernissen orientiert, auch dazu,
dass viele Kunden sich Bücher einfach nicht mehr leisten
können. Das darf nicht sein. Deshalb müssen für Bücher
andere Regeln gelten.
Wie kam es überhaupt zu der Kontroverse über die
Buchpreisbindung? Die Europäische Kommission hatte
nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union die
grenzüberschreitende Regelung zur Buchpreisbindung
zwischen Österreich, der Schweiz und Deutschland, die
auf vertraglicher Basis getroffen worden war, kritisiert.
Sie argumentierte, diese Regelung stelle eine unzulässig
wettbewerbsbeschränkende Maßnahme dar. Das Europä-
ische Parlament hat dieser Auffassung der Kommission
bereits widersprochen. Das Europäische Parlament will
das Kulturgut Buch weniger unter Wettbewerbsrecht be-
handelt sehen, sondern hat sich vielmehr auf den so ge-
nannten Kulturartikel des Maastrichter Vertrages berufen,
der die EU-Mitgliedstaaten berechtigt, nationale Kultur-
politik zu betreiben. Das Europäische Parlament stellt da-
mit die kulturelle Dimension des Buches in den Vorder-
grund.
Das ist eine wichtige und die richtige Schwerpunktset-
zung. Bücher können und dürfen nicht wie jedes andere
Handelsgut im Warenverkehr behandelt werden. Denn
das Buch dient als Kommunikationsmittel von Sprachen
und Dialekten. Dadurch trägt es zur Integration von ho-
mogenen Sprachräumen bei fördert regionale Integration
von europäischen Kulturräumen und präsentiert gleich-
zeitig die kulturelle Vielfalt Europas. Es eignet sich zur
grenzüberschreitenden Verbindung solcher Kulturräume,
wie ihn auch der große deutschsprachige Raum darstellt.
Der europäische Einigungsgedanke wird durch den kultu-
rellen Austausch vorangetrieben unter anderem eben auch
und gerade durch die Verbreitung von Literatur in den
Landessprachen und in guten Übersetzungen. Die grenz-
überschreitende Buchpreisbindung ist ein unverzichtba-
res Mittel und Instrument europäischer Kultpolitik, das
die europäische Integration im Sinne einer Vertiefung be-
fördern kann.
Im Übrigen ist die Preisbindung von Verlegern, Auto-
ren und Buchhändlern gleichermaßen als sinnvoll aner-
kannt worden. Bei Wegfall der Buchpreisbindung könn-
ten kleinere und mittlere Verlage im Wettbewerb nicht
überstehen. Beispiel England: Es ist zwar nicht unbedingt
das große Massensterben eingetreten, aber die Bücher
sind nicht billiger geworden, sondern in der Regel hat die
Qualität nachgelassen. In den USA findet man in der
Fläche neben den Universitätsbuchhandlungen allenfalls
Bestseller im schlichten Paperback.
Die heutige Versorgung mit Buchhandlungen in
Deutschland ist so gut, dass auch abgelegene Gebiete er-
reicht werden. Damit ist die „geistige Versorgung“ der
Bevölkerung gewährleistet. Bei Wegfall der Preisbindung
könnte es zu einem Konzentrationsprozess im Markt
kommen, bei dem sich letztlich nur die großen Ketten
durchsetzen. Solche Tendenzen können wir schon heute
beobachten und hier gilt es – soweit das möglich ist – ge-
genzusteuern. Die Vielfalt der literarischen Versorgung
der Bevölkerung mit „geistigen Tankstellen“, so Helmut
Schmidt, wäre sonst auf Dauer gefährdet.
Dadurch unterstützen wir auch kleine und speziali-
sierte Verlage – übrigens auch schönere Ausstattungen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24533
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die die sinnliche Ausstrahlung des Kulturgutes Buch aus-
machen! –, die Arbeitsplätze schaffen und erhalten und
die Vielfalt bewahren helfen. Es geht hier auch um ver-
schiedene Formen des Angebotes von Büchern. Die Käu-
fer von Büchern sind so unterschiedlich wie die Titel.
Viele möchten einfach nicht in einer großen, anonymen
Massenbuchhandlung ohne intensive persönliche Bera-
tung ihre Einkünfte tätigen. Sie brauchen die persönliche
Ansprache, das Gespräch und die über lange Zeit ge-
wachsene Bindung an ihre Buchhandlung. Ein anderer
Bereich sind die kleinen Wissenschafts- und Universitäts-
verlage, wie sie etwa auch in den USAexistieren. Sie sind
für unsere wissenschaftliche Zukunft erforderlich. Auch
eine ausgefallene und wenig „Main-Stream-lastige“ Pro-
motion muss einen Verlag finden können, der ihre Veröf-
fentlichung mit wenig Aussicht auf Profit – nur mit der
Möglichkeit der Mischkalkulation und dem Hoffen auf
Bestseller geht dies auf – übernimmt.
Zum Schluss noch einige Worte zu den einzelnen Re-
gelungen. Das Gesetz schafft eingeschränkte Ausnahme-
regelungen. So sind verschiedene Endpreise für die so ge-
nannten Parallelausgaben, das heißt für Titel, die in
unterschiedlicher Ausstattung – Taschenbuch/Hardcover –
und/oder für verschiedene Destinatäre – freier Buchhan-
del/Buchclubs – erscheinen, zulässig. Klargestellt wird,
dass grundsätzlich Zwischenbuchhändler und Letztver-
käufer gleich behandelt werden; in besonderen Fällen je-
doch, wenn sich die Letztbuchhändler ganz intensiv für ei-
nen Titel eingesetzt, sind ausnahmsweise höhere Rabatte
als üblich für diese Letztverkäufer zulässig. Die Sorgen der
Kommunen und der kleineren Buchhandlungen dort haben
wir berücksichtigt. Es bleibt auch in der gesetzlichen Rege-
lung bei der Zulässigkeit von Preisnachlässen für Sammel-
bestellungen bei Büchern für den Gebrauch im Schulun-
terricht. Der Bitte der Hörbuchbranche, Hörbücher nicht in
die Regelung einzubeziehen, haben wir entsprochen.
Somit stimmen wir heute über ein sinnvolles, ausge-
wogenes und aufgrund der europarechtlichen Vorgaben
erforderliches Gesetz ab. Ich bin dankbar, dass auch und
gerade in Zeiten des Wahlkampfes alle Fraktionen im
Ausschuss für Kultur und Medien diesem Gesetz zustim-
men. Das zeigt die konstruktive Zusammenarbeit gerade
in diesem in dieser Legislaturperiode neu eingerichteten
Ausschuss, für den ich mich als Vorsitzende bedanke.
Anton Pfeifer (CDU/CSU): Es ist gut, dass es neben
den vielen Bereichen, in denen zwischen Regierung und
Opposition streitige Auseinandersetzungen über den rich-
tigen politischen Weg für die Zukunft unsere Landes ge-
führt werden, auch Felder gibt, die von Übereinstimmung
und Konsens geprägt sind. Zu diesem Konsens gehört,
dass die Buchpreisbindung, die in Deutschland Tradition
hat und in unserem Kartellrecht abgesichert ist, auch in
der Zukunft Bestand haben soll.
Feste Ladenpreise für Bücher sind eine Grundvoraus-
setzung für eine lebendige und vielseitige Literaturland-
schaft in Deutschland in einem sowohl stabilen als auch
differenzierten System unabhängiger Verlage und Buch-
handlungen. Sie sind ein wichtiges Instrument zu Erhal-
tung der Vielfalt im Verlagswesen. Sie tragen sehr zur
Existenzsicherung auch kleinerer Verlage, die oftmals
von großer Bedeutung für das Buchwesen in Deutschland
sind, bei und begünstigen ganz entscheidend die Heraus-
gabe von Büchern mit geringer Auflage. Sie ermöglichen
also die Herausgabe von Büchern, die ohne die Buch-
preisbindung kaum erscheinen würden, was beispiels-
weise auch für jüngere, nicht oder noch nicht arrivierte
Autoren von großer Bedeutung ist. Sie soll schließlich
vielen um ihre Existenz ringende Buchhandlungen in
kleineren Städten und in ländlichen Gebieten eine bessere
Existenzchance bieten; denn gerade diese Buchhandlun-
gen sind auch ein in jeder Hinsicht schützenswerter Be-
standteil des kulturellen Reichtums und der kulturellen
Vielfalt unseres Landes.
Bücher sind nicht nur Wirtschaftsgut, sie sind in be-
sonderer Weise auch Kulturgut. Ihre Produktion und ihr
Vertrieb dürfen deshalb nicht allein nach den Kriterien des
allgemeinen Wettbewerbsrechts behandelt werden. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich deshalb immer
und mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass die Buchpreis-
bindung nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch
im grenzüberschreitenden Handel innerhalb eines ge-
schlossenen Sprachraumes Berücksichtigung findet und
auch von der Europäischen Union anerkannt wird.
Dies war schon in der Regierungszeit von Bundes-
kanzler Dr. Helmut Kohl ein oftmals mühsamer Weg. Die
Europäische Kommission hat zwar 1996 in einem so ge-
nannten Comfort-Letter die Buchpreisbindung als vom
Kartellverbot freistellungsfähig bezeichnet; der zustän-
dige Wettbewerbskommissar und die zuständige General-
direktion wollten aber 1998 diese Regelung nicht mehr
verlängern, was das Ende der Buchpreisbindung in
Deutschland bedeutet hätte. Damals haben wir in sehr in-
tensiven Verhandlungen und vor allem durch eine direkte
Intervention des damaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut
Kohl beim Präsidenten der Europäischen Kommission er-
reicht, dass die Buchpreisbindung zunächst bis zu einer
endgültigen und rechtskräftigen Entscheidung auf der
Ebene der Europäischen Union erhalten geblieben ist.
Gleichzeitig hatte damals wiederum auf Ininitiative der
Bundesregierung die Europäische Kommission eine Stu-
die in Auftrag gegeben, in welcher die Auswirkungen der
so genannten Kulturverträglichkeitsklausel in Art. 128 d
des EG-Vertrags auf die grenzüberschreitende Buchpreis-
bindung untersucht werden sollte. Die Kommission hat
damals die vom Wettbewerbskommissar gegen die Buch-
preisbindung vorgeschlagenen Maßnahmen im Hinblick
auf diese Studie zugestellt.
Das war ein erster Durchbruch in den Verhandlungen
zur Absicherung der Buchpreisbindung in der EU und
zeigt im Übrigen auch, wie richtig und notwendig es war,
dass die damalige Bundesregierung darauf bestanden und
es durchgesetzt hat, dass die Kulturverträglichkeitsklau-
sel Aufnahme in das Europäische Vertragswerk gefunden
hat.
Leider ist nach dem Regierungswechsel 1998 die Fort-
setzung dieses erfolgsversprechenden Verhandlungs-
weges zur Absicherung der Buchpreisbindung in der Eu-
ropäischen Union durch die, wie heute jedermann weiß,
ungeschickte, der Sache wenig dienliche und unangemes-
sene Verhandlungsführung des damaligen Staatsministers
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224534
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Naumann inbesondere gegenüber dem damaligen Wettbe-
werbskommissar der Europäischen Kommission wieder
ernsthaft gefährdet worden. Umso mehr möchte ich es po-
sitiv würdigen, dass jetzt nicht zuletzt mit diesem Gesetz
die Buchpreisbindung erhalten bleibt und in der Europä-
ischen Union abgesichert werden kann.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt deshalb
diesem Gesetz in der Schlussabstimmung zu, auch wenn
wir uns gewünscht hätten, dass die Regierungskoalition
die von uns in den Ausschussberatungen angeregten und
in jedem Fall auch beantragte Klarstellungen zu einzelnen
Bestimmungen nicht nur in die Gesetzesmaterialien, also
in den schriftlichen Bericht des federführenden Aus-
schusses, sondern in den Gesetzestext aufgenommen
hätte. Da wir uns hier nicht durchsetzen konnten, werden
wir jetzt sehr sorgfältig darauf zu achten haben, ob und in-
wieweit im Konfliktfall die zuständigen Gerichte diese im
schriftlichen Bericht des Ausschusses wiedergegebenen
Auslegungshinweise des Gesetzgebers berücksichtigen.
Sollte dies nicht in dem Maße geschehen, wie wir uns das
vorstellen, wird eine unbezügliche Nachbesserung des
Gesetzes geboten sein.
Ich hoffe auch, dass die Bundesregierung und die Koali-
tionsfraktionen sich ihre Entscheidungen zum so genannten
Schulbuchrabatt genau überlegt haben, insbesondere genau
daraufhin überlegt haben, dass die Nichtberücksichtigung
aller Vorschläge des Bundesrates, denen über die Partei-
grenzen hinweg zehn Bundesländer zugestimmt haben und
die nur von einem der 16 Länder abgelehnt wurden, nicht
am Ende zu einer Anrufung des Vermittlungsausschusses
durch den Bundesrat führt. Dies wäre jetzt, am Ende der Le-
gislaturperiode des Bundestages, deshalb fatal, weil im Falle
der Anrufung des Vermittlungsausschusses nicht ausge-
schlossen werden kann, dass dieses Gesetz mit dem Ablauf
der Legislaturperiode der Diskontinuität anheim fällt und
dann das Gesetzgebungsverfahren in der nächsten Legisla-
turpiode des Bundestages nochmals neu beginnen müsste.
Ich möchte jedenfalls der Bundesregierung nahe legen, dies
sind jetzt unverzüglich in den entsprechenden Gesprächen
mit den Ländern vor dem zweiten Durchgang im Bundesrat
so zu klären, dass dieses Gesetz auch tatsächlich in Kraft tre-
ten kann. Die Verlage und der Buchhandel sollen sich end-
lich darauf verlassen können, dass die Buchpreisbindung
auf einer verlässlichen rechtlichen Grundlage dauerhaft ge-
sichert bleibt.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn wir heute das Buchpreisbindungsgesetz verab-
schieden, gießen wir eigentlich die bestehenden Marktge-
pflogenheiten nur in eine gesetzliche Form. Was bis heute
auf Absprachen der Verlagshäuser und Buchändler be-
ruhte, wird bald aufgrund eines Gesetzes gültig sein.
Dieser Weg ist genau richtig; denn das System hat gut
funktioniert. Durch festgesetzte Preise für Verlagserzeug-
nisse werden Verlage, Buchhändler und nicht zuletzt die
Autoren geschützt. Wir haben in Deutschland eine viel-
fältige und qualitativ hochwertige Buchlandschaft. Die
Verlage decken – trotz zunehmender Konzentrationsten-
denzen – eine riesige Bandbeite ab und jeder kleine Ort in
Deutschland hat seine Buchhandlung, in der qualifiziertes
Personal fachkundig beraten kann.
Bücher sind mehr als bloße Papierwaren. Sie machen
einen großen Teil unserer geistigen Welt aus. Wir leben in
einer kurzatmigen Zeit, in der uns Wellen von Nachrich-
ten überrollen und dann schnell verebben, wo Menschen
durch Gerüchte und Skandale verbrannt werden, wo ei-
gentlich nichts Langsames und Durchdachtes mehr zu
zählen scheint. Gleichförmigkeit überwiegt in allen Teilen
das Leben. Da ist es fast ein Wunder, dass doch noch ein
so großes Interesse an Büchern besteht. Dieses Interesse
gilt es zu bewahren, zu fördern und auszubauen. Die
PISA-Studie hat es ja gezeigt. Obwohl unsere Bücherwelt
so breit und gut ist – lesen können die wenigsten.
Deshalb ist es so wichtig, die Bücher zu schützen. Die
rot-grüne Koalition hat auch dieses wichtige Projekt in die
Hand genommen und wird es heute abschließen. Dies ist
wieder ein Baustein mehr in unserer Kulturpolitik, der
– längst fällig – das kulturelle Leben in Deutschland ein
Stück weit mehr sichert. Die Details des Gesetzes sind
vielfältig und zum Teil nur für Juristen verständlich. Für
die Bürger und Bürgerinnen ist vor allem wichtig, dass der
Status quo in Bezug auf die Bücher und Musikalien bei-
behalten bleibt: Erstens. Bücher haben weiterhin feste
Preise. Es wird keinen Ausverkauf der Literatur geben.
Mit dem festgesetzten Preis können Verlage und Buch-
händler sicher kalkulieren und ihre Existenz sichern.
Zweitens. Die Unterwanderung der Preisbindung durch
den Reimport von Büchern für den deutschen Markt aus
Ländern ohne Preisbindung wird verhindert, soweit das
durch eine nationale Regelung möglich ist.
Das Schöne an der Kulturpolitik ist, dass es öfter als in
anderen Bereichen möglich ist, sich über die Parteigren-
zen hinweg aufgrund von sachlichen Erwägungen zu ei-
nigen. Das Buchpreissbindungsgesetz ist dafür ein weite-
res Beispiel: Hier haben wir nicht nur im Parlament über
die Grenzen der Fraktionen hinweg einen breiten Konsens
gefunden, sondern wir haben auch zusammen mit den In-
teressenvertretern der Buch- und Verlagsbranche zu all-
seits zufrieden stellenden Einigungen kommen können.
So sollten politische Prozesse wahrlich öfter ablaufen:
sachlich und kompromissorientiert und ohne viel Aufhe-
bens für eine gute Sache.
Die Buchpreisbindung ist noch in einer weiteren Hin-
sicht beachtlich: Die lange Vorgeschichte dieses Gesetzes
hat gezeigt, wie wichtig es ist, für die Kulturpolitik eine
starke und einheitliche Stimme auf Bundesebene zu ha-
ben. Die beiden Kulturstaatsminister – Michael Naumann
in der ersten Phase und nun Julian Nida-Rümelin – waren
wesentlich daran beteiligt, dass unser Anliegen, eine na-
tionale Buchpreisbindung gegen die kartellrechtlichen
Bedenken auf EU-Ebene durchzusetzen, schließlich in
den vorliegenden Gesetzentwurf mündete. Die Aufwer-
tung der Kulturpolitik ist ein konkreter Erfolg dieser Ko-
altion, die sich in entscheidenden Reformen klar bewie-
sen hat.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Es ist durch-
aus nicht selbstverständlich, dass sich Liberale in großer
Geschlossenheit zum Instrument der Preisbindung beken-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24535
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nen, ist sie doch eine Ausnahme vom ordnungspolitischen
Prinzip der Preisbildung nach Angebot und Nachfrage.
Die Argumente für eine Buchpreisbindung sind aber so
überzeugend, dass sich sogar der „Markt-Graf“ Otto Graf
Lambsdorff zu ihr bekennt; denn wir wissen aus interna-
tionalen Erfahrungen, zum Beispiel in unserem Nachbar-
land Frankreich, dass die Freigabe der Buchpreise zu einer
schwerwiegenden Einschränkung an Vielfalt gleicher-
maßen in der Buchproduktion wie im Buchhandel führt.
Die bereits 1887 bei uns eingeführte Buchpreisbindung
verdient also, verteidigt zu werden.
Wir halten es für bedauerlich, dass aus europarechtli-
chen Gründen das bisherige System der auf freiwilligen
Absprachen beruhenden Preisbindung nicht aufrechter-
halten werden kann und durch eine gesetzliche Regelung
abgesichert werden muss. Der Gesetzentwurf der Bun-
desregierung in seiner veränderten, heute zur Abstim-
mung stehenden Fassung, findet aber auch unsere Zu-
stimmung. Entgegen sonstigem – schlechten – Brauch hat
sich die rot-grüne Koalition nicht nur Änderungsvor-
schlägen der Experten, insbesondere des Börsenvereins,
zugänglich gezeigt, sondern auch Anregungen aus den
Reihen der Opposition. Insofern hat auch das Gesetzge-
bungsverfahren eine beispielgebende Funktion. Wir sind
der festen Überzeugung, dass durch die im Laufe der Be-
ratung erfolgten Änderungen berechtigten Bedenken ins-
besondere der kleinen und mittleren Verlage Rechnung
getragen wurde, wie sie insbesondere von dem Verleger
Christoph Links kürzlich im Börsenblatt vorgetragen
wurden. Es liegt auch uns daran, dass sich die Zahl der
kleineren, konzernungebundenen Buchhändler nicht wei-
ter verringert, sondern dass im Gegenteil ein Signal für
mehr Vielfalt auf dem Buchmarkt ausgesandt wird.
Trotz aller Einigkeit zwischen den Fraktionen bei die-
sem Gesetzentwurf muss ich in einem Punkt etwas Was-
ser in den Wein gießen: Wir alle sollten uns keine Illusio-
nen darüber machen, dass in zunehmenden Maße durch
grenzüberschreitende Verkäufe die Preisbindung durch-
löchert wird. Bei solchen grenzüberschreitenden Verkäu-
fen verbietet die europäische Waren- und Dienstleis-
tungsfreiheit Preisbindungen. Es ist davon auszugehen,
dass der Versand- und Internethandel dieses Hintertür-
chen stärker nutzen wird. Der Auslöser für die jahrelan-
gen Auseinandersetzungen um die Buchpreisbindung –
die Preisattacken durch die österreichische Firma Libro –
ist also prinzipiell von diesem neuen Gesetz nicht erfasst
und wird sicher Nachahmer finden; denn das Umge-
hungsverbot in § 4 Abs. 2 des neuen Gesetzes wird in den
seltensten Fällen greifen, weil der Nachweis, dass die be-
treffenden Bücher allein zum Zweck ihrer Wiedereinfuhr
in europäische Nachbarländer verbracht wurden, prak-
tisch kaum zu führen sein wird.
Dennoch wünsche ich, dass das heute zu verabschie-
dende Gesetz seinen Beitrag zum Erhalt des vielfältigen
Buchmarktes und zu einer Stärkung des Kulturgutes Buch
leisten möge.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Über Bedeutung und Not-
wendigkeit der Buchpreisbindung ist in den vorausgegan-
genen Debatten alles gesagt worden. Die heutige, wie ich
hoffe, abschließende Debatte, gibt zu großer Polemik kei-
nen Anlass. In großer Übereinstimmung haben wir mit
dem „Gesetz zur Sicherung der nationalen Buchpreisbin-
dung“ vor zwei Jahren zunächst die Voraussetzungen
dafür verbessert, dass die Buchpreisbindung nicht durch
Reimporte unterlaufen wird. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf wird nun das in unserem Lande bewährte und
bisher auf freiwilligen Absprachen beruhende System der
Buchpreisbindung gegenüber den kartellrechtlichen Be-
denken der EU abgesichert. Auch dem stimmen wir zu.
Die Veränderung, die der Gesetzentwurf in den letzten
Tagen noch hinsichtlich des § 5 Abs. 5 erfahren hat, fin-
det allerdings nicht meinen Beifall. Die damit eröffneten
größeren Spielräume für Preisnachlässe bei den großen
Buchgemeinschaften geht meines Erachtens durchaus auf
Kosten des kleinen stationären Buchhandels, der fair die
Versorgung in der Fläche von besonderer Bedeutung ist.
Bezeichnenderweise wurde diese Änderung in einer ers-
ten Begründung mit „lex Bertelsmann“ charakterisiert.
Diese Bezeichnung fehlt zwar nun in der Begründung –
der Sachverhalt aber ist geblieben.
Während in diesem Fall hinsichtlich des Hauptzwecks
des Gesetzes – der Preisbindung – ein Auge zugedrückt
wurde, ist ausdrücklich mit Hinweis auf diese Funktion
des Gesetzes das Anliegen des Deutschen Städtetages ab-
gewiesen worden, den Rabatt bei Schulbüchern so zu ge-
stalten, dass die Kommunen nicht stärker als bisher
belastet werden. Angesichts der katastrophalen Finanz-
situation der Kommunen hätte diesem Anliegen durchaus
entsprochen werden können, auch wenn es zu den vom
Städtetag prognostizierten Folgen keine eindeutigen Er-
kenntnisse gibt.
Demgegenüber begrüße ich sehr, dass in letzter Minute
noch die im Unterricht verwendete belletristische Litera-
tur in die Rabattregelung für die Schulen einbezogen und
ein Weg gefunden wurde, Kataloge, die eine Ausstellung
begleiten, zweifelsfrei in die Preisnachlassmöglichkeit
einzubeziehen.
Der hier vorliegende seltene Fall weitgehender frakti-
onsübergreifender Einmütigkeit, der fair die Dauerhaftig-
keit der Regelung ja durchaus von Bedeutung ist, hängt
offenbar damit zusammen, dass diese gesetzliche Rege-
lung den Interessen der Urheber, Vermittler und Nutzer
von Verlagserzeugnissen gleichermaßen entspricht. Wir
sollten von diesem Interessenausgleich auch bei künfti-
gen kulturpolitischen Entscheidungen noch bewusster als
bisher ausgehen. Ich weiß natürlich, dass das nicht immer
so einfach sein wird wie in diesem Fall. Die jüngsten Aus-
einandersetzungen um das Urhebervertragsrecht haben
uns das nachdrücklich vor Augen geführt. Aber wir soll-
ten es doch zumindest von allen politischen Positionen
aus verstärkt versuchen.
Mit den beiden Gesetzen zur Buchpreisbindung halten
wir aus guten Gründen das Kulturgut Buch ein Stück weit
aus der Logik von Marktradikalismus und Profitmaxi-
mierung heraus. Damit setzen wir meines Erachtens auch
einen kleinen Damm gegenüber den Bestrebungen inner-
halb der GATS-Verhandlungen, die darauf abzielen, sol-
che öffentlichen Güter wie Kultur und Bildung als „nor-
male“ Waren in den freien Handel mit Dienstleistungen
einzubeziehen.
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Meiner Meinung nach müssen wir viel lauter als bisher
auf die Gefahren aufmerksam machen, die daraus fair die
Qualität dieser Güter und fair den gleichberechtigten Zu-
gang zu ihnen erwachsen. Wir müssen auch gründlicher
überlegen, was wir dagegen tun können. Ich glaube, die
heute zu beschließende Gesetzesinitiative ist ein guter An-
lass, um auf diese bedrohliche Entwicklung hinzuweisen.
Dr. Julian Nida-Rümelin, Beauftragter der Bundes-
regierung für Angelegenheiten der Kultur und der Me-
dien: Die Buchkultur in Deutschland nimmt international
eine Spitzenstellung ein. Wir haben ein dichtes Netz von
Buchhandlungen mit hoch qualifiziertem Fachpersonal
auch in kleineren Städten. Die Verlagsangebote sind Jahr
für Jahr durch ein breites Spektrum von Neuerscheinun-
gen geprägt. Trotz einiger Konzentrationserscheinungen
können sich auch kleinere und mittlere Verlage behaup-
ten. Diese Charakteristika der Buchbranche bilden ein
Kulturgut ersten Ranges.
Natürlich ist das Buch auch ein Wirtschaftsgut, das
produziert, vertrieben und konsumiert wird. Aber es ist
nicht nur ein Wirtschaftsgut, wie es beispielsweise die
Schraube darstellt. Auf dem Markt der Schraubenanbieter
müssen wir darauf achten, dass nicht übermäßige Kon-
zentrationsvorgänge die Konkurrenz aushebeln und damit
zu verbraucherfeindlichen Strukturen führen. Wir können
dabei darauf vertrauen, dass die Nachfrage durch den
Marktmechanismus allein im Großen und Ganzen ge-
deckt werden wird.
Im Gegensatz dazu hat das Buch neben seiner Rolle
für die individuelle Bedürfnisbefriedigung weitere kul-
turelle Zwecke zu erfüllen, die nicht nur eine individu-
elle, sondern auch eine öffentliche Angelegenheit sind.
Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der sich jeder in
nahe gelegenen Buchhandlungen von gutem Fachperso-
nal informieren, bilden und beraten lassen kann. Das
nachvollziehbare Interesse, Bestseller zu einem mög-
lichst günstigen Preis zu erwerben, muss abgewogen
werden gegen das kulturelle Ziel, die Vielfalt des Buch-
angebotes, die Dichte von Buchhandlungen, die Qualität
des Fachpersonals und die besonderen Bindungen von
Autor und Verleger zu erhalten. Von daher gibt es eine
kulturpolitische Legitimation für ein ungewöhnliches
Instrument, nämlich das eines nationalen Preisbindungs-
gesetzes.
Mancher mag sich wundern, dass zum Teil die gleichen
Personen, Verbände und Institutionen, die sich bei der
Diskussion um das Urhebervertragsrecht vehement gegen
jeden weiter gehenden Markteingriff gestellt haben und
das Hohelied der Marktfreiheit gesungen haben, in die-
sem Fall nun einen weit gehenden Eingriff des Staates in
das Marktgeschehen gefordert haben. Ich will diese
scheinbare Widersprüchlichkeit wohlwollend interpretie-
ren: Hier handelt es sich nicht um bloße Artikulationen
materieller Interessen, sondern um ein Verantwortungsge-
fühl für das Kulturgut Buch, das in diesem Fall ein Abge-
hen von der reinen Lehre der Marktfreiheit begründet.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass ohne das Instru-
ment der Preisbindung, das über hundert Jahre in
Deutschland durch freiwillige Branchenabsprachen gesi-
chert wurde, die kulturelle Rolle des Buches Schaden
nehmen würde: Es gäbe mehr Konzentration, das Netz an
Buchhandlungen würde rasch ausdünnen, die Angebots-
vielfalt der Verlage zurückgehen. Aber auch umgekehrt
gilt: Nur wenn die Buchpreisbindung nicht nur als ein
ökonomisches Instrument, sondern als eine kulturpoli-
tisch motivierte Maßnahme verstanden wird und wenn
alle Beteiligten dies als moralische Verpflichtung emp-
finden, lassen sich diese kulturellen Ziele auch in Zu-
kunft erreichen.
Ohne Quersubventionen im Verlag verliert die Buch-
preisbindung ihre segensreiche Wirkung auf die Vielfalt
des Angebots. Wenn Verlage auf breiter Front diese Quer-
subventionierung der vielen weniger erfolgreichen Titel
durch die wenigen sehr erfolgreichen Bücher auf dem
Markt nicht mehr praktizierten – und das ist bei einigen
Verlagen offizielle Politik geworden –, dann ließe sich
durch Preisbindung die Vielfalt des Angebots nicht beför-
dern.
Schon mein Vorgänger hatte vehement für die Auf-
rechterhaltung der Preisbindung gestritten und zur Siche-
rung der Preisbindung eine Initiative zur Änderung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen veranlasst.
Die Kommission hatte diese Änderung des § 15 GWB, die
am 1. Juli 2000 in Kraft gesetzt wurde, zunächst offiziell
begrüßt. Im weiteren Verlauf gab es jedoch nicht den an-
gekündigten „Letter of Comfort“, im Gegenteil: Die Be-
schwerde des österreichischen Libro-Konzerns führte zu
den mit großer Medienaufmerksamkeit durchgeführten,
spektakulären Durchsuchungen bei einigen führenden
Verlagen und beim Börsenverein des Deutschen Buch-
handels selbst.
Als ich Anfang des Jahres 2001 mein Amt antrat, ver-
festigte sich bei mir rasch der Eindruck, dass wir in
Deutschland um ein nationales Buchpreisbindungsge-
setz nicht herumkommen. Allerdings schien zu diesem
Zeitpunkt in der Verlagsszene noch Unsicherheit zu
herrschen, ob dieser Weg beschritten werden soll. Ich
habe den Vorschlag, ein nationales Buchpreisbindungs-
gesetz zu etablieren, zum ersten Mal öffentlich im März
2001 bei einer Podiumsdiskussion anlässlich der Eröff-
nung des Salon du Livre in Paris gemacht. Auch in zwei
Gesprächsrunden beim Bundeskanzler wurde diese The-
matik angesprochen und schließlich vereinbart, dass ein
solches Gesetz von der Bundesregierung auf den Weg
gebracht wird, wenn der Börsenverein einen weit ge-
henden Konsens für eine nationale Buchpreisregelung in
der Branche herstellen kann. So ist es dann auch ge-
kommen. In gemeinsamer Federführung des Bundes-
wirtschaftsministers und des Kulturstaatsministers ha-
ben wir einen Gesetzentwurf eingebracht, der das
bewährte Instrument der Buchpreisbindung auf Dauer
sichern soll. Er wurde vom Kabinett am 20. März dieses
Jahres beschlossen.
Die genannten Ziele werden mit diesem Gesetz er-
reicht: Zunächst wird endlich Rechtssicherheit im Ver-
hältnis zur EU hergestellt. Wie in unseren Nachbarstaaten,
zum Beispiel in Frankreich und Österreich, räumt das na-
tionale Buchpreisbindungsgesetz EU-kartellrechtliche
Bedenken aus. Es stützt sich insoweit auf die gefestigte
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach
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nationale Buchpreisbindungen mit dem EU-Kartellrecht
vereinbar sind. Und die Realisierung der kulturpolitischen
Ziele – Vielfalt und hohe Qualität des Buchangebotes in
Deutschland, flächendeckende Versorgung durch kompe-
tente Buchhandlungen und Existenzsicherung kleiner
Verlage und noch nicht etablierter Autorinnen und Auto-
ren – ergibt sich durch die mit dem Gesetz auf Dauer ge-
währleistete Preistransparenz.
Bei den Vorarbeiten zur Erarbeitung des Gesetzent-
wurfs sind wir auf bemerkenswerte Vergleichszahlen ge-
stoßen: So sind beispielsweise entgegen dem, was man
vielleicht prima facie erwarten könnte, die Verbraucher-
preise für Verlagserzeugnisse in den Ländern ohne Preis-
bindung, zum Beispiel in Finnland und Schweden, ver-
gleichsweise höher als in Ländern mit bestehender
Preisbindung. Auch in Großbritannien, wo 1995 die
Buchpreisbindung suspendiert wurde, hat sich dies nach
anfänglichem Preisrückgang gezeigt.
Darüber hinaus ist die Zahl lieferbarer Bücher in den
Ländern mit Preisbindung deutlich höher als in den Staa-
ten ohne diese Bindung. Beispielsweise hat ein Vergleich
des deutschen Sprachraums, also einschließlich Öster-
reichs und der deutschsprachigen Schweiz, mit dem eng-
lischen Sprachraum gezeigt, dass dort pro eine Million
Einwohner über 40 Prozent weniger lieferbare Titel ange-
boten werden.
Die durchschnittliche Anzahl von Buchhandlungen in
mittleren Ortschaften zwischen 20 000 und 50 000 Ein-
wohnern beträgt zum Beispiel in Schweden im Verhältnis
zu Deutschland etwa ein Drittel, in den USA nahezu nur
ein Fünftel. Ähnliches können wir bei dem Vergleich der
Verlagskonzentration feststellen.
Unter dem Gesichtspunkt des Erhalts eines breiten und
vielfältigen Buchangebots legitimieren die empirischen
Befunde eindeutig den mit einer Preisbindung verbunde-
nen Eingriff in den freien Markt. Und für die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher wird sich auch nach In-Kraft-Tre-
ten des Gesetzes so gut wie nichts ändern: Bereits heute
sind rund 90 der erscheinenden Buchtitel preisgebunden,
wenn auch auf vertraglicher Grundlage.
Ich möchte abschließend noch auf zwei Aspekte ein-
gehen, die zur Beurteilung dieses Vorhabens wichtig sind.
Da ist zum einen die Frage nach dem Internet. Das Gesetz
betont in § 4 ausdrücklich, dass die Preisbindung nicht für
grenzüberschreitende Verkäufe innerhalb des Europä-
ischen Wirtschaftsraumes gilt. Das entspricht dem vor-
rangigen Recht der Europäischen Union, wonach grenz-
überschreitende Handelshemmnisse unzulässig sind.
Aber Abs. 2 dieser Vorschrift schützt im Einklang mit der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die natio-
nale Buchpreisbindung vor Umgehungsgeschäften. Wenn
also der Verkauf deutscher Bücher auch über das Internet
vom Ausland aus ausschließlich auf deutsche Abnehmer
gerichtet ist, diese Bücher de facto jedoch die Grenze
nicht überschreiten, ist auch insoweit die Preisbindung
einzuhalten. Gleiches gilt, wenn jemand Bücher ausführt,
um sie von vornherein aufgrund eines einheitlichen Plans
wieder nur an Letztabnehmer in Deutschland zu verkau-
fen.
Der zweite Punkt betrifft den Bereich der Zeitungen
und Zeitschriften. Wir hatten ursprünglich die Vorstel-
lung, dass wir mit dem Preisbindungsgesetz alle Ver-
lagserzeugnisse, also auch die Presse, erfassen und da-
bei gleichzeitig die bisherige Regelung im GWB
aufheben. Die intensiven Gespräche mit der Pressebran-
che haben uns jedoch überzeugt, dass in diesem Bereich
mehr Flexibilität notwendig ist. Ich darf hier erneut auf
das Beispiel der überwiegend in englischer Sprache er-
scheinenden wissenschaftlichen Zeitschriften verwei-
sen. Sie müssen sich auf dem internationalen Markt be-
haupten, was mit zwingender Preisbindung kaum zu
realisieren wäre. Das Gesetz beschränkt sich somit le-
diglich auf die notwendige Anpassung des § 15 GWB;
die insoweit zulässige Preisbindung für Zeitungen und
Zeitschriften wird von der EU-Kommission nicht in-
frage gestellt.
Ich freue mich besonders, dass dieses kulturpolitische
Vorhaben von eminenter Bedeutung weite, fraktionsüber-
greifende Zustimmung findet. Der bis zuletzt intensive
Beratungsprozess – Stichworte: Buchgemeinschaften,
Schulbuchsammelbestellungen – hat nach meinem Ein-
druck nunmehr zu einem Ergebnis geführt, das alle rele-
vanten Interessen angemessen und fair berücksichtigt. Ich
danke allen, die an der Erarbeitung des Gesetzes mitge-
wirkt haben.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts
– zu dem Bericht: Technikfolgeabschätzung;
hier: Monitoring „Risikoabschätzung und
Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflan-
zen“
– zu dem Antrag: Zukunft für die „grüne“ Gen-
technik
(Tagesordnungspunkt 35)
Matthias Weisheit (SPD): Über den Antrag von der
CDU/CSU möchte ich nur wenige Worte verlieren; denn
wir hatten bereits eine Debatte über diesen überflüssigen,
weil völlig an der Sache vorbeigehenden Antrag. Deshalb
lehnen wir ihn ab.
Ich habe bereits damals festgestellt, dass die Union zu
einer sachlichen Diskussion nicht bereit ist, dass sie wis-
senschaftliche Untersuchungen ignoriert, ja, dass sie den
schon lange vorliegenden TAB-Bericht „Risikoabschät-
zung und Nachzulassungsmonitoring transgener Pflan-
zen“ offensichtlich nicht gelesen hat – und dies, obwohl
er einen fundierten Überblick über den derzeitigen Wis-
sensstand und die offenen Fragen gibt, die mit dem Ein-
satz gentechnisch veränderter Pflanzen in der Landwirt-
schaft verbunden sind.
Gebetsmühlenartig wiederholt die CDU/CSU die
Phrasen von der angeblichen „ideologischen Verweige-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224538
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rungshaltung“ der rot-grünen Bundesregierung. So ein
Unsinn. Im Unterschied zur Union lesen wir solche Un-
tersuchungen wie den TAB-Bericht und ziehen die nöti-
gen politischen Konsequenzen daraus. Im Unterschied
zur Union nehmen wir zur Kenntnis, dass es noch enorme
Wissenslücken über die möglichen Auswirkungen des
Anbaus transgener Pflanzen gibt. Im Unterschied zur
Union wollen wir deshalb einen vorsichtigen und verant-
wortungsvollen Umgang mit der grünen Gentechnik.
Auf die komplexen Fragen, die sich im Zusammen-
hang mit der grünen Gentechnik stellen, gibt es keine ein-
fachen Antworten. Ich möchte ein Beispiel nennen:
CDU/CSU erklären in ihrem Antrag die Wahlfreiheit der
Verbraucher, also die Möglichkeit, sich für oder gegen
genveränderte Produkte zu entscheiden, zu einem bedeu-
tenden Grundprinzip. Dieses Grundprinzip verfolgen wir
schon seit Beginn der Diskussionen um grüne Gentech-
nik. Ich freue mich aber trotzdem, dass auch CDU/CSU
endlich erkannt haben, wie wichtig das ist. Wir sollten
also gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, um
diese Wahlfreiheit gewährleisten zu können.
Von der EU-Kommission gibt es eine bei der gemein-
samen Forschungsstelle der Europäischen Union JRC in
Auftrag gegebene Studie zur Koexistenz von genverän-
derten Pflanzen und herkömmlichen bzw. in ökologischem
Anbau erzeugten Pflanzen in der Landwirtschaft. Es
würde mich nicht wundern, wenn die Damen und Herren
von der CDU/CSU auch diese Studie nicht zur Kenntnis
genommen hätten, wenngleich ich mir sicher bin, dass
diese EU-Forschungsstelle sicherlich nicht „ideologisch“
besetzt ist.
Die Forscher simulierten mittels Computermodellen
den großflächigen Anbau von genverändertem Raps, gen-
verändertem Mais und genveränderten Kartoffeln. Diese
Studie kommt zu dem Schluss, dass eine Koexistenz zwi-
schen grüner Gentechnik und gentechnikfreier Landwirt-
schaft schwierig bis unmöglich ist, zumindest aber sehr
teuer. Schon wenn nur auf zehn Prozent aller Felder gen-
technisch veränderte Pflanzen wachsen, wird es fast un-
möglich, auf den übrigen Flächen gentechnikfreie Er-
zeugnisse zu ernten, da auf dem Acker über Pollen, bei der
Verarbeitung in der Ölmühle, beim Saatguthändler GVO-
Einträge passieren können. So müssten beim Anbau Si-
cherheitsabstände zwischen den Feldern von 200 Metern
beim Mais bis hin zu 600 Metern beim Raps eingehalten
werden. Auch die strikte Trennung der genveränderten Er-
zeugnisse von den übrigen erfordert Investitionen. Den-
noch wäre in Regionen mit Gentec-Anbau die Einhaltung
der im Ökolandbau geltenden Verunreinigungsgrenze von
0,1 Prozent nahezu unmöglich, aber auch die zur Einhal-
tung der 1-Prozent-Grenze im herkömmlichen Landbau
erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen würden den Anbau
von Mais und Kartoffeln um bis zu 9 Prozent verteuern,
bei Raps sogar bis zu 40 Prozent. Wie teuer wird also die
Wahlfreiheit der Verbraucher, wenn wir tatsächlich den
großflächigen Anbau genveränderter Pflanzen zulassen?
Wer kann sich das leisten? Dies zeigt, dass es auch in Hin-
sicht auf mögliche ökonomische Risiken des Einsatzes
der grünen Gentechnik noch viele offene Fragen gibt.
Mit den offenen Fragen und mit dem Diskussionsstand
zur Sicherheitsforschung beschäftigt sich der TAB-Be-
richt „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monito-
ring transgener Pflanzen“. Ich bedanke mich an dieser
Stelle bei den Mitarbeitern des TAB-Büros für ihre gute
Arbeit und für diesen aufschlussreichen Bericht, der eine
fundierte Grundlage für eine sachliche Diskussion sein
könnte, wenn ihn auch die Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU zur Kenntnis genommen hätten.
Der TAB-Bericht stellt eine „dürftige Datenlage“ bei
der Risikoabschätzung fest. Nur 1 Prozent der Freiset-
zungsversuche in der EU waren in der Vergangenheit mit
ökologischer Begleitforschung verbunden, in Deutsch-
land zwar 15 Prozent, aber auch das ist wenig. Jedenfalls
zu wenig, um zu behaupten, dass
direkte und indirekte, erkennbare oder denkbare
Auswirkungen auf ökologische Kreisläufe analysiert
und ausgeschlossen
werden könnten, wie im Antrag der CDU/CSU be-
hauptet wird.
Im TAB-Bericht heißt es, dass es sich bei den Umwelt-
wirkungen von Freisetzungen um
unspezifische biologische Phänomene handelt, die
von einer Vielzahl wechselwirkender Faktoren ab-
hängig sind und die trotz teilweise jahrzehntelanger
Forschung in vielen Aspekten nur unvollständig ver-
standen sind.
Weiter heißt es:
Eine Fortführung und Intensivierung der Sicher-
heitsforschung ist zweifelsohne notwendig, um die
großen Wissenslücken zu den möglichen Auswir-
kungen des Anbaus transgener Pflanzen zu verklei-
nern.
Schon diese wenigen Zitate machen Wissensdefizite
und Handlungsbedarf deutlich. Mit unserem Entschlie-
ßungsantrag ziehen wir die Konsequenzen aus diesem Be-
richt. Bei uns hat das Vorsorgeprinzip oberste Priorität bei
der Abwägung der Chancen und der möglichen gesund-
heitlichen und ökologischen Risiken. Dies kennzeichnet
einen verantwortungsvollen Umgang mit der grünen Gen-
technik!
Wir wollen die Wissenslücken schließen, indem wir im
Rahmen der biologischen Sicherheitsforschung und der
Technikfolgenabschätzung die Förderung von Untersu-
chungen zu den Auswirkungen von transgenen Pflanzen
und zum zukünftigen Umgang mit solchen insbesondere
im Hinblick auf gesundheitliche und ökologische Aspekte
verstärken wollen.
Wir wollen einen verantwortlichen Umgang mit der
Gentechnik und die Verankerung und konsequente An-
wendung des Vorsorgeprinzips auf allen Ebenen. Wir wol-
len den weiteren Ausbau der Maßnahmen zur maximalen
Sicherheit und Transparenz für Verbraucher und Umwelt,
insbesondere der Regelungen, die der Erfassung, Über-
prüfung, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit aller
gentechnisch veränderten Organismen und Produkte die-
nen.
Wir wollen, dass die Wahlfreiheit der Erzeuger und
Verbraucher, gentechnikfreie Produkte herstellen und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24539
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kaufen zu können, durch geeignete Maßnahmen sicherge-
stellt wird.
Wir wollen, dass bei der Bewertung von Monitoring-
ergebnissen die Nachhaltigkeit als Maßstab zugrunde ge-
legt wird. Ein solcher Bewertungsmaßstab legt die Ge-
sundheits- und Umweltverträglichkeit auch für die kom-
menden Generationen zugrunde und hat gesellschaftliche
Akzeptanz.
Wir wollen die Fortführung eines breiten gesellschaft-
lichen Diskurses – wie ihn die Bundesverbraucherschutz-
ministerin Künast bereits eingeführt hat – über die
Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft und Le-
bensmittelproduktion. Wegen der derzeitigen Verunsiche-
rung bei den Verbrauchern und der offenen wissenschaft-
lichen und administrativen Fragen sollte gleichzeitig
vorläufig auf eine Vermarktung der Produkte verzichtet
werden.
Wir brauchen das Vertrauen der Verbraucher. Sie haben
ein Recht auf Sicherheit, Transparenz und Wahlfreiheit.
Die Bundesregierung ist in vielen Bereichen bereits tätig
geworden. Wir wollen, dass sie die bereits ergriffenen
Maßnahmen fortführt und intensiviert. Wir werden sie
dabei unterstützen. Wir wollen, dass uns die Opposition
dabei unterstützt und für unseren Entschließungsantrag
stimmt.
Helmut Heiderich (CDU/CSU): Allein die Tatsache,
dass heute ein Bericht vorgelegt wird, der im Wesentli-
chen aus dem Jahr 1999 stammt, zeigt, mit welcher Inten-
sität die rot-grüne Koalition auf dem Feld der Biotechnik,
insbesondere der grünen Biotechnik, arbeitet. In Deutsch-
land sind wir auch heute grundsätzlich nicht über den
Stand hinaus gekommen, der in dieser Studie beschrieben
ist.
Die Verzögerungs- und Verhinderungstaktik von Rot-
Grün hat es bis heute nicht zugelassen, einen längerfristi-
gen, großräumigen Anbau gentechnisch verbesserter
Pflanzen in Deutschland zu ermöglichen. Ein sinnvolles
und aussagefähiges Monitoring kann aber nur dann erfol-
gen, – das ist auch auf dem gestrigen Symposium des
Umweltbundesamtes deutlich zum Ausdruck gekommen, –
wenn diese Pflanzen auch in der Praxis eingesetzt werden.
Das auf der EXPO 2000 vom Bundeskanzler zugesagte
dreijährige Anbauprogramm in allen Bundesländern ist
bis heute weder realisiert noch in der Umsetzung erkenn-
bar. So bleiben alle Fragen des Monitoring und der Fol-
genabschätzung nach wie vor ein theoretisches Fingerha-
keln. Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits im vergangen
Jahr einen umfassenden Vorschlag unter dem Titel „Zu-
kunft für die Grüne Gentechnik“ vorgelegt. Sie hat dabei
insbesondere den Prinzipien der Abschätzung für dieje-
den Einzelfall, case by case, und der schrittweisen Vorge-
hensweise, step by step, besonderen Nachdruck verliehen.
In zahlreichen Ländern weltweit hat sich inzwischen
der Anbau gentechnisch verbesserter Pflanzen auf rund
55 Millionen Hektar ausgeweitet. Insbesondere in den
USA sind mit einer knapp zehnjährigen großflächigen
Anbauerfahrung jeweils die Bedenken ausgeräumt wor-
den, welche von den Kritikern dieser Technologie immer
wieder aufs Neue vorgebracht wurden.
Die UN hat im Oktober 2001 über 81 Studien zur Si-
cherheitsforschung von gentechnisch fortentwickelten
Pflanzen berichtet. Im Fazit wurde dabei festgestellt, dass
für solche die gleichen agronomischen Probleme gelten
wie für konventionellle Pflanzen, vermutete spezielle
neue Risiken jedoch nicht aufgetreten sind.
Die Europäische Union hat im vergangenen Jahr eben-
falls auf gut 40 Studien zu diesem Thema verwiesen, die
sich intensiv mit den Fragen der Sicherheit beschäftigt ha-
ben. Leider hat die Bundesregierung in ihren Forschungs-
aufträgen diese langjährigen und großflächigen Erfahrun-
gen weltweit bisher nicht ausreichend aufgearbeitet.
Stattdessen wird nun mehr und mehr versucht, den
Vergleich konventioneller und gentechnisch verbesseerter
Pflanzen zu einem allgemeinen Umwelt-Monitoring mit
breitessten Fragestellungen umzuwidmen. Dies betrifft
zum Beispiel allgemeine agronomische Fragen oder lang-
fristige Gesamtentwicklungen des Ökosystems, die Rot-
Grün in diesem konkreten Bereich zusätzlich einbeziehen
will.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion kommt es aber viel-
mehr darauf an, internationale Vereinbarungen und deren
Fortentwicklung, wie zum Beispiel beim Codex Alimen-
tarius, zu berücksichtigen, und nicht nationale Allein-
gänge aus kurzsichtiger – wahlpolitischer – Einschätzung
vorzunehmen.
Grundlage und Ausgangspunkt jeglicher Monitoring-
Vorhaben können nur entsprechend großflächige land-
wirtschaftliche Anbaumaßnahmen sein, die unter Nut-
zung der weltweiten Erfahrungen in Deutschland
umzusetzen sind. Doch auch dafür hat die Bundesregie-
rung die notwendigen Voraussetzungen bis heute nicht ge-
schaffen.
Die schon längst und mehrfach zugesicherte Umset-
zung der „Freisetzungs-Richtlinie“ steht nach wie vor aus,
während gleichzeitig auf europäischeer Ebene die Ent-
wicklung forciert wird. Europäische Kommission, Euro-
päisches Parlament und zuletzt der Rat in Barcelona ha-
ben die Biotechnologie zu einem Schwerpunkt ihrer
Zukunftsentwicklung erklärt.
Im Hinblick darauf liegt das größte Risiko in Deutsch-
land gegenwärtig darin, von der europäischen Entwick-
lung abgehängt und insbesondere bei der Mittelverteilung
des 6. Forschungsrahmenprogramms nicht beteiligt zu
werden. In anderen euorpäischen Ländern werden, soweit
bekannt, hohe zweistellige Millionenbeträge abgerufen,
um insbesondere die Zukunft der grünen Biotechnik vor-
anzubringen.
Noch ist Deutschland in der Grundlagenforschung, ins-
besondere der Institute und einiger Universitäten, an der
Spitze der Entwicklung dabei. Aber auch dort macht sich
Stagnation, zum Teil Frustration breit. Der neue Biotech-
nik-Report 2002 von Ernst & Young macht dies deutlich.
Er berichtet von einem abrupten Rückgang der For-
schungsanträge im Freiland ab dem Jahr 2000 und vermu-
tet rechtliche und politische Unsicherheiten als Ursache.
Für die Zukunft der grünen Bio- und Gentechnik, so
wörtlich, „ist die weitere Verbesserung der Rahmenbe-
dingung unabdingbar“. Auch die Bevölkerung erkennt in-
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zwischen mehr und mehr die Chancen und die positiven
Zukunftsaussichten der Gentechnolgie. So ist nach einer
tudie des IFD Allensbach die Akzeptanz bei den Bürgern
kontinuierlich angestiegen.
Während sich die politische Diskussion in Deutschland
noch immer – zum Teil immer ausufernder – um Grund-
satzpositionen dreht, ist die Wissenschaft längst zwei
Schritte voraus. So wird in den Labors seit einiger Zeit an
Pflanzen der zweiten und dritten Generation gearbeitet.
Spätestens in fünf Jahren werden diese für die Anwen-
dung zur Verfügung stehen.
Dazu gehört z um Beispiel auch eine Entwicklung der
Universität Gießen, deren Forschern es gelungen ist, den
Impfstoff gegen Hepatitis B aus gentechnisch fortent-
wickelten Karotten zu gewinnen. Dieses so genannte
Molecular-Pharming wird weltweit einen völlig neuen
Anwendungsbereich der Pflanzen-Biotechnik bringen.
Die Bundesrepublik muss sich deshalb im internatio-
nalen Kontext der Biotechnik endlich vorwärts bewegen.
Sie muss die überfälligen Entscheidungen für Wissen-
schaft und Unternehmen endlich umsetzen. Sie muss aber
vor allem die wirtschaftliche Nutzung ermöglichen und
darf sich nicht in immer weiter ausufernden theoretischen
Diskursen verlieren.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der Ein-
satz von Gentechnik in der Lebensmittelproduktion ist hoch
umstritten. Während er bei der Enzymproduktion schon
zum Alltag gehört, hat er sich bei der Pflanzenproduktion
bisher nicht durchsetzen können. Die Verbraucherinnen und
Verbraucher lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel
ab.
Eine verantwortliche Politik muss immer und überall
zuvorderst dem Schutz des Lebens, der Menschenrechte
und der Umwelt verpflichtet sein. Dies gilt insbesondere
auch für die Risikotechnologie Gentechnik. Bevor im
großen Stil irreversible Freisetzungen gentechnisch ver-
änderter Organismen in die Umwelt erfolgen, müssen
möglichst alle Risiken ausgeschlossen werden. Außerdem
muss die grüne Gentechnik ihren Nutzen für die Land-
wirtschaft und die Verbraucher nachweisen, bevor sie zur
Anwendung kommt. Diesen Nachweis ist sie bisher
schuldig geblieben Beispielsweise ist es zweifelhaft, ob es
ein Fortschritt ist, wenn dem Mais flächendeckend ein pes-
tiziderzeugendes Gen gegen den Maiszünzler eingebaut
wird, obwohl nur ein Teil der Anbauflächen überhaupt be-
fallen wird.
Es ist vielmehr ein Rückschritt in alte Zeiten, als Pflan-
zenschutzmittel unspezifisch ohne Indikation gespritzt
wurden. Das ist ökonomischer und ökologischer Unsinn.
Die ersten Folgen zeigen sich schon in den USA: Unnötig
werden Resistenzen induziert. Das amerikanische Land-
wirtschaftsministerium musste schon zu Resistenzma-
nagementplänen greifen.
Ein konkreter Nutzen für die Verbraucher ist bisher
noch überhaupt nicht sichtbar geworden. Umso wichtiger
ist, dass die Wahlfreiheit für alle Verbraucher und Land-
wirte erhalten bleibt. Jedem Menschen muss die Mög-
lichkeit erhalten bleiben, sich so zu ernähren, wie er selbst
es für gesund und ökologisch und ethisch unbedenklich
hält – auch gentechnikfrei. Dafür ist eine klare und um-
fassende Kennzeichnung von gentechnisch veränderten
Nahrungsmitteln erforderlich.
Auch der Landwirt muss sich frei entscheiden können,
ohne Gentechnik anzubauen. Die nicht gentechnische
Produktion und der Markt für gentechnikfreie Produkte
dürfen nicht in eine Nische abgedrängt werden. Dazu
muss beim Anbau auf den Feldern und im Verarbeitungs-
und Vermarktungsprozess eine strikte Trennung der gen-
technischen und der nicht gentechnischen Produktion er-
folgen. Durch geeignete Mallnahmen muss sichergestellt
werden, dass Auskreuzungen und Vermischungen nicht
die gentechnikfreie Produktion beeinträchtigen. Außer-
dem muss während des Anbaus bekannt sein, welche gen-
technisch veränderten Pflanzen auf welchen Feldern und
Standorten wachsen, um Sicherheitsmaßnahmen und Ab-
standsregelungen treffen zu können. Nur so kann einer
allmählichen Ausbreitung von gentechnisch veränderten
Organismen in der Natur „durch die Hintertür“ und der
allmählichen Ansammlung von „Genmüll“ in konventio-
nellem Saat- und Pflanzengut vorgebeugt werden. Gen-
technikfreie Produktion und Umwelt müssen gleicher-
maßen durch neue Haftungsbestimmungen besser als
bisher vor Schäden durch Verunreinigungen geschützt
werden.
Die Erfahrungen in der Vergangenheit haben jedoch
gezeigt, dass es nicht ausreichend ist, die Kennzeichnung
des Endproduktes vorzuschreiben. Vielmehr muss eine
lückenlose Rückverfolgbarkeit des Herstellungsprozesses
einschließlich des Saatgutes und der Futtermittel durch
ein Dokumentations- und Kennzeichnungssystem sicher-
gestellt werden. Eine EU-weite Novel-Feed-Verordnung
für Futtermittel muss daher schnellstmöglich umgesetzt
werden. Voraussetzung für die Einführung von Gentech-
nik bei Lebensmitteln kann also nur optimale Sicherheit
und breite gesellschaftlicher Akzeptanz sein. Deshalb ist
es besonders zu begrüßen, dass das BMVEL unter Renate
Künast einen breiten gesellschaftliche Diskurs über die
Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft be-
gonnen hat, der Wissenschaft, Unternehmen, Verbraucher
und Umweltverbände an einen Tisch bringt.
Wir pflegen den Diskurs. Die einzigen, die in dieser
Frage ideologisch verbohrt sind, sind die Oppositions-
fraktionen. Der Antrag der CDU/CSU zeigt erneut, dass
sie weder in der Lage sind, eine verantwortungsvolle Gen-
technikpolitik zu machen, noch sind sie auf der Höhe der
Debatte.
Beispiel Welthunger und Gentechnik: Es ist keinesfalls
so, dass die Gentechnik den über 800 Millionen Hun-
gernden – bei der CDU/CSU übrigens „nur“ 660 Milli-
onen Hungernde, sie hat auch hier offensichtlich die FAO-
Berichte nicht richtig gelesen – in den armen Ländern der
Welt dient. Fakt ist: Die bisherige Entwicklung und An-
wendung der grünen Gentechnik bezieht sich fast aus-
schließlich auf die industrialisierte landwirtschaftliche
Produktion in den hochentwickelten und reichen Ländern
der westlichen Welt. Es ist zu befürchten, dass die Ein-
führung der Gentechnik die Industrialisierungs- und Mo-
nopolisierungstendenzen in der Landwirtschaft noch ver-
schärft. Die Welternährungskonferenz hat soeben auch
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wieder überdeutlich gemacht, dass Hunger ein politi-
sches, ein soziales, ein Verteilungsproblem ist und keines,
dass durch neue Technologien zu lösen ist.
Beispiel Sicherheit: CDU/CSU stellen die grüne Gen-
technik als sicher hin, weil bisher nichts Ernstes passiert
ist. Abgesehen davon, wie naiv dieser Ansatz ist, und ab-
gesehen davon, dass er allen Vorsorgegesichtspunkten
widerspricht: Die Gentechnikforscher selber sehen die
Freisetzung transgener Pflanzen wesentlich kritischer. Sie
stellen Tag für Tag fest, dass sich transgene Pflanzen viel
schneller und umfänglicher auskreuzen als ursprünglich
angenommen. Sie müssen zugeben, wie wenig sie noch
über die komplexen Zusammenhänge auf den Feldern
wissen – vom komplizierten Bodenleben ganz zu schwei-
gen. Deshalb wird beispielsweise diskutiert, gentechni-
sche Veränderungen nur noch bei sterilen Pflanzen durch-
zuführen oder die gentechnische Veränderung nur noch in
den Chloroplasten vorzunehmen.
Im Gegensatz zum untauglichen und der Gentechnik
völlig unkritisch gegenüberstehenden Antrag der
CDU/CSU machen der hier vorgelegte Bericht zur Tech-
nikfolgenabschätzung und die Beschlussempfehlung der
Regierungsfraktionen konkrete Vorschläge, welche Maß-
nahmen für optimale Sicherheit, Transparenz und Wahl-
freiheit nötig sind: bei der verstärkten Förderung der Ri-
sikoforschung, bei der gezielten Erforschung der
indirekten und langfristiger Auswirkungen transgener
Pflanzen, bei der Ausstattung der zuständigen Fachbehör-
den mit Kompetenzen und Arbeitsmöglichkeiten für ein
Resis-tenzmanagement und bei einer breiten Beteiligung
der Öffentlichkeit.
Ich bitte daher um eine breite Zustimmung und fordere
die Opposition auf, ihren gefährlichen Unsinn nochmals
zu überdenken und besser der Beschlussempfehlung der
Koalition zu folgen.
Ulrich Heinrich (FDP): Die Biotechnologie eröffnet
uns Chancen in Arbeitsgebieten wie Ernährung, Land-
wirtschaft und Feinchemie. Darüber hinaus hilf sie uns, in
der Produktion Rohstoffe und Energie zu sparen. Beson-
ders im Bereich der Pflanzenzüchtung liegt ein hohes Po-
tenzial der grünen Gentechnik. Hier werden klassische
Methoden optimiert, die Züchtung erfolgt äußerst zielge-
richtet und positive Eigenschaften aus den Erbanlagen-
verschiedener Arten können kombiniert werden.
Die Forscher gehen von drei großen Wellen der grünen
Gentechnik aus. Die erste, die vor allem durch den BT-
Mais repräsentiert wird, war gekennzeichnet von der Ent-
wicklung der Herbizidresistenzen. Zurzeit befinden wir
uns in der zweiten Welle: Hier wird besonders an den In-
haltsstoffen von Pflanzen geforscht. Ziel ist es – zum Bei-
spiel den Ölgehalt von Raps qualitativ und quantitativ zu
optimieren. Außerordentlich bedeutend für die zukünftige
Ernährung der Weltbevölkerung ist jedoch die dritte Welle
der Biotechnologie. Hier werden Kälte-, Trockenheits-
und Salztoleranzen von Pflanzen verbessert werden kön-
nen. Dies verhindert nicht nur eine weitere Ausbreitung
von Wüsten und wirkt der Erosion entgegen, sondern er-
möglicht auch Landwirtschaft unter ungünstigen Bedin-
gungen.
Die grüne Gentechnik ist somit die Schlüsseltechnolo-
gie des 21. Jahrhunderts. Angesichts von 800 Millionen
hungernder Menschen auf der Welt möchte ich Herrn
Lester Brown, Präsident des Woldwatch Institutes zitieren:
Nicht Multimedia oder Datenautobahn, nicht Unter-
haltung oder sportliche Höchstleistungen werden un-
seren Weg ins 21. Jahrhundert bestimmen, sondern
die grundsätzliche Frage: Wie ernähren wir dem-
nächst zehn Milliarden Menschen? Heute hat der
FAO-Ernährungsgipfel erstmals in einer Resolution
festgehalten, „...dass die Weltgemeinschaft verpflich-
tet sei, im Interesse der Ernährungssicherheit einen
verantwortungsvollen Einsatz der Biotechnologie zu
ermöglichen“.
Eine ideologische Verweigerung dieser modernen
Technologie, wie die Grünen sie an den Tag legen, ist
nicht akzeptabel und schlichtweg eine Verweigerung der
Zukunft.
Schon heute werden weltweit über 50 Millionen Hek-
tar gentechnisch entwickelter Pflanzen angebaut. In den
modernen Industriestaaten sind an der Herstellung von
mehr als 60 Prozent der Lebensmittel gentechnisch opti-
miert Mikroorganismen beteiligt.
Der Diskurs zur grünen Gentechnik, den Frau Künast
betreibt, ist eine reine Alibiveranstaltung. Hier wird Ge-
sprächsbereitschaft signalisiert, aber herauskommen darf
dabei nichts. Bei ihr kommen weder Vertreter anderer Par-
teien zu Wort noch werden die Argumente der führenden
Technologieunternehmen angehört. Eine derartige
absolute Ablehnung ist nicht nur für die Lösung der Zu-
kunftsprobleme unverantwortbar, sondern auch für
den Wirtschafts-, Technologie- und Forschungsstandort
Deutschland.
Deshalb fordert die FDP die rotgrüne Bundesregierung
auf, das De-facto-Moratorium in der grünen Gentechnik
noch vor den Wahlen zu beenden und die Weichen für die
Zukunft zu stellen. Hierzu gehört ein offener, konstrukti-
ver Dialog, der auch die Chancen der grünen Gentechnik
herausstellt. Das ständige einseitige Betonen der Risiken
führt nur zu weiterer Verunsicherung der Verbraucher,
statt aufzuklären und somit die Akzeptanz der Biotechno-
logie zu stärken.
Sollte in Deutschland die Forschung gestoppt und der
Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen weiterhin be-
hindert werden, wandern weitere Firmen ins Ausland und
damit auch Arbeitsplätze und Investitionen. Für die FDP
ist eine derartige Einschränkung der wissenschaftlichen
Entwicklung unseres Landes nicht hinnehmbar.
Kersten Naumann (PDS): Lassen Sie uns für einen
Moment in die Zukunft schauen: Die Landwirtschaft pro-
duziert noch unter bestimmten regionalen und nationalen
Wirtschaftssystemen, schon bald unter einem Weltwirt-
schaftssystem, und wenn die grüne Gentechnik auf dem
Acker und im Essen präsent ist, dann produziert die Land-
wirtschaft unter der Rigide von Chemiekonzernen. Denn
sie bestimmen darüber, wie produziert wird – nämlich mit
Monokulturen. Sie bestimmen auch, was für Saatgut und
welche Pflanzenschutz- und Düngemittel dafür eingesetzt
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werden und wie viel der Bauer für Technologieabgaben
und Patentgebühren draufzahlen darf.
Man darf nicht vergessen: Gentechnisch verändertes
Saatgut kommt mit Patenten wie das Ei im Kuchen daher.
Schon jetzt haben sich die Bauern gegen höhere Nach-
baugebühren aufgelehnt und beschäftigen Anwälte und
Gerichte. Was soll das erst werden, wenn sich unsere im
Vergleich zu den USA noch relativ kleinstrukturierten
Höfe und Betriebe nun den Patentgebühren bewusst wer-
den? Möglichst viel Geld in aller Herren Länder für mög-
lichst billigst produzierte einheitliche Massenprodukte zu
bekommen, ist gesellschaftsimmanent, marktevident und
entspricht der Globalisierungsstrategie.
Der internationale Handel wächst zweimal so schnell
wie die Weltproduktion und Überseeinvestitionen wach-
sen wiederum zweimal so schnell wie der Handel. Die
Chemieindustrie und Pharmalobby hat da den größten
Vorreiter gespielt. Was wird der Sieg der grünen Gen-
technik über die Natur der Menschheit an Reparaturkos-
ten kosten?
Gentechnik erhöht – nach allem, was wir heute wissen –
nochmals die Allergiegefahr. Selbst Wirtschaftsinstitute
prognostizieren: Auch Arbeitsplätze schafft sie unter dem
Strich nicht. Die Chemiekonzerne wollen die ganze Welt
in Geiselhaft nehmen und Bauern werden auf diesem Weg
ihre Heimarbeiter.
Und wen wundert es, dass verantwortungslose Politiker
bei CDU und FDP ihre Helfershelfer sind? Denn sie sitzen
in den entsprechenden Aufsichtsräten der Wirtschaft. Gen-
technik wird nicht den Hunger in der Welt abschaffen – ihn
nicht einmal verringern. Meine Damen und Herren von der
CDU, Ernährungssicherheit heißt in Afrika eben nicht her-
bizidresistenter Weizen, Bt-Mais und Roundup-Ready-
Reis, sondern traditioneller Weise Sorghum, Hirse und
Maniok.
Der Umweltrat schätzt ein: Die Nutzung der Gentech-
nik wird zweifellos mittel- und langfristig einen Einfluss
auf ökologische und evolutionäre Prozesse haben. Die ge-
zielte Konstruktion eines gentechnisch veränderten Orga-
nismus im Labor, insbesondere über Artschranken hin-
weg, stellt einen Vorgang dar, der im Rahmen einer
natürlichen Evolution höchstwahrscheinlich nie abgelau-
fen wäre.
Dennoch hält der Umweltrat insgesamt die – ohne
Zweifel vorhandenen – Risiken der Gentechnik, die mit
einer breiten Einführung in der Landwirtschaft verbunden
sind, für tragbar. Es kommt eben auf die eingeführten
Gene an, welche toxikologisch oder allergologisch be-
deutsame oder fitnessverändernde Eigenschaften im
Empfängerorganismus ausprägen werden.
Das muss man sich einmal vorstellen. Der Umweltrat
und so auch der TAB-Bericht hält es also für tragbar, dass
mit der Ablösung der mechanischen hin zur rein chemi-
schen Gesamtvernichtung von Kräutern und Unkräutern
durch Totalherbizide zum Beispiel bei herbizidresistenten
Gen-Kulturen eine weitere Chemisierung auf unseren
Äckern vorgenommen wird. Erst vorige Woche wurden
die Auswirkungen von Chemie in landwirtschaftlichen
Produkten und im Essen diskutiert. Schon jetzt wird von
Wissenschaftlern angemahnt, dass die Totalherbizide
weiteren genauen Untersuchungen auf unerwünschte Ne-
benwirkungen wie Fischgiftigkeit, Grundwassergefähr-
dung und kanzerogene Wirkungen unterzogen werden
müssen.
Der Umweltrat hält es also auch für möglich, dass in
den künftigen Jahren und Jahrzehnten Wild- und Kultur-
pflanzen, Saat- und Erntegut mit GVO weiter durch-
mischt werden. Neben den bereits bekannten Gefährdun-
gen über Pollenflug und Resistenzverbreitung wird den
künftigen Generationen eine Natur überlassen, die durch
und durch gentechnologisiert wird.
Er hält es weiterhin für tragbar, dass die Insektenwelt
kontinuierlich so geformt wird, dass Schädlingen und
Nützlinge gleich mit reduziert werden oder sich Resisten-
zen aneignen, die wir nie mehr zurückholen können.
Weder der TAB-Bericht noch der CDU-Antrag werden
sich der Tragweite der so genannten Chancen über die
Gentechnik mit einem Nachzulassungsmonitoring klar.
Ein Monitoring nach Inverkehrbringen baut nicht Risken
ab, sondern verschärft sie, bevor Forschung und Risiko-
analyse vor Inverkehrbringen überhaupt richtig durchge-
führt worden sind.
Nachbaumonitoring verdrängt den Vorsorgegedanken.
Es ist ein falscher Ansatz, Risiken eines großflächigen
Anbaus und einer kommerziellen Nutzung als Futtermit-
tel und/oder Lebensmittel begleitend zu erforschen, deren
Folgen weder in der Umwelt noch in der Gesundheit
selbst gewiss sind.
Auf einer mit Landwirtschaft dicht genutzten Fläche
wie in Deutschland und in Europa kann es kein Neben-
einander von gentechfreien und Gentech-Feldern geben.
Die Kontaminationsskandale der jüngeren Vergangenheit
beweisen, dass weder Bauern noch die Saatgutunterneh-
mer dieses Problem im Griff haben. Selbst die nur als Fut-
termittel deklarierte Mais-Sorte Star-Link tauchte prak-
tisch weltweit in Nahrungsmitteln auf. In den USAmeldet
sich im Zuge des Star-Link-Skandals die „Amerikanische
Vereinigung der Mais anbauenden Landwirte (ACGA)“
zu Wort und ist besorgt darüber, dass eine Strategie gegen
die Konsumenten nicht funktionieren wird.
Seit Jahren ist die Bevölkerung in Deutschland und in
der EU mehrheitlich ablehnend. Dies wird auch so blei-
ben – trotz der Werbekampagnen und der so genannten
Aufklärung durch Gentech-Schüler-Labore und -Mobile.
Wann wird die deutsche und europäische Land- und
Ernährungswirtschaft dies endlich akzeptieren?
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung einer kapitalgedeckten Hütten-
knappschaftlichen Zusatzversicherung und zur
Änderung anderer Gesetze (Hüttenknappschaft-
liches Zusatzversicherungs-Neuregelungs-Ge-
setz – HZvNG) (Tagesordnungspunkt 38)
Erika Lotz (SPD): Mit dem Gesetz wird die beste-
hende Hüttenknappschaftliche Zusatzversicherung im
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Saarland auf eine kapitalgedeckte betriebliche Altersver-
sorgung umgestellt. Diese Maßnahme dient der Sanierung
der Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung, da eine
Weiterführung im Umlageverfahren angesichts der
verschlechterten Relation von Beitragszahlern zu Leis-
tungsempfängern nicht mehr möglich ist. Für die älteren
Versicherten, die zum 1. Januar 2003 das 45. Lebensjahr
vollendet haben, wird der notwendige Vertrauensschutz
geschaffen, indem für diese Beschäftigten die bisherige
Zusatzversorgung fortgeführt wird. Der Bund übernimmt
dafür die Defizitdeckung, wobei ihm das Vermögen der
HZV übertragen wird.
Zum Gesetzentwurf gehören aber noch eine ganze
Reihe von Änderungen. Auf einige will ich hier ausführ-
lich eingehen:
Erstens. Bei den Betriebsrenten heben wir eine Be-
schränkung auf Pensionsfonds können in Zukunft als
Leistung der betrieblichen Altersversorgung auch Aus-
zahlungspläne anbieten. Damit werden die Leistungen
mit denen von Investmentfonds gleichgestellt.
Um die bisherigen Beschränkungen des Pensionsfonds
aufzuheben, wird dessen Definition im § 112 des Versi-
cherungsaufsichtsgesetzes, VAG, geändert. Der Pensions-
fonds soll in Zukunft alle Leistungen der betrieblichen Al-
tersversorgung ohne Einschränkungen erbringen können.
Dazu gehört auch der bislang fehlende Auszahlungsplan
mit anschließender Restverrentung. Die Teil-Kapitalisie-
rung orientiert sich ausdrücklich an den Regelungen, die
für Altersvorsorgeverträge nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 des
Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes gelten, so-
dass maximal 20 Prozent des zu Beginn der Auszahlungs-
phase zur Verfügung stehenden Kapitals in einem Betrag
ausgezahlt werden dürfen.
Wir mussten den Pensionsfonds anders definieren,
weil er in seinen Anwendungsmöglichkeiten bisher zu
sehr eingeschränkt war. Zu seinen Leistungen gehörten
bislang lediglich die lebenslange Altersversorgung in
Form einer Rente. Ausgenommen waren dagegen Leis-
tungen, mit denen die Langlebigkeit auch durch Auszah-
lungspläne mit unmittelbar anschließender Restverren-
tung im hohen Alter abgesichert werden kann. Dabei sind
diese Leistungen auch eine steuerlich anerkannte Form
der Altersvorsorge. Ausgeschlossen waren auch Kapital-
leistungen, obwohl es sich auch hierbei um eine Form der
Leistung betrieblicher Altersversorgung handelt.
Diese Regelungen sind sinnvoll, damit der Pensions-
fonds von Lebensversicherungsunternehmen oder von
Pensionskassen unterschieden werden kann; als eigen-
ständiger Durchführungsweg der betrieblichen Altersver-
sorgung kann er nur dann seine Rolle spielen, wenn nicht
alle seine Leistungen – also neben der Absicherung der
Langlebigkeit auch die Invaliditäts- und Hinterbliebenen-
versorgung – durch versicherungsförmige Garantien zu-
gesagt werden.
Mit diesen Änderungen wird erreicht, dass der Pen-
sionsfonds die ihm zugedachte Funktion übernehmen
kann, dass Direktzusagen und Zusagen aus Unterstüt-
zungskassen zur Bilanzbereinigung von Verpflichtungen
aus der betrieblichen Altersversorgung auf ihn übertragen
werden. In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass die
bei vielen Betrieben übliche Praxis, sowohl Kapital- als
auch Rentenleistungen anzubieten, diese Übertragung er-
schwert hat.
Außerdem erwarten wir, dass der bisherige Genehmi-
gungsstau aufgelöst werden kann – beim Bundesamt für
Finanzdienstleistungsaufsicht liegen zurzeit 23 noch nicht
bewilligte Anträge vor.
Zweitens. Wir wollen auch die steuerliche Förderung
für die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Finanzierung
der betrieblichen Altersversorgung durch eigene Beiträge
ermöglichen. Auf die betriebliche Altersversorgung, die
durch Eigenbeiträge der Arbeitnehmer aufgebaut wird,
lassen sich danach ab dem 1. Januar 2003 die besonderen
Regelungen für die Entgeltumwandlung entsprechend an-
wenden, wenn die zugesagten Leistungen im Wege der
Kapitaldeckung finanziert werden.
Zu diesen besonderen Regelungen gehört zum Beispiel
der Entgeltumwandlungsanspruch, das Recht, die Versi-
cherung nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhält-
nis fortzuführen, die sofortige Unverfallbarkeit der An-
wartschaft und weitere spezielle Anpassungsregelungen.
Wir machen das so, weil die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer dabei das gleiche Schutzbedürfnis haben
wie bei der Entgeltumwandlung. Dass wir die Möglich-
keit auf die kapitalgedeckte Altersvorsorge einschränken,
entspricht den Regelungen zur steuerlichen Förderfähig-
keit. Die Zusatzversorgungssysteme im öffentlichen
Dienst sind also nicht in dieser Regelung miteinbezogen.
Wir schaffen aber auch eine Ausnahme von dieser
Regelung: Für Pensionskassen, deren Leistungen durch
untrennbar miteinander verbundene gemeinsame Zahlun-
gen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert wer-
den – dies ist vor allem bei Pensionskassen im Bereich der
chemischen Industrie der Fall – wird den ausgeschiede-
nen Arbeitnehmern nicht das Recht eingeräumt, den Ver-
trag mit eigenen Beiträgen fortzuführen. Außerdem muss
keine Überschussverwendung erfolgen. Damit vermeiden
wir, in bestehende Leistungszusagen einzugreifen.
Drittens. Im Einvernehmen mit allen an der Insolvenz-
sicherung der betrieblichen Altersversorgung beteiligten
Institutionen werden im Hinblick auf die neuen Vor-
schriften über die Entgeltumwandlung die bisherigen
Begrenzungen der Einstandspflicht des Pensions-Siche-
rungs-Vereins bei Zulagen aufgehoben, die auf Entgelt-
umwandlungsvereinbarungen beruhen.
Entsprechend einer Forderung des Bundesrates wird
der Ausschluss des gesetzlichen Insolvenzschutzes nach
§ 7 Abs. 5 letzter Satz – kein gesetzlicher Insolvenzschutz
hinsichtlich in den letzten zwei Jahren vor Eintritt der In-
solvenz erfolgten Verbesserungen der betrieblichen Leis-
tung – aufgehoben. Damit werden Arbeitnehmer bei der
Finanzierung der betrieblichen Altersvorsorge begünstigt.
Der Ausschuss hat sich in seinen Beratungen auch mit
der jüngst geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeits-
gerichts zu § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG befasst und festge-
stellt, dass es in zwei neueren Urteilen für die Berechnung
der vorzeitigen Altersrenten von der bisherigen gesetzli-
chen Systematik abgewichen ist. Diese Problematik be-
darf nach unserer Auffassung der gründlichen Erörterung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224544
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und sollte in einem späteren Gesetzgebungsverfahren,
auch unter Einbeziehung von Sachverständigen im Rah-
men einer Anhörung überprüft werden
Insgesamt möchte ich noch einmal darauf hinweisen,
dass die betriebliche Altersversorgung einen sehr großen
Anteil an der zusätzlichen Altersvorsorge ausmachen
wird – aller Voraussicht nach sogar den größten. Alle Be-
teiligten sind hier startklar. Vor Ort werden jetzt die Tarif-
verträge über Entgeltumwandlung mit Leben gefüllt.
Viele Beschäftigten werden Teile des Weihnachtsgeldes
oder andere Einmalzahlungen für die Gehaltsumwand-
lung verwenden.
Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, haben
wir das Spektrum der Möglichkeiten für die betriebliche
Altersvorsorge noch einmal erweitert. Viele Arbeitneh-
mer werden sicher die neuen Angebote von Pensions-
fonds und Pensionskassen nutzen, die ab dem Sommer
mit ihren Produkten auf den Markt kommen.
Damit haben wir ein wesentliches Ziel unserer Ren-
tenreform erreicht: die betriebliche Altersvorsorge wieder
attraktiv und für mehr Beschäftigte zugänglich zu ma-
chen. Fachleute prognostizieren, dass der Anteil der Ar-
beitnehmer, die künftig betriebliche Versorgungsleistun-
gen erhalten, langfristig auf bis zu 90 Prozent steigen
wird. Die betriebliche Altersversorgung steht also – nach-
dem sie 16 Jahre lang von der Kohl-Regierung praktisch
vergessen worden war – vor einer wirklichen Renais-
sance.
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Eingangs der
heutigen Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs
möchte ich ausdrücklich begrüßen, dass trotz aller Gra-
benkämpfe in dieser Wahlperiode zum Thema Rente und
angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes die Bereit-
schaft besteht, gemeinsam notwendige Änderungen im
Bereich der Alterssicherung durchzusetzen. Das ist uns
erst vor kurzem bei dem interfraktionell eingebrachten
Entwurf eines „Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Änderung
des SGB VI“ gelungen. Und auch der heute zur Beratung
vorliegende Entwurf der Bundesregierung eines Hütten-
knappschaftlichen Zusatzversicherungs-Neuregelungs-
Gesetzes findet die Unterstützung der Union.
Ich möchte in meinen Ausführungen auf zwei Rege-
lungsbereiche des Gesetzentwurfs eingehen, zunächst auf
den Bereich, der dem Gesetz den Namen gegeben hat,
nämlich auf die Neuregelung der Hüttenknappschaftli-
chen Zusatzversicherung im Saarland. Das bisherige um-
lagenfinanzierte System dieser Zusatzversicherung soll
durch den Gesetzentwurf auf eine kapitalgedeckte be-
triebliche Altersversorgung umgestellt werden. Ange-
sichts der erheblichen Verschlechterung der Relation von
Beitragszahlern und Leistungsempfängern ist dies sicher
ein richtiger und notwendiger Schritt, denn in der Hütten-
knappschaftlichen Zusatzversicherung stehen derzeit
etwa 18 800 Versicherten rund 41 000 Leistungsempfän-
ger gegenüber. Es bestand also in der Tat dringender
Handlungsbedarf. Die Defizitdeckung für die umlagenfi-
nanzierte Zusatzversicherung soll nach dem Entwurf der
Bund übernehmen. Dafür wird das Vermögen der umla-
genfinanzierten Zusatzversicherung in Höhe von etwa
375 Millionen Euro auf den Bund übertragen. Für das
Land Saarland ist diese Lösung sicher ein politischer Er-
folg. Insofern kann ich die saarländische Landesregierung
zu ihrer erfolgreichen Überzeugungsarbeit beglückwün-
schen. Allerdings sehe ich durchaus die Gefahr, dass
durch diesen Schritt Begehrlichkeiten bei anderen defi-
zitären betrieblichen Zusatzversicherungen geweckt wer-
den. Vor diesem Hintergrund möchte ich deutlich machen:
Ich halte die Defizitdeckung für eine betriebliche Zusatz-
versicherung durch den Bund grundsätzlich für proble-
matisch. Deshalb kann und darf diese Lösung in Zukunft
keinesfalls der Regelfall werden.
Der zweite Bereich des Gesetzentwurfs, auf den ich
eingehen möchte, betrifft die betriebliche Alterssiche-
rung. Durch die Änderung des § 112 Versicherungsauf-
sichtsgesetz, sollen bisherige Beschränkungen des Pen-
sionsfonds aufgehoben werden. Bislang gehörten zu den
Leistungen, die der Pensionsfonds erbringen konnte, nur
lebenslange Altersversorgungsleistungen in Form einer
Rente. Einbezogen werden nunmehr auch Auszahlungs-
pläne mit unmittelbar anschließender Restverrentung, in
deren Rahmen die Möglichkeit besteht, bis zu 20 Prozent
des zu Beginn der Auszahlungsphase vorhandenen Kapi-
tals in einem Betrag an den Berechtigen auszuzahlen. Ich
begrüße diese Flexibilisierung der Pensionsfonds aus-
drücklich, insbesondere weil nunmehr zu erwarten ist,
dass der bisherige Genehmigungsstau der Pensionsfonds
beim Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht aufge-
löst werden kann. Allerdings bedaure ich, dass es nicht zu
weiter gehenden Änderungen gekommen ist, so wie dies
in der ursprünglichen Fassung des Änderungsantrags
noch vorgesehen war. An dieser Stelle hat die rot-grüne
Bundesregierung leider der Mut verlassen. Deshalb
besteht auch nach dieser Änderung für den Bereich der
Pensionsfonds wie auch für den Bereich der privaten
Alterssicherung insgesamt noch weitergehender Ände-
rungsbedarf. Ziel muss es sein, die ergänzende Altersvor-
sorge insgesamt freiheitlicher auszugestalten. Erst dann
entsteht auch die Bereitschaft bei den Menschen, ergän-
zend zur gesetzlichen Rente vorzusorgen, sei es nun pri-
vat oder betrieblich.
Der Bundesregierung ist es mit ihrer Reform nicht ge-
lungen, diese Bereitschaft bei den Menschen zu wecken.
Die bisher ernüchternden Zahlen der abgeschlossenen so
genannten Riester-Verträge beweisen dies. Auch wenn
Bundesminister Riester gebetsmühlenartig seine Reform
als Erfolg darzustellen versucht, so zuletzt am Mittwoch
in seiner Pressekonferenz zum „Stand der zusätzlichen
Altersversorgung – Bilanz und Perspektiven“. In Wirk-
lichkeit glaubt die Bundesregierung selbst nicht mehr da-
ran. Warum sonst sollte sie überlegen, die staatliche För-
derung auch im Jahr 2003 noch rückwirkend für 2002
geltend machen zu können und die private Zusatzrente in
eine obligatorische Altersvorsorge umzuwandeln. Für
eine private Zwangsrente hatte sich zuletzt immerhin der
sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Klaus
Brandner, ausgesprochen. An den bestehenden grundle-
genden Fehlern der ergänzenden Altersvorsorge kann
deshalb auch der vorliegende Gesetzentwurf nicht wirk-
lich etwas ändern, auch wenn er mit der Flexibilisierung
der Pensionsfonds zumindest in die richtige Richtung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24545
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weist. Deshalb stimmt die Union dem Gesetzentwurf auch
zu.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die rot-grüne Bundesregierung hat im vergangenen Som-
mer ein Förderprogramm zur privaten Altersvorsorge
durch Bundestag und Bundesrat gebracht, das von allen
Seiten sehr gelobt wurde.
Heute werden wir einem Gesetzentwurf zustimmen,
auf dessen Grundlage die Hürtenknappschaftliche Zu-
satzversorgung im Saarland für jüngere Versicherte auf
eine kapitalgedeckte betriebliche Altesversorgung umge-
stellt wird. Derzeit wird die Hüttenknappschaftliche Zu-
satzversorgung allein über Umlagen finanziert. Die Fi-
nanzierung über Umlagen kann dauerhaft nicht mehr für
alle Versicherten geleistet werden. Schon heute stehen
rund 41 000 Rentner nur noch annähernd 19 000 Bei-
tragszahler gegenüber. Für die älteren Versicherten wird
die Finanzierung über Umlagen fortgeführt. Der Bund
übernimmt die Haftung für Defizite. Es ist Schluss mit der
Ungewissheit für Rentner und Beitragszahler.
Wir haben im vergangenen Sommer ebenfalls ent-
schieden, einen neuen Weg der betrieblichen Altersver-
sorgung, die Pensionsfonds, einzuführen. Heute werden
wir die gesetzlichen Grundlagen schaffen, damit Pen-
sionsfonds in Zukunft leistungsfähiger werden. Sie kön-
nen ihren Kunden künftig statt Renten auch Auszahlungs-
pläne mit Restverrentung anbieten.
Unsere Fraktion wäre gern noch einen Schritt weiter
gegangen und hätte diesen neuen Durchführungsweg
noch leistungsfähiger gestaltet. Wir hätten den Betrieben
die Möglichkeit eröffnet, jede Form der bislang gegebe-
nen internen Zusagen auf Pensionfonds zu übertragen,
auch Zeitrenten und Kapitalzahlungen. Wir hätten in einer
Öffnung kein Signal für einen generellen Wechsel von
Renten- zu Kapitalzahlungen gesehen. Alle vorliegenden
Informationen zeigen, das in den Betrieben bevorzugt
über lebenslange Renten vorgesorgt wird.
Noch ein Wort an die Damen und Herren der FDP. Wir
werden heute einen Gesetzentwurf verabschieden, der aus
Sicht aller Beteiligten sinnvoll und erforderlich ist, um die
betriebliche Altersversorgung zu stärken. In der Sache ha-
ben auch Sie keine Einwände. Sie stimmen als einzige
Fraktion den Änderungen nicht zu, weil Sie schon dem
Altesvermögensgesetz nicht zugestimmt haben. Sie sind
offenbar weder fähig noch gewillt, dazuzulernen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die rot-grüne Bundes-
regierung will mit ihrem Entwurf des Hüttenknapp-
schaftlichen Zusatzversicherungs-Neuregelungs-Gesetzes
sowie mit ihrem umfangreichen Änderungsantrag we-
sentliche Änderungen des Gesetzes zur Verbesserung der
betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) bzw. des Ver-
sicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) herbeiführen.
Für die FDP sage ich: Wir lehnen diesen Gesetzentwurf
ab, weil wir schon die Einführung des Gesetzes über die
Förderung der privaten Altersvorsorge als falschen, weil
nicht ausreichenden und deutlich zu bürokratischen
Schritt abgelehnt haben. Überdies lässt die mit der vorge-
sehenen Gesetzesänderung einhergehende Verknüpfung
von zweiter und dritter Säule weitere Verkomplizierungen
dieses ohnehin bereits komplexen Rechtsgebietes be-
fürchten und begegnet auch systematischen Bedenken.
Umso mehr wäre hier eine Sachverständigenanhörung
angebracht gewesen, um sorgfältig die Wirkungen der ge-
planten Änderungen, insbesondere ihre möglichen Vor-
und Nachteile für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu prü-
fen.
Lassen Sie mich nur zwei Punkte herausgreifen, die
unsere Skepsis illustrieren. Die vorgesehenen Änderun-
gen zielen auf eine Erweiterung der Definition der be-
trieblichen Altersvorsorge. Neben der Arbeitgeberfinan-
zierung und der Entgeltumwandlung sollen danach – als
dritte Finanzierungsform der betrieblichen Altersvorsorge –
auch Arbeitnehmerbeiträge an Direktversicherung, Pen-
sionskasse und Pensionsfonds zur betrieblichen Alters-
vorsorge gehören.
Zwar wird der Gesetzentwurf insoweit der Notwendig-
keit gerecht, dass der Arbeitgeber den Umfang seiner Haf-
tung sowie der Verpflichtungen nach dem BetrAVG selbst
bestimmen können muss. Nur sieht Art. 3 des Gesetzent-
wurfs eine Änderung des § 1 Abs. 2 BetrAVG durch die
Einfügung einer Nr. 4 vor, nach der eigene Beiträge des
Arbeitnehmers aus seinem versteuerten Einkommen an
einen Pensionsfonds, eine Pensionskasse oder eine Di-
rektversicherung als betriebliche Altersversorgung zu
werten sein sollen. Aber bislang zählten Beiträge, die der
Arbeitnehmer aufgrund eigener Verpflichtung beispiels-
weise an eine Pensionskasse erbracht hat, unstreitig zur
privaten Eigenvorsorge. So genannte Eigenbeiträge wer-
den in der Fachöffentlichkeit als ein Fremdkörper im Be-
triebsrentenrecht wahrgenommen. Die vorgesehene Ana-
logie zum Rechtsanspruch auf Entgeltumwandlung würde
bedeuten: Jeder Arbeitnehmer soll seinen Arbeitgeber
zwingen dürfen, ihm Leistungen der betrieblichen Alters-
versorgung zuzusagen, ohne dass der Arbeitnehmer im
gleichen Zuge auf einen entsprechenden Teil des Barlohns
verzichtet.
Dies würde die Sachlage in den Unternehmen noch
weiter erschweren und zu einem erheblichen Verwal-
tungsaufwand führen. Bereits heute haben die Betriebe
genug damit zu tun, die Rentenreform 2001 für den Be-
trieb umzusetzen. Die mit dieser Änderung einherge-
hende Verknüpfung von zweiter und dritter Säule lässt
eine weitere Verkomplizierung dieses ohnehin bereits
komplexen Rechtsgebietes befürchten. Größtmögliche
Verunsicherung bei Betrieben, Arbeitnehmern und Ver-
sorgungsträgern wäre die Folge. Die betriebliche Praxis
würde zwischen arbeitgeberfinanzierter betrieblicher Al-
tersvorsorge, Entgeltumwandlung und Arbeitnehmer-
beiträgen als betriebliche Altersvorsorge sowie freiwilli-
gen Arbeitnehmerbeiträgen unterscheiden müssen, da im
Arbeits-, Steuer- und Sozialversicherungsrecht jeweils
spezifische Regelungen gelten.
Ein weiterer problematischer Punkt stellt der fehlende
Inflationsschutz für Arbeitnehmer bei Auszahlplänen dar
(Art. 3 Nr. 6 (§ 16 Abs. 6 BetrAVG)): Das Betriebsren-
tengesetz bezweckt unter anderem den Arbeitnehmer
durch die Anpassungsprüfungspflicht des Arbeitgebers
nach § 16 Abs. 1 BetrAVG bei über lange Zeit laufenden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224546
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Versorgungsbezüge vor Kaufkraftverlusten zu bewahren.
§ 16 Abs. 6 BetrAVG – eingefügt mit der Rentenreform
2002 – macht nunmehr für monatliche Raten im Rahmen
eines Auszahlungsplans eine aus Arbeitnehmersicht
schwer nachvollziehbare Ausnahme. Diese soll nun auch
noch auf die Restrente ausgedehnt werden, sodass der In-
flationsschutz hier ersatzlos entfiele. Dadurch besteht die
Gefahr, dass die Anpassungsprüfungsverpflichtung durch
die Wahl von Auszahlungsplänen auch bei den Durch-
führungswegen der Direktzusage oder der Unterstüt-
zungskassenzusage zulasten der Arbeitnehmer gezielt
umgangen wird und der Inflationsschutz von Anwart-
schaften auf betriebliche Altersversorgung insgesamt aus-
gehöhlt wird.
Pia Maier (PDS):Die Hüttenknappschaftliche Zusatz-
versicherung kann nicht überleben. 41 000 Rentner und
Rentnerinnen stehen 18 800 Beitragszahlern gegenüber.
Der Bund hat in den letzten Jahren die nötigen Zahlungen
immer geleistet, jetzt soll aber umstrukturiert werden. Um
es vorneweg zu sagen: Die PDS unterstützt den Gesetz-
entwurf, weil er jetzt – nach der beschlossenen Riester-
schen Rentenreform – für die älteren Beschäftigten der
Saarhütten und den Bestandsrentnern einen entsprechen-
den Bestandschutz für ihre Zusatzversorgung garantiert,
und das will den Arbeitnehmern ja keiner wegnehmen.
Außerdem wird den Jüngeren eine Perspektive mit
dem Aufbau einer kapitalgedeckten Pensionskasse eröff-
net, die nach Riester förderfähig ist. Das findet die PDS-
Fraktion zwar grundsätzlich auch jetzt noch nicht richtig,
weil sie eine gänzlich andere Rentenreform befürwortet
hat. Für die Beschäftigten der Hütten im Saarland ist die
Gleichstellung mit der gesetzlichen Rente aber natürlich
sinnvoll.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, zur Rente in Gänze
etwas zu sagen. Die Entwicklung der Hüttenknappschaft
zeigt ja eigentlich, was uns die Demographen und Ren-
tenreformer auch für die gesetzliche Rente vorhersagen:
Viele Leistungsempfänger stehen wenigen Beitragszah-
lern gegenüber.
Die für das Zusatzversorgungssystem der Saarhütten und
der Eisenindustrie im Saarland gefundene Lösung kann al-
lerdings kein Modell für den weiteren Umbau der gesetzli-
chen Rente zum Kapitaldeckungsprinzip darstellen. Das
sieht man deutlich an den enormen Bundeszuschüssen, die
schon in einem solchen sehr kleinem Zusatzsystem zur Si-
cherung des Bestandschutzes der im Umlagesystem ver-
bleibenden Versicherten und Rentner notwendig werden.
Damit bekommt man auch eine Ahnung von den gesell-
schaftlichen Kosten eines solch radikalen Systemwechsels.
Aber Verhältnisse wie bei der Hüttenknappschaft ha-
ben wir bei der gesetzlichen Rente ja nicht. Dort stirbt
doch nicht die ganze Arbeit. Dort ist es möglich, den Kreis
der Beitragszahler auszuweiten. Und damit ist es auch
möglich das Umlageverfahren aufrecht zu erhalten.
Es wäre nicht nötig gewesen eine Rentenreform durch-
zuführen, die auf Privatisierung setzt, die zur Lebensstan-
dardsicherung allein die ArbeitnehmerInnen heranzieht
und die Arbeitgeber aus der bisherigen paritätischen Mit-
finanzierung entlässt.
Das Problem der umlagefinanzierten Rente ist nicht,
wie sich die Bevölkerung entwickelt, sondern wie sich die
Zahl der Beitragszahler und deren Beiträge entwickeln.
So wie bei der Hüttenknappschaft kann es nicht funktio-
nieren. Da aber noch lange nicht alle in die Rente einzah-
len und wir vom Aussterben auch noch ein paar Jahre ent-
fernt sind, könnte die Rentenversicherung statt mit
Privatvorsorge auch mit einer Ausweitung der Beitrags-
zahler erfolgreich verändert werden.
Die Einnahmeseite könnte übrigens auch mit einem
Mindestlohn, der ein existenzsicherndes Niveau hat, positiv
beeinflusst werden: Wenn wieder mehr statt immer weniger
verdient wird, sind die Einnahmen der Renten- und Kran-
kenkassen auch wieder besser – das aber nur nebenbei.
Abgesehen von der Hüttenknappschaftlichen Zusatz-
versicherung haben Sie auch weitere Veränderungen vor-
genommen, die eigentlich Ihre Rentenreform nachbes-
sern: Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung
und Einrichtung von Pensionsfonds, um die Riester-Rente
interessanter zu machen. Hoffentlich ist sie dadurch auch
ein wenig einfacher geworden.
Eines der wesentlichen Hindernisse, warum viele noch
keine Riester-Rente abschließen wollen, ist wohl vor al-
lem darin zu sehen, dass das Vertrauen in die Nachhaltig-
keit der Rentenpolitik gründlich gestört ist. Das haben Sie
mit den Debatten um die Sicherheit und Unsicherheit der
Rente, um die so genannten Reformen und mit den ge-
brochenen Versprechen auf diesem Gebiet erreicht.
Viele schrecken auch vor langfristigen Entscheidungen
zurück: Es ist völlig unverständlich, warum man vor dem
Hintergrund eines zusammenwachsenden Europa, vor ei-
ner sich über die Grenzen Deutschlands hinaus ent-
wickelnden Lebensplanung, vor den Plänen des Ruhesitzes
im Spanien, heute mit dem Problem konfrontiert wird, dass
bei Rentenbezug im Ausland die Zulagen zurückgezahlt
werden müssen.
Wer jetzt schon nicht vor hat, seinen Lebensabend hier-
zulande zu verbringen, der oder die wird erst einmal keine
Riester-Rente abschließen; jedenfalls dann nicht, wenn an-
dere Altersvorsorgeprodukte die gleiche Rendite bieten.
Lassen Sie mich also abschließend sagen: Nur weil wir
der Ausweitung der Grundprinzipien der Rentenreform
auf die Hüttenknappschaftliche Zusatzversicherung zu-
stimmen, heißt das noch lange nicht, dass wir die Riester-
Renten-Reform für zukunftsweisend halten. Eine andere
Rentenreform war und ist nach wie vor möglich – eine Re-
form, die die Einnahmeseite in den Blick nimmt und die
Einnahmen auf ein breites und solides Fundament stellt,
damit die solidarische Rente eine Zukunft hat.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
dem Antrag: Bahnpreissystem für Fahrgäste
attraktiv gestalten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24547
(C)
(D)
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(B)
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
dem Antrag: Interregio für die Regionen er-
halten
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
den Anträgen:
– Option für eine Fernbahnanbindung des
Bahnhofs Berlin-Lichtenberg offen halten
– Realisierung einer direkten Fernbahnan-
bindung zwischen den Bahnhöfen Berlin
Ostbahnhof und Berlin-Lichtenberg beim
Ausbau des Eisenbahnknotens Berlin
– des Antrags: Innerdeutschen Verkehr auf die
Bahn verlagern
– des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung
des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
den Anträgen:
– Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundes-
tages bei Transrapid Entscheidungen sichern
– Keine Entscheidung über den Bau einer
Magnetschwebebahnstrecke in der Bun-
desrepublik Deutschland ohne Einstellung
der entsprechenden Haushaltsmittel in den
Bundeshaushalt
– des Antrags: Erhalt der Bahnwerke – behin-
dertengerechte Umrüstung des Wagenparks
der DBAG
(Tagesordnungspunkt 39 und Zusatztagesord-
nungspunkt 23)
Dr. Peter Danckert (SPD): Auch wenn die heutigen
Anträge und Beschlussempfehlungen als letzter Tages-
ordnungspunkt der heutigen Debatte aufgeführt sind, gilt
dies für mich nur in zeitlicher, nicht aber in inhaltlicher
Hinsicht. Das Thema „Bahn“ ist wichtig – egal, ob es nun
um den Interregio oder die Magnetschwebebahn geht. Ein
gut ausgebautes, integriertes Verkehrssystem ist zentrale
Voraussetzung zur Sicherung von Wirtschaftswachstum
und Beschäftigung. In diesem Zusammenhang kommt der
Bahn, kommt dem Verkehrsträger Schiene insgesamt eine
tragende Rolle zu.
Verkehr – und dazu zählt auch der Schienenverkehr –
muss nachhaltig und perspektivisch gesteuert und gelenkt
werden. Hauruck-Aktionen von heute auf morgen sind
auch in der Verkehrspolitik nicht möglich. Deshalb ist es
auch so wichtig, in Berlin eine Option für eine Fern-
bahnanbindung des Bahnhofes Berlin-Lichtenberg an den
Ostbahnhof und damit an die Stadtbahnstrecke offen zu
halten. Gegenwärtig wird das von der Deutschen Bahn
und dem Berliner Senat gemeinsam entwickelte Pilzkon-
zept umgesetzt. Eine Maßnahme ist der geplante Umbau
des Bahnhofes Ostkreuz. Eine direkte Verbindung zwi-
schen dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg und dem Ost-
bahnhof ist allerdings bisher nicht vorgesehen.
Im Hinblick auf die EU-Osterweiterung wird dem
Bahnhof Berlin-Lichtenberg künftig eine größere Bedeu-
tung zukommen, da schon heute die von Berlin Richtung
Polen führende Strecke über Lichtenberg führt. Deswegen
halte ich es für sinnvoll, wenn beim künftigen Ausbau des
Ostkreuzes, welches zwischen diesen beiden Bahnhöfen
liegt, darauf geachtet wird, dass eine spätere Anbindung
des Fernverkehrs möglich ist. Wenn man nicht schon
heute auf diese mögliche Verbindung achtet, dann kom-
men auf uns in absehbarer Zukunft unnötig komplizierte
Trassenplanungen und unnötig hohe Kosten zu. Heute
Optionen zu schaffen, die diesen Mehraufwand vermei-
den – das nenne ich nachhaltige Verkehrspolitik.
Auch die Kollegen von der PDS müssten mit diesem
Antrag doch eigentlich glücklich sein. Sie setzen sich
doch mit ihrem eigenen Antrag ebenfalls für eine direkte
Verbindung zwischen den Bahnhöfen Ostbahnhof und
Berlin-Lichtenberg ein.
Die Anbindung ist allerdings nicht im Entwurf des
Bundesverkehrswegeplanes festgeschrieben, und zwar
aus gutem Grund. Deshalb konnten wir im Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auch nicht diesem
Antrag zustimmen. Der gute Grund lautet, dass im Pro-
gnosezeitraum bis 2015 kein verkehrsrechtlicher Bedarf
für eine direkte Fernverkehrsverbindung zwischen diesen
beiden Bahnhöfen besteht. Dieses Kriterium ist aber für
die Aufstellung im Bundesverkehrswegeplan bedeutsam.
Es ist doch nie genug Geld da, um alles Wünschens-
werte zu finanzieren. Auch die PDS kann ja nur jeden
Euro einmal ausgeben. Wenn man seriöse Politik, seriöse
Verkehrspolitik betreiben will, muss man mit dem vor-
handenen Budget Prioritäten setzen. Um Prioritäten rich-
tig zu setzen, ist ein wichtiges Instrument des Bundesver-
kehrswegeplanes die Gesamtverkehrsprognose. Und im
Fall Berlin-Lichtenberg besteht aufgrund des vergleichs-
weise niedrigen Verkehrsbedürfnisses gegenwärtig kein
Bedarf, die Anbindung kurzfristig zu realisieren.
An diesem Punkt kommt es doch darauf an, einer Maß-
nahme, die nicht im Bundesverkehrswegeplan enthalten
ist, dennoch größtmögliche Chancen auf eine Realisie-
rung einzuräumen. Das tut man nicht, indem man Luft-
schlösser baut, sondern indem man Optionen eröffnet.
Genau das tun wir von der SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen – übrigens nicht nur in der Verkehrspolitik.
Eine letzte Anmerkung zu dem Antrag der FDP: Sie
trägt vor, dass sich der Berliner Senat gegenüber dem Vor-
standsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Herrn
Hartmut Mehdorn, für die Verbindungsstrecke ausgespro-
chen hat. Das bezieht sich wohl auf die 6. Sitzung des
Ausschusses für Bauen, Wohnen und Verkehr des Abge-
ordnetenhauses in Berlin. Nach meinen Kenntnisstand hat
sich der Berliner Senat dafür ausgesprochen, die Zwei-
gleisigkeit optional sicherzustellen, optional deswegen,
weil die Deutsche Bahn AG keinen Bedarf angemeldet hat
und auch der Senat davon ausgeht, dass ein kurzfristiger
Bau der beiden Gleise nicht erforderlich ist. Ich denke,
dass ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Mit diesem neuen Informationsstand müssen doch
auch die Kollegen von der PDS mit unserem Antrag, mit
dem wir genau diese Optionsmöglichkeit fordern, glück-
lich sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224548
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Die SPD-Bundesregierung hat die Investitionsmittel
für die Bahn für die Jahre 1999 und 2000 und – in einem
zweiten Schritt – danach um jährlich 2 Milliarden DM aus
den Zinsersparnissen infolge der UMTS-Versteigerung
für die Jahre 2001 bis 2003 erhöht. Das ist eine Tatsache.
Der Investitionsschwerpunkt wurde auf das Bestandsnetz
verlagert, um dort dringend erforderliche Erhaltungs-
investitionen; aber auch die Modernisierung voranzutrei-
ben. Wir wollen, dass die deutsche Schieneninfrastruktur
zu einem der modernsten Netze in Europa ausgebaut wird.
Auch das sind Fakten.
Die SPD-Bundesregierung hat aber nicht nur viel für
die Bahn, sondern für die Infrastruktur insgesamt getan.
Ein Land, eine Region zu entwickeln bedeutet, die Infra-
struktur voran zu bringen. Verkehrsanbindungen müssen
günstig sein, und zwar günstig für die Menschen, die in
dem Land, in der Region leben und arbeiten. Das haben
wir in den letzten Jahren getan und das werden wir auch
in den nächsten Jahren tun.
Renate Blank (CDU/CSU): Wir befassen uns heute
im Plenum überwiegend mit Anträgen der PDS, die aus
meiner Sicht alle aus populistischen Gründen gestellt
wurden, damit der Bevölkerung suggeriert werden soll,
dass die PDS eine staatstragende Partei sei, die sich um
die Belange der Bürgerinnen und Bürger intensiv küm-
mere.
Nun zu den einzelnen Anträgen:
„Bahnpreissystem für Fahrgäste attraktiv gestalten“.
Grundsätzlich ist die Tarifgestaltung Sache der Deutschen
Bahn AG. Es war der politische Konsens sämtlicher sei-
nerzeit im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien,
dass mit der Bahnreform zum 1. Januar 1994 die Deutsche
Bahn AG dem politischen Einfluss entzogen werden
sollte und dass sie sich selbst als Wirtschaftsunternehmen
am Verkehrsmarkt positionieren muss. Ausfluss dieser
politisch gewollten Selbstpositionierung ist die eigene
Angebots- und Preisfindung der Deutschen Bahn AG im
Verkehrsmarkt.
Allerdings sind bestimmte Tarifbestandteile auch für
grundgesetzlich festgelegte Pflichten der DB AG von
besonderer Bedeutung. Die Auswirkungen der voraus-
sichtlichen Halbierung des Bahncard-Rabatts auf die Ta-
rife im Nahverkehr und die Auswirkungen des Reservie-
rungssystems sind noch nicht geklärt. Es fehlt auch die
politische Stellungnahme der Bundesregierung zu dem
geplanten Bahnpreissystem als einen für den Eisenbahn-
verkehr sehr bedeutsamen Schritt. Es muss die Gemein-
wohlverpflichtung des Eisenbahnverkehrs im Grundge-
setz von der Bundesregierung verwirklicht werden,
weshalb die Meinung der Bundesregierung schon inte-
ressiert, zumal Bahnchef Mehdorn einen ausgezeichne-
ten Kontakt zu Bundeskanzler Schröder hat. Die DB AG
schiebt das Thema allerdings über den 22. September hi-
naus, damit die Bürgerinnen und Bürger keinen Ärger
bereiten, wie zum Beispiel derzeit der Sozialverband
VdK Deutschland, dessen Mitglieder mit dem neuen
Preissystem teilweise erhebliche Nachteile hinnehmen
müssen.
„Interregio für die Regionen erhalten“. Mit diesem An-
trag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, eine
Politik der Verlagerung des Verkehrs von der Straße und
der Luft auf die Schiene umzusetzen und die Deutsche
Bahn AG zu veranlassen, die bestehenden Fernverkehrs-
angebote des interregionalen Verkehrs zu erhalten und zu
entwickeln, in Abstimmung mit den Ländern darauf hin-
zuwirken, dass der Schienenverkehr als ganzheitliches
System weiter ausgebaut wird, die einzelnen Verkehrsar-
ten optimal aufeinander abgestimmt sowie disponierbare,
attraktive und preiswerte Produkte in allen Bereichen an-
geboten werden.
Meine Damen und Herren von der PDS, was glauben
Sie eigentlich, was wir mit der Bahnreform des Jahres
1994 erreichen wollten? Wir wollten mehr Verkehr auf die
Schiene bringen und Güterverkehr von der Straße auf die
Schiene verlagern, zumindest die Zuwächse. Viele in
Ihrem Antrag geforderte Maßnahmen sind nach der in der
Bahnreform erfolgten Privatisierung unternehmerische
Aufgaben der Deutschen Bahn AG. Die Forderung, die
Regionalisierungsmittel zu dynamisieren, geht ins Leere,
denn schon zu unserer Regierungszeit wurde die Auf-
stockung festgeschrieben; man kann höchstens noch über
die Höhe der Dynamisierung trefflich streiten.
„Option für eine Fernbahnanbindung des Bahnhofs
Berlin-Lichtenberg offen halten“. Es macht durchaus
Sinn, im Rahmen der Realisierung des Eisenbahnknotens
Berlin über weitere Möglichkeiten der Fernbahnanbin-
dung nachzudenken. Dies ist aber keine Aufgabe des Par-
laments, sondern der Exekutive. Dem Antrag der rot-grü-
nen Koalition, die Bundesregierung aufzufordern, dafür
Sorge zu tragen, dass beim Umbau des Bahnhofs Ost-
kreuz im Bereich Ringbahnbrücken die Vorsorgemaß-
nahmen für eine zweigleisige Verbindung zwischen dem
Ostbahnhof und dem Bahnhof Lichtenberg berücksich-
tigt werden, um die Option für eine Realisierung der
Fernbahnverbindung zu sichern, werden wir zustimmen.
Den weiter gehenden Antrag der PDS, die Ferngleis-
verbindung in die Bundesverkehrswegeplanung zu inte-
grieren, lehnen wir ab, da bei der nächsten Erstellung des
Schienenwegeausbauplans über das Kosten-Nutzen-Ver-
hältnis der gewünschten Maßnahme noch zu diskutieren
sein wird.
„Innerdeutschen Luftverkehr auf die Bahn verlagern“.
Die PDS macht sich mit diesem Antrag unglaubwürdig.
Man kann nur Verkehr auf die Bahn verlagern, wenn sehr
gut ausgebaute Schnellverbindungen vorhanden sind.
Zum Beispiel wird niemand auf die Idee kommen, mit
dem Flugzeug von Nürnberg nach Hannover zu fliegen;
hier ist der ICE unschlagbar. Aber zum Beispiel bei der
Strecke Nürnberg–Berlin ist das Flugzeug im Vorteil ge-
genüber dem Zug, da es noch keine Schnellverbindung
gibt, die von der PDS abgelehnt wird. Widersprüchlicher
geht es nicht mehr!
Im Übrigen wird die Bahn subventioniert und nicht der
Luftverkehr. Eine Aufhebung der Mineralölsteuerbefrei-
ung ist doch nur international zu machen und keinesfalls im
deutschen Alleingang. Diese Meinung ist doch utopisch.
Alles in allem sind es reine „Schauanträge“ der PDS.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24549
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Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Der Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Kurt Bodewig
hat, obwohl der Deutsche Bundestag bisher keine Finan-
zierungsmittel für die beiden Strecken beschlossen hat,
für die geplante Magnetschwebebahn zwischen Düssel-
dorf und Dortmund 1,75 Milliarden Euro und für die
geplante Strecke zwischen Innenstadt und Flughafen
München 550 Millionen Euro zugesichert. diese Zusiche-
rungen sollen von den beiden Landesregierungen bereits
als ausreichende Planungsgrundlage herangezogen wer-
den. Die Zusagen des Bundesministers verstoßen gegen
elementare Mitwirkungsrechte des Parlaments und es ist
von einer Verletzung des parlamentarischen Haushalts-
rechtes auszugehen.
Kurz gefasst sind folgende Punkte bei der Beurteilung
der Transrapid-Planung hervorzuheben:
Der von der Bundesregierung zugesagte Bundeszu-
schuss ist eine reine Absichtserklärung und besitzt kei-
nerlei Rechtsverbindlichkeit, da er haushaltsrechtlich
nicht abgedeckt ist. Bei der prekären Haushaltssituation
des Bundes ist ungewiss, ob die Mittel jemals durch den
Bundestag bereitgestellt werden.
Selbst bei einem haushaltsrechtlich abgedeckten Zu-
fluss der Bundesmittel mussten für das Projekt in Nord-
rhein-Westfalen immer noch 1,44 Milliarden Euro durch
Kreditfinanzierung aufgebracht werden. Der daraus ent-
stehende Kapitaldienst und die jährlichen Betriebskosten
übersteigen die kalkulierten Erträge einschließlich der
Bestellerentgelte beträchtlich. Das Finanzierungskonzept
der Landesregierung ist unseriös: Einnahmen mit Über-
schüssen gleichzusetzen oder einen Kreditrahmen als
Überschuss auszugeben, wie es die Landesregierung tut,
entspricht nicht einmal einfachsten kaufmännischen Ver-
fahrensgrundsätzen.
Das Land NRW bezuschusst den Metrorapid über
Regionalisierungsmittel sowohl bei den Investitionen
– 65 Prozent der Fahrzeugkosten –, als auch beim Be-
trieb – Bestellerentgelte: 48,5 Millionen Euro. Dies führt
an anderer Stelle zu enormen Einschränkungen und Aus-
dünnungen beim Nah-, Regional- und Fernverkehr zu-
gunsten des Metrorapid, ohne dass der Metrorapid auf der
geplanten Strecke – Zeitvorteil: 2 Minuten gegenüber ei-
nes wesentlich billigeren ICE 3 mit Neigetechnik – einen
verkehrlichen Nutzen nachweisen kann. – Der Metrorapid
ist also nicht betrieblich und wirtschaftlich machbar, wie
Minister Bodewig, aber auch die NRW-Landesregierung
behaupten.
Unsere Forderungen lauten daher im Einzelnen:
Die Bundesregierung muss eine Kabinettsentschei-
dung treffen und muss dafür sorgen, dass in den Gremien
des Deutschen Bundestages die Gesamtfinanzierung be-
schlossen wird. In den Fachausschüssen des Deutschen
Bundestages soll der Nachweis für die Wirtschaftlichkeit
der beiden Strecken erbracht werden.
Es ist des Weiteren darzulegen, wie die 2,3 Milliarden
Euro den Verkehrshaushalt belasten, und welche Vorha-
ben deshalb gekürzt werden müssen oder nicht mehr zum
Tragen kommen. Es besteht Erklärungsbedarf über die
von der Bundesregierung verwendete Formulierung „an-
dere Bundesmittel“ für die Transrapidstrecken.
Die vorliegenden Gutachten sind durch einen Obergut-
achter gründlich zu prüfen und zu bewerten.
Unserer Antrag zielt darauf ab, dass die Plane für die
Transrapid-Projekte nach rationalen und finanziellen Ge-
sichtspunkten genau untersucht werden. Die Ausführun-
gen über die Pläne zum Transrapid machen deutlich, dass
dieses Projekt der rot-grünen Bundesregierung schon von
vorneherein zum Scheitern verurteilt bzw. nicht machbar
ist. Es ist unerlässlich, den Deutschen Bundestag am Ent-
scheidungsprozess zu beteiligen.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Zum 15. Dezember 2002 will die Deutsche
Bahn AG ein neues Fahrpreissystem einführen. Soweit
Teile davon öffentlich bekannt sind, steht dieses Preissys-
tem in der Kritik. Wir Politiker werden immer wieder auf-
gefordert, hier einzugreifen und dieses und jenes zu än-
dern.
Wie Sie wissen und wie auch die PDS weiß, die dazu
einen Antrag vorgelegt hat, können und dürfen wir als Po-
litiker, übrigens auch nicht über den Aufsichtsrat der pri-
vatrechtlich organisierten DB AG, keinen unmittelbaren
Einfluss auf das operative Geschäft des Bahnvorstands
nehmen. Die inhaltliche Gestaltung der Tarife gehört zu
den rein unternehmerischen Aufgaben eines Verkehrsun-
ternehmens. Ebenso wenig kann zum Beispiel der Firma
Connex auf der Strecke zwischen Gera und Rostock vor-
geschrieben werden, ihre Preise zu verdoppeln oder DB-
Tarife einzuführen.
Dies heißt aber noch lange nicht, dass wir zur neuen
Fahrpreisstruktur der DB AG, soweit sie bekannt ist, keine
Meinung haben. Als Fahrgast, als Verkehrspolitiker und
als Vertreter des Eigentümers Bund sollten wir dies auch
deutlich machen.
Lassen Sie mich zunächst erwähnen, was mir am neuen
System gefällt: dass nämlich Familien, kleine Gruppen
und Frühbucher konkurrenzlos günstig fahren werden,
dank einer Ermäßigung um 10 Prozent, 25 Prozent oder
gar 40 Prozent für Reisende, wenn sie bis zu sieben Tagen
vorher buchen. Inhaber einer Bahncard, die statt 140 Euro
künftig nur 60 Euro, für Partner und Kinder gar nur 5 Euro
kosten wird, bekommen weitere 25 Prozent Ermäßigung
auf diese Frühbucherpreise. Hinzu kommt, dass bis zu
vier Mitfahrer nur die Hälfte des Fahrpreises des
Hauptreisenden zahlen; Kinder bis einschließlich 14 Jah-
ren zahlen gar nichts, wenn sie mit einem Elternteil un-
terwegs sind. Dadurch werden Bahncards, die übrigens
auch zur Preisnachlässen bei der Anmietung von Fahrrä-
dern, oder PKWs berechtigen werden, künftig sicherlich
zahlreicher als bisher verkauft werden, und die Bahn wird
gerade dadurch Zielgruppen für sich gewinnen können,
die bisher aus Kostengründen lieber das Auto benutzt ha-
ben.
Diese unbestreitbaren Vorteile dürfen aber nicht zulas-
ten anderer Bahnfahrer gehen. Bahnfahren im Normalfall
darf nicht teuerer werden. Dies gilt vor allem für Gele-
genheitsreisende in Nah- und Regionalverkehrszügen auf
Relationen, auf denen keine buchbaren Fernverkehrszüge
verkehren und somit kein Plan & Spar-Preis gekauft wer-
den kann. Hier sollte einfach der heutige Bahncard-Rabatt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224550
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(B)
von 50 Prozent weiter gelten oder es müssen günstige
Sonderkonditionen für diese Fahrgäste eingeführt wer-
den.
Zum zweiten muss Bahnfahren flexibel bleiben. Ich
erwarte, dass Frühbuchen, die aus welchen Gründen auch
immer den gebuchten Zug nicht erreichen, mit dem nächs-
ten Zug zum Normalpreis unter Anerkennung des schon
bezahlten Fahrpreises fahren können. Hier muss es eine
kundenfreundliche Storno-Lösung geben. Es kann nicht
angehen, dass bei Versäumen eines Zuges das Frühbu-
cherticket verfällt und der Fahrgast zur Beförderung eine
Normalpreisfahrkarte zusätzlich kaufen muss. Selbst im
innerdeutschen Luftverkehr kann man heute noch eine
Stunde vor Abflug ohne Aufpreis umbuchen!
Bahnfahren muss billiger werden. Es ist Aufgabe der
Politik, die Rahmenbedingungen für die Bahn so zu ge-
stalten, dass die Preisgestaltung im Vergleich zu anderen
Verkehrsträgern auch im internationalen Vergleich kon-
kurrenzfähiger wird. Dazu gehört die EU-weite Ein-
führung einer Kerosinsteuer für den Luftverkehr ebenso
wie die Halbierung der Mehrwertsteuer für das Fernver-
kehrsticket der Bahn wie in anderen europäischen Län-
dern. Dadurch kann und muss der Fahrpreis der Fernver-
kehrsfahrkarte um nahezu zehn Prozent gesenkt werden!
Dies sollten wir uns für die nächste Legislaturperiode vor-
nehmen, anstatt wie im Antrag der PDS gefordert, einem
privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen die
Preise zu diktieren.
Rot-Grün hat die Weichen für eine bessere Bahn ge-
stellt. Wir haben die Bahninvestitionen seit 1998 um
50 Prozent gesteigert, jetzt stehen für die Erneuerung des
Systems Schiene jährlich 4,5 Milliarden Euro zur Verfü-
gung. Damit wird auch endlich im Bestandsnetz kräftig
modernisiert.
Die Regionalisierungsmittel heben wir seit 1998 um
über 10 Prozent erhöht und bis 2007 auf ein Rekordniveau
von 6,75 Milliarden Euro verstetigt, mit einer Steige-
rungsrate von 1,5 Prozent. Damit können die Bundeslän-
der nicht nur mehr Zugkilometer bestellen, sondern auch
erhebliche zusätzliche Mittel für Investitionen einsetzen,
beispielsweise für den Kauf neuer, komfortabler Nahver-
kehrsfahrzeuge. Diese zusätzlichen Mittel stehen auch für
die Weiterentwicklung, den Erhalt oder den Ersatz von in-
terregionalen Verbindungen vom Typ Interregio zur Ver-
fügung. Damit haben wir einer Forderung des PDS-An-
trags bereits entsprochen, nämlich dass die Länder mit
erhöhten Mitteln auch interregionale Verbindungen bezu-
schussen können. Dies können Interregios der DB AG
sein, aber auch andere Zuggattungen oder vergleichbare
Produkte von Wettbewerbern. Wie innovativ die Länder
mit den Mitteln umgehen können, wenn der Wille dazu da
ist, zeigt die gemeinsame Bereitschaft der Länder NRW,
Hessen und Thüringen, auf der Mitte-Deutschland-Bahn
eine Anschubfinanzierung für die Verbindung Düssel-
dorf–Weimar zu gewähren. Hier wird eine IC-Verbindung
unterstützt – zuschlagsfrei für Berufspendler.
Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Auch die
Bahnunternehmen müssen jetzt das Ihre tun – für einen
fahrgastfreundlichen, bezahlbaren Schienenverkehr auch
in der Fläche.
Horst Friedrich (FDP): Zum wiederholten Male wer-
den wichtige verkehrspolitische Themen von der rot-grü-
nen Mehrheit am Tagesrand in diesem Plenum debattiert.
Offensichtlich will die jetzige Bundesregierung ihre ver-
kehrspolitischen Altlasten im Morgengrauen ohne Zeu-
gen entsorgen.
Aufgrund der Vielzahl der zu beratenden Gesetze und
der begrenzten Zeit bleibt mir leider keine Zeit, auf die
Punkte wirklich im Detail einzugehen. Zu den Bahnan-
trägen der Kollegen der PDS ist zu sagen, dass im We-
sentlichen – dieser Lösungsansatz zieht sich wie ein roter
Faden durch alle Anträge – übersehen wird, dass die
Bahnreform von 1994 der Bahn in wichtigen wirtschaft-
lichen Fragen eine Eigenentscheidung zugesteht. Das ist
auch notwendig, weil zu Beginn der Bahnreform bzw. im
Jahr davor die Einnahmen der Deutschen Bundesbahn
nicht einmal mehr ausgereicht haben, die Personalkosten
der Bahn abzudecken. Deswegen war es richtigerweise
Ziel der Bahnreform, politische Entscheidungen auf das
unbedingt Notwendige zu begrenzen und wirtschaftliche
Entscheidungen auch bei der Bahn zu belassen. Das gilt
für das Bahnpreissystem, den Erhalt bestimmter Zugver-
bindungen oder auch bahneigener Werke.
Umgekehrt kann die FDP die Problematik dieser Fra-
gen nicht unbeantwortet lassen. Unsere Antwort darauf
lautet: Wir müssen die Konsequenz, die in der Bahnre-
form angelegt war, nun endgültig umsetzen und das heißt
für uns die Herauslösung des Netzes aus dem Verbund der
Bahn AG. Wettbewerb auf den Trassen, ohne Diskrimi-
nierungsmöglichkeit wird falsche Bahnpreise sehr schnell
entlarven, weil Wettbewerb hier der Maßstab ist. Das gilt
im Übrigen auch für die Bedienung bestimmter Regionen
mit bestimmten Zugqualitäten bzw. für den Erhalt von
Kapazitäten der Bahnwerke; denn mehr Wettbewerber be-
deuten auch mehr Besteller für die Deutsche Bahn-
industrie.
Diese Einschätzung gilt grundsätzlich auch für den An-
trag der Verlegung des innerdeutschen Flugverkehrs auf
die Schiene. Wir sind für den entsprechenden Wettbewerb
der Verkehrsträger untereinander, aber wir halten nichts
davon, dem Bürger Deutschlands vorzuschreiben, wel-
ches Verkehrsmittel er wählen soll. Das hat schon in der
alten DDR nicht funktioniert, warum sollte es jetzt funk-
tionieren? Im Übrigen kommen alle Expertenstudien zu
dem Ergebnis, dass nur fünf Prozent des Luftverkehrs in
Deutschland tatsächlich ernsthaft auf die Schiene verla-
gert werden können – aus den unterschiedlichsten Grün-
den. Dies entspricht ungefähr dem Zuwachs eines einzi-
gen Jahres. Danach sind und bleiben die Probleme so wie
bisher auch. Was soll dieser Antrag also lösen, es sei denn,
eine dirigistische Verkehrspolitik unter staatlicher Ober-
aufsicht?
Die Magnetschwebebahn entwickelt sich offensicht-
lich zum neuen und alten Feindbild der PDS. Die FDP
lehnt den Antrag zur Aufhebung des Magnetschwebe-
bahnplanungsgesetzes ab. Wir sind der Überzeugung,
dass es geradezu zwingend notwendig ist. jetzt auch in
Deutschland alle Grundlagen dafür zu schaffen, dass eine
anerkannte deutsche Technologie, mit der wir führend in
der Welt sind, auch in Deutschland angewendet werden
kann. Inhaltlich ist zu diesem Thema eigentlich schon
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24551
(C)
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(B)
alles gesagt worden. Es kann aber doch nicht sein, dass
Kunden für die deutsche Technologie Magnetschwebe-
bahn nach Schanghai reisen müssen, um sich die erste An-
wendung der Welt auf chinesischem Boden anzusehen.
Ich fordere die Kollegen in der SPD und insbesondere
Bundesverkehrsminister Bodewig auf, nun alles zu tun,
um möglichst schnell eine Anwendungsstrecke in
Deutschland zu errichten. Das gilt für die Etatisierung der
entsprechenden Beträge im Haushalt und im Zweifel auch
für die Konzentration auf eine einzige Strecke. Wir müs-
sen zügig bauen, damit wir hier nicht erneut ins Hinter-
treffen geraten.
Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag in Mannheim
der Mobilität ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Wir
werden unsere Entscheidungen nach diesen Ansätzen aus-
richten.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Zur Debatte – und teilweise
zur Abstimmung – steht hier ein ganzer Strauß von PDS-
Anträgen und ein PDS-Gesetzentwurf. Auch wenn es sich
teilweise um Verkehrspolitikvorschläge handelt, die wir
in den letzten Monaten unabhängig voneinander erarbei-
tet haben und die nun im Plenarsaal kulminieren, so ge-
ben doch alle sieben PDS-Drucksachen zusammenge-
nommen auch ein abgerundetes Bild.
Ich fasse das der Einfachheit halber in drei Paketen zu-
sammen: Paket eins betrifft die Bahnprivatisierung und
konkretisiert unsere Kritik an derselben. In Paket zwei
wird unsere Alternative konkretisiert – ein Programm
zum Erhalt tausender Arbeitsplätze und zur Schaffung
zehntausender neuer Arbeitsplätze inbegriffen. Paket drei
befasst sich schließlich mit dem Magnetbahnabenteuer
von SPD und Grünen.
Zum letzteren Komplex möchte ich in meiner Rede nur
vorab sagen: Jeder blamiert sich mit dem Transrapid of-
fensichtlich mindestens ein Mal je Legislaturperiode. Die
Regierung Kohl musste in ihrer Amtszeit zuletzt die
Transrapid-Strecke Berlin-Hamburg faktisch ad acta le-
gen. Nun hat im Mai dieses Jahres der Bundesrechnungs-
hof mit seinem Prüfbericht die Machbarkeitsstudie zum
Bau des Metrorapids in NRW und des Transrapids zum
Münchner Flughafen dermaßen zerrissen, daß der Bun-
desminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen, aber
auch der Tausendsassa Clement in NRWeigentlich mit ro-
ten Öhrchen dastehen müssten.
Sie tun es nicht; sie halten dennoch an diesen Projek-
ten fest. Eben wie Kohl vor der Septemberwahl 1998;
nach dem 22. September 2002 dürften wir bei diesen zwei
Projekten allerdings ein Begräbnis dritter Klasse erleben.
Dann können wir ja bald einen Blick nach Schanghai ris-
kieren und sehen, wie der Transrapid ab 2003 dort läuft
oder dann auch wieder nicht.
Interessant wird es natürlich, wenn die Mehrheit des
Hauses und wohl auch die Regierungsparteien am Ende
dieses Tagesordnungspunktes unsere beiden Anträge ab-
lehnen werden – und damit ein weiteres Mal die Vernunft
an der Garderobe abgeben.
Zu Paket eins unserer Anträge. Hier geht es zunächst
um unseren Antrag „Interregio für die Regionen erhal-
ten“. Bereits mehrmals befassten wir uns hier mit dem
Thema, dass die DB AG flächendeckend die erfolgreiche
Zuggattung „Interregio“ einstellt und damit weitere große
Gebiete von einer Anbindung an den Schienenfernver-
kehr abhängt. Was wir bereits im November 2000 sagten
– so lautet das Einbringungsdatum dieses Antrags – hat
sich seither konkretisiert.
Unser damaliger Verweis, dass nach Artikel 87e des
Grundgesetzes der Bund nicht nur für den „Ausbau und
Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes“
verantwortlich zeichnet, sondern eben auch – so der Wort-
laut der Verfassung – für „deren Verkehrsangebote auf
diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienen-
personennahverkehr betreffen.“
Mit diesem Verweis brachten die Länder Bayern und
Baden-Württemberg sogar einen Gesetzentwurf in den
Bundesrat ein, den wir wortgleich im Bundestag zur Ab-
stimmung stellten. Doch es scheint eine Art Große Koali-
tion gegen den Schienenverkehr zu geben: Im Bundesrat
ist der Gesetzentwurf in Ausschüssen „versenkt“ worden,
im Bundestag stimmten alle Parteien gegen unseren Ge-
setzentwurf; also gegen einen Gesetzentwurf, den wort-
gleich die Landesregierungen von München und Stuttgart
formuliert hatten.
Heute wird in der Beschlussempfehlung vorgeschla-
gen, unseren neuerlichen Interregio-Antrag erneut abzu-
lehnen. Alternativen, wie die Regionen an das Netz des
Schienenpersonenfernverkehrs angeschlossen bleiben
könnten, liegen im Übrigen nicht vor. Auch hier zeigt
sich, wie leichtfertig der Verfassungsauftrag von der
Mehrheit des Bundestags verletzt wird.
Wir haben in diesem „Paket“ weiterhin einen speziel-
len Punkt, die Herstellung einer direkten Fernbahnverbin-
dung zwischen den Bahnhöfen Berlin Ostbahnhof und
Berlin-Lichtenberg, herausgegriffen. Zwei Jahre, nach-
dem wir diesen Antrag am 5. Juli 2000 eingebracht hatten,
entdeckten SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dass wir
hier ein ernstes Thema aufgriffen und brachten am 5. Juni
2002 einen eigenen Antrag zum selben Thema ein. Da
staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.
Peinlich ist nämlich, dass die Regierungsparteien sich
ob der Hektik als sachlich schlecht informiert erweisen:
Es geht nicht, wie in diesem Gegenantrag formuliert, da-
rum, dass am Ostkreuz „Platz für den späteren Bau zweier
Gleise für die direkte Verbindung zwischen dem Ost-
bahnhof und Berlin Lichtenberg“ freizuhalten wäre. Es
geht vielmehr darum, dass zwischen dem Ostkreuz und
dem Ostbahnhof die Fernbahngleise der Ostbahn an die
Fernbahngleise der Stadtbahn angeschlossen werden
müssen.
Hierfür wäre eine Unterführung unter den zwischen
den beiden Fernbahnen liegenden S-Bahn-Gleisen herzu-
stellen. Da sich hier eine Hauptwasserleitung befindet,
müsste gleichzeitig diese Wasserleitung – und der ent-
sprechende so genannte Düker – tiefer gelegt werden. Das
würde nach Informationen aus wohl informierten Bahn-
kreisen rund 85 Millionen Euro kosten.
Angesichts der 10 Milliarden Euro, die im Bereich
Berlin in die Schienennetze investiert werden, wäre dies
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224552
(C)
(D)
(A)
(B)
ein verhältnismäßig bescheidener Betrag, der aber eine
sehr große Wirkung haben würde und erhebliche Verbes-
serungen im Schienenverkehr, auch demjenigen in Rich-
tung Polen, mit sich bringen würde. Doch laut Beschluss-
empfehlung ist hier nicht Sachverstand gefragt; die
Osterweiterung findet nur per Autobahnen statt. Der PDS-
Antrag soll abgelehnt werden.
Wird tatsächlich, wie hier empfohlen, alternativ zu un-
serem Antrag der Antrag der Koalitionsparteien ange-
nommen, dann sei noch darauf verwiesen, dass dieser
auch schlicht grammatikalischen und terminologischen
Unsinn in Antragsform goss. Man lese dort beispielsweise
Punkt 3:
Wegen des gegenwärtig bestehenden Verkehrsbedürf-
nisses für eine direkte Anbindung des Bahnhofs Berlin
Lichtenberg an das Fernbahnnetz sowohl nach Osten als
auch nach Westen bestehen z. Z. auch keine Notwendig-
keit, die in der Öffentlichkeit mehrfach geforderte Her-
stellung einer direkten Verbindung zu dem an der Stadt-
bahn gelegenen Ostbahnhof kurzfristig zu realisieren.
Das Hohe Haus versteht hier kollektiv „Bahnhof“ und
schlägt, obgleich Freitag am späten Nachmittag, „Nach-
sitzen“ vor.
Schließlich greift ein dritter PDS-Antrag in diesem ers-
ten Paket das neue Bahnpreissystem PEP auf, das laut
Bahnchef Mehdorn am 15. Dezember dieses Jahres
„scharfgeschaltet“ wird. Wir kritisieren dieses neue Sys-
tem umfassend – unter anderem, weil damit für die durch-
schnittlichen Fahrgäste Bahnfahren erneut teurer wird
und weil mit der Halbierung des Bahn-Card-Rabattsatzes
von 50 auf 25 Prozent zwei Millionen der treuesten Bahn-
kundinnen und -kunden verprellt werden.
Vor allem kritisieren wir den Grundgedanken, den die
Lufthansa-Implantate im Bahnmanagement nun für den
Schienenverkehr dekretieren: dass in Zukunft nur derje-
nige Fahrgast relativ preisgünstig mit der Bahn fahren
kann und eine Garantie auf einen Sitzplatzes hat, der im
Voraus zuggenau seine Hin- und auch noch Rückfahrt
bucht – und dabei noch von Glück sagen kann, wenn auf
dem Bildschirm nicht „ausgebucht“ aufflimmert.
Bahnchef Mehdorn hat kürzlich bei einem Treffen mit
meiner Partei hübsch formuliert, wie es den Normalos im
aktuellen Bahnverkehr gehen wird: „Spontaneität hat in
Zukunft ihren Preis. Das kostet mehr. Und der Fahrgast
muss dann eben stehen.“
Exakt eine solche extrem kundenfeindliche Philoso-
phie liegt der gesamten Bahnprivatisierung zugrunde. Mit
dem neuen Bahnpreissystem werden Millionen Fahrgäste
aus den Zügen getrieben. Einmal abgesehen davon, dass
bereits rein technisch gesehen das neue System darauf
hinauslaufen könnte, dass wir ab 15. Dezember 2002 mit
PEP einen GAU erleben.
Wir haben in unserem Antrag diesem kontraprodukti-
ven Bahnpreissystem die Grundsätze eines alternativen
Preissystems gegenübergestellt. Dabei verfolgen wir die
entgegengesetzte Strategie wie die des Bahn-Manage-
ments. Wir fordern den Ausbau des Halbpreistickets
Bahn-Card. Diese Karte muss unter Beibehaltung des Ra-
battsatzes mehr Funktionen erhalten, in Richtung Fami-
lienfreundlichkeit erweitert werden und die Verkehrsver-
bünde in vollem Umfang einbeziehen.
Wir fordern des Weiteren die Einführung einer zweiten
allgemeinen „Zugangskarte“ zum Schienenverkehr: ein
Generalabonnement wie es ein solches in der Schweiz
gibt, also die Verbilligung und der Ausbau der Netzkarte,
sodass diese für viele Hunderttausende Kundinnen und
Kunden attraktiv wird.
Bei all dem mischen wir uns keineswegs in die Belange
eines privatisierten Unternehmens ein. Vielmehr liegt die
Tarifhoheit im Fernverkehr beim Bund So sieht es das All-
gemeine Eisenbahn Gesetz, das AEG, in § 12. Als wir dies
erstmals im Herbst 2001 reklamierten und dann schriftlich
nachhakten, wann denn der für Verkehr verantwortliche
Minister dem System PEP die erforderliche Genehmigung
erteilt habe, hieß es zunächst, eine solche Genehmigung
sei nicht erforderlich.
Doch plötzlich gab es – im Dezember 2001 – einen sol-
chen Antrag auf Genehmigung der DB AG, dem dann im
Januar 2002 laut Staatssekretärin Mertens auch stattgege-
ben wurde. Damit ist aber auch klar, dass die Bundesre-
gierung PEP genehmigt hat und mitverantwortlich sein
wird für das Desaster, das damit droht.
Im Übrigen geht die PDS weiter davon aus, dass PEPge-
gen bestehende Gesetze verstößt. So wird mit einem Preis-
system, das weitgehend auf Reservierungen besteht, die ge-
setzlich garantierte Beförderungspflicht – § 10 AEG –
verletzt.
Zu Paket zwei unserer Anträge. Hier ist unser Antrag
zur Verlagerung des innerdeutschen Luftverkehrs auf die
Schiene entscheidend. Der „verkehrte Verkehr“ wird kaum
irgendwo besser illustriert als bei den Kurzstreckenflügen.
Es ist schlicht ein bewusst gestreutes Gerücht, die Airlines
hätten kein Interesse an Kurzstreckenflügen.
In den letzten zehn Jahren stieg die Verkehrsleistung
bei den Inlandsflügen um mehr als 50 Prozent. Die durch-
schnittliche Flugweite im innerdeutschen Flugverkehr
liegt bei 530 km. Das heißt, mehr als die Hälfte aller In-
landsflüge liegt in einem Segment, das für eine Verlage-
rung auf die Schiene ideal wäre.
Doch das Gegenteil findet statt – das zeigt der aktuelle
Preiskrieg, mit welchem die meisten Inlandstickets we-
sentlich preiswerter als entsprechende Bahntickets ange-
boten werden. Das heißt: Die Rahmenbedingungen im
Verkehrsmarkt stimmen nicht; dieser begünstigt das Flie-
gen und natürlich den Straßenverkehr. Die Bahnpolitik im
Allgemeinen und die bereits skizzierte Bahnpreisreform
unterstützen diesen falschen Trend. Unser Antrag nennt
konkrete Maßnahmen, wie ein großes Fahrgastaufkom-
men von der Luft auf die Schiene gelenkt werden könnte.
Zum Schluss sei hier unser Antrag „Erhalt der Bahn-
werke – behindertengerechte Umrüstung des Wagenparks
der DB AG“ genannt. Hier liegt Ihnen ein Antrag vor, der
nicht etwa populistisch Bahnwerke und Arbeitsplätze ret-
ten will, sondern der konkret ein längst überfälliges Inves-
titionsprogramm vorschlägt, sodass diese Werke auf Jahre
hinaus verkehrspolitisch sinnvolle Aufträge hätten.
Indem wir erneut fordern, dass fahrzeuggebundene
Einstiegshilfen perspektivisch bei allen öffentlichen Ver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24553
(C)
(D)
(A)
(B)
kehrsmittel Standard werden müssen, greifen wir auch
eine maßgebliche Forderung der Behindertenverbände
auf. Unser Antrag verknüpft dabei verkehrspolitische Er-
fordernisse, Forderungen der Behindertenverbände und
Strukturpolitik.
Ich verweise ein weiteres Mal darauf: Mit der Vernich-
tung weiterer Tausender Arbeitsplätze bei den infrage ste-
henden Bahnwerken wird ausgerechnet in den neuen Län-
dern ein neuer Höhepunkt in der Kahlschlagpolitik im
industriellen Bereich gesetzt. Die Bundesregierung trägt
hierfür direkte Verantwortung – sie kann sich nicht hinter
Bahnchef Mehdorn verstecken. Gerade unser Antrag zeigt
auf, wie die Bundesregierung ihrer Verantwortung hier
gerecht werden könnte.
Ich zitiere zum Schluss aus der „Erklärung der ost-
deutschen Bahnwerker“ vom Mai 2002: „Die Bundesre-
gierung hat die Möglichkeit ... diese Arbeitsplätze unter
ihren Schutz zu stellen ... Die Privatisierung der Bahn als
Vernichtungsmaschine von Arbeitsplätzen muss gestoppt
werden.“
Mit diese Sätzen wird auch die Essenz unserer Kritik
an der Bahnpolitik und an der Bahnreform auf den Punkt
gebracht.
Anlage 12
Zu Protokoll gegene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Zuschusses zu ambulanten
medizinischen Vorsorgeleistungen (Zusatztages-
ordnungspunkt 22)
Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Dies ist der
letzte Schritt der Wiedergutmachung, der letzte Schritt,
mit dem der Kahlschlag von Herrn Seehofer im Bereich
von Rehabilitation und Kuren wieder aufgeforstet wird.
Damit verhelfen wir vielen Tausenden von Patientinnen
und Patienten zu mehr Gesundheit. Damit verhelfen wir
vielen Einrichtungen und vielen qualifizierten Fachkräften
zu einer sicheren Zukunft.
Es ist schon makaber, dass ausgerechnet die heutige
Opposition, die für die Zerstörung der Kur- und Reha-
struktur verantwortlich zeichnet, nun versucht, mithilfe
des Bundesrates uns, die Regierungskoalition, mit unge-
deckten Schecks zu überholen. Bei der angespannten
Finanzsituation der Krankenkassen stellt unsere Wieder-
gutmachung schon hohe Anforderungen an die Finanzie-
rung. 20 Millionen Euro sind kein Pappenstiel! 20 Milli-
onen Euro wollen finanziert sein, ohne dass sie eine
Beitragserhöhung bewirken.
Da wirkt der Vorschlag aus Bayern, statt auf 13 auf
mindestens 25 Euro täglich zu gehen, schon auf den ers-
ten Blick unseriös. Genauer betrachtet, ist er wegen seiner
Unseriösität nichts anderes als ein Schaufensterantrag,
der kurz vor der Bundestagswahl von den Sünden und
Fehlgriffen der alten Regierung ablenken soll. Dies ist
auch deswegen unseriös, weil im gleichen Atemzug von
CDU/CSU von der großen Freiheit der Versicherten gere-
det wird, die nach ihren Vorstellungen Leistungen zu-
oder abwählen können. Wie bei einem solchen Konzept
ungedeckte Schecks wirken, darauf bleibt man die Ant-
wort schuldig.
Es ist schon makaber, dass CDU/CSU die Menschen
fair dumm verkaufen wollen, weil sie ihnen partout nicht
sagen wollen, was sie denn bitte schön abwählen oder mit
eigener Kostenübernahme zuwählen können. Wir fordern
die Bürger auf, mit uns darauf zu drängen, dass vor dem
22. September der Offenbarungseid geleistet werden
muss, die CDU/CSU aufzeigen muss, was sie konkret an
Leistungen ab- oder zuwählen lassen will. So billig mit
Aussitzen lassen wir die CDU/CSU nicht davon kommen.
Wer das Solidarsystem zerstören will und eine Zweiklas-
senmedizin einführen will, muss Ross und Reiter nennen.
Wir sind sehr froh, dass mit der Verbesserung die Zu-
gangsschwelle für ambulante Badekuren so weit abge-
senkt wird, dass es auch Menschen mit kleinem Geldbeu-
tel möglich ist, das Gesundheitstrainingslager Kur zu
erreichen. Für viele Menschen bedeutet eine Kur im Ge-
gensatz zu ambulanten Maßnahmen am Wohnort, genü-
gend Freiräume zu bekommen. Die notwendigen Phasen
– Belastung, Entlastung – können verlässlicher garantiert
werden. Dies gilt ganz besonders für Menschen, die eine
altersspezifische Maßnahme benötigen, weil gerade sie
bei zunehmender Multimorbidität solche Entlastungs-
effekte erhalten.
Den Weg beim Umbau des Gesundheitswesens hin zur
Prävention werden wir durch solche Schritte erleichtern.
Wir haben nicht vergessen, dass 1 Euro, investiert in Ku-
ren, uns 3 Euro an Folgekosten erspart – von dem gewon-
nenen Mehr an Lebensqualität der Patienten gar nicht zu
sprechen.
Gleichzeitig stabilisieren und verbessern wir die wirt-
schaftliche Lage in den Kurorten. Damit verhindern wir
den Abbau von hoch qualifizierten Gesundheitsarbeits-
plätzen. Wir werden auf diese Art eine Strukturverwerfung
wieder glätten. Beispiel Bad Wörishofen – auch 2001 laut
Amtlicher Statistik immer noch Platz 3 der – „ambulan-
ten Kurorte“ in Deutschland: 1995: 1 380000 Über-
nachtungen, 75 500 Gäste, 16,8 Tage Verweildauer;
2001: 920 000 Übernachtungen, 78 000 Gäste, 11,8 Tage
Verweildauer. 27Prozent dieser 78 000 Gäste sind Kurgä-
ste, die mindestens 21 Tage in Bad Wörishofen verbrin-
gen. Diese Gäste stellen aber 50 Prozent aller Übernach-
tungen. Daraus könnte man die Folgerung ziehen: Der
Bedarf für eine bessere Versorgung ist da, aber die Versi-
cherten weichen notgedrungen nach dem Seehofer-Kahl-
schlag auf für sie bezahlbare Kurzmaßnahmen aus.
Würde man die heutige Zahl der Gäste mit der damaligen
Verweildauer multiplizieren, wären man wieder auf dem
alten Stand.
Der Bundesrat wäre gut beraten, in seiner Gänze unse-
rem Antrag zuzustimmen. Damit helfen wir den Patien-
tinnen und Patienten und dadurch helfen wir vielen Kur-
orten, ihren Einrichtungen und Beschäftigten in ganz
Deutschland.
Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Die Regierungs-
fraktionen haben sich mal wieder etwas einfallen lassen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224554
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(B)
um im Wahljahr auf Stimmenfang zu gehen. Deshalb haben
wir uns heute mit dem Entwurf der Regierungsfraktionen
zur Verbesserung des Zuschusses zu ambulanten medizini-
schen Vorsorgeleistungen zu beschäftigen. Dieser Entwurf
ist gut gemeint; er ist aber nicht gut gemacht. Vor allem
nicht, wenn sich hinter diesen vermeintlichen Wohltaten
Wahlgeschenke verbergen und die Betroffenen diese Ge-
schenke hinterher auch noch selbst zahlen müssen. Denn
die zu erwartenden Mehrkosten tragen – wie soll es bei die-
ser Regierungspolitik auch anders sein – die Versicherten.
Allerdings stellt dieser Entwurf bei allen notwendigen
Veränderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
nur einen kleinen Baustein dar. Mit diesem kleinen Bau-
stein beabsichtigen die Regierungsfraktionen eine Er-
höhung der Höchstgrenze des täglichen Zuschusses zu
den nicht medizinischen Leistungen um fünf Euro.
Zukünftig soll den gesetzlichen Krankenkassen ermög-
licht werden, den Höchstsatz der Förderung in den Sat-
zungen auf 13 Euro festzulegen. Mit diesem Entwurf wird
beabsichtigt, den Zuschuss um 62 Prozent zu erhöhen.
Außer Acht lassen die Regierungsfraktionen in ihrem Ent-
wurf die Situation des chronisch kranken Kleinkindes.
Hierzu ist in Ihren Antragswerk keine Erhöhung zu fin-
den, obwohl auch hier das primär angeführte Argument
der Preisentwicklung sicherlich greifen würde. Hier ver-
missen wir eine klare Aussage.
Dennoch begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diese Anpassung des täglichen Zuschusses auf 13 Euro, da
hierdurch zumindest ein Teil der Versicherten von Belas-
tungen durch die deutlich gestiegenen Unterbringungs-,
Fahrt- und Verpflegungskosten entlastet wird. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion verbindet mit dieser An-
passung die Hoffnung, dass zukünftig mehr Versicherten
die medizinisch notwendigen Vorsorgeleistungen in unse-
ren anerkannten Kurorten zugute kommen werden und
somit die Gesundheitsförderung gestärkt wird.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Präven-
tion in einem modernen Gesundheitssystem einen
entscheidenden Stellenwert. Denn nur ein System, das
dafür sorgt, dass die Menschen nicht krank werden, son-
dern gesund bleiben, hat diesen Namen erst verdient.
Wenn die Prävention im deutschen Gesundheitswesen
einen weitaus höheren Stellenwert hätte als bisher, dann
könnten die großen gesellschaftlichen und ökonomischen
Herausforderungen an unserem Gesundheitssystem besser
bewältigt werden. Leider ist es jedoch so, dass nur vier Pro-
zent der Gesundheitsausgaben für Gesundheitsschutz und
Prävention zur Verfügung stehen. Dabei sind sich die wis-
senschaftlichen Experten darüber einig, dass in Deutsch-
land durch eine verstärkte Investition in lang- und mittel-
fristige Präventionsmaßnahmen 25 bis 30 Prozent der
heutigen Gesundheitsausgaben eingespart werden könnten.
Das ist ein gewaltiges Einsparpotenzial. Dies hat auch der
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Ge-
sundheitswesen bereits in seinem im Frühjahr des vergan-
genen Jahres vorgelegten Gutachten hervorgehoben.
Zur Verdeutlichung des Ausmaßes: Die Leistungsaus-
gaben der Krankenkassen betrugen im Jahr 2001 rund
138 Milliarden Euro. Würden die Potenziale der Präven-
tion effektiv genutzt, könnte dies zu Einsparungen von bis
zu 41 Milliarden Euro bei der gesetzlichen Krankenversi-
cherung führen, Einsparungen, die nicht durch Leistungs-
ausschluss, Budgetierung oder Rationierung entstanden
sind, sondern durch eine effektive Nutzung der Gesund-
heitsförderung und Prävention. Diese Einsparungen, sehr
geehrte Frau Ministerin Schmidt, hätten Ihnen Ihre gute
Laune und Ihr strahlendes Lächeln erhalten, als Sie im
März diesen Jahres das Defizit der gesetzlichen Kranken-
versicherung für das Jahr 2001 in Höhe von 2,8 Milliar-
den Euro eingestehen mussten. Auch der Alptraum des
800 Millionen-Euro-Defizit des ersten Quartals 2002
wäre Ihnen erspart geblieben. Diese Einsparungen wären
den beitragzahlenden Arbeitnehmern und Arbeitgebern
zugute gekommen und hätten somit auch dem Wirt-
schaftsstandort Deutschland genutzt. Sie hätten den Pati-
entinnen und Patienten gedient, da ihnen durch die Leis-
tungserbringer keine Behandlungen hätten vorenthalten
werden müssen. Diese Einsparungen hätten Ihnen
genützt, da Sie dann auf Leistungsausschluss, Budgetie-
rung und Rationierung hätten verzichten können. Diese
Einsparungen hätten Ihnen die Rechtfertigung für die zu-
sätzlichen Ausgaben in Höhe von circa 20 Millionen Euro
für die verstärkte Inanspruchnahme ambulanter medizini-
scher Vorsorgeleistungen ersparen können.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht jedoch
nicht die ökonomische Seite im Vordergrund der gesund-
heitspolitischen Betrachtungen – obwohl sie schon von
den finanziellen Ergebnissen her sehr interessant ist –,
sondern die ethische Seite der Prävention und der Ge-
sundheitsförderung. Für uns daher steht fest, dass nur ein
Gesundheitswesen, das die Menschen gesund hält, statt
sich im Kurieren von Krankheiten zu erschöpfen, diesen
Namen erst verdient hat.
Bei Gesundheitsförderung und Prävention haben die
anerkannten Kurorte eine bedeutende Rolle. Denn statt Ur-
laub auf Krankenschein heißt es heute: straffes Programm
mit aktiver Beteiligung. Regeneration und Wohlergehen
stehen heute im Mittelpunkt des Interesses der Beteiligten.
Die werten Kolleginnen und Kollegen der Regierungs-
fraktionen werden mit Sicherheit die Vergangenheit
bemühen wollen und darstellen versuchen, dass die dama-
lige Regierung, bestehend aus CDU/CSU und FPD, die
Kur- und Heilbäder in eine tiefe Krise geführt hätte.
Anfang bis Mitte der 90er-Jahre waren die Ausgaben
für Kuren und Rehabilitationsleistungen in der gesetz-
lichen Krankenversicherung von rund 3 Milliarden DM
auf rund 5,3 Milliarden DM gestiegen. Diese expansive
Entwicklung ließ sich nur zum Teil auf einen „Nachhol-
bedarf“ in den neuen Ländern zurückführen. Während
sich die Kur-Ausgaben in der GKV-Ost, ausgehend von
95 Millionen DM in 1991 auf rund 860 Millionen DM in
1996 verneunfachten, gab es auch in den alten Bundes-
ländern mit einem Zuwachs von rund 2,9 Milliarden DM
auf rund 4,4 Milliarden DM eine medizinisch nicht be-
gründbare Ausgabenexpansion.
Eine differenzierte Betrachtung der Ausgabenentwick-
lung in der GKV bis 1996 nach den einzelnen Leistungs-
segmenten im Kur- und Rehabilitationsbereich zeigte da-
mals bereits auf, dass die Ausgabenentwicklungen höchst
unterschiedlich verliefen. So gingen die Ausgaben zum
Beispiel für ambulante Kuren von rund 530 Millionen DM
in 1991 bis auf rund 490 Millionen DM in 1996 bereits
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leicht zurück. Demgegenüber zeigte sich im Bereich der
stationären Rehabilitationsleistungen ein stark expansiver
Trend. So hatten sich zum Beispiel die Anschluss-Heilbe-
handlungen (AHB) von 1991 bis 1996 von rund 660 Mil-
lionen DM auf rund 1,84 Milliarden DM fast verdreifacht.
Aufgrund dieser massiven Ausgabenentwicklungen
hatte die Bundesregierung – damit unsere solidarische
Krankenversicherung nicht Schiffbruch erlitt – die not-
wendigen, aber auch schmerzhaften Maßnahmen einzu-
leiten. Mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförde-
rungsgesetz sowie dem Beitragsentlastungsgesetz konnte
die rasante Ausgabenexplosion erfolgreich gestoppt wer-
den. Allein im Jahr 1997 wurde rund 1 Milliarde DM in
der gesetzlichen Krankenversicherung eingespart. Im
Rahmen dieser gesetzlichen Maßnahmen gab es den
stärksten Rückgang, und zwar bei den ambulanten Kuren.
Der drastische Rückgang lässt sich womöglich auch da-
hin gehend erklären, dass besonders der damaligen „am-
bulanten Badekur“ in der GKV – möglicherweise auch
aus medizinischer Sicht – eine im Vergleich zur sta-
tionären Kur immer geringere Bedeutung zuerkannt
wurde. Selbst nach dem In-Kraft-Treten des Beitragsent-
lastungsgesetzes gab es bei den Anschlussrehabilitationen
zweistellige Wachstumsraten. 1997 gab es einen Zuwachs
von 14,4 Prozent.
Während die jetzigen Regierungsfraktionen damals
laut lamentierten und nun heute unser Gesundheitssystem
von einer Krise in die nächste führen, nutzten die Kurorte
und Heilbäder ihre neuen Chancen. Denn für die Kurorte
und Heilbäder haben sich in den letzten Jahren auch in-
teressante neue Betätigungsfelder eröffnet. So setzten im-
mer mehr Kur- und Heilbäder unter anderem auf Fitness-
und Wellnessangebote, statt sich allein auf die durch die
gesetzliche Krankenversicherung finanzierten Kuren zu
konzentrieren. Diese positive Entwicklung wird auch da-
durch unterstrichen, dass mittlerweile jeder fünfzehnte
Urlauber in Sachen Wellness verreist.
Die Kurorte und Heilbäder haben aktiv ihre Chance,
die in jeder Veränderung liegt, genutzt. Sie waren innova-
tiv und kreativ, sodass sie nun auch für in- und ausländi-
sche Touristen wesentlich attraktiver geworden sind.
Durch diese vorzeigbaren Entwicklungen haben sich die
Kurorte und Heilbäder zu einem unverzichtbaren Be-
standteil der Prävention und der Gesundheitsförderung
entwickelt. Heute sind die ambulanten Kuren unverzicht-
barer Bestandteil des gestuften Systems der Vorsorge und
der Rehabilitation.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit der Rückkehr von Herrn Seehofer auf die po-
litische Bühne kehrt nicht Kompetenz, sondern Konfu-
sion in die Reihen der Union ein. Unzählige Anträge und
Gesetzesvorlagen der Union erwarten uns in den nächsten
zwei Sitzungswochen hier im Bundestag, einer schlechter
als der andere, Die Rückkehr wurde auch im Bundesrat
vorbereitet. Das sind Initiativen der Union, die nur ein
Ziel haben: Wahlkampf. Dabei gehen Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, verantwortungslos mit
den Bürgerinnen und Bürgern um. Sie fordern Leistungs-
ausweitungen in der GKV, wohlwissend, dass diese nicht
zu finanzieren sind. Sie spekulieren darauf, dass wir diese
ablehnen und damit unsere Verantwortung wahrnehmen.
Dies ist im Übrigen der einzige Punkt, in dem Sie Recht
behalten werden, wir lassen Ihnen solche Scheinaktivitä-
ten nicht durchgehen. Aber Sie haben die Rechnung ohne
die Wähler gemacht. Sie können mit Ihren Taschenspie-
lertricks die Bürgerinnen und Bürger längst nicht mehr
hinters Licht führen. Zu genau können Sie sich an Ge-
sundheitspolitik à la CDU/CSU/FDP erinnern.
So nun auch unser heutiges Beispiel. Wer hat Mitte der
90er-Jahre Vorsorgeleistungen aus dem Leitungskatalog
gestrichen? Die Union. Wer hat gegen die Wiederein-
führung von Präventionsleistungen durch Rot-Grün 1999
gestimmt? Die Union. Wer stellte im Frühjahr 2002 im
Bundesrat einen Antrag zur Erhöhung des Krankenkas-
senzuschusses auf mindestens 25 Euro je Tag und zwar
ohne Finanzierungsvorschlag? Die Union. Wer will medi-
zinisch notwendige Leistungen wie Vorsorge im Falle ei-
nes Wahlsieges als abwählbare Zusatzleistung definieren
und somit nur noch für besser Verdienende zugänglich
machen? Die Union. Und für wessen Gesundheitspolitik
steht der Spruch: Weil du arm bist, musst du früher ster-
ben? Für die der Union und FDP. Das wissen die Wähle-
rinnen und Wähler. Sie werden Ihnen am 22. September
die entsprechende Quittung präsentieren.
Wir, die rot-grüne Mehrheit im Bundestag, machen
Nägel mit Köpfen. Wir reden nicht nur von Stärkung der
Prävention, sondern wir leiten auch verantwortungsvolle
Schritte ein, zum Beispiel die Erhöhung der Beteiligung
der Krankenkasse an ambulanten medizinischen Vorsor-
geleistungen von 8 auf 13 Euro; ein maßvoller, finanzier-
barer Betrag, der die Eigenverantwortung der Patientin-
nen und Patienten stärkt und gleichzeitig weniger gut
Verdienende und Familien nicht ausschließt, sondern mit
ins Boot nimmt. Im Ergebnis werden die Krankenkassen
Einsparungen erzielen, die die Dynamik der Kostenent-
wicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung brem-
sen werden. Das ist langfristige Politik für die Menschen
in diesem Land und nicht gegen sie, wie die Union es vor-
hat.
Deshalb fordere ich die Opposition auf: Nehmen Sie
endlich Ihre Verantwortung als Bundestagsabgeordnete
wahr und helfen Sie mit, dieses Land fit für die Zukunft
zu machen. Unterstützen Sie unseren Gesetzesentwurf
und machen Sie Ihrem S-Team klar: Verantwortungsvolle
Politik ist ein Handeln für die Menschen und nicht gegen
sie.
Dr. Dieter Thomae (FDP): Der Gesetzentwurf, der
uns heute vorliegt, hat zum Ziel, den Zuschuss zu den nicht
medizinischen Kosten ambulanter Vorsorgeleistungen zu
erhöhen. Statt der bisherigen Höchstgrenze von täglich
8 Euro sollen die Krankenkassen einen Höchstbetrag von
13 Euro bezahlen. Auf der einen Seiten erkennen wir an,
dass für die Patientinnen und Patienten, die ambulante Vor-
sorgeleistungen in anerkannten Kurorten in Anspruch neh-
men, durch die Erhöhung auf bis zu 13 Euro eine finanzi-
elle Entlastung gewährt wird. Das ist in Ordnung. Besser
wäre es in unseren Augen aber gewesen, statt einer gerin-
gen finanziellen Entlastung für die Patientinnen und Pati-
enten den Zugang zu ambulanten Vorsorgeleistungen zu
verbessern. Zurzeit können medizinische Vorsorgeleistun-
gen in anerkannten Kurorten im Regelfall alle vier Jahre
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gewährleistet werden, es sei denn, eine vorzeitige Leistung
ist aus medizinischen Gründen dringend erforderlich. Die
Patienten, die auf solche ambulanten Kuren aber vorwie-
gend angewiesen sind, haben ein Durchschnittsalter von
über 60 Jahren oder sind chronisch krank. Der Gesund-
heitszustand dieser Patienten hält sich an keine Vierjahres-
fristen, sondern verschlechtert sich häufig rapide. Wenn
sie aber erneut eine Kur in Anspruch nehmen wollen, er-
halten sie von der Krankenkasse dann die Antwort: Kom-
men sie doch bitte in drei Jahren wieder! Dieser Zustand
bedeutet für viele Patienten eine unzumutbare Härte und
ist aus therapeutischen Gründen nicht tragbar.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): In einer durchdachten und
klar formulierten Gesundheitspolitik kommt neben Dia-
gnostik und Therapie der Förderung und Wiederherstel-
lung von Gesundheit, das heißt Prävention und Rehabili-
tation ein wachsender Stellenwert zu. Gerade gegen die
heute im Vordergrund des Erkrankungsgeschehens ste-
henden chronischen Krankheiten haben sich Prävention
und Rehabilitation als besonders geeignete und hilfreiche
Maßnahmen erwiesen.
Sie sind heute wissenschaftlich begründete, qualitäts-
gesicherte sowie effektive und insofern bewährte Verfah-
ren im medizinischen Handlungsspektrum. Vor allem aber
ist erfolgreiche Wiedereingliederung in das Berufsleben
oder die Verhinderung von Pflegebedürftigkeit und die
damit einhergehende Verbesserung der Lebensqualität
von Menschen ein humanes Anliegen ersten Ranges.
Deshalb sagen wir seit langem: Wer die Leistungsfä-
higkeit eines Gesundheitswesens im Ganzen verbessern
will, muss die Bereiche der Prävention und Rehabilitation
gezielt stärken.
Die Union hatte insbesondere in den letzten Jahren ih-
rer Regierungszeit im Gegensatz zu aller gesundheitspo-
litischen Vernunft ausgerechnet diese Bereiche mit einer
Streichorgie sondergleichen überzogen.
Die neue Regierungskoalition hat sich seit 1998 um
entsprechende Korrekturen bemüht. Das war und ist
verdienstvoll, denn Reha-Leistungen und Kuren müssen
auch jene in Anspruch nehmen können, die mit ihrem
Geld hart rechnen müssen. In diesem Sinne begrüßen wir
auch die mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetzent-
wurf beabsichtigte Anhebung der Höchstgrenze des Zu-
schusses zu den nicht medizinischen Kosten ambulanter
Vorsorgeleistungen von acht auf 13 Euro. Es ist ein klei-
ner, aber für viele Menschen nicht unwichtiger Schritt in
die richtige Richtung.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zurAktuellen Stunde: Haltung der Bundesregie-
rung zu dem am 6. Juni 2002 vorgestellten Frie-
densgutachten der fünf führenden Friedensfor-
schungsinstitute (Zusatztagesordnungspunkt 21)
Erich G. Fritz (CDU/CSU): Seit 1987 stellen die größ-
ten Friedensforschungsinstitute der Bundesrepublik ihr
gemeinsames Friedensgutachten vor. Es ist zunächst ein-
mal ein Verdienst der Institute, seit Jahren immer wieder
auf die explosive Lage in der Welt aufmerksam gemacht
zu haben.
Das am 6. Juni 2002 vorgestellte Gutachten steht ganz
im Zeichen der terroristischen Anschläge vom 11. Sep-
tember 2001, die in der internationalen Politik zweifels-
ohne eine Machtverschiebung mit sich gebracht haben.
Dies zeigt etwa die Aufwertung Russlands zum Sicher-
heitspartner der USA.
Nicht übereinstimmen kann ich mit der Einschätzung
der Experten, wonach das Gewicht der Europäer ins trans-
atlantischen Verhältnis abgenommen haben soll. Ganz im
Gegenteil: Die neuartige Bedrohung durch Selbstmord-
attentate hat gerade im transatlantischen Verhältnis neue
Gemeinsamkeiten und Verantwortungen geschaffen. Sie
hat bestehende Gemeinsamkeiten und Verantwortungen
deutlich aufgewertet. Dies hat auch Präsident Bush in sei-
ner Rede vor dem Bundestag sehr deutlich gesagt, als er
betont hat, dass die weltweite Bekämpfung des Terrors so-
wohl die Amerikaner als auch für die Europäer und über-
haupt alle zivilisierten Länder dieser Welt zu einer ge-
meinsamen politischen Aufgabe geworden ist.
Die Herausgeber des diesjährigen Friedensgutachtens
warnen in scharfer Form und mit Blick auf den so genann-
ten Antiterrorkrieg vor der Enttabuisierung militärischer
Gewalt und der Rückkehr des Krieges in das „Arsenal ge-
wöhnlicher außenpolitischer Instrumente“. Hauptadressat
ihrer Kritik sind die USA, denen sie vorwerfen, die von ih-
nen formierte Koalition sei nur „politische Rückendeckung
für eine primär militärische Vorgehensweise“. Diese Be-
wertung wird vonseiten der CDU/CSU nicht geteilt. Ganz
im Gegenteil: Die Antiterrormaßnahmen der USAerfahren
unsere Zustimmung. Es gibt keine Alternative zum jetzigen
Vorgehen gegen die Terroristen und diejenigen, die sie un-
terstützen. Das schließt militärische Mittel nicht aus. Ob-
wohl die Anwendung von Gewalt ein Übel bleibt, ist sie in
bestimmten Situationen einfach unvermeidbar. Umso drin-
gender besteht unsere Aufgabe darin, alles daran zu setzen,
die Anwendung von Gewalt in Zukunft zu verhindern:
durch Gewaltprävention, durch die Verstärkung der Ent-
wicklungszusammenarbeit sowie durch Abrüstung und
Rüstungskontrolle.
Verstärkte Bemühungen um Rüstungskontrolle und
Abrüstung sind auch eine zentrale Forderung der Frie-
densforscher. Völlig unumstritten ist, dass der Kampf ge-
gen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaf-
fen seit dem 11. September eine größere Dringlichkeit
bekommen hat. Insofern können wir die Bewertung der Ex-
perten teilen, dass unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet
verstärkt werden müssen. Es geht in diesem Zusammen-
hang nicht bloß um die Verbreitung von Massenvernich-
tungswaffen an bestimmte Staaten wie etwa den Irak, son-
dern auch um die Gefahr einer Verbreitung an Terroristen.
Die Ereignisse des 11. September haben uns gezeigt, dass
wir die Proliferationsgefahren noch ernster nehmen müs-
sen als zuvor. Dies gilt nach wie vor auch für Russland,
das selbst nach dem jüngst mit den USA abgeschlossenen
Abkommen zur Reduzierung von atomaren Sprengköpfen
bei Nuklearwaffen eine Problemregion bleibt. Erforderlich
ist also eine umfassende Gewaltprävention. Dafür muss
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jedoch mehr Geld aufgewendet werden. Die Bundesre-
publik Deutschland gab im Jahre 2000 zur vorbeugenden
Bekämpfung der Proliferationsgefahren auf dem Gebiet
der ehemaligen Sowjetunion und zur Abrüstungszusam-
menarbeit mit Russland und der Ukraine 15 Millionen
DM aus. Die USAhingegen stellen für diesen Zweck seit
1992 jährlich 1 Milliarde US-Dollar aus dem Nunn-Lu-
gar-Fonds zur Verfügung, an dem sich auch die Briten
und Franzosen beteiligen. Wir müssen also der Forde-
rung nach verstärkter Rüstungskontrolle und Abrüstung
sowie nach mehr Geld zur Gewaltprävention neue Dring-
lichkeit angesichts der Tatsache verleihen, dass wir es mit
einer neuen Form des Terrorismus beziehungsweise der
Bedrohung unserer Freiheit zu tun haben.
Die militärische Bekämpfung des Terrors ist das eine,
aber auch die Gestaltung der Globalisierung zum Vorteil
aller Staaten dieser Welt und ihrer Völker ist nach dem
11. September noch stärker als bisher die gemeinsame
Aufgabe von Amerikanern und Europäern. Das Engage-
ment der Amerikaner und der Europäer in dem von Krieg
und Bürgerkrieg verwüsteten Land Afghanistan bringt
diese gemeinsame Verantwortung besonders deutlich zum
Ausdruck. Aber auch der erfolgreiche Beginn einer neuen
Welthandelsrunde und die verstärkte Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung von Geldwäsche und anderen Formen
der internationalen Kriminalität belegen diese Gemein-
samkeiten.
Ein Novum stellt sicherlich die Tatsache dar, dass die
Friedensgutachter die Bundesregierung in ungewohnt
deutlicher Form kritisieren. Sie sprechen in ihrem Gut-
achten die Mahnung an Rot-Grün aus, der Einsatz der
Bundeswehr drohe „zum normalen Instrument der
Außenpolitik zu werden“. Die Warnung vor der Normali-
sierung des Krieges geht weit über die bislang gewohnte
Kritik an mangelnden Fortschritten bei der Rüstungskon-
trolle oder unzureichenden Aktivitäten bei der Konflikt-
bearbeitung hinaus. Dieser Vorwurf muss für die Bundes-
regierung umso schwerer wiegen, als sie in ihrem
Koalitionsvertrag deutsche Außenpolitik per se zur Frie-
denspolitik erklärt hatte.
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Mit dieser heutigen
Aktuellen Stunde möchte die PDS den Nachweis führen,
dass die Bundesregierung keine Friedenspolitik betreibt,
sondern eine zunehmende Militarisierung der Außenpoli-
tik. Das hat die PDS der Bundesregierung seit Jahr und
Tag vorgeworfen. Als Vehikel für diesen neuerlichen Vor-
wurf soll das Jahresgutachten der Friedensforschungsin-
stitute herhalten, nach denn Motto: was Friedenspolitik
ist, definieren die Institute, und die kritisieren die Bun-
desregierung – fast so wie die PDS das tut. Das Ganze
reiht sich ein in das verkrampfte Bemühen der PDS, die
Reste der westdeutschen Friedensbewegung aufzusam-
meln, nachdem diese sich von den Grünen und der SPD
abgewandt haben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Entschei-
dungen der Bundesregierung mitgetragen und unterstützt,
die Auslandseinsätze deutscher Soldaten auf dem Balkan
oder jetzt in Afghanistan und am Horn von Afrika zur
Folge hatten. Dafür kritisieren wir die Regierung nicht,
wohl aber dafür, dass sie bei zunehmenden Aufgaben für
unsere Streitkräfte der Bundeswehr immer weniger Mittel
zur Verfügung gestellt hat. Dieser Zerreißprobe sind un-
sere Streitkräfte nicht mehr lange gewachsen. Hier ist
dringend ein Kurswechsel erforderlich.
Das so genannte Friedensgutachten krankt meiner
Meinung nach daran, dass aus der richtigen Feststellung,
mit militärischen Mitteln allein ließe sich der internatio-
nale Terrorismus nicht bekämpfen, gefolgt wird, man
müsse diesem militärischen Aspekt nahezu keine
Aufmerksamkeit mehr schenken, sondern könne sich
stattdessen allein auf die Bekämpfung der Ursachen des
internationalen Terrorismus konzentrieren. Außerdem be-
kommt man beim Lesen an vielen Stellen den Eindruck,
Gefahren für unsere Sicherheit gingen weniger vom in-
ternationalen Terrorismus aus als von den Reaktionen der
USA auf diese Gefahren. Die Wahrheit ist doch, dass wir
nur gemeinsam mit den USA diesen Gefahren begegnen
können. Wenn wir Einfluss nehmen wollen auf die Strate-
gie, wie wir diesen Kampf führen wollen, dann müssen
Europäer untereinander einiger werden und gemeinsam
mehr für ihre äußere Sicherheit tun.
Das so genannte Friedensgutachten unterstreicht an
mehreren Stellen die unverzichtbare Rolle der Vereinigten
Staaten für die Lösung regionaler Konflikte, zum Beispiel
im Nahen Osten. Die Gutachter verdrängen dabei – ne-
benbei gesagt – den Grund, weshalb auf Amerika hier
nicht verzichtet werden kann: Es ist nämlich vor allem
auch die militärische Macht der USA, ohne deren Sicher-
heitsgarantien eine Friedenslösung zwischen Israel und
Palästina in der Tat nicht vorstellbar ist. Aber diese posi-
tive Bewertung militärischer Macht hätte wohl nicht in
den generellen Duktus des Gutachtens gepasst.
Natürlich müssen die Europäer nicht – hier stimme ich
dem Gutachten zu – dasselbe machen und können wie die
Amerikaner. Aber sie müssen mehr tun, weil sie mehr
können, und so wie die USA eine unverzichtbare Macht
ist, so müssen wir Europäer ein unverzichtbarer Partner
sein. Nur dann, wenn wir wirklich gebraucht werden, bei-
spielsweise als europäischer Pfeiler in der NATO, werden
wir auch gefragt werden und Einfluss haben.
Wenn man Terroristen mit Fischen vergleicht, dann
kommt es eben darauf an, sowohl die Fische zu fangen,
wie auch ihnen das Wasser wegzunehmen. Das so ge-
nannte Friedensgutachten konzentriert sich – mit sicher-
lich manchen bedenkenswerten Vorschlägen – nahezu
ausschließlich darauf, wie das Wasser vermindert werden
kann, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was
in der Zwischenzeit mit den Fischen geschieht. Oder
wenn Sie mir noch ein anderes Bild gestatten: Wenn ein
Patient mit akuten Zahnschmerzen zum Zahnarzt kommt,
möchte er nicht allgemeine und richtige Ratschläge zur
Prophylaxe hören und dass er sich möglichst jeden Tag
drei Mal die Zähne putzen soll. Er wäre auch bitter ent-
täuscht, wenn ihn der Arzt nach solchen Ratschlägen nach
Hause schicken würde, ohne sich um die Zahnschmerzen
gekümmert zu haben. Aber genau so liest sich das so ge-
nannte Friedensgutachten mit seinen nicht falschen Hin-
weisen für eine vorbeugende Politik mit umfassendem
Ansatz. Nach konkreten Vorschlägen für die akute Gefahr
des jetzt stattfindenden und uns derzeit bedrohenden in-
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ternationalen Terrorismus sucht man weitgehend verge-
bens.
Sicherlich kann sich die PDS bei ihrer Ablehnung der
Politik der Bundesregierung auf große Teile des so ge-
nannten Friedensgutachtens stützen. Nur, das macht diese
Vorschläge deshalb nicht richtiger. Eine Definitionsmacht
dessen, was Friedenspolitik sei, haben diese Institute
schon längst nicht mehr. Das vergleichsweise spärliche
Echo auf die Präsentation des Gutachters hat dies auch
deutlich gemacht. Die PDS hat jetzt versucht, mit dieser
Aktuellen Stunde dem etwas aufzuhelfen. Die Regie-
rungskoalition hat vor lauter Sorge, dass der eine oder an-
dere Restbestand aus den Zeiten der Friedensbewegung in
den eigenen Reihen wieder rückfällig werden könnte, die
Debatte in die späten Abendstunden verlegt. Es steht ja
auch keine Vertrauensfrage mehr zur Verfügung, wie beim
Afghanistan-Einsatz, um die rot-grünen Reihen geschlos-
sen zu halten.
Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Man muss
klar sehen, dass der Stellenwert des so genannten Frie-
densgutachtens in der öffentlichen Perzeption seit den
80er-Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist. Neben se-
riöser, ernst zu nehmender wissenschaftlicher Analyse ist
das Gutachten in Teilen eine Laienveranstaltung, deren
Autoren-Kompetenz nicht zuletzt durch eigenwillige Po-
sitionen wie zum Beispiel im Vorfeld des Kosovo-Krieges
1999 gelitten hat.
Das jetzt vorliegende Friedensgutachten zeichnet sich
wiederum durch ein durchgängiges militärkritisches
Grundverständnis aus, welches das Gutachten auf Kosten
der Glaubwürdigkeit eher in die Nähe alter, überkommener
und linker Positionen rückt. Um es ganz klar zu sagen: Der
Einsatz militärischer Macht kann Frieden nicht schaffen,
sondern nur das haben wir auf dem Balkan und in Afgha-
nistan vorexerziert die Rahmenbedingungen für eine trag-
fähige Friedensordnung herstellen. Nicht mehr und nicht
weniger. Gerade für diese Aufgabe der Friedensschaffung
aber ist Militär mehr denn je notwendig. Insofern erinnern
die diesbezüglichen militärkritischen Passagen in dem so
genannten Friedensgutachten eher an Don Quixotes Kampf
gegen Windmühlen oder an eine gewisse 68er Nostalgie als
an Realität und Praxis internationaler Beziehungen.
Gleichwohl liefert das Friedensgutachten brauchbare
Analysen der gegenwärtigen und künftigen Herausforde-
rungen, Risiken und Gefahren. Insbesondere die aufge-
zeigten Gefahren des Nuklearterrorismus und die Proble-
matik von Biowaffen müssen wir mit Blick auf die Lage
und die möglichen Absichten des Irak im Auge behalten.
Der Irak hält sich nämlich Optionen für die Herstellung
von ABC-Waffen offen und ist dabei, sich entsprechende
Befähigungen zuzulegen.
Angesichts der im Friedensgutachten doch unüberseh-
baren, bisweilen amerikakritischen Untertöne, die vor ei-
nem neuen amerikanischen Unilateralismus warnen und
den USA unterstellen, das Völkerrecht den militärischen
Notwendigkeiten unterzuordnen, möchte ich betonen,
dass wir froh darüber sein sollten, dass es vor allem die
USA sind, die in der Praxis der operativen Außenpolitik
die im Friedensgutachten aufgezeigten Herausforderun-
gen ernst nimmt und darauf nicht – wie die europäische
Seite – mit Betroffenheitsbekundungen, sondern mit Ta-
ten und Aktionen reagiert. Dies gilt für die amerikanische
Initiative der Raketenabwehr ebenso wie für die von den
USA geführte Antiterroroperation gegen die Taliban und
al-Quaida seit Ende des vergangenen Jahres.
Ich sehe daher nicht die Gefahr, die Amerikaner wür-
den in Zukunft die enge Bindung des Einsatzes militäri-
scher Gewalt an das Völkerrecht lockern. Auch die
Gründe und das Rational aufgrund des entsprechenden
Gefahrenpotenzials für das amerikanische Nachdenken
über eine Anpassung ihrer „Nuclear Posture“ wird vom
Friedensgutachten – nolens volens – eigentlich sehr gut
belegt; denn man muss angesichts der neuen Herausfor-
derungen durch die Proliferation von Massenvernich-
tungswaffen und entsprechende Befähigungen von poli-
tisch unzuverlässigen Ländern schon über präventive
Optionen nachdenken, um sich Handlungsflexibilität zu
erhalten und die Hemmschwelle für den Einsatz atomarer
Waffen herabzusenken. Dabei sind natürlich die politi-
schen Folgen im Auge zu behalten.
Zur NATO und OSZE und ihren Aufgaben in und für
Europa muss man sagen, dass wir gerade im Hinblick auf
die NATO-Erweiterung und die neuen Aufgaben des
Bündnisses nach dem 11. September verhindern müssen,
dass die NATO zu einer zweiten OSZE degeneriert. Die
Handlungsfähigkeit des Bündnisses muss in jedem Fall
erhalten bleiben. Angesichts von künftig 26 Mitglied-
staaten – während des Prager NATO-Gipfels im Novem-
ber werden wir 7 neue Staaten aufnehmen – müssen wir
Organisation, Strukturen und das Konsensprinzip im
Bündnis überdenken.
Russland ist durch den neuen NATO-Russland-Rat in
wichtigen Feldern der Kooperation, wie zum Beispiel der
Rüstungskontrolle oder dem Kampf gegen den internatio-
nalen Terrorismus, hinreichend eingebunden. Das ist auch
im deutschen Interesse. Die Sicherheitspartnerschaft mit
Russland ist auszubauen, ohne dass man Russland inner-
halb der NATO Vetorechte einräumen darf. Dies würde si-
cherlich gerade bei den osteuropäischen Partner zu Irrita-
tionen führen. Auch müssen gerade die europäischen
NATO-Partner ihrer möglichen Marginalisierung durch
verstärkte eigene Verteidigungsanstrengungen entgegen-
wirken.
Es ist richtig, dass die Auslandseinsätze der Bundes-
wehr ihren Ausnahmecharakter abgelegt haben. Das ist
aber vor allem ein Verdienst der CDU/CSU-geführten Re-
gierung, die seit Mitte der 90er-Jahre diesen Prozess der
sicherheitspolitischen Normalisierung Deutschlands ge-
gen den bisweilen vehementen Widerstand derer, die
heute in Deutschland das Sagen haben, eingeleitet und
durchgeführt hat.
Das bedeutet nicht, dass wir zukünftig leichtfertiger in
Auslandseinsätze gehen sollten. Ich halte es vor dem Hin-
tergrund der Gesamtsituation der Bundeswehr und ihrer
chronischen Unterfinanzierung bisweilen aber durchaus
für leichtfertig, wie die jetzige Regierung mit dem natio-
nalen Instrument der Sicherheitsvorsorge umgeht.
Die Auslandseinsätze unserer Streitkräfte und der Ein-
satz deutscher Soldaten sind nur verantwortbar, wenn man
die Bundeswehr nicht demontiert, reduziert und aushöhlt,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24559
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sondern unsere Streitkräfte einsatzfähig hält und vor al-
lem den Verteidigungshaushalt aus dem Schlusslichtbe-
reich der NATO herausholt.
Innere und äußere Sicherheit kann man nach dem
11. September nicht mehr voneinander trennen. Es ist vor
dem Hintergrund der aufgezeigten Risiken und Gefahren
müßig, weniger Militär und mehr Polizei zu fordern – das
tut das Friedensgutachten –; vielmehr kommt es letztlich
auf die synergetischen Effekte beider Instrumente der Si-
cherheitsvorsorge an.
Meiner Meinung muss man, – gerade im Hinblick auf
die Konsequenzen des 11. September, – die spezifischen
Fähigkeiten der Bundeswehr auch bei nationalen Notla-
gen im Inneren in enger Kooperation mit dem Zivil- und
Katastrophenschutz sowie der Polizei und dem Bundes-
grenzschutz zum Einsatz bringen. Gerade dieses aktuelle
Thema – Einsatz der Bundeswehr im Inneren – hat Rot-
Grün in der Vergangenheit stets aus ideologischen Grün-
den dämonisiert statt vernünftig diskutiert.
Mit Blick auf die Erhaltung des Weltfriedens glaube
ich nicht, dass wir mit einer multilateralen Kooperations-
kultur allein wesentlich weiter kommen. Ich setze hier
eher auf ein enges eurotransatlantisches Verhältnis und
ein effizientes Bündnis, nämlich auf eine erneuerte
NATO.
Gerade im Hinblick auf das transatlantische Verhältnis
muss man jedoch sagen, dass sich Deutschland seit vier
Jahren aus einem ernst zu nehmenden transatlantischen
Dialog faktisch verabschiedet hat. Von Deutschland gin-
gen – im Gegensatz zur vorhergehenden Regierung –
keinerlei nennenswerte Initiativen aus, weder bei der
Frage der NATO-Erweiterung noch bei der Neuausgestal-
tung des Verhältnisses zu Russland oder im Bereich von
Rüstungskontrolle und Abrüstung. Außenminister Fischer
ist erst zum „Atlantiker“ geworden, seit er Nadelstrei-
fenanzüge trägt. Heute muss sich unser Außenminister
sorgen, dass seine eigene politische Klientel sich so ver-
hält wie er selbst, bevor er in Amt und Würden trat, näm-
lich zutiefst antiamerikanisch.
Die amerikanisch-deutsche Freundschaft läuft Gefahr
ausgehöhlt zu werden. Existenzielle Gefahren überlässt
man gerne den USA, um sie anschließend wegen ihrer Po-
litik ständig zu kritisieren. Deutschland löst zudem einge-
gangene internationale Verpflichtungen nicht ein und un-
tergräbt damit auch die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Diese kritischen Fragen habe ich in
dem vorgelegten Friedensgutachten vermisst.
Anlage 14
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 776. Sitzung am 31. Mai
2002 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 84 Absatz 1
Grundgesetz nicht zu zuzustimmen:
– Verbraucherinformationsgesetz und Gesetz zur
Nutzung von Daten zum Verbraucherschutz
Begründung:
Das mit dem Gesetzesvorhaben eigentlich verfolgte
Ziel, den Verbrauchern mehr Information, Transparenz
und Klarheit zu verschaffen, ist grundsätzlich zu be-
grüßen. Dieses Ziel wird mit dem nun vorliegenden
Verbraucherinformationsgesetz jedoch nicht erreicht.
Das Gesetz bleibt hinter den unabdingbaren Notwen-
digkeiten zurück. Berechtigte Interessen der Verbrau-
cher werden mit dem Gesetz enttäuscht.
Das Gesetz ist in sich nicht schlüssig und insbesondere
in der Ausgestaltung des Auskunftsanspruches gegen-
über Behörden praxisfremd, weil die öffentlichen Stel-
len in vielen Fällen überhaupt nicht über die Informa-
tionen verfügen, die zur sachgerechten Bearbeitung
gerade von individuellen Auskunftsersuchen erforder-
lich sind.
Zudem wäre eine Abgleichung und Überprüfung des
Vorhabens auf europäischer Ebene dringend notwen-
dig gewesen, um die Nachteile eines isolierten natio-
nalen Vorgehens zu vermeiden.
Mit dem Gesetz wird in grundrechtlich geschützte Po-
sitionen eingegriffen und damit die Möglichkeit weit
reichender wirtschaftlicher Folgewirkungen eröffnet.
Daher wäre nach sorgfältiger Analyse eine umfassende
Güterabwägung erforderlich gewesen, um ohne zeitli-
chen und politischen Druck Zulässigkeit und Grenzen
eines solchen Gesetzgebungsvorhabens prüfen zu kön-
nen.
Das Verbraucherinformationsgesetz würde in seiner
jetzigen Ausgestaltung nicht zuletzt zu einer erhebli-
chen Kostenbelastung der Länder und Kommunen
führen, ohne den Verbrauchern einen nennenswerten
praktischen Nutzen zu verschaffen. Die im Gesetz vor-
gesehene Kostendeckung durch Erhebung von Ge-
bühren für die Gewährung des freien Zugangs zu bei
Behörden vorhandenen Informationen erscheint nicht
als realistisch.
Insgesamt betrachtet ist das vorliegende Gesetz mit so
gravierenden Mängeln behaftet, dass diese auch nicht in
einem Vermittlungsverfahren behoben werden könnten.
Nach Auffassung des Bundesrates machen die Ereig-
nisse um die Verunreinigung von Öko-Futterweizen
mit Nitrofen deutlich, dass im Bereich des Lebensmit-
tel- und Futtermittelrechts auf der Vollzugs- und Le-
gislativebene des Bundes dringender Handlungsbedarf
besteht. Um Fälle wie die Nitrofenkrise zu verhindern,
ist jedoch das Verbraucherinformationsgesetz kein
taugliches Mittel, weil es insbesondere keine Verpflich-
tung von Unternehmen, die staatlichen Behörden über
kritische Ergebnisse bei Eigenkontrollen zu informie-
ren, vorsieht. Die Nitrofenkrise beruht genau auf die-
ser Informationslücke. So geht es nicht darum, dass die
Behörden die Bürger nicht informiert hätten, sondern
darum, dass die Überwachungsbehörden von den Her-
stellern nicht unterrichtet wurden. Für eine umfassende
Information der Öffentlichkeit ist es daher notwendig,
diese Informationslücke zu schließen. außerdem ent-
hält das Verbraucherinformationsgesetz keine Bestim-
mungen zu Futtermitteln. Verunreinigte Futtermittel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224560
(C)
(D)
(A)
(B)
sind jedoch Auslöser der Nitrofenkrise. Es ist daher
dringend erforderlich, dass die Bundesregierung die er-
forderlichen Änderungen und Ergänzungen der gesetz-
lichen Bestimmungen des Lebens- und Futtermittel-
rechts veranlasst und im Übrigen das bereits vorhandene
europarechtliche und nationale Instrumentarium aus-
schöpft.
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf;
sich auf EU-Ebene für die vorgriffsweise Einführung
der Bestimmungen zur Verantwortung der Lebensmit-
tel- und Futtermittelunternehmer nach Artikel 14 bis 20
der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Lebensmittelsicherheit
(Inkraftreten dieser Vorschriften erst ab 1. Januar 2005)
und dabei insbesondere der Meldepflicht nach Artikel
19 einzusetzen bzw. auf nationaler Ebene vergleichbare
Regelungen umgehend selbst in Kraft zu setzen. Das
vorgriffsweise Inkraftsetzen der erst ab 1. Januar 2005
europaweit maßgeblichen Bestimmungen hat zum Ziel,
den beteiligten Lebens- und Futtermittelunternehmern
umgehend zur Pflicht zu machen, die Behörden bei
Kenntnis von Verstößen gegen die Vorschriften der Le-
bensmittelsicherheit zu unterrichten, um Lebensmittel
eher vom Markt nehmen zu können; über die Verord-
nung (EG) Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002 zur Le-
bensmittelsicherheit hinaus den Behörden in den bun-
desrechtlichen Bestimmungen zur Pflicht zu machen,
auch bei Verstößen gegen Vorschriften des Lebens-
oder Futtermittelrechts, die im Rahmen schlicht ho-
heitlichen Handelns oder eines privatrechtlichen Auf-
tragsverhältnisses bekannt geworden sind, die zustän-
digen Behörden zu unterrichten. Dies dient einer
beschleunigten Entfernung gefährlicher Lebensmittel
vom Markt und einer beschleunigten Information und
Warnung der Öffentlichkeit. Nach Auffassung des
Bundesrates wäre die Weiterleitung der bei der Bun-
desanstalt für Fleischforschung (BAFF) vorhandenen
Informationen über Nitrofen in Öko-Futterweizen und
Lebensmitteln insoweit eher möglich gewesen.
Zudem fordert der Bundesrat die Bundesregierung
dazu auf, die bereits jetzt bestehenden Möglichkeiten
zu nutzen und entsprechend Artikel 10 der – mit aus-
nahme der o. g. Vorschriften – kürzlich in Kraft getrete-
nen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zu veranlassen, dass
die Öffentlichkeit in geeigneter Weise und umfassend
über die auf dem Markt befindlichen, durch Nitrofen ri-
sikobehafteten Lebens- und insbesondere Futtermittel,
die Art der Lebens- und Futtermittel, das damit ver-
bundene Risiko und die zur Vorbeugung, Begrenzung
und Ausschaltung des Risikos getroffenen Maßnahmen
unterrichtet wird.
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Innenausschuss
– Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für Daten-
schutz
Tätigkeitsbericht 1999 und 2000 des Bundesbeauftragten
für den Datenschutz – 18. Tätigkeitsbericht –
– Drucksachen 14/5555, 14/8829 Nr. 1.1. –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht der Bundesregierung über den Stand der
Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit den
Partnerorganisationen
– Drucksachen 14/7728, 14/8086 Nr. 1.4 –
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen zum Kombinierten Verkehr
– Drucksachen 14/6828, 14/7119 Nr. 2 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla-
gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla-
ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung
abgesehen hat.
Innenausschuss
Drucksache 14/7708 Nr. 1.1
Drucksache 14/7708 Nr. 1.2
Drucksache 14/7708 Nr. 2.7
Drucksache 14/8339 Nr. 2.7
Drucksache 14/8339 Nr. 2.23
Drucksache 14/8428 Nr. 1.1
Drucksache 14/8428 Nr. 2.50
Drucksache 14/8562 Nr. 2.16
Finanzausschuss
Drucksache 14/8562 Nr. 2.21
Drucksache 14/8562 Nr. 2.22
Drucksache 14/8562 Nr. 2.24
Drucksache 14/8562 Nr. 2.25
Drucksache 14/8562 Nr. 2.32
Drucksache 14/8562 Nr. 2.39
Drucksache 14/8562 Nr. 2.41
Drucksache 14/8832 Nr. 2.7
Drucksache 14/8832 Nr. 2.19
Drucksache 14/8940 Nr. 2.36
Ausschuss fürWirtschaft und
Technologie
Drucksache 14/8832 Nr. 1.6
Drucksache 14/8832 Nr. 2.8
Drucksache 14/8832 Nr. 2.9
Drucksache 14/8832 Nr. 2.10
Drucksache 14/8832 Nr. 2.12
Drucksache 14/8832 Nr. 2.24
Drucksache 14/8832 Nr. 2.25
Drucksache 14/8832 Nr. 2.26
Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 14/8940 Nr. 2.16
Drucksache 14/8940 Nr. 2.18
Drucksache 14/8940 Nr. 2.24
Drucksache 14/8940 Nr. 2.28
Drucksache 14/8940 Nr. 2.32
Drucksache 14/8940 Nr. 2.33
Drucksache 14/8940 Nr. 2.34
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Wohnungswesen
Drucksache 14/8179 Nr. 2.33
Drucksache 14/8428 Nr. 2.16
Drucksache 14/8562 Nr. 1.6
Drucksache 14/8562 Nr. 2.37
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 2002 24561
(C)
(D)
(A)
(B)
Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe
Drucksache 14/8691 Nr. 1.1
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Drucksache 14/8940 Nr. 2.6
Drucksache 14/8940 Nr. 2.26
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
Drucksache 14/8428 Nr. 2.3
Drucksache 14/8832 Nr. 1.4
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 243. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Juni 200224562
(C)(A)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin