Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
24347
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 13
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24349
(C)
(D)
(A)
(B)
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 13.06.2002
Marieluise DIE GRÜNEN
Becker-Inglau, Ingrid SPD 13.06.2002
Behrendt, Wolfgang SPD 13.06.2002*
Bindig, Rudolf SPD 13.06.2002*
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 13.06.2002
Erler, Gernot SPD 13.06.2002
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 13.06.2002
Joseph DIE GRÜNEN
Friedrich (Altenburg), SPD 13.06.2002
Peter
Dr. Grygier, Bärbel PDS 13.06.2002
Hampel, Manfred SPD 13.06.2002
Hartnagel, Anke SPD 13.06.2002
Hoffmann (Wismar), SPD 13.06.2002
Iris
Irmer, Ulrich FDP 13.06.2002
Jünger, Sabine PDS 13.06.2002
Dr. Kues, Hermann CDU/CSU 13.06.2002
Laumann, Karl-Josef CDU/CSU 13.06.2002
Lintner, Eduard CDU/CSU 13.06.2002*
Dr. Lippelt, Helmut BÜNDNIS 90/ 13.06.2002*
DIE GRÜNEN
Müller (Berlin), PDS 13.06.2002
Manfred
Neumann (Gotha), SPD 13.06.2002
Gerhard
Ostrowski, Christine PDS 13.06.2002
Roos, Gudrun SPD 13.06.2002
Schily, Otto SPD 13.06.2002
Schlee, Dietmar CDU/CSU 13.06.2002
Seehofer, Horst CDU/CSU 13.06.2002
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Matthias
Berninger auf die dringlichen Fragen des Abgeordneten
Hans-Michael Goldmann (FDP) (Drucksache 14/9350,
Fragen 5 und 6):
Wie bewertet die Bundesregierung einen Bericht aus der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 10. Juni 2002, wonach
die Nitrofen-Verseuchung möglicherweise über Importe aus dem
ehemaligen Jugoslawien zustande gekommen ist, da dort dieses
Pflanzenschutzmittel zum Teil noch für die Anwendung zulässig
ist?
Wie bewertet die Bundesregierung die in verschiedenen Me-
dien erhobenen Vorwürfe, dass sie in den letzten Tagen selbst,
durch widersprüchliche Meldungen über den Ursprung und das
Ausmaß des Nitrofen-Skandals, weitere Schritte der EU-Kom-
mission gegen Deutschland provozieren würde?
Zu Frage 5:
Die Überprüfung der Wareneingangs- und -lieferlisten
haben keinen Hinweis auf Importe aus Drittländern erge-
ben. Nach den statistischen Angaben ist für den Zeitraum
von 1999 bis März 2002 keine Einfuhr von Weizen aus
Jugoslawien nach Deutschland erfolgt.
Zu Frage 6:
Die Informationspolitik der Bundesregierung wurde
durch die Kommission und die Mitgliedstaaten in der Sit-
zung des Ständigen Ausschusses der „Lebensmittelkette
und Tiergesundheit“ am 11. Juni 2002 anerkannt und war
ausschlaggebend dafür, dass die Kommission keine Maß-
nahmen gegen Deutschland eingeleitet hat.
Anlage 3
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Matthias Berninger auf die dring-
lichen Fragen der Abgeordneten Gudrun Kopp (FDP)
(Drucksache 14/9350, Fragen 7 und 8):
Trifft die „ddp“-Agenturmeldung vom 10. Juni 2002 zu, wo-
nach das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft davon ausgeht, dass es zumindest in Deutsch-
land nur eine Verunreinigungsquelle als Ausgangspunkt für den
Nitrofen-Skandal gibt?
Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang
einen Bericht aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom
10. Juni 2002, der unterstellt, dass die Nitrofen-Verseuchung nicht
vom Staub in der Lagerhalle in Malchin stammen kann?
Zu Frage 7:
Die Überprüfungen haben bisher ergeben, dass die
Lagerhalle in Malchin die einzige Kontaminationsquelle
ist. In dieser Lagerhalle waren im vorhandenen Staub
Nitrofen-Gehalte von 2g pro kg nachgewiesen worden.
Nachdem Hinweise auf in frühreren Jahren dort gelager-
tes und zum Teil ausgelaufenes Trizilin (Wirkstoff Nitro-
fen) bestehen, werden die verschiedenen Stellen in der
Halle und im Außenbereich durch Bohrproben im Beton
usw. untersucht. Als erstes Ergebnis ist von der zuständi-
gen Behörde in Mecklenburg-Vorpommern telefonisch mit-
geteilt worden, dass an einer Stelle 77,9 g Nitrofen pro kg
Betonprobe nachgewiesen wurden. Es gibt zum gegenwär-
tigen Zeitpunkt keine belastbaren Hinweise auf eine weitere
Kontaminationsquelle. Vielmehr könnten durch Sekundär-
kontaminationen zum Beispiel im Futtermittelwerk GS agri
durch Ware aus Malchin bzw. durch diese Ware kontami-
nierte Anlagen, Gerätschaften (einschließlich Probenah-
megeräte) oder durch Transportmittel Getreidepartien an-
derer Erzeuger kontaminiert worden sein.
Zu Frage 8:
Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Hinweise
auf eine weitere Kontaminationsquelle.
Anlage 4
Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Matthias Berninger
auf die dringlichen Fragen des Abgeordneten Albert Deß
(CDU/CSU) (Drucksache 14/9350, Fragen 9 und 10):
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über mögliche illegale
Einsätze des verbotenen Pflanzenschutzmittels Nitrofen kurz vor
der Ernte von Ackerbaufrüchten, und wenn ja, welche – im Nach-
gang zu der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und den dort
erworbenen Erkenntnissen?
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, ob Belgien
deutsche Bioprodukte, wie angekündigt, nicht mehr ins Land
lässt?
Zu Frage 9:
Die Bundesregierung hat keine Erkenntnisse über ille-
gale Einsätze des verbotenen Pflanzenschutzmittels Nitro-
fen kurz vor der Ernte. Die gemessenen Nitrofenwerte in
den Proben, die in der gesperrten Halle in Malchin ermit-
telt wurden, lassen einen Einsatz vor der Ernte ohnehin als
höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Ermittlungen
haben als einzige Quelle der Nitrofen-Kontamination die
Halle in Malchin ergeben.
Zu Frage 10:
Die belgische Regierung hat mit Wirkung vom heutigen
Tag ihre Bekanntmachung vom 6. Juni 2002 aufgehoben.
Anlage 5
Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Matthias Berninger
auf die dringlichen Fragen des Abgeordneten Peter H.
Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU) (Drucksache
14/9350, Fragen 11 und 12):
Was geschieht mit Futter- und Lebensmitteln, bei denen fest-
gestellte Nitrofenwerte unterhalb des gesetzlichen Wertes von
0,01 mg pro kg liegen, vor dem Hintergrund, dass Nitrofen bereits
ab 0,004 mg pro kg festgestellt werden kann – im Nachgang zu
der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und den dort erwor-
benen Erkenntnissen?
Werden Futter- und Lebensmittel aus Drittstaaten bei der Ein-
fuhr nach Deutschland auf Nitrofenhaltigkeit überprüft, insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass Nitrofen nicht weltweit verboten
ist – im Nachgang zu der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002
und den dort erworbenen Erkenntnissen?
Zu Frage 11:
Nach geltendem Lebensmittelrecht dürfen Lebensmit-
tel, deren Gehalt an Nitrofen 0,01 mg/kg überschreitet,
nicht in den Verkehr gebracht werden. Lebensmittel, die
diesen Grenzwert einhalten, sind frei verkehrsfähig. Bei
Futtermitteln haben sich die Länder auf einen Eingriffs-
wert bei Nitrofen von 0,005 mg/kg verständigt. Die Euro-
päische Kommission hat nunmehr einen Richtlinienvor-
schlag vorgelegt, der einen EU-weiten Höchstwert für die
EG-homonisierten Lebensmittel und stoffgleiche Futter-
mittel für Nitrofen von 0,01 mg/kg vorsieht, ausgenommen
Ölsaaten, Tee und Hopfen (Vorschlag hier: 0,02 mg/kg).
Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft erarbeitet gegenwärtig eine Dring-
lichkeitsverordnung, wonach der Höchstwert für Nitrofen
bei Säuglings- und Kleinkindernahrung in Einklang mit
einer Bewertung des BgVV auf 0,005 mg/kg abgesenkt
werden soll.
Zu Frage 12:
Die für die Eingangsgrenzkontrollstellen zuständigen
Länder haben sich geeinigt, dass im üblichen Rahmen an
den Grenzeingangsstellen auch auf Nitrofen untersucht
wird. Auch Importe über andere Eingangsstellen werden
beprobt und untersucht.
Anlage 6
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Matthias Berninger auf die dring-
lichen Fragen des Abgeordneten Norbert Schindler
(CDU/CSU) (Drucksache 14/9350, Fragen 13 und 14):
Wie kam es dazu, dass der Nitrofen-Skandal auf einer Presse-
konferenz am 2. Juni 2002 von der Bundesministerin für Verbrau-
cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast, be-
reits als aufgeklärt verkündet wurde, obwohl es nach ihrer eigenen
Einschätzung noch weiterer Sachverhaltsaufklärungen bedarf –
im Nachgang zu der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und
den dort erworbenen Erkenntnissen?
Wie ist die Position der Bundesregierung zur Einschätzung
von Wissenschaftlern, dass die Nitrofen-Verseuchung im Hinblick
auf die hohe Konzentration nicht aufgrund der Einlagerung von
Weizen in der Lagerhalle in Malchin erfolgen konnte – im Nach-
gang zu der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und den dort
erworbenen Erkenntnissen?
Zu Frage 13:
Zu diesem Zeitpunkt war die Halle in Malchin als Kon-
taminationsquelle bereits ermittelt und es musste nur noch
der Verbleib der Waren aufgeklärt werden.
Zu Frage 14:
Die Gehalte an Nitrofen der untersuchten Proben, die
aus der gesperrten Halle in Malchin genommen wurden,
weisen auf eine Kontamination des Getreides in der Halle
hin.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224350
(C)
(D)
(A)
(B)
Anlage 7
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Matthias Berninger auf die
dringlichen Fragen des Abgeordneten Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr (CDU/CSU) (Drucksache 14/9350, Fragen 15
und 16):
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über mögliche weitere
mit Nitrofen verseuchte Hallen, die zur Einlagerung von Futter-
mitteln bzw. Getreide benutzt werden, und wenn ja, welche – im
Nachgang zu der Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und
den dort erworbenen Erkenntnissen?
Erwartet die Bundesregierung, dass die EU-Kommission ein
Importverbot gegen Deutschland wegen nitrofenverseuchter Bio-
produkte verhängen wird, und welcher aktuelle Sachstand liegt
der Bundesregierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt dazu vor?
Zu Frage 15:
Die Ermittlungen der Länder haben nach jetzigem
Kenntnisstand keine weiteren kontaminierten Hallen
festgestellt, die nitrofenkontaminiert sind und die zur
Einlagerung von Futtermitteln und Getreide genutzt wer-
den.
Zu Frage 16:
Die EU-Kommission hat in der Ausschusssitzung am
11. Juni 2002 in Brüssel keinen Entscheidungsentwurf
vorbereitet und die EU-Kommission und die Mitglied-
staaten waren mit der Informationspolitik und der Ermitt-
lungsarbeit Deutschlands zufrieden. Weiterhin hat die bel-
gische Regierung ihre Maßnahmen aufgehoben (siehe
Frage 10).
Anlage 8
Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Matthias Berninger
auf die dringlichen Fragen des Abgeordneten Meinolf
Michels (CDU/CSU) (Drucksache 14/9350, Fragen 17
und 18):
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, woher
der in Malchin eingelagerte Weizen stammt – im Nachgang zu der
Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und den dort erworbe-
nen Erkenntnissen (vergleiche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
vom 10. Juni 2002)?
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie der
in Malchin eingelagerte Weizen weiter verwendet wurde, insbe-
sondere in welchen Mengen und Produkten – im Nachgang zu der
Staatssekretärskonferenz am 9. Juni 2002 und den dort erworbe-
nen Erkenntnissen?
Zu Frage 17:
Die circa 500 t Weizen aus der Halle (Abteilung 4) in
Malchin, die wegen Nitrofen-Kontamination gesperrt ist,
wurde aus 7 Erzeugerbetrieben aus Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern geliefert. Die Untersuchung
einer Staubprobe aus der Halle in Malchin führte zu einem
Nachweis von 2 g pro kg Nitrofen. Die Untersuchung des
Bodens der Halle ergab einen Gehalt von 77,9 g pro kg
Beton.
Zu Frage 18:
Der eingelagerte Weizen wurde an diverse Empfänger
versandt. Eine Liste dieser Empfänger ist von den zustän-
digen Behörden in Mecklenburg-Vorpommern an die
Behörden der betroffenen Länder übersandt worden. Die
ermittelnden Behörden der Länder haben den Verbleib
festgestellt und soweit möglich, den verbliebenen Weizen
sichergestellt, beprobt und ein weiteres Verbringen verbo-
ten.
Anlage 9
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Matthias Berninger auf die
dringlichen Fragen des Abgeordneten Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig (FDP) (Drucksache 14/9350, Fragen 19
und 20):
Wie bewertet die Bundesregierung Hinweise auf eine mög-
liche Verbrauchergefährdung durch Geflügelfleischimporte aus
Thailand, die über Brasilien nach Europa eingeführt werden sol-
len und Nitrofurane enthalten?
Trifft es zu, dass die Wirtschaft die Bundesregierung bereits
frühzeitig schriftlich auf eine mögliche Verbrauchergefährdung
aufmerksam gemacht und entsprechende Schritte der Bundes-
regierung und der EU-Kommission angemahnt hat?
Zu Frage 19:
Die Bundesregierung setzt sich auf europäischer Ebene
dafür ein, dass für Brasilien ähnlich wie für Thailand
Schutzmaßnahmen ergriffen werden, durch die sichergestellt
wird, dass beim Import von Geflügelfleisch aus Brasilien die
gesundheitlichen Anforderungen der Europäischen Gemein-
schaft eingehalten werden. Um den gesundheitlichen Ver-
braucherschutz bei der Einfuhr von Geflügelfleisch aus
Brasilien bis zum In-Kraft-Treten entsprechender Schutz-
maßnahmen der Europäischen Kommission zu gewährlei-
sten, hat die Bundesregierung die zuständigen obersten
Landesbehörden gebeten, Importe von Geflügelfleisch
und von Geflügelfleischerzeugnissen aus Brasilien im
Rahmen der Einfuhrkontrollen verstärkt auf Rückstände
von verbotenen Tierarzneimitteln, insbesodere auf Nitro-
furane, zu untersuchen und die Untersuchungsergebnisse
mitzuteilen.
Zu Frage 20:
Auf der Grundlage mehrerer Meldungen über den
Nachweis von Nitrofuranen in Geflügelfleisch aus Brasi-
lien hat die Bundesregierung die Europäische Kommis-
sion bereits am 23. April 2002 und erneut am 30. April
2002 gebeten, geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung
der Einhaltung der gesundheitlichen Anforderungen der
Europäischen Gemeinschaft bei der Einfuhr von Geflü-
gelfleisch und Geflügelfleischerzeugnissen aus Brasilien
zu prüfen.
Im Rahmen der Sitzung des Ständigen Ausschusses für
die Lebensmittelkette und die Tiergesundheit am 7. Mai
2002 hat die Europäische Kommission mitgeteilt, dass sie
die Überprüfung der brasilianischen Lieferbetriebe veran-
lasst und den brasilianischen Behörden hierfür eine Frist
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24351
(C)
(D)
(A)
(B)
von zwei Wochen gesetzt hat. Nachdem diese Frist nun
abgelaufen ist, hat die Bundesregierung die Europäische
Kommission mit Schreiben vom 4. Juni 2002 gebeten, die
Mitgliedstaaten im Rahmen der nächsten Sitzung des
Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette und die
Tiergesundheit über das Ergebnis der Überprüfung der
brasilianischen Lieferbetriebe sowie über die zur Ge-
währleistung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes
geplanten Maßnahmen zu informieren.
Um den gesundheitlichen Verbraucherschutz bei der
Einfuhr von Geflügelfleisch aus Brasilien bis zum In-
krafttreten entsprechender Schutzmaßnahmen der Euro-
päischen Kommission zu gewährleisten, hat die Bundesre-
gierung – wie bereits im Rahmen der Beantwortung der
vorausgegangenen Frage erwähnt – die zuständigen obers-
ten Landesbehörden gebeten, Importe von Geflügefleisch
und von Geflügelfleischerzeugnissen aus Brasilien im
Rahmen der Einfuhrkontrollen verstärkt auf Rückstände
von verbotenen Tierarzneimitteln, insbesondere auf Nitro-
furane, zu untersuchen und die Untersuchungsergebnisse
mitzuteilen.
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler (PDS) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Än-
derung der Gemeinsamen Geschäftsordnung des
Bundestages und des Bundesrates für den Aus-
schuss nach Art. 66 des Grundgesetzes-Vermitt-
lungsausschuss (Tagesordnungspunkt 41 p)
Der Mehrheit des Hauses gelang es auch 1998, der
PDS-Fraktion mittels Wechsels des üblichen Berech-
nungsverfahrens nach Ste. Lague/Schepers zum Verfah-
ren nach d’Hondt einen Sitz im Vermittlungsausschuss zu
verwehren.
Aus eigener, inzwischen 12-jähriger Erfahrung wissen
wir um die Bedeutung, von wichtigen Informationen, Ab-
stimmungen und Entscheidungen ausgeschlossen zu sein,
auch dann, wenn bei erneuter Befassung mit einer Geset-
zesvorlage über diese im Bundestag abzustimmen ist.
Warum stimme ich und die PDS-Fraktion insgesamt
gegen die Beschlussempfehlung, also für den Antrag der
PDS?
Eine aus dem Vermittlungsausschuss ausgeschlossene
Fraktion ist im Gesetzgebungsverfahren nur mit minderen
Rechten vertreten, und zwar auch im Deutschen Bundes-
tag, obwohl sie dort mit vollen Rechten am gesamten Wil-
lensbildungsprozess zu beteiligen ist.
Bundestag und Bundesrat würden in ihrem parlamen-
tarischen Willensbildungsprozess nicht wesentlich beein-
trächtigt werden. Vielmehr würde durch die Teilnahme
aller Fraktionen des Bundestages an der Tätigkeit des Ver-
mittlungsausschusses bei Gesetzesvorlagen die parlamen-
tarische Tätigkeit nur gefördert werden.
Unser Vorschlag, jeder Fraktion des Bundestages ein
Grundmandat in diesem wichtigen, verfassungsrechtlich
eingerichteten Organ des Gesetzgebungsverfahrens in der
Bundesrepublik Deutschland zuzubilligen, würde auch
bei Annahme des PDS-Antrages für diese Wahlperiode
nicht mehr wirksam werden, könnte aber in der kommen-
den Wahlperiode – dann gegebenenfalls für eine andere
Fraktion – von Bedeutung sein.
Anlage 11
Erklärung
des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Bekämpfung derGeldwäsche und der
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
(Geldwäschebekämpfungsgesetz) (Zusatztages-
ordnungspunkt 10)
Keine Frage ist: Geldwäsche muss bekämpft werden
und zwar wirksam. Dafür bin ich auch und sind sicher
auch alle Abgeordneten, die für meinen Antrag stimmen
wollen. Die wirksame Bekämpfung der Geldwäsche ist
ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Mittel zur
Bekämpfung wirklich gefährlicher organisierter und
Wirtschaftskriminalität.
Aber der Kampf gegen Geldwäsche darf nicht auf Kos-
ten wichtiger Institutionen des Rechtsstaates geführt wer-
den. Zum Rechtsstaat gehört das uneingeschränkte Ver-
trauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant.
Dieses Vertrauensverhältnis wird ohne Not ausgehöhlt,
wenn dieses Gesetz unverändert beschlossen wird. Die
Vorschriften, die Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen
verpflichten, ihre Mandanten anzuzeigen, wenn sie den
Verdacht haben, dass diese sie zur Geldwäsche missbrau-
chen wollen, und die dann auch noch den Rechtsanwälten
verbieten, die Mandanten davon zu unterrichten, dass sie
diese angezeigt haben, beruhen auf einer völligen Ver-
kennung der Stellung der Rechtsanwälte in der Gesell-
schaft und in unserem Rechtssystem. Rechtsanwälte sind
unabhängige Organe der Rechtspflege und zwar aus-
nahmslos. Darauf beruht nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts weitgehend ihre Wir-
kungsmöglichkeit für die Mandanten. Rechtsanwälte sind
nicht Organe der Strafverfolgung.
Das wird deutlich: Rechtsanwälte dürfen einen Man-
danten davon unterrichten, wenn sie aus den Akten oder
sonst wie erfahren, dass gegen ihn ein Haftbefehl besteht,
auch wenn dieser damit die Möglichkeit bekommt, sich zu
entziehen. Rechtsanwälte dürfen nicht anzeigen, wenn ein
Mandant an sie im Gefängnis die unsittliche Bitte richtet,
ihm eine Feile mitzubringen, auch wenn sich aus diesem
Wunsch der Schluss ziehen lässt, der Gefangene schmie-
det Fluchtpläne. Rechtsanwälte dürfen Mandanten nicht
anzeigen, auch wenn sie von diesen hören, dass sie weiter
betrügerische Haustürgeschäfte betreiben, mit Haschisch
oder mit unsauberen Warenterminkontrakten handeln
oder gegen Embargobestimmungen in strafbarer Weise
verstoßen.
Selbstverständlich ist, dass Rechtsanwälte solche un-
sittlichen Angebote zur Mitwirkung bei strafbarem Han-
deln oder bei der Sicherung der Beute ablehnen. Sie kön-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224352
(C)
(D)
(A)
(B)
nen und sollten auch auf die Mandanten dahin gehend ein-
wirken, die Begehung von Straftaten zu unterlassen. Aber
sie müssen und dürfen nicht gegen den Willen ohne Wis-
sen der Mandanten an der Durchsetzung des staatlichen
Strafanspruchs mitwirken.
Das aber ist es, was die inkriminierten Bestimmungen
des Geldwäschegesetzes von ihnen verlangt. Das für eine
wirksame Interessenvertretung durch Rechtsanwälte not-
wendige Vertrauensverhältnis verträgt solches Tun von
Anwälten nicht. Es steht zu befürchten – ist die Tür erst
mal aufgestoßen – werden weitere Schritte und weitere
Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt
und Mandant folgen. Deshalb stimme ich dem Gesetz
ohne die notwendigen Änderungen nicht zu.
Anlage 12
Erklärung
des Abgeordneten Eckart von Klaeden
(CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ände-
rungsantrag des Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zum
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung der Geldwäsche und der Bekämp-
fung der Finanzierung des Terrorismus (Geld-
wäschebekämpfungsgesetz) (Zusatztagesord-
nungspunkt 10)
Für die CDU/CSU-Fraktion erkläre ich: Das Votum ist
Nein.
Anlage 13
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Eckart von Klaeden
(CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom
18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über
die Überstellung verurteilter Personen (Tages-
ordnungspunkt 20)
Für die CDU/CSU-Fraktion erkläre ich: Das Votum
lautet Ja.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht: Landminen ohne
integrierte Selbstneutralisierungs- oder Selbstzer-
störungsmechanismen ächten – Minenräum- und
Minenopferhilfe deutlich erhöhen
– Für eine Weiterentwicklung der humanitären Rüs-
tungskontrolle bei Landminen (Tagesordnungs-
punkt 10 a und b)
Petra Ernstberger (SPD):Nach Unterlagen der deut-
schen Initiative gegen Landminen gibt es circa 110 Mil-
lionen Landminen in über 70 Ländern dieser Erde. Die
gleiche Anzahl, schätzt man, befindet sich noch einmal in
den Depots der Militärs. Noch immer werden pro Tag
22 Menschen durch Minen verletzt oder getötet. Das be-
deutet, dass jede Stunde – auch jetzt – ein weiteres Opfer
dazu kommt. Vor allem Frauen und Kinder sind die Op-
fer. Eigentlich ist es auch egal, wie viel Minen auf einer
Fläche verlegt sind. Eine einzige reicht aus, um, zum Bei-
spiel in einem Feld verlegt, die Lebensgrundlage einer
Familie zu zerstören.
125 Millionen Euro wurden im vergangenen Jahr in der
EU für humanitäre Minenräumung ausgegeben. 17 Mil-
lionen Euro stellt die Bundesregierung davon in diesem
Jahr zur Verfügung. Aber wir müssen erkennen, dass es
auf die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen und
auf die Belastung mit Kampfmitteln mehr ankommt als
auf die Anzahl der Minen. Auf diesem Gebiet muss die
Leistung der NGOs vor Ort lobend hervorgehoben wer-
den. Deshalb ist es richtig und gut, dieses Thema heute
wieder im Deutschen Bundestag zu diskutieren, wenn ich
mir auch eine bessere Zeit vorgestellt hätte.
Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen be-
handelt zwei Typen von Landminen: Antipersonenminen
und Antifahrzeugminen.
Zu den Antipersonenminen hat es in den vergangenen
Jahren vielfältige politische Bemühungen gegeben, so-
wohl in Deutschland als auch international. Ein heraus-
ragendes Ereignis dieser Bemühungen war das Ottawa-
Übereinkommen vom Dezember 1997, das im März des
Jahres 1999 in Kraft getreten ist. Es verpflichtet alle Staa-
ten, die dem Übereinkommen beigetreten sind, nach vier
Jahren, das heißt im Jahre 2003, ihre Bestände an Anti-
personenminen vollständig zu beseitigen.
Der Anlass, warum wir uns trotz des Ottawa-Überein-
kommens weiterhin mit Antipersonenminen befassen
müssen, liegt darin begründet, dass nach wie vor die größ-
ten und wichtigsten Besitzer und Hersteller dieser Mi-
nen dem Ottawa-Übereinkommen nicht beigeteten sind.
Nichtvertragsstaaten sind zum Beispiel die VR China,
Russland, die USA, Indien und Pakistan. Diese Staaten
verfügen über die zehnfache Menge von Antipersonenmi-
nen im Vergleich zu den Ländern, die dem Ottawa-Vertrag
beigetreten sind. Die Erwartung, dass ein Minenverbot
durch die Staaten, die das wollen, eine Sogwirkung ent-
falten würde und solche Staaten, die das nicht wollen, um-
stimmen würde, ist nicht erfüllt worden. Alle, die sich für
diesen Ansatz stark engagiert haben, haben inzwischen
dessen Grenzen zur Kenntnis nehmen müssen.
Trotz des Ottawa-Vertrages sind in jedem neuen Kon-
flikt seit 1997 Antipersonenminen eingesetzt worden. Im
Kosovo, in Makedonien, in Afghanistan – bei allen mi-
litärischen Auseinandersetzungen der jüngsten Zeit wur-
den Minen verlegt, was die Schlussfolgerung erlaubt, dass
der Ottawa-Vertrag bislang auf die realen Gefährdungen
der Menschen in Krisenregionen nur einen geringen Ein-
fluss hatte. Da sehr viel mehr Menschen Opfer von Anti-
personenminen werden als von Antifahrzeugminen, ist es
wichtig, auf den großen Handlungsbedarf hinzuweisen,
der bei diesem Waffentyp weiterhin besteht.
Unser Antrag fordert die Bundesregierung auf, die
Universalisierung des Geltungsbereiches des Ottawa-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24353
(C)
(D)
(A)
(B)
Übereinkommens mit Nachdruck zu betreiben. Es
spricht nichts dagegen, wenn nicht nur auf den interna-
tionalen Verhandlungsforen, sondern auch bilateral, bei
Kontakten der Bundesregierung auf hoher und höchster
Ebene, dieses Thema auf die Tagesordnung der Ge-
spräche gesetzt wird. Auch die großen Mächte, wie
USA, Russland oder die VR China, müssen sehen, dass
Antipersonenminen zwar eine Schutzfunktion für Sol-
daten im unmittelbaren Gefecht haben können, dass sie
ihre vernichtende Wirkung aber vor allem nach Beendi-
gung von Kriegshandlungen entfalten. Und dann sind es
nicht Soldaten, sondern die Zivilbevölkerung, die auf
das Höchste gefährdet ist.
Der zweite Schwerpunkt unseres Antrages ist neu. Er
befasst sich mit der Problematik der Antifahrzeugminen,
das heißt der Minen, die gegen Panzer und andere mi-
litärische Fahrzeuge gerichtet sind. Aus rein militärischer
Sicht handelt es sich dabei nicht um Angriffswaffen, son-
dern um defensive Waffen, die zum Schutz von Gelände,
militärischen Einrichtungen und Soldaten vorgesehen
sind. Aber auch sie können insbesondere nach der Been-
digung von militärischen Auseinandersetzungen, dann,
wenn die Soldaten längst abgezogen sind, die Zivilbevöl-
kerung gefährden.
Die Militärs sagen, sie brauchen die Antifahrzeugmi-
nen zum Schutz der Soldaten. Wir sagen, wir sind auch für
den Schutz der Soldaten, aber wir wollen auch den Schutz
der Zivilbevölkerung. Die Militärs sagen, dafür sei ge-
sorgt, weil sie nach Beendigung der Kampfhandlungen
die Minen wieder mitnehmen würden. Das ist eine völlig
wirklichkeitsfremde Aussage. Wäre das so, dass die Ar-
meen dieser Welt ihre Minen nach dem Krieg wieder mit-
nehmen würden, hätten wir kein Landminenproblem und
es gäbe nicht Tausende von Zivilopfern.
Keine Armee, die auf der Flucht ist, denkt daran, als
Erstes ihre Minen einzusammeln. Im Gegenteil: Sie hof-
fen, dass die Minen den Gegner möglichst lange am Vor-
marsch hindern. Das ist die Realität, die von den Minen-
befürwortern nicht gesehen wird. Deswegen brauchen wir
neue Regelungen für den Schutz der Zivilbevölkerung vor
der Minengefahr.
Verschiedene Antilandminen-Organisationen veran-
stalten in dieser Woche Aktionen, um für ein Verbot aller
Landminen, also auch der Antifahrzeugminen, zu wer-
ben. Die SPD ist für ein weltweites Verbot derartiger Mi-
nen und unterstützt das Engagement der NGOs. Sie weiß
aber auch, dass ein Verbot von Antifahrzeugminen nur
dann eine positive Wirkung für die Sicherheit der Zivil-
bevölkerung hätte, wenn – wie bei den Antipersonenmi-
nen – die wichtigsten Minenproduzenten mitmachen wür-
den. Die Bereitschaft dazu ist jedoch gegenwärtig bei den
Antifahrzeugminen noch weniger vorhanden als bei den
Antipersonenminen. Es reicht nicht aus, wenn Deutsch-
land, Neuseeland, Kanada oder andere gutwillige Staaten
Antifahrzeugminen verbieten würden. Es geht wiederum
um Russland, China, Pakistan, Indien, USA, die das tun
müssten, um einem Verbot Wirkung zu verleihen. In Genf,
bei der UNO-Waffenkonferenz sitzen alle diese Staaten an
einem Tisch. Hier geht es nicht um Verbote ganzer Waf-
fenkategorien, sondern darum, die humanitären Standards
in Bezug auf Landminen zu erhöhen und die Risiken für
die Zivilbevölkerung zu vermindern.
Hier setzt unser Antrag an. Es behandelt nicht die ge-
samte Problematik von Antifahrzeugminen, sondern be-
fasst sich nur mit solchen Antifahrzeugminen, die sensible
Zündmechanismen haben, und mit Minen, die nicht de-
tektierbar sind oder über keine Möglichkeit der Wirkzeit-
begrenzung verfügen. Antfahrzeugminen mit sensiblen
Zündmechanismen können von einzelnen Personen unbe-
absichtigt ausgelöst werden, beispielsweise wenn diese
Minen mithilfe von Magnetfeldsensoren ausgelöst wer-
den. Sie wirken dadurch wie Antipersonenminen, die be-
reits heute verboten sind.
Verboten werden müssen auch Antifahrzeugminen, die
nicht detektierbar sind oder keine Wirkzeitbegrenzung ha-
ben. Solche Minen können noch nach Jahren Unheil
unter der Zivilbevölkerung anrichten. Es ist zu begrüßen,
dass sich seit einiger Zeit auch internationale Gremien,
wie das VN-Waffenübereinkommen, mit den Fragen der
sensiblen Zündmechanismen und der nicht detektierbaren
Antifahrzeugminen befassen. Auch die Cluster-Bomben
sind inzwischen Gegenstand von Fachgremien dieser Ver-
handlungsrunden geworden. Das ist mit Nachdruck zu be-
grüßen und zu unterstützen.
Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in
dem Vorhaben, die humanitären Standards auch bei den
Antifahrzeugminen zu erhöhen. Dabei haben wir Ver-
ständnis für die Auffassung der Bundesregierung, dass
noch umfangreichere Forderungen in Bezug auf ein Land-
minenverbot den internationalen Verhandlungsprozess
möglicherweise auch behindern könnten. Wir wissen zum
Beispiel, dass sich die französische Regierung schwer tut
mit einem Verbot nicht detektierbarer Antifahrzeugmi-
nen. Wir brauchen aber Frankreichs Zustimmung, wenn
wir in diesem Bereich Fortschritte erzielen wollen. Und
ebenso brauchen wir die Zustimmung der VR China,
Russlands und der anderen großen Minenhersteller.
Es geht darum, diese Staaten in einem harten Verhand-
lungsprozess davon zu überzeugen, dass sie ihre Sicher-
heit auch gewährleisten können, wenn sie Regelungen ak-
zeptieren, die die Auslösung von Antifahrzeugminen
durch Personen ausschließen.
Das ist der Grund, warum wir die Forderungen unter
Ziffer 4 und 5 des Antrages der FDP-Fraktion und der
Fraktion der CDU/CSU zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht für realistisch und insgesamt auch nicht für hilfreich
halten, obwohl wir das Ziel des Verbots aller Landminen
teilen.
Der Antrag der FDP, dem sich die CDU/CSU ange-
schlossen hat, ist keineswegs weitergehender als unser
Antrag. Er klingt nur radikaler. In Wirklichkeit macht er
es schwerer, einen internationalen Konsens für die An-
hebung der humanitären Standards zu finden. Er würde
in internationalen Verhandlungen noch nicht einmal Ein-
gang in die Tagesordnung finden. Er konzentriert sich
auf nah verlegte Antifahrzeugminen, obowohl die fern
verlegten das sehr viel dringlichere Problem darstellen
und man für sie sehr viel eher eine Lösung finden
könnte.
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Deswegen lehnen wir den Antrag von FDP und
CDU/CSU ab. Wir wollen keine verbal-radikalen Be-
kenntnisse, die unser Gewissen beruhigen wollen. Wir
wollen, dass die Gefährdung der Zivilbevölkerung wirk-
lich vermindert wird. Was heute leistbar ist und was wir
unbedingt brauchen, ist ein Einstieg in das Verbot von An-
tifahrzeugminen. Und da scheint uns am dringlichsten
eine Vereinbarung über solche Antifahrzeugminen, die
wie Antipersonenminen wirken. Das ist der Kern unseres
Antrags. Ich bitte um die Zustimmung zur Beschluss-
fassung des federführenden Auswärtigen Ausschusses.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was haben Vera
Bohle und Lady Diana gemeinsam? Beide sind bzw. wa-
ren gegen den Einsatz von Landminen. Bei Lady Diana ist
dieses Engagement allgemein bekannt. Vera Bohles Na-
men werden Sie nicht kennen. Sie ist eine der wenigen
Deutschen, die Minen räumt. Mit 29 hängte sie ihren Job
als TV-Cutterin an den Nagel und ging zur Sprengschule
nach Dresden. Für die GTZ arbeitet sie im Westen Mo-
sambiks, der Region Gorongosa.
Es ist auch das Verdienst von Frauen wie Vera Bohle,
dass sich immer mehr Staaten für die Ächtung von Land-
minen aussprechen und auch wir heute über einen solchen
Antrag entscheiden wollen. 110 Millionen Stück sollen
– so wird geschätzt – noch im Boden verborgen sein.
110 Millionen – eine unvorstellbare Zahl. Das ist fast so
viel wie Japan, der derzeitige Ausrichter der Fußball-
Weltmeisterschaft an Einwohnern hat, oder der Betrag,
den das Entwicklunghilfeministerium im Haushalt 2001
für Nahrungsmittelhilfe vorgesehen hatte. Selbst wenn
man das endgültige Aus der Landminen beschlösse,
würde es noch Jahrzehnte dauern, bis alle Minen beseitigt
wären. Am schlimmsten ist die Situation in Afghanistan,
Angola, Bosnien, dem Irak, Somalia und dem Sudan. Tau-
sende Menschen, darunter viele Kinder, wurden durch
Minen bereits verstümmelt oder getötet. Die Verletzun-
gen, die explodierende Minen verursachen, sind so
schrecklich, dass man es nicht in Worte fassen kann. Getö-
tet und verstümmelt wird damit auch ihre Zukunft, die Zu-
kunft ihrer Familien und ihrer Länder.
Doch sind in diesem Zusammenhang auch unsere ei-
genen Interessen betroffen. Vergangenen Freitag haben
wir den Einsatz unserer Soldaten auf dem Kosovo verlän-
gert, morgen entscheiden wir über die Verlängerung des
Mandats in Mazedonien und Afghanistan. In all diesen
Ländern besteht die Gefahr von Minenunfällen und ich
bin froh, sagen zu können, dass der Bundesverteidigungs-
minister im vergangenen Jahr endlich auf unseren Druck
reagiert und den Schutz deutscher Schützen- und Kampf-
panzer vor Abwehrminen hat verbessern lassen.
Ein erster Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der
Minen wurde mit der Unterzeichnung des Ottawa-Über-
einkommens bereits gemacht. Für die über 140 Staaten,
die das Abkommen von Ottawa unterzeichnet haben, ist
jeglicher Umgang mit Antipersonenminen verboten. Vier
Jahre nach In-Kraft-Treten des Übereinkommens muss
ein Staat alle Vorräte an Antipersonenminen vernichtet
haben. Froh bin ich darüber, dass fast alle EU-Staaten das
Übereinkommen ratifiziert haben und Deutschland seine
Bestände an Antipersonenminen bereits vor Fristablauf
vernichtet hat. Ein großes Verdienst übrigens unserer
früheren Bundesregierungen und des Außenministers
Klaus Kinkel. Doch auch hier gilt, was ich in der vergan-
genen Woche zum Thema Abrüstung gesagt habe: Wer
rastet, rostet. Oder anders: Gut ist in diesem Fall noch
nicht gut genug. Es ist bedauerlich, dass viele Nationen,
vor allem in Krisengebieten, das Übereinkommen von Ot-
tawa bislang nicht unterzeichnet haben. Ich denke hier vor
allem an zwei Staaten, die ich ebenfalls in der vergange-
nen Woche, damals im Zusammenhang mit dem Atom-
teststoppvertrag, erwähnt habe: Indien und Pakistan. Aber
auch der Beitritt Russlands, Chinas und der Vereinigten
Staaten zum Abkommen wäre wünschenswert.
Keine so großen Fortschritte haben wir in Bezug auf
Antifahrzeugminen gemacht. Ihre Produktion und Verle-
gung sind nicht verboten, obwohl sie in ihren Auswirkun-
gen ebenso schrecklich sind wie die Antipersonenminen.
Auch sie bedrohen Zivilisten, auch sie legen die Infra-
struktur eines Landes lahm. Besonders Gebäude, Eisen-
bahntrassen und Straßen werden mit Antifahrzeugminen
blockiert, um die Versorgung der Bevölkerung mit Le-
bensmitteln zu verhindern. So geschehen in Ruanda und
im angolanischen Bürgerkrieg. Lediglich Art. 6 Abs. 3 des
revidierten Protokolls II des Waffenübereinkommens der
Vereinten Nationen bestimmt, dass fernverlegte Antifahr-
zeugminen mit einer Wirkzeitbegrenzung ausgestattet
sein müssen. Mit einer Einschränkung, denn es heißt: so-
weit dies „praktisch“ möglich ist. Die Vertragsparteien
werden grundsätzlich verpflichtet, Aufzeichnungen da-
rüber zu führen, wo sie Minen verlegt haben und Minen-
felder nach dem Ende der aktiven Feindseligkeiten wie-
der zu räumen.
Bei meiner Rede am vergangenen Freitag habe ich auf
die Gefahren hingewiesen, die von terroristischen Orga-
nisationen ausgehen können. Auch heute möchte ich auf
die Gefahr hinweisen, die von diesen Gruppen, aber auch
von Bürgerkriegsparteien ausgehen kann. Da das
Waffenübereinkommen nur von wenigen Staaten unter-
zeichnet wurde und es zudem an einem wirksamen Veri-
fikationsinstrument fehlt, ist es im Prinzip wirkungslos.
Aus diesem Grund begrüße ich ausdrücklich das Anliegen
der beiden, heute zur Abstimmung stehenden Anträge, die
ja beide das Ziel haben, den Einsatz von Landminen zu
ächten. Auch ich halte es für dringend erforderlich, darauf
hinzuwirken, dass alle Staaten dem Übereinkommen von
Ottawa beitreten und es selbstverständlich auch befolgen.
Gleiches gilt selbstverständlich auch für das Verbot von
Antifahrzeugminen mit derart sensiblen Zündmechanis-
men, dass sie auch von Menschen ausgelöst werden kön-
nen, und das Verbot von nicht detektierbaren Minen bzw.
von Minen, die nicht über Mechanismen der Selbstneu-
tralisierung verfügen.
Die Staaten übrigens, die nicht bereits aus humanitären
Gründen von Landminen ablassen wollen, lassen sich viel-
leicht durch ganz profane Gründe überzeugen: Geld. Eine
Mine herzustellen ist billig. Zwischen drei und
30 US-Dollar kostet es: Sie zu beseitigen ist dagegen teuer.
Pro Mine, so schätzt man, fallen circa 1 000 US-Dollar an.
Selbst wenn man nur die Minenfelder räumte, die im Inte-
resse der jeweiligen Länder unbedingt geräumt werden
müssen, kostete dies mehrere Milliarden US-Dollar. Da
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die Minen meistens in Ländern der zweiten und dritten
Welt verborgen liegen, ist eine Beseitigung der Minen
ohne finanzielle Unterstützung der westlichen Länder gar
nicht möglich. Der Profit, den einige wenige aus der
Herstellung von Minen ziehen, geht also zulasten vieler
anderer. Zwischen 1993 und 1999 haben das Auswärtige
Amt und das BMZ für humanitäre Minenaktionen
182 Millionen DM ausgegeben. Hätte man dieses Geld in
andere Projekte stecken können, ginge es vielen Menschen
auf dieser Welt besser. Nicht vergessen darf man auch die
Folgekosten, die durch Minen verursacht werden. Alle
Staaten, die finanzielle Unterstützung leisten, können
hiervon ein Lied singen. Minen ziehen einen Ratten-
schwanz von Maßnahmen und Kosten hinter sich her.
Ich erwähnte es ja bereits: Minen behindern Landwirt-
schaft und Handel und damit die Versorgung der Men-
schen. Flüchtlinge und Vertreibene können nicht in ihre
Heimatdörfer zurückkehren, Wiederaufbaumaßnahmen
in Konflikten stocken oder sind wegen der Verminung
von Feldern und Gebäuden unmöglich. Armut breitet sich
aus. Unruhen und soziale Krisen sind die Folge. Präven-
tive Maßnahmen sind erforderlich. Die Bevölkerung
muss durch Plakate, Radio- und Fernsehspots über die
von Minen ausgehende Gefahr informiert werden. Wie
Mathematik oder Biologie muss den Kindern in der
Schule beigebracht werden, Minen und Sprengkörper zu
erkennen und sich von ihnen fernzuhalten. 280 Mark kos-
tet eine Prothese für ein Kind, das ein Bein durch eine Mi-
nenexplosion verloren hat. Doch dabei bleibt es nicht.
Weil Kinder noch im Wachstum sind, brauchen sie immer
wieder neue Prothesen. Auch die Versorgung im Kran-
kenhaus, die Rehabilitation sowie die sozialen und wirt-
schaftlichen Hilfsmaßnahmen kosten Geld. Betroffen
sind nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Familien.
Auch sie bedürfen der Unterstützung – finanziell und psy-
chisch. Und all diese Kosten können nicht einmal im An-
satz das Leid beschreiben, das gerade bei Kindern ent-
steht, denen Minenverletzungen die Zukunft, oft das
Lachen und die Freude nehmen. So bedeutet jedes zer-
fetzte Gliedmaß mindestens ein zerstörtes Leben. All dies
ist die Folge eines Drei-Dollar-Produktes!
Es ist schade, dass die Regierungskoalition nicht bereit
war, beim Antrag von FDP und CDU/CSU mitzumachen,
den sie ja zu 99 Prozent unterstützt. Der Antrag von FDP
und CDU/CSU ist konsequenter und mutiger als der der
Bundesregierung. Er fordert darüber hinaus, dass die Bun-
desrepublik mit gutem Beispiel vorangeht und Minen, die
nicht detektierbar sind und die keine Wirkzeitbegrenzung
haben, aus ihren eigenen Beständen entfernt. Manch einer
mag dies für utopisch halten, da es zu Verteidigungs-
zwecken unerläßlich scheint, diese Minen im Bestand zu
halten. Doch auch hier scheint mir ein Umdenken möglich.
Ich bin zuverlässig, dass es Wissenschaftlern gelingen
wird, Alternativen zu diesen Minen zu entwickeln, die
ihren Schutzzweck ebenfalls erfüllen und finanziell trag-
bar sind. Deshalb bitte ich darum, dem gemeinsamen An-
trag von FDP und CDU/CSU zuzustimmen.
Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
freue mich, dass wir heute noch einmal über das Thema
Landminen diskutieren, da mir das Thema sehr am Her-
zen liegt. Gerade die Kolleginnen und Kollegen unter uns,
die sich, wie ich, in verminten Regionen aufgehalten ha-
ben, wie zum Beispiel in der kurdischen im Norden Iraks,
oder jene Hilfsorganisationen, die in verminten Regionen
humanitäre Hilfe leisten, wie heute zum Beispiel in Af-
ghanistan, und die das alltägliche Elend, das diese Waffen
verursachen, kennen, kann dies sicher nachvollziehen.
Daher will ich auch betonen, dass ich die problemori-
entierte Zusammenarbeit im Unterausschuss Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung immer sehr ge-
schätzt habe; dies insbesondere dann mit großem Ernst,
wenn es um das aktuelle Thema geht, das extreme huma-
nitäre und abrüstungspolitische Bedeutung hat.
Dennoch möchte ich einige Worte sagen, um meine Po-
sition deutlich zu machen. Ich bin für die Ächtung aller
Landminen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung fi-
xiert, dass die rot-grüne Bundesregierung sich für die
Ächtung von Landminen einsetzen will. Der Antrag der
Koalitionsfraktionen kommt spät, zum Ende der Legisla-
turperiode. Er ist ein Schritt in die richtige Richtung,
wenn auch einer, der im Grunde genommen zu kurz greift.
Er ist ein Kompromiss und wir unterstützen den Antrag,
weil er eine Position festschreibt, die in dieser Form noch
von keiner Regierung und keiner Regierungskoalition
formuliert wurde. So bildet er eine Ausgangsbasis für die
weitere Arbeit der Bundesregierung.
Kritisch möchte ich anmerken, dass in bisher nicht ge-
kannter Form das Bundesministerium der Verteidigung
aus der Befürchtung heraus, auf bestimmte Antipanzer-
minen verzichten zu müssen, immer wieder versucht hat,
bereits gefundene Kompromisse auf der politischen
Ebene aufzubrechen.
In diesen Tagen hat der Deutsche Initiativkreis für das
Verbot von Landminen mit seinen Aktionstagen begonnen.
Wir unterstützen diese Arbeit, da die weltweite Landmi-
nenplage noch nicht beseitigt ist. Die Kritik der Kampagne
ist Anregung für unsere Arbeit. Seit dem Ottawa-Abkom-
men ist es kaum zu Forschritten gekommen. Wichtige
Staaten wie die USA, Russland oder China haben den Ver-
trag noch immer nicht unterzeichnet. Die Bedeutung von
Ottawa kann jedoch nicht unterschätzt werden. Denn es ist
gelungen, wenigstens eine Waffenkategorie völkerrecht-
lich zu verbieten. Dennoch sind weitere Fortschritte not-
wendig.
Inwieweit auch Antifahrzeugminen von dem Vertrag
betroffen sind, ist Interpretationssache. In unserem Antrag
werden teilweise Antifahrzeugminen in den Geltungsbe-
reich des Ottawa-Abkommens mit einbezogen. Unser An-
trag dient damit dem Ziel einer immanenten Erweiterung
des Geltungsbereichs.
Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, auf allen Ver-
handlungswegen weiterzugehen. Gerade Ottawa hat ge-
zeigt, dass dies möglich ist.
Daher darf die Politik nicht stehen bleiben, sondern
muss sich weiterentwickeln. Ich muss zugeben, dass im
Antrag der FDP Punkte stehen, die ich unterstützen kann
und die ich in den Diskussionen innerhalb der Koalition
wie auch in der Öffentlichkeit vertrete. Wir konnten diese
berechtigten Anliegen aber nicht durchsetzen. Das macht
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die Punkte nicht falsch, sondern es ist uns Ansporn für
weitere Aktivitäten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmt für den
Koalitionsantrag und gegen den Antrag der Opposition.
Nun stehe ich persönlich vor dem Dilemma, einen Antrag,
der mir in einigen Punkten sehr sympathisch ist, gegen ei-
nen Antrag abzuwiegen, der die Position der Bundesrepu-
blik Deutschland weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund,
dass letzterer deswegen mehr Wirkungskraft entfalten
könnte, stimme ich dem Antrag trotz aller von mir schon
erwähnten Kritikpunkte zu. Ich stimme aber auch dem
Antrag der Opposition zu, da er in die richtige Richtung
weist. Es ist bedauerlich, dass die jetzigen Oppositions-
parteien diese Politik nicht schon vor 1998 umgesetzt ha-
ben.
Das Thema Landminen – das sage ich in alle Richtun-
gen – bleibt auch nach der heutigen Abstimmung auf der
Agenda.
Dr. Klaus Kinkel (FDP): 20 000 Tote – über 100 Mil-
lionen verlegte Landminen weltweit sind und bleiben eine
der schlimmsten Menschheitsgeißeln. Ich habe mich in
sechseinhalb Jahren als Außenminister und auch aus der
Opposition heraus dem Kampf gegen diese Geißel ver-
schrieben. Das vor fünf Jahren abgeschlossene und in-
zwischen von mehr als 120 Staaten unterzeichnete
Ottawa-Abkommen gegen Antipersonenminen war ein
Erfolg.
Aber zur Umsetzung dieses wichtigen Abkommens
muss mehr getan werden. Wir brauchen auch stärkeres
Engagement – und mehr Geld – für das humanitäre Mi-
nenräumen. Wir müssen endlich vorankommen beim ma-
schinellen Minenräumen. 60 Prozent der verlegten Minen
sollen mit Großgerät geräumt werden. Die Industrie hat
solches Gerät entwickelt und braucht und verdient Be-
währungschancen in der Praxis. Vor allem aber müssen
wichtige Staaten wie die USA, Russland und China dem
Ottawa-Abkommen endlich beitreten.
Schlimm ist allerdings, dass leider auch Deutschland
das Ottawa-Abkommen nicht vollständig umgesetzt hat,
obwohl die rot-grüne Bundesregierung das bereits im
Sommer 1999 stolz verkündet hat. Im Bestand der Bun-
deswehr sind bis heute Zigtausende von Munitionskörpern
mit einer Submunition, die in ihrer Wirkung den verbote-
nen Antipersonenminen ähnlich sind. Der Bundes-
verteidigungsminister behauptet, es handele sich bei der
Submunition „MUSPA“ nicht um Antipersonenminen.
Großbritannien hat diese Submunition längst abge-
schafft – ausdrücklich unter Verweis auf Ottawa. Ich habe
mich an Herrn Scharping gewandt und ihn aufgefordert,
im Zweifel für die Abrüstung und gegen diese Minen zu
entscheiden, aber der Bundesverteidigungsminister eiert
herum, Herr Scharping, ich werde nicht locker lassen.
Der Dissens zwischen uns Liberalen und den selbster-
nannten Abrüstungspäpsten der rot-grünen Koalition geht
beim Thema Landminen leider noch weiter. Die FDP-
Bundestagsfraktion versucht seit Sommer letzten Jahres,
die Bundesregierung dazu zu bewegen, einen Schritt über
Ottawa hinaus zu tun und sich auch für ein Verbot von sol-
chen Antipanzerminen einzusetzen, die sich nicht selbst
zerstören. Denn auch diese Minen stellen nach dem Ende
von Kampfhandlungen eine Gefahr für die Zivilbevölke-
rung dar. Sie wissen nicht zwischen einem Panzer und ei-
nem Schulbus zu unterscheiden.
Rot-Grün hat sich dieser Initiative lange verweigert mit
der Begründung, sie gehe nicht weit genug, es sollten alle
Antipanzerminen verboten werden und nicht nur die, die
sich nicht selbst zerstören. Darüber lässt sich streiten.
Aber Rot-Grün hat nach dieser Kritik, dieser Verweige-
rung einer Zusammenarbeit mit uns weitere neun Monate
lang selbst nichts zustande gebracht. Deshalb hat die FDP
erneut einen Landminen-Antrag formuliert, der Ihnen
heute zur Abstimmung vorliegt. Die Union hat sich unse-
rem Antrag angeschlossen, was wir begrüßen. Die Regie-
rungskoalition hingegen hat es nicht geschafft, ihren ei-
genen Ansprüchen zu genügen, für die Belange der
Abrüstung und für den Kampf gegen die Landminen über
den eigenen Schatten zu springen und sich ausnahms-
weise einmal einem Antrag der FDP anzuschließen. Das
ist nicht nur enttäuschend, das ist schwach und unglaub-
würdig.
Rot-Grün legt einen eigenen Antrag vor, der auch auf
die Antipanzerminen eingeht – immerhin. Um überhaupt
nur das zu erreichen, mussten wir die Regierungskoalition
wieder einmal zum Jagen tragen. Aber der rot-grüne An-
trag ist schwach. Er bleibt trotz mehrfacher Nachbesse-
rungen in zwei entscheidenden Punkten hinter unserem
Antrag zurück:
Die Koalition will Antipanzerminen „schrittweise“ ent-
fernen. Wir lehnen eine solche zeitliche Einschränkung ab,
denn wir wissen, wie solche „Schritte“ in der Praxis aus-
sehen dürfen. Nein, es muss sofort gehandelt werden.
Dasselbe gilt für unsere Forderung, die Bundesregie-
rung solle einseitig, als Vorleistung und damit auch als Vor-
bild, auf die Herstellung, Erprobung, Lagerung und den Ex-
port solcher Minen verzichten. Im Koalitionsantrag findet
sich diese Forderung nicht, obwohl das ganz entscheidend
ist und zeigen würde, dass Deutschland nicht nur ein Lip-
penbekenntnis gegen Antipanzerminen ablegt, sondern das
Teufelszeug wirklich abschaffen will. Frau Beer hat als ver-
teidigungspolitische Sprecherin der Grünen noch in der
letzten Woche auf eine Frage meines Kollegen Braun ge-
sagt, diese beiden Punkte würden „aus politischer und hu-
manitärer Überzeugung“ ihre volle Unterstützung finden.
Ja, Frau Beer, dann folgen Sie doch bitte Ihrer Überzeu-
gung und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Nein, Rot-Grün kuscht vor dem Bundesverteidigungs-
ministerium. Dem Bundeskanzler und dem Bundes-
außenminister ist dieses wichtige Thema schnurzpiep-
egal. Und die Abrüstungsbewegten im Regierungslager
zeigen sich vielleicht von den schrecklichen Bildern von
verstümmelten Minenopfern bewegt. Aber sie selbst be-
wegen nichts, obwohl sie es könnten, ja müssten, denn sie
stehen in der Regierungsverantwortung.
Ich bin enttäuscht, aber nicht wirklich verwundert.
Rot-Grün beweist heute nicht zum ersten Mal, sondern
aufs Neue, dass diese Regierung in der Abrüstungspolitik,
angeblich einem Hauptanliegen der Regierungskoalition,
wirklich nichts auf die Reihe bringt. Die zahlreichen
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NGOs, die gegen die Landminengeißel kämpfen, aber
auch die unzähligen Menschen, denen das Thema Land-
minen wirklich am Herzen liegt, werden das merken.
Heidi Lippmann (PDS): Alle 22 Minuten geht in ei-
nem der weltweit 60 verminten Länder eine Landmine
hoch. Zurück bleiben tote, verletzte, verstümmelte Men-
schen, jährlich circa 24 000 Opfer. Allein in Kroatien wird
die Zahl der noch im Boden liegenden Minen auf bis zu
1,2 Millionen geschätzt, in Kambodscha auf 5 Millionen.
Weltweit sollen es 100 Millionen sein. Bis zu 70 Jahre
können die verborgenen Todesfallen noch aktiv sein.
Landminen sind unmenschliche und brutal wirkende
Waffen. Sie zerstören Ackerland, blockieren lebenswich-
tige Handelsstraßen und stellen eine zusätzliche Belas-
tung für die ohnehin überforderten Gesundheitssysteme
vieler Länder dar. Obwohl das Ottawa-Abkommen zum
Verbot von Antipersonenminen mittlerweile von vielen
Staaten unterzeichnet und ratifiziert wurde, stehen zwei
aus: Russland und die USA. Es wäre wahrhaftig ein
großer Abrüstungsschritt gewesen, hätten die Herren
Bush und Putin sich bei ihrem Treffen vor drei Wochen
auf die Unterzeichnung des Ottawa-Abkommens verstän-
digt. Wir bedauern sehr, dass dieses ausblieb. Insbeson-
dere auch angesichts der Tatsache, dass in Russland nach
wie vor Antipersonenminen produziert und in Tsche-
tschenien und Tadschikistan eingesetzt werden. Seit 1994
sind allein in Tschetschenien circa 7 000 bis 10 000 Men-
schen Opfer von Landminen geworden, darunter schät-
zungsweise 4 000 Kinder.
Doch auch in Deutschland werden nach wie vor Minen
produziert und exportiert: von der DASA die als Submu-
nition bezeichnete MUSPA. Von Dynamit Nobel die Anti-
panzermine AT2. Beide lagern in den auf circa 1,7 Milli-
onen mit Aufhebeschutz versehenen Minenbeständen der
Bundeswehr – und beide werden von Staaten wie Italien
und den USA als Antipersonenminen eingestuft, da sie
auch durch Personen ausgelöst werden können. Dynamit
Nobel selbst hat eingeräumt, dass die Antipanzermine der
Bundeswehr, die DM 31, gegen das Ottawa-Abkommen
verstößt.
Laut Medico International sind deutsche Hersteller mit
rund 60 Prozent der Patentaktivitäten die Nr. 1 in Europa
und auch weltweit führend. Angesichts der Tatsache, dass
Rot-Grün in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatte,
sich für ein umfassendes Verbot von Landminen einzu-
setzen, ist dieser Verstoß gegen das Ottawa-Abkommen
ein absoluter Skandal.
Doch nicht genug damit. Denn darüber hinaus fließen
zig Millionen des Verteidigungsetats in die Neuanschaf-
fung, in die Weiterentwicklung bestehender und in die
Entwicklung neuer Minensysteme. Im Vergleich hierzu ist
der Prozentsatz, der in die humanitäre Minenräumung
fällt, äußerst bescheiden.
Meine Damen und Herren, sie werden mir nachsehen,
wenn ich an dieser Stelle etwas sarkastisch werde:
Während vor dem Golfkrieg die Frauen in Kuwait drei
Schritte hinter ihren Männern gingen, werden sie heute
fünf Meter vorneweg geschickt. Böse Zungen bezeichnen
dies als humanitäre Minenräumung.
Vielleicht hatten die Kollegen von der FDP ja dieses
Bild vor Augen, als sie ihren Antrag formulierten, der in
ähnlicher Form schon mehrfach von der PDS eingebracht
wurde. Gemeinsam fordern wir, einseitig auf die Erpro-
bung, Herstellung, Lizenzvergabe, Lagerung und den Ex-
port von nicht detektivierbaren Landminen zu verzichten,
derartige Minen in den Beständen der Bundeswehr zu ver-
nichten und den nationalen Beitrag für Minenräumpro-
jekte und die Minenopferhilfe signifikant zu erhöhen.
Dass diese wichtigen drei Punkte im Koalitionsantrag
fehlen, ist und bleibt ein Armutszeugnis.
Trotz dieser gravierenden Mängel hat meine Fraktion
sich darauf verständigt, auch dem Koalitionsantrag zuzu-
stimmen. Ich persönlich werde mich hierbei allerdings
enthalten.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Reform der Medien- und Kommunikati-
onsordnung für die Wissens- und Informationsge-
sellschaft
– Bericht: Technikfolgeabschätzung; hier: Neue Me-
dien und Kultur, bisherige und zukünftige Auswir-
kungen der Entwicklung Neuer Medien auf den
Kulturbegriff, die Kulturpolitik, die Kulturwirt-
schaft und den Kulturbetrieb
(Tagesordnungspunkt 11 a und b)
Jörg Tauss (SPD): In den letzten Monaten haben uns
aktuelle Ereignisse wiederholt dazu gezwungen, immer
wieder neu über die gesellschaftliche Bedeutung, über die
Chancen, aber auch über die Risiken der dynamischen
Entwicklung im Bereich der Medien insgesamt nachzu-
denken. Sei es der gescheiterte Verkauf von Teilen des
deutschen Breitbandkabelnetzes an den amerikanischen
Investor Liberty Media, sei es die noch nicht bewältigte
Pleite des Stoiberschen Amigos Leo Kirch, oder sei es zu-
letzt die Debatte um Gewalt in den Medien nach der
Tragödie Erfurt. Bei all diesen Anlässen wurde uns allen
eines vor Augen geführt: Die europäische – und mit ihr
auch die deutsche – Medien- und Kommunikationsland-
schaft befindet sich in einem ebenso tiefgreifenden wie
dynamischen Prozess des Wandels. Nicht nur die aufge-
regten und hektischen Debatten der letzten Monate zeigen
aber auch, dass elektronische Medien alles andere als nur
ein Wirtschaftsgut unter vielen sind. Sie bilden vielmehr
einen Ausdruck gesellschaftlicher Grundüberzeugungen
und sind ein Teil der Antwort auf die Frage, in was für ei-
ner Gesellschaft wir leben wollen; denn freie Medien und
Meinungsvielfalt sowie die freie, selbstbestimmte Kom-
munikation von Bürgerinnen und Bürgern sind kein Lu-
xus, den wir uns leisten, und der uns jetzt zu teuer wird.
Nein: Beides ist vielmehr die Voraussetzung für ein freies,
offenes, pluralistisches und auch demokratisches Ge-
meinwesen. Wir tun daher gut daran, auf den Wandel ge-
rade im Bereich der elektronischen Medien und Informa-
tions- und Kommunikationsmöglichkeiten, wie wir sie
mit dem Begriff der Informationsgesellschaft bezeichnen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224358
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nicht nur einen flüchtigen Blick zu werfen, sondern zwei-
mal hinzuschauen und kritisch nachzufragen. Gerade in
Zeiten eines solchen Wandels ist eine sachorientierte und
zukunftsweisende Medien- und Kommunikationspolitik
notwendiger denn je, und gerade dieser Bereich fiel bis
1998 eher dürftig aus. Es war diese Bundesregierung, die
mit ihrer Politik und mit der Initiative zu den Bund-Län-
der-Gesprächen erst wieder Bewegung in die deutsche
Medienlandschaft gebracht hat, während Stoibers Begriff
von Medienpolitik sich bereits darin erschöpfte, Leo
Kirch immer neue und mehr Milliarden zuzuschustern.
Das Ergebnis kennen wir.
Auch wir stehen sicherlich erst am Anfang der not-
wendigen Reform der Medien- und Kommunikationsord-
nung. Über die Ursachen des Medienwandels können wir
sicherlich schnell Einigkeit erzielen; sie lassen sich in drei
Schlagworten zusammenfassen: Technologische Konver-
genz, neue Informations- und Kommunikationsmöglich-
keiten und Internationalisierung. Auf alle drei Aspekte
möchte ich kurz eingehen:
Die technologische Entwicklung im Bereich elektroni-
scher Medien und Informations- und Kommunikations-
möglichkeiten lässt sich am treffendsten mit den Begriffen
Digitalisierung als neuer „Ursprache“ oder „lingua
franca“ und – auf deren Basis – die globale Vernetzung
bisher getrennter Infrastrukturen umschreiben. Diese Re-
volution in der Informationsübertragungstechnik macht
es möglich, Inhalte unterschiedlichster Art, also Texte,
Bilder, Töne und Filme, über dieselben Infrastrukturen zu
übermitteln bzw. zu verbreiten; einzig die Bandbreite der
Übertragungswege setzt hier technisch noch Grenzen. Die
bisherige technisch begründete Unterscheidung von Tele-
kommunikation und Rundfunk verliert zusehens an
Trennschärfe. Gerade breitbandige IuK-Infrastrukturen
– beispielsweise DSL, modernisierte Breitbandkabel-
netze oder UMTS im Mobilfunkbereich – werden diese
technische Konvergenz weiter beschleunigen und stellen
neue Anforderungen an die nationalen Medienordnungen.
Mit der zunehmenden Verbreitung neuer, auch inter-
aktiver und multimedialer Informations- und Kommuni-
kationsdienste und insbesondere ihre Kombination mit
bestehenden Medienformen und Telekommunikations-
dienstleistungen ist ein weiterer Medientrend beschrie-
ben, der neue Anforderungen an die Medienordnung
stellt. Innovative Push- und Abrufdienste gehören ebenso
zunehmend zum medialen Alltag in der Informations- und
Wissensgesellschaft wie Video-Chats oder Voice-over-IP
im Sprachkommunikationsbereich. Auch virtuelle Semi-
nare an Hochschulen oder zeit- und ortsunabhängige Nut-
zung von Audio- und Videoangeboten werden parallel zu
dem breitbandigen Ausbau der Infrastrukturen an Bedeu-
tung zunehmen. Die bisherige Antwort in Deutschland,
die Einfügung einer weiteren Unterscheidung zwischen
Telekommunikation und Rundfunk, nämlich die zwischen
sozusagen telekommunikationsähnlichen Telediensten
und rundfunkähnlichen Mediendiensten, war aufgrund
der fast vollständigen Wortgleichheit des Teledienste-
gesetzes und des Mediendienstestaatsvertrags bereits ein
historischer Durchbruch. Dieser historische Kompromiss,
wie er damals euphorisch bezeichnet wurde, hat aber auch
den Ordnungsrahmen in Deutschland weiter verkompli-
ziert. Heute setzt sich zunehmend die Überzeugung
durch, dass auch diese Unterscheidung nicht mehr ausrei-
chend belastbar ist. Die EU unterscheidet beispielsweise
lediglich noch Kommunikationsdienste der Informations-
gesellschaft und Rundfunk.
Und schließlich belegen bereits die zunehmende Be-
deutung globaler IuK-Netzwerke in der Informationsge-
sellschaft und die wachsende Bedeutung internationaler
Medienmärkte wie weltweit agierender Unternehmen den
Trend zur Internationalisierung der Medien- und Kom-
munikationslandschaft nachdrücklich. Die technische
Entwicklung und die ökonomische Liberalisierung der
letzten Jahrzehnte auch in Europa haben auch bei elektro-
nischen Medien einen Prozess der Internationalisierung
und Globalisierung ausgelöst. Am deutlichsten wird das
am Beispiel des weltumspannenden Internets, in dem In-
formation schon heute quasi über alle Grenzen hinweg
verbreitet werden kann. In Anbetracht der Entwicklung
der Nutzungszahlen und der Übertragungskapazitäten
wird dieser Prozess auch zu einer Globalisierung von An-
geboten führen, die heute noch anderen Medien und
Dienstleistungen zugerechnet werden. Inhalte gleich wel-
cher Art können überall produziert werden und sie sind je-
derzeit und überall zugänglich. Das führt zu einem Zu-
sammenwachsen ehemals getrennter nationaler Medien-
und Kommunikationsmärkte, und zwar mit erheblichen
Folgen: Unternehmen sehen sich nicht nur der heimischen
Konkurrenz, sondern einem globalen Wettbewerb ausge-
setzt. Durch nationale oder supranationale Regulierung
geschaffene unterschiedliche Bedingungen, unter denen
die Unternehmen agieren, werden ebenso zu einem wich-
tigen Faktor in diesem Wettbewerb. Dies verstärkt nicht
nur die quotendiktierte Kommerzialisierung der nationalen
Medienangebote sowie die internationalen Konzentrations-
prozesse und die Bildung von transnationalen Medienkon-
zernen. Vielmehr werden zugleich die Möglichkeiten der
Unternehmen vergrößert, sich diesen Bedingungen durch
eine räumliche Verlagerung ihres Standortes zu entziehen.
Durch diese so genannten Exit-Optionen wird der auf den
Unternehmen lastende Konkurrenzdruck mittelbar auch
auf die politische Ebene getragen: Der globale Unterneh-
menswettbewerb wird zu einem Wettbewerb der Stand-
orte und Systeme. Die Internationalisierung und Globali-
sierung reduziert die Möglichkeiten herkömmlicher
staatlicher Regulierungsansätze, nationale politische Ge-
staltungsoptionen auch durchzusetzen.
Allen drei beschriebenen Herausforderungen steht in
Deutschland eine zersplitterte Medien- und Kommunika-
tionsordnung gegenüber, die zunehmend sogar zum Hin-
dernis für die weitere Entwicklung der Informations- und
Wissensgesellschaft wie auch der Medienwirtschaft und
auch beispielsweise des elektronischen Geschäftsver-
kehrs wird.
Dieser Ordnungsrahmen ist nur noch ansatzweise dazu
geeignet ist, hierauf angemessen zu reagieren. In unserem
Antrag haben wir dies ausführlich dargelegt. Der Ord-
nungsrahmen für elektronische Information, Kommunika-
tion und Medien ist in Deutschland unterschiedlich, je
nachdem, ob Informations- und Kommunikationsdienste
oder Rundfunk betroffen sind. Während für Informations-
und Kommunikationsdienste das Teledienstegesetz oder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24359
(C)
(D)
(A)
(B)
Mediendienstestaatsvertrag der Länder einschlägig ist,
gelten für den Rundfunk der Rundfunkstaatsvertrag und
die entsprechenden Gesetze der Bundesländer. Die für die
unterschiedlichen Bereiche geltenden Vorschriften sind
zumindest teilweise materiell höchst unterschiedlich. In-
tensiv ist die Veranstaltung von Rundfunk reguliert, für
Tele- und Mediendienste sind weitaus weniger Regelun-
gen relevant. Von den Definitionen für Tele- bzw. Medien-
dienste abgesehen sind die zentralen Vorschriften in Tele-
dienstegesetz und Mediendienstestaatsvertrag weit gehend
wort- oder inhaltsgleich gestaltet. Das Teledienstegesetz
wurde bereits zum 1. Januar 2002 durch das Elektronische
Geschäftsverkehr-Gesetz im Rahmen der Umsetzung der
EU-Richtlinie geändert; eine Anpassung der entsprechen-
den Passagen im Mediendienstestaatsvertrag steht noch
aus. Dabei hat sich die Rechtslage gerade hinsichtlich der
wegweisenden abgestuften Provider-Verantwortlichkeit
nicht geändert. Weiterhin wird in §§ 8 bis 11 des Telediens-
tegesetzes sowie analog in § 5 des Mediendienstestaatsver-
trages zwischen Diensteanbietern, die fremde Inhalte
– so genannte Host-Provider –, und Diensteanbietern, die
eigene Inhalte in das Netz stellen – so genannte Content-
Provider –, sowie Diensteanbietern, die lediglich den Zu-
gang zur Nutzung von fremden Inhalten vermitteln – so
genannte Access-Provider –, haftungsrechtlich unterschie-
den. Der Unterschiedlichkeit der Regulierung der ver-
schiedenen Dienste entspricht in der gegenwärtigen Me-
dienordnung die Heterogenität der Aufsichtsinstanzen.
Diese rechtliche Unübersichtlichkeit und Heterogenität
der Aufsichtsstrukturen hat erhebliche Zuordnungspro-
bleme und somit erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge.
Für Anbieter von Tele- und Mediendiensten sei kaum ab-
sehbar, unter welchem Regelungswerk ihre Dienstleis-
tung eingeordnet werden kann. Innovative Dienste im
Bereich des Teleshopping, die sowohl die Rundfunküber-
tragungswege als auch das Internet nutzen, könnten kaum
einheitlich eingeordnet werden. Gleiches gelte für so ge-
nannte Push-Dienste, bei denen Inhalte nicht einzeln ab-
gerufen werden müssen, sondern dem Nutzer nach einer
einmaligen Vorauswahl auf dessen Computer übermittelt
werden.
Die Bundesregierung hat die Defizite der bestehenden
Medienordnung frühzeitig erkannt und Gespräche mit
den Ländern aufgenommen, die zu einer Vereinheitli-
chung der Aufsichtsstrukturen im Bereich der Informati-
ons- und Medienlandschaft führen sollen. Hinsichtlich
der Neuordnung des Jugendmedienschutzes konnte zwi-
schen Bund und Ländern bereits eine Einigung erzielt
werden. Wir werden morgen in zweiter und dritter Lesung
das Jugendschutzgesetz verabschieden, in dem das Gesetz
über jugendgefährdende Schriften und das Gesetz zum
Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit zusammengefasst
werden. Wichtig wird es nun bei der Beratung des Ju-
gendmedienschutzstaatsvertrages der Bundesländer sein,
auf der Grundlage der bestehenden modernen Haftungs-
regelungen und eines komplementären Regelungsansat-
zes von tatsächlicher Selbstkontrolle und öffentlicher
Aufsicht zu einem wirklich wirksamen und angemesse-
nen Jugendschutz in allen Medien zu kommen.
Vor allem aber muss dringend geklärt werden, wie die
Zusammenarbeit der Landesmedienanstalten untereinander
und mit den für den Bereich der Information und Kommu-
nikation zuständigen Bundesbehörden verbessert werden
kann. Zu diesem Zweck schlagen die Koalitionsfraktionen
eine gemeinsame Einrichtung von Bund und Ländern vor,
etwa die Schaffung eines Medien- und Kommunikationsra-
tes. Um es ganz klar zu sagen: Dieser Kommunikationsrat
soll die bestehenden Institutionen integrieren, nicht aber er-
gänzen. Zu berücksichtigen sind bei der Neuordnung des
Medienrechts auch europapolitische Vorgaben: Die Europä-
ische Kommission hat im Juli 2000 ein Paket von Gesetz-
gebungsvorschlägen verabschiedet, das den Wettbewerb auf
den Märkten für elektronische Kommunikation in der EU
zum Vorteil der Verbraucher und der europäischen Wirt-
schaft verschärfen sollen. Das Vorschriftenpaket besteht aus
einer Verordnung, einer Entscheidung sowie fünf Richtli-
nien. Es soll den bestehenden Rechtsrahmen für die Kom-
munikationsinfrastruktur mit Rücksicht auf die technische
Konvergenz neu gestalten.
Einen wichtigen Stellenwert wird bei der Modernisie-
rung des Medienordnungsrechtes die Selbstkontrolle
übernehmen müssen. Da die staatlichen Möglichkeiten
zur Durchsetzung rechtlicher Normen zunehmend auf
Grenzen stoßen, sind verstärkt Instrumente einzusetzen,
die maßgeblich auf Freiwilligkeit der in der Medienwirt-
schaft tätigen Unternehmen beruhen. Der Staat solle we-
niger über Gesetze und Kontrolle regulieren, als vielmehr
einen Rahmen setzen und Prozesse moderieren, in denen
die Industrie sich selbst einen verbindlichen Verhaltens-
kodex gibt. Staatliche Regulierung müsse gegenüber
Selbstregulierung subsidiär sein. Ziel müsse eine Regulie-
rung im Dialog sein. Hinzu kommt, dass einzelstaatliche
Regeln wegen der territorialen Begrenztheit der staat-
lichen Souveränität in grenzüberschreitenden, dezentralen
Netzen wie dem Internet häufig nicht durchzusetzen sind.
Zugleich ist natürlich zu berücksichtigen, dass Selbst-
regulierung nicht immer und in allen Fällen eine geeig-
nete Lösung sein kann.
Ein Grundpfeiler unserer Medien- und Kommunikati-
onsordnung wird auch in Zukunft die Grundversorgung
durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sein – auch
wenn es seitens der Opposition immer wieder Bemühun-
gen gibt, diesen infrage zu stellen. Der in der Rechtspre-
chung geprägte Begriff der Grundversorgung bezeichnet
dabei weder eine Mindestversorgung, auf die der öffent-
lich-rechtliche Rundfunk beschränkt ist oder ohne Folgen
für die Anforderungen an den privaten Rundfunk be-
schränkt werden könnte, noch nimmt er Grenzziehung
oder Aufgabenteilung zwischen öffentlich-rechtlichen
und privaten Veranstaltern etwa in dem Sinne vor, dass die
öffentlich-rechtlichen Veranstalter für den informieren-
den und bildenden und die privaten Anbieter für den un-
terhaltenden Teil des Programmangebots zuständig wä-
ren. Es muss vielmehr sichergestellt sein, dass die
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für die Gesamt-
heit der Bevölkerung Programme anbieten, die umfassend
und in der vollen Breite des klassischen Rundfunkauf-
trags informieren, und dass im Rahmen dieses Programm-
angebots Meinungsvielfalt in der verfassungsrechtlich ge-
botenen Weise hergestellt wird.
Und dennoch darf die Diskussion um den Grundversor-
gungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hier
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224360
(C)
(D)
(A)
(B)
nicht stehen bleiben. Wir sind vielmehr der Auffassung,
dass mit der Entwicklung der Wissens- und Informations-
gesellschaft überlegt werden muss, wie auch und gerade
ein qualitativ hochwertiges öffentlich-rechtliches Infor-
mationsangebot in den Neuen Medien sichergestellt wer-
den kann, um die Freiheit und Vielfalt der Meinungen zu
gewährleisten. Dabei kann der Aufbau von Portalen, bei-
spielsweise eines Informations- und Kinderportals, einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, die „digitale Spaltung“ der
Gesellschaft zu verhindern und die Teilhabe aller am ge-
sellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die wichtige de-
mokratische Funktion des öffentlich-rechtlichen Angebo-
tes ist daher nicht nur künftig sicherzustellen, vielmehr
erscheint eine vorsichtige Anpassung der Grundversor-
gung an die neuen Rahmenbedingungen unabdingbar. Aus
diesem Grund kommt neben der Bestandsgarantie für öf-
fentlich-rechtliche Angebote in den klassischen Medien
auch der Entwicklungsmöglichkeit im Onlinebereich
große Bedeutung zu, die als Teil der Grundversorgung im
Sinne eines Universal- bzw. Public-Service eine wichtige
gesellschaftspolitische Funktion erfüllt.
Die Debatte um die Übertragungsrechte der Fußball-
weltmeisterschaft 2002 und die Einigung zwischen den öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Münchner
Kirch Media in wirklich allerletzter Minute hat uns
nochmals vor Augen geführt, wie dringend der Hand-
lungsbedarf ist. Aus diesem Grund müssen aus diesem
„Rechte-Hick-Hack“ möglichst schnell Konsequenzen
gezogen werden. Es muss künftig ausgeschlossen wer-
den, dass die Informationsfreiheit und die Rechte von Ge-
bührenzahlern im Zweifel durch Geschäftemacher oder
Insolvenzverfahren erneut gefährdet werden können. Aus
diesem Grund muss es jetzt darum gehen, die Rechte bei
der Fußballweltmeisterschaft 2006 abzusichern. Im Zwei-
fel muss die Mediengesetzgebung in Deutschland dem
britischen Vorbild folgen und über die Vorgaben der EU-
Fernsehrichtlinie hinausgehen. Diskutiert werden sollte
die Frage, ob die Liste der im Fernsehen und Rundfunk
frei empfangbaren Sportveranstaltungen deutlich erweitert
werden muss. Ein solche Liste hätte nicht nur sämtliche
bedeutende Sportereignisse zu umfassen, sondern darüber
hinaus auch deren Ausstrahlung im frei empfangbaren
Fernsehen sicherzustellen. Hierzu sollten möglichst
schnell Gespräche zwischen Bund und Ländern aufge-
nommen und entsprechende Initiativen ergriffen werden.
Zusammenfassend kann dabei festgestellt werden, dass
der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen dabei
natürlich kein dogmatisches Konzept einer modernen
Medien- und Kommunikationsordnung entwirft. Er stellt
vielmehr einen Beitrag für die Reformdiskussion dar und
zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er unterhalb der
Schwelle der vielgeforderten Verfassungsänderung – auch
mangels Aussichten auf eine Mehrheit für dieselbe – nach
für Bund und Länder gangbaren Wegen zu einer gemein-
samen Reform der Medien- und Kommunikationsord-
nung sucht.
Die Koalitionsfraktionen fordern die Bundesregierung
mit ihrem Antrag auf, regelmäßig im Abstand von vier Jah-
ren einen Medien- und Kommunikationsbericht vorzulegen,
der über die Fortschritte bei der Verwirklichung einer trag-
und zukunftsfähigen Medien- und Kommunikationsord-
nung informiert. Ein Medien- und Kommunikationsrat wäre
hier sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch
stehen wir erst am Anfang einer langen Mediendebatte und
auch in den kommenden Monaten werden immer wieder ak-
tuelle Anlässe dazu führen, dass über Defizite und Perspek-
tiven unserer Medien- und Kommunikationsordnung disku-
tiert und über die besten Konzepte gestritten wird. Die
Novelle des Telekommunikationsgesetzes steht ebenso vor
der Tür, wie die Umsetzung des Richtlinienpakets der EU zu
Kommunikationsdiensten in der Informationsgesellschaft
oder die Erarbeitung einer erweiterten Fernseh- oder Con-
tentrichtlinie.
Ich bin davon überzeugt, dass technische Konvergenz,
neue Informations- und Kommunikationsdienste und die
Internationalisierung unsere Medienordnung nachhaltiger
verändern werden, als die Einführung des privaten Rund-
funks vor beinah zwei Jahrzehnten. Dabei sollte aller-
dings klar sein, dass die besondere gesellschaftliche Be-
deutung aller Medien hierbei keinesfalls abnehmen,
sondern sogar noch zunehmen wird.
Monika Griefahn (SPD): Vor kurzem hatte ich – wie
der eine oder andere Kollege vielleicht auch – die Gele-
genheit, mir eine Präsentation anzusehen, die eindrucks-
voll darstellte, wie man sich, geht es nach der Deutschen
Telekom bzw. der Kabel Deutschland GmbH, die Kabel-
zukunft in Deutschland vorzustellen hat: Fernsehen, Vi-
deo, Internet, Telefon, E-Mail, Fax, SMS und alle denk-
baren Online-Dienste laufen über ein- und dasselbe
Endgerät. Technische Voraussetzungen sind das Breit-
bandkabel und ein Decoder.
Ich will weder für „Fast Internet Access“, wie die Te-
lekom das Angebot nennt, Werbung machen, noch darü-
ber sinnieren, ob potenzielle Kunden darin einen zusätz-
lichen Nutzen erkennen und entsprechend bereit sind, die
geforderten Preise zu bezahlen. Wichtig ist: Wer noch ei-
nes weiteren Beweises für die Richtigkeit der These be-
darf, dass die einzelnen Medien im Zeitalter der Digitali-
sierung weder technisch noch inhaltlich voneinander zu
trennen sind, der sollte sich ebenfalls diese Präsentation
ansehen.
Die Technik tut das Eine, die Globalisierung das An-
dere: Die Medienordnung in Deutschland leidet an Al-
tersschwäche. Sie muss grundlegend reformiert und den
neuen Gegebenheiten angepasst werden.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind
die medienpolitischen Zuständigkeiten zwischen Bund
und Ländern eindeutig aufgeteilt: Alles, was als Rundfunk
und Fernsehen gilt, regeln die Länder; die Telekommuni-
kation fällt in den Bereich des Bundes. Inzwischen aber
hat das Internet die technische und inhaltliche Unter-
scheidbarkeit von Rundfunk und Telekommunikation
aufgehoben.
Es hat lange gedauert, bis sich diese Erkenntnis ganz
allmählich in praktische Politik umzusetzen begann.
Noch die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern um
das Informations- und Kommunikationsdienstegesetz,
besser bekannt als „Multimedia-Gesetz“, während der
letzten Legislaturperiode waren beherrscht von dem Ver-
such, zwanghaft zwischen Medien- und Telediensten zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24361
(C)
(D)
(A)
(B)
unterscheiden. Im Grunde waren diese Verhandlungen
nicht viel mehr als ein sachlich nicht mehr zu begründen-
des Schachern um Zuständigkeiten. Denn technisch zu
unterscheiden gab es schon damals nicht mehr viel.
Geradezu symptomatisch für die mangelnde Bereit-
schaft, den unaufhaltsamen Prozess der technischen und
inhaltlichen Konvergenz der Medien angemessen zur
Kenntnis zu nehmen, war die Bemerkung aus einer Staats-
kanzlei, den Konvergenzprozess gebe es nicht, weil er im
Grundgesetz nicht vorgesehen sei. Ich verkneife mir zu
erwähnen, welche Staatskanzlei das gewesen ist.
Wie auch immer: Bockige Erkenntnisverweigerung
war seinerzeit politisches Allgemeingut; vielleicht von
der SPD-Bundestagsfraktion einmal abgesehen, die sich
damals bei der Abstimmung im Deutschen Bundestag
über das Verhandlungsergebnis zwischen Bund und Län-
der der Stimme enthielt.
Der technischen und inhaltlichen Konvergenz der Me-
dien muss nunmehr die politisch-administrative folgen.
Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes kann man
keinen Vorwurf machen. Die von ihnen geschaffene
Grundlegung einer Medienordnung hat sich über die
Jahrzehnte bewährt. Und von Computern, geschweige
denn vom Internet, konnten sie schließlich nichts wissen.
Die problemadäquate Lösung wäre eine Änderung des
Grundgesetzes. Sie scheidet aber aus, weil wir die erfor-
derliche Zeit für die Bewerkstelligung der erforderlichen
Zweidrittelmehrheit im Bundestag nicht haben.
Die Bundesregierung hat die Defizite der bestehenden
Medienordnung frühzeitig erkannt. Sie hat in ihrem Ak-
tionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der In-
formationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ zutreffend
darauf hingewiesen, „dass das ausdifferenzierte System
der Aufsichtsstrukturen unübersichtlich und unpraktika-
bel erscheint, da die Medien in technischer und ökonomi-
scher Hinsicht konvergieren und sich im internationalen
Wettbewerb behaupten müssen.“ Es gelte jedenfalls in
den Bereichen der Infrastrukturen, horizontale, sektor-
übergreifende Lösungsansätze zu finden. Die Bundesre-
gierung hat angekündigt, gemeinsam mit den Ländern
Vorschläge für eine zukunftsfähige Fortentwicklung des
nationalen Ordnungsrahmens unter Einbeziehung der
wirtschaftlichen, technologischen und internationalen
Entwicklungen zu machen
Die Koalitionsfraktionen begrüßen diese Initiative. Die
rechtliche Differenzierung zwischen Rundfunk, Medien-
und Telediensten macht umso weniger Sinn, je mehr die
verschiedenen Formen und Inhalte wie im Internet in dem
Angebot eines Diensteanbieters zusammenfließen kön-
nen. Von einer so weit gehenden Konvergenz aller elek-
tronischen Medienangebote kann allerdings bislang noch
nicht die Rede sein.
Daher wird eine unterschiedliche Regulierung von
Rundfunk und Informations- und Kommunikationsdiens-
ten insbesondere wegen der Breitenwirkung und der be-
sonderen Suggestivkraft des Fernsehens und seiner damit
verbundenen großen Bedeutung für die öffentliche Mei-
nungsbildung auf absehbare Zeit noch erforderlich sein.
Die Regulierung von Telediensten und Mediendiensten
kann aber schon heute noch mehr aufeinander abgestimmt
werden, um Abgrenzungsschwierigkeiten und damit ver-
bundene Rechtsunsicherheiten soweit wie möglich zu
vermeiden.
Die Koalitionsfraktionen unterstützen das Bemühen
der Bundesregierung, die Aufsichtsstrukturen im Bereich
der Informations- und Medienlandschaft in einem umfas-
senden Dialog mit den Ländern, den Verbänden und den
Unternehmen zu erneuern und zu vereinheitlichen. Dabei
sollten bei der Konzentrationskontrolle gegenseitige Aus-
kunfts- und Informationspflichten zwischen Bundeskar-
tellamt und KEK vereinbart und gesetzlich fixiert werden.
Auch erscheint es insbesondere im Hinblick auf die
zunehmende Digitalisierung erforderlich, neben der Prü-
fung vorherrschender Meinungsmacht durch Ermittlung
des Zuschaueranteils tatbestandliche Voraussetzungen
festzulegen, die in stärkerem Umfang die Erfassung der so
genannten vertikalen Konzentration ermöglichen. Die
Koalitionsfraktionen begrüßen die Einigung zwischen
Bund und Ländern hinsichtlich einer Zusammenfassung
der für den Jugendschutz zuständigen Stellen und eine
Vereinheitlichung der materiellen Maßstäbe im Bereich
des Jugendschutzes.
Vor allem aber muss geklärt werden, wie die Zusam-
menarbeit der Landesmedienanstalten untereinander und
mit den für den Bereich der Information und Kommuni-
kation zuständigen Bundesbehörden verbessert werden
kann. Zu diesem Zweck sollten die Bemühungen um eine
gemeinsame Einrichtung von Bund und Ländern, etwa die
Schaffung eines Medien- und Kommunikationsrates, der
die bestehenden Institutionen integrieren, nicht aber er-
gänzen sollte, intensiviert werden.
Erste Konzeptionen eines derartigen Medien- und
Kommunikationsrates gehen von folgenden Funktionen
aus: Koordinierung politischer Planungs- und Gesetzge-
bungsprozesse; Koordinierung, Abstimmung und Harmo-
nisierung von administrativen Verfahrenabläufen und
Entscheidungen sowie Schaffung einer Plattform für ei-
nen bereichsübergreifenden gesellschaftlichen Diskurs
und die wissenschaftliche Politikberatung. Der eigentli-
che Medien- und Kommunikationsrat sollte daher drei
Ebenen umfassen: die politische Ebene, den Kommuni-
kationsrat, die administrative Ebene, den Regulierungsrat
und die Ebene der gesellschaftlichen und wissenschaftli-
chen Beratung, den Beirat.
Unabhängig davon sollte geprüft werden, ob und inwie-
weit die inzwischen bestehende Judikatur zu Mediendiens-
testaatsvertrag und Informations- und Kommunikations-
dienstegesetz zu Änderungen des geltenden Rechts Anlass
gibt. So hat der Bundesgerichtshof Ende 2000 eine im Er-
gebnis zu begrüßende Entscheidung gefällt, in der die An-
wendbarkeit des im deutschen Strafgesetzbuch beschriebe-
nen Tatbestands der Volksverhetzung auch auf im Ausland
von Ausländern ins Internet gestellte Inhalte bejaht wird.
Die damit verbundene extensive Auslegung des § 9 Straf-
gesetzbuch steht im Gegensatz zu einer in der 13. Legis-
laturperiode von der Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestages „Zukunft der Medien in Wirtschaft und
Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsge-
sellschaft“ vertretenen Auffassung. Die Enquete-Kom-
mission hatte mit Zustimmung aller Fraktionen für eine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224362
(C)
(D)
(A)
(B)
restriktive Anwendung von § 9 StGB plädiert und dazu
aufgefordert, die Praxis von Staatsanwaltschaften und
Gerichten „aufmerksam zu verfolgen“, „um gegebenen-
falls mit dem Ziel korrigierend eingreifen zu können,
Konflikte mit den Rechtsordnungen ausländischer Staa-
ten zu vermeiden“:
Ich weiß von einigen Kollegen, die nicht meiner oder
der bündnisgrünen Bundestagsfraktion angehören, dass
sie unsere Einschätzung im Wesentlichen teilen. Auch
wenn es Ihnen derzeit nicht möglich ist, unserem Antrag
zuzustimmen: Leisten Sie Überzeugungsarbeit, wie wir es
in den zurückliegenden Jahren in unseren Reihen getan
haben. An der Reform der Medienordnung führt schluss-
endlich kein Weg vorbei.
Am Ende meiner Rede gestatte ich mir ein paar per-
sönliche Anmerkungen. Die Einrichtung des Unteraus-
schusses Neue Medien mit einer geradezu klassischen
Querschnittsaufgabe hat sich in jeder Hinsicht bewährt.
Ich hoffe, er kann seine Arbeit in der nächsten Legislatur-
periode – ich füge hinzu: mit den gleichen Mehrheitsver-
hältnissen fortsetzen. Bedanken möchte ich mich für die
meistens sehr sachliche und lösungsorientierte Zusam-
menarbeit im Ausschuss.
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Die deutsche
Wirtschaft befindet sich in einem Wandlungsprozess von
der industriell geprägten Volkswirtschaft zu einer Ökono-
mie, die insbesondere auf Dienstleistungen, Wissen und
Information basiert. Der Entwicklung der digitalen Wirt-
schaft, den Unternehmen der Bereiche Informationstech-
nologie, Multimedia, Internet und Telekommunikation,
kommt in diesem Wandlungsprozess eine Schlüsselrolle
zu. Schon heute trägt die digitale Wirtschaft erheblich zur
wirtschaftlichen Wertschöpfung unseres Landes und da-
mit zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand bei. Dabei
stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung. Die Breit-
bandtechnologie wird die Konvergenz der Medien weiter
beschleunigen. Deutschland hat im gesamten Bereich
Multimedia ein enormes Potenzial und die Chance, ganz
vorne mit dabei zu sein.
Viele Möglichkeiten neuer Techniken, neuer Dienste
und neuer Medien sind jedoch unzureichend ausge-
schöpft. Dies betrifft zum einen die Schaffung der für die
Zukunftsfähigkeit unseres Landes erforderlichen Infra-
strukturen. Mit der weiteren Verbreitung sowohl draht-
loser – GPRS, UMTS, WLAN, satellitengestützte Daten-
übertragung – als auch drahtgebundener breitbandiger
Übertragungswege – DSL, digitalisiertes TV-Kabel – bie-
ten sich große Chancen für neue, zukunftsfähige Arbeits-
plätze. Die Entwicklung der Technik ermöglicht das Zu-
sammenwachsen medialer Nutzungsfelder, die wir bis vor
kurzem noch als völlig getrennte Sektoren angesehen ha-
ben: Telefonie, Fernsehen, Internet und andere Formen
der Datenübertragung wachsen im Zeichen der Digitali-
sierung zusammen, im stationären wie im mobilen Be-
reich. Die Konvergenz erfordert zunehmend einen
kohärenten Ordnungsrahmen für Rundfunk, Multimedia
und Telekommunikation.
Vor dem Hintergrund einer rasanten technologischen
Entwicklung auf den globalen Märkten und der grenz-
überschreitenden Natur digitaler Informationsverarbei-
tung steht die deutsche Internetwirtschaft vor tief greifen-
den Herausforderungen. Vor allem die Medienordnung,
das Steuerrecht, das Urheberrecht, aber auch die Arbeits-
und Sozialpolitik sowie die Bildungs- und Forschungspo-
litik müssen den Bedingungen des „entgrenzten“ Wirt-
schaftens Rechnung tragen und einen ordnungspoliti-
schen Rahmen setzen, der die wirtschaftliche Dynamik
und die Entwicklung in der Internetwirtschaft befördert.
Besondere Aufmerksamkeit ist dabei unter anderem fol-
genden Punkten zu schenken:
Wo sich Wettbewerb nicht von alleine einstellen kann,
müssen im Wege der Regulierung knapper Ressourcen
Märkte geschaffen und offen gehalten werden. Hier hat
die CDU/CSU-geführte Bundesregierung mit der Libera-
lisierung des Telekommunikationsmarktes die wesent-
lichen Weichen gestellt. Wettbewerb im Bereich der Tele-
kommunikation erstreckt sich nicht nur auf die Auswahl
zwischen verschiedenen Anbietern von Leistungen im
klassischen Telefonnetz. Der Konkurrenz verschiedener
multimedialer Übertragungswege kommt eine wesent-
liche Bedeutung für die Entwicklung des Telekommuni-
kationsmarktes zu.
Die Chance, die in der Eröffnung einer Vielzahl multi-
medialer Übertragungswege liegt, darf nicht durch Fehl-
entwicklungen innerhalb der Netze beeinträchtigt wer-
den. Konkret bedeutet das: Multimedianetze müssen
grundsätzlich für alle Multimediaanbieter zur Vermark-
tung ihrer Dienste zur Verfügung stehen. Der freie Netz-
zugang muss seine Fortsetzung finden in von der Anbie-
tergemeinschaft gemeinsam zu entwickelnden offenen
Netzstandards, wie sie etwa die Multimedia Home Platt-
form, MHP, für das digitale Kabel darstellt. Im Interesse
einer möglichst breiten Verwertbarkeit multimedialer In-
halte sollten derartige Standards perspektivisch sogar die
Verbreitung in verschiedenen Übertragungswegen er-
möglichen, um den Wettbewerb zwischen den Übertra-
gungswegen zu fördern.
Die zunehmende Konvergenz der Medien drückt sich
nicht nur in einer gesteigerten Multifunktionalität der
Endgeräte aus. Vielmehr ist auch die Wahl des Übertra-
gungswegs für Inhalte kein definiertes Abgrenzungskrite-
rium für Medien mehr: Es kann zum Beispiel keinen Un-
terschied mehr machen, ob ein Sender sein Programm
über Fernsehkabel oder das Internet verbreitet. Filme,
Videos, DVDs, Computerspiele und interaktive Home-
pages werden bald zu einem einzigen Medium ver-
schmolzen sein; unterschiedliche rechtliche Behandlung-
en sind sinnlos und führen zu abstrusen Ergebnissen. Wir
müssen intensiv und schnellstens überdenken, wie die bis-
her aufgesplitteten Rahmenordnungen für die verschie-
denen Medien den Herausforderungen der Zukunft ange-
passt werden können. Dabei müssen vor dem Hintergrund
der Globalisierung des Marktes einerseits die erforderlichen
Restriktionen gewährleistet sein, andererseits aber sollten
im Bewusstsein dieser Globalisierung die erforderlichen
Freiräume gelassen werden. Nur so wird der Standort
Deutschland für die Inhalte-Anbieter attraktiv bleiben.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man der Glo-
balisierung des Informationsaustauschs nicht begegnen
sollte, hat der Düsseldorfer SPD-Regierungspräsident
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24363
(C)
(D)
(A)
(B)
Büssow geliefert. Im Regierungsbezirk Düsseldorf müs-
sen Provider bestimmte Websites sperren. Ob dies tech-
nisch machbar und sinnvoll ist, interessiert den Herrn
nicht. Hier prallen Inkompetenz und eine zweifelhafte
Gesetzesauslegung auf die Gegebenheiten des 21. Jahr-
hunderts: Regierungsbezirk Düsseldorf contra Globalisie-
rung.
Dieses schlechte Beispiel zeigt aber eines ganz deut-
lich: Wir müssen grundsätzlich die Rolle des Staates im
Internet-Zeitalter hinterfragen. Auch in einem demokrati-
schen System darf der Wert der persönlichen Freiheit
nicht zu wenig geschätzt werden. Der Staat muss die per-
sönliche Freiheit seiner Bürger schützen – auch vor Be-
gehrlichkeiten von Interessengruppen, die zum Beispiel
die technisch irrwitzige Vorratsspeicherung von Verbin-
dungs- und Nutzungsdaten durchsetzen wollen. Dies ist
nicht zu verwechseln mit einer Kapitulation des Staats vor
Straftätern oder inhaltlichen Exzessen. Es ist dabei ent-
scheidend zu ermitteln, welche Rahmenbedingungen er
setzen, also auch durchsetzen kann und welche er nach
seinem Grund- und Werteverständnis setzen muss. Der
technische Fortschritt wirkt hier revolutionär.
Eine besondere Bedeutung hat gerade in diesem Zu-
sammenhang die demokratiepolitische Dimension des In-
ternets, da auch ein immer größer werdender Teil des öf-
fentlichen Diskurses in diesem Medium stattfinden wird.
Wer keine Internet-Kompetenz hat, wird immer mehr von
der Teilhabe an der Demokratie ausgeschlossen werden.
Daher ist es eine der zentralen Aufgaben des Staates, eine
Spaltung der Gesellschaft in „onnies“ und „offies“, in Par-
tizipanten und Ausgeschlossene, zu verhindern. Gleiches
Recht für alle bedeutet auch gleiche Partizipationsmög-
lichkeiten für alle.
Vor einigen Tagen stellte die Initiative D 21 in der Stu-
die „(n)onliner“ Deutschland jedoch ein katastrophales
Zeugnis auf dem Weg in die Informationsgesellschaft aus:
Mehr als 50 Prozent der Deutschen nutzt das Internet
nicht und will dies auch nicht ändern. Die Zahl derjeni-
gen, die die Realisierung eines Internet-Zugangs planen,
ist 2002 gegenüber 2001 um ca. 20 Prozent zurückgegan-
gen. Das von der Initiative D 21 angestrebte Ziel, 70 Pro-
zent Internetnutzer zu erreichen, rückt damit in noch wei-
tere Ferne.
Dieses Ergebnis lässt sich nicht monokausal erklären.
Zu den wichtigsten Gründen, sich dem Internet zu ver-
weigern, gehören sicher die Furcht vor hohen Kosten und
ganz gewiss auch die fehlende Vorreiterrolle des Staates.
Die Rolle der Bundesregierung bei der Einführung von
E-Government in Deutschland ist wenig rühmlich. Sie be-
treibt mit „Bund-Online 2005“ eine unsystematische
Patchwork-Politik. Aktion statt Koordination ist Pro-
gramm. Das Ergebnis verwundert dann auch nicht: Nach
dem E-Europe-Benchmarking-Bericht der Europäischen
Kommission belegt die Bundesrepublik hinsichtlich der
kundenbezogenen Internet-gestützten Dienste den zehn-
ten Platz – unter 15 Staaten. Hier klaffen Anspruch und
Wirklichkeit in blamabler Weise auseinander. Darüber
hinaus sind durch „Bund-Online 2005“ nur 15 Prozent der
Leistungen, die der Bürger benötigt, abgedeckt. Für
87 Prozent der Bürger sind aber virtuelle Rathäuser
attraktiv bis sehr attraktiv. Gerade aber die Kommunen
werden durch die Bundesregierung finanziell ausgeblutet
und ihrer Investionskraft – auch in IuK-Technologien –
beraubt. Völlig unberücksichtigt bleibt dabei die Neuor-
ganisation der internen Behördenabläufe – ausgerechnet
derjenige Bereich, in dem durch Online-Bereitstellung die
meisten Kosten eingespart werden können.
Das ist eine traurige Bilanz. Faktisch verliert Deutsch-
land auf diesem Gebiet den Anschluss und fällt immer
weiter zurück. Auch deshalb wird es Zeit für einen Re-
gierungswechsel.
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU):
Zunächst zur Voruntersuchung des TAB: Der Bericht des
Büros für Technikfolgenabschätzung ist eine wertvolle
Grundlage für die weiteren Beratungen zur Internetpolitik
und den damit zusammenhängenden Fragen der Bildung
und der kulturellen Auswirkung. Vor weiteren Schritten
ist jedoch eine gründliche Analyse nötig. Die Hauptstu-
die, die dem vorliegenden Bericht folgen und auf den ge-
wonnenen Erkenntnissen aufbauen soll, muss stärker auf
die Handlungsfehler und Spielräume des Bundes einge-
hen. Ich bin daher der Meinung, dass der Auftrag für die
Hauptstudien erst in der nächsten Wahlperiode erteilt wer-
den sollte.
Der PDS-Antrag wendet sich gegen die Förderung der
Entwicklung von Filterprogrammen für das Internet und
gegen die Anwendung von Filtern bei öffentlich zugängli-
chen Internetzugängen wie Bibliotheken, Rathäusern und
Schulen. Er unterläuft damit in eklatanter Weise
Bemühungen zum Jugendschutz und ist bereits allein aus
diesem Grund abzulehnen. Die in dem Antrag geäußerte
Befürchtung, dass mit Filterprogrammen eine staatliche
Zensur ausgeübt wird, ist in Demokratien ohnehin unbe-
rechtigt. Zudem ist es selbst Staaten, die im Pressewesen
tatsächlich zensieren, bisher nicht gelungen, im Internet ir-
gendwelche Zensuren einzuführen. Filterprogramme sind
immer unvollkommen. Dennoch können Sie ein wertvol-
les Hilfsmittel für den Jugendschutz sein und im privaten
und öffentlichen Bereich den Schutz der Jugend vor ge-
walttätigen und anderen verbotenen Inhalten fördern. Der
Antrag der PDS muss deshalb abgelehnt werden.
Die beiden Koalitionsanträge verfolgen wichtige An-
liegen, die vom Grundsatz her Unterstützung verdienen.
Allerdings möchte ich gleich vorwegschicken, dass beide
Anträge im Ergebnis doch abgelehnt werden müssen.
In den Anträgen geht es einmal darum, eine Informati-
onsgesellschaft zu schaffen, an der alle teilhaben, und
zum anderen darum, die Medien- und Kommunikations-
ordnung den Erfordernissen der neuen Informations- und
Kommunikationsdienste anzupassen. Beides sind be-
grüßenswerte Anliegen. Doch wird der positive Ansatz al-
lein schon dadurch weitgehend zunichte gemacht, dass
beide Anträge zum großen Teil aus der Abteilung Langat-
migkeit und Lobhudelei stammen. Das kommt beispiels-
weise darin zum Ausdruck, dass das Aktionsprogramm
der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der
Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ und das
10-Punkte-Programm des Bundeskanzlers „Internet für
alle“ ununterbrochen begrüßt werden und die Bundesre-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224364
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gierung aufgefordert wird, diese „weiterhin rasch und ent-
schlossen umzusetzen“. Man fragt sich, ob die Bundesre-
gierung nur tätig wird, wenn sie ständig neu aufgefordert
wird, ihre eigenen Programme ernst zu nehmen. An die-
sem Propagandaunternehmen wird sich die Union nicht
beteiligen.
Der Antrag zur „Überwindung der digitalen Spaltung“
enthält neben vielen Selbstverständlichkeiten auch inhalt-
liche Aussagen, die problematisch sind, so zum Beispiel
zu den Online-Angeboten der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten und zur Vorlage des Informationsfrei-
heitsgesetzes. Damit kann der Antrag insgesamt nur ab-
gelehnt werden. Zudem ist der Antrag inhaltlich sowieso
insoweit überholt, als er noch die Vorlage des Informati-
onsfreiheitsgesetzes fordert. Dieses Gesetz, das den Bund
verpflichten sollte, alle Verwaltungsvorgänge ins Netz zu
stellen, soweit nicht eigene Interessen oder Rechte Dritter
entgegenstehen, und mit dem in der Internetgemeinde
große Hoffnungen geweckt wurden, wurde von der SPD
mittlerweile ad acta gelegt.
Der Antrag zur „Reform der Medien- und Kommuni-
kationsordnung“ besteht fast ausschließlich aus einer un-
endlich langen Problembeschreibung und ist dennoch un-
vollständig. So erwähnt der Antrag beispielsweise den
digitalen Hörfunk – DAB, digital audio broadcasting –
überhaupt nicht. In Bezug auf die Anwendung von
UMTS und WAP ist er dagegen viel zu euphorisch und
optimistisch. Zudem befasst sich der Antrag in langen
Passagen mit Fragen der Länderzuständigkeit. Bei den
Lösungsvorschlägen bleibt er dafür äußerst verschwom-
men.
Was diesen Antrag letztlich aber ebenso unannehmbar
macht wie den zuvor besprochenen, sind insbesondere
zwei Forderungen der Koalition: Zum einen fordert Rot-
Grün die Errichtung neuer Behörden und Einrichtungen
des Bundes. Ich frage mich wirklich, ob diese Forderung
ernst gemeint ist. Die Folge wäre doch ein erneutes Auf-
blähen der Bürokratie in Deutschland, und davon haben
wir nun wirklich mehr als genug. Zum anderen ist die im
Antrag dargestellte Kritik an der Aufsplitterung der Re-
gulierungs- und Aufsichtsstrukturen in Deutschland so
nicht zutreffend. Ich weise darauf hin, dass die 15 Lan-
desmedienanstalten durch den geltenden Staatsvertrag der
Länder zur Zusammenarbeit verpflichtet sind, dass sie
ihre Strukturen gestrafft haben und dass es zum Beispiel
im Jugendschutz eine gemeinsame Stelle für alle Jugend-
schutzfragen gibt. Auch für digitale Zugangsfragen ist
ebenfalls eine einzige gemeinsame Stelle aller Landesme-
dienanstalten eingerichtet.
Besonders problematisch sind die Ausführungen zu
den Nutzungsmöglichkeiten des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks mit Blick auf das Internet. Es ist indiskutabel,
das Internet als einen weiteren massenkommunikativen
Vertreibungsweg für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
vorzusehen.
Insgesamt sollen die blumigen und wortreichen Ko-
alitionsanträge wohl davon ablenken, dass die Bundes-
regierung in der Medien- und Internetpolitik wenig Er-
folge aufweisen kann: Im Bereich der Breitbandkabel ist
vier Jahre so gut wie nichts vorangekommen. Die Fern-
sehkabel werden nicht aufgerüstet. Interessierte Investo-
ren wurden erfolgreich abgeschreckt. Wie wir jüngst
veröffentlichten Untersuchungen entnehmen konnten,
ist der Zuwachs an Online-Nutzern in Deutschland weit
hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Misere
mit dem Informationsfreiheitsgesetz habe ich bereits er-
wähnt.
Zum Abschluss möchte ich noch auf eine wirklich er-
staunliche Kreation aus dem Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung hinweisen. Die von Bundesminis-
terin Bulmahn im Oktober letzten Jahres eingesetzte
Expertenkommission „Finanzierung Lebenslangen Ler-
nens“ kann nun wirklich nur als Ausweis von Hilflosig-
keit bezeichnet werden. Dass der dauerhaften Arbeit-
nehmerfort- und Weiterbildung gerade auch mit Blick
auf das Phänomen „Digitale Spaltung“ eine Schlüssel-
funktion zukommt, dürfte sicher schon länger bekannt
sein. Umso mehr ist es ein Armutszeugnis, wenn die
Bundesregierung knapp ein Jahr vor Ende der Legis-
laturperiode dieser lapidaren Erkenntnis statt konkreter
Taten nur wieder eine neue Expertenkommission folgen
ließ.
Was bleibt also unterm Strich? Nichts als heiße Luft
und jede Menge rot-grüner Scheinaktionismus. Doch da-
mit, meine Damen und Herren von Rot-Grün, lassen sich
die hier diskutierten Probleme nun wirklich nicht lösen.
Deshalb muss diese Regierung abgelöst werden!
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die In-
formationsgesellschaft stellt für unsere Gesellschaft eine
enorme Herausforderung dar. Der Politik wird dabei die
Aufgabe zukommen, die notwendigen Voraussetzungen
für eine freie und gerechte Entwicklung dieser Informati-
onsgesellschaft zu schaffen. Wir Bündnisgrüne treten für
eine beschleunigte, aber verantwortungsbewusste Ein-
führung moderner Kommunikations- und Informations-
technologien ein.
Dieses Ziel haben wir auch in den vergangenen vier
Jahren Regierungszeit verfolgt und dabei die entschei-
denden Weichen in Richtung Informationsgesellschaft
gestellt, um den Wirtschaftsstandort Deutschland in der
globalen Ökonomie zu sichern und auszubauen. Gerade
der Mittelstand, der ein entscheidendes Standbein in der
Internetwirtschaft darstellt, wird von der Bundesregie-
rung inzwischen massiv gefördert – und zwar durch die
Bereitstellung von Risikokapital oder der Schaffung von
Kompetenzzentren zur Unterstützung von kleinen und
mittleren Unternehmen. Daneben existieren vielfältige
Programme zur Förderung der Medienkompetenz und zur
Überwindung der drohenden Digitalen Spaltung. Doch
wie bereits in unseren Anträgen erwähnt, darf sich die
Bundesregierung nicht auf ihren Aktivitäten ausruhen:
Initiativen wie „D 21“ müssen weiter gefördert und aus-
gebaut werden.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Aktivitä-
ten der Bundesregierung in Bezug auf den elektronischen
Geschäftsverkehr begrüßen. Durch die gestern in den
Ausschüssen beschlossene Änderung der Verwaltungs-
verfahrensgesetze wird die Einführung der digitalen Sig-
natur weiter forciert. Diese Signatur wird zukünftig ein
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24365
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wesentlicher Baustein für die Modernisierung unseres
Staates sein.
Ebenso wichtig erscheint uns aber, dass die Bundesre-
gierung weiter die Entwicklung kryptografischer Pro-
gramme fördert und sich strikt gegen einschränkende
Maßnahmen bei der Verschlüsselung ausspricht. Denn es
war noch nie so einfach wie heute, persönliche Daten zu
erhalten: Das Internet ist nämlich eine gigantische globale
Datenbank, in der eine Vielzahl personenbezogener Daten
für jeden, der sich auskennt, zur Verfügung stehen.
Informationen, die im Internet übertragen werden, sind
alles andere als vertraulich. Unverschlüsselte Datenpa-
kete, die über das Netz geschickt werden, können theore-
tisch an jeder Übertragungsstelle gelesen, gespeichert,
manipuliert oder unterdrückt werden.
Die Verbreitung von Verschlüsselungsprogrammen
– auch und gerade im privaten Bereich – leistet somit ei-
nen wichtigen und geradezu unumgänglichen Beitrag
zum Schutz unserer Privatsphäre.
Erfreulich ist aus unserer Sicht weiterhin, dass auf Ini-
tiative von Bündnis 90/Die Grünen in den verschiedenen
Anträgen das Thema Open Source ausführlich behandelt
wird. Gerade für den Wettbewerb auf dem Softwaremarkt
und bei der Etablierung verschiedener Betriebssysteme ha-
ben Open Source-Produkte eine besondere Bedeutung. Der
Quellcode – quasi die Sprache, in der ein Programm ge-
schrieben worden ist – ist hier frei zugänglich. Somit kön-
nen Betriebssystem und Software besser den jeweiligen
Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer angepasst wer-
den – auch und gerade in sicherheitsrelevanten Bereichen.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, verstärkt
Open Source-Programme in der Bundesverwaltung ein-
zusetzen. Mit der Umstellung, der Bundestagsserver von
Microsoft-Programmen auf das Linux-System ist bereits
ein erster, entscheidender Schritt getan. Und auch die
Ankündigung des Innenministeriums, zukünftig Linux als
Betriebssystem einzusetzen, ist ein Erfolg unserer Politik.
Aus dem Bereich der Ökologie wissen wir: Monokul-
turen können große Schäden anrichten. Das gilt leider
auch für den Computersektor. Hier sind Konkurrenz und
Vielfalt gefragt, um Wettbewerb und Sicherheit zu ge-
währleisten.
Diese Vielfalt benötigen wir auch im Bereich des
Rundfunks. Die Pleite der Kirch-Gruppe hat uns gerade
erst vor Augen geführt, wie abhängig unser Mediensys-
tem von einzelnen großen Anbietern ist. Statt verschach-
telter Großkonzerne, die über Tochtergesellschaften oder
Familienmitglieder auch scheinbar unabhängige Medien
kontrollieren; brauchen wir das Engagement verschiede-
ner Anbieter – kleiner, mittlerer und auch größerer.
Diese Anbieter – das sage ich hier ausdrücklich – wer-
den und dürfen nicht nur aus deutschen Landen kommen.
Der deutsche Medienmarkt darf sich nicht abschotten,
sondern muss offen für europäische und internationale In-
vestoren sein.
Dabei denke ich natürlich ausdrücklich nicht an Herrn
Berlusconi. Die Vereinigung von politischer, sportlicher
und publizistischer Macht in einer Person ist schlichtweg
ein Skandal.
Stellen Sie sich vor, Helmut Kohl hätte neben der Bun-
desregierung auch noch den Rundfunksektor und den
Fußballsport kontrolliert: Es hätte täglich mehrere Stun-
den Robert Lembke gegeben und Berti Vogts wäre wohl
immer noch Bundestrainer.
Vielfalt und Internationalisierung unserer Medienge-
sellschaft müssen sich nicht widersprechen. Bündnis 90/
Die Grünen haben hierzu vielfältige Vorschläge vorge-
legt. Damit Medienpolitik in Deutschland nicht zur
reinen Standortpolitik verkommt, brauchen wir einen
bundesweiten Medien- und Kommunikationsrat, der be-
stehende Einrichtungen integriert und koordiniert. Die
Digitalisierung muss in jedem Falle sozialverträglich er-
folgen: Auch meine Oma auf dem Land muss zukünftig in
der Lage sein, ein vielfältiges Fernsehprogramm sehen zu
können, ohne Informatik studiert zu haben und kompli-
zierte Receiver auswendig programmieren zu können.
Der Streit um die Verschlüsselung von Sendesignalen
während der Fußball-WM hat gezeigt, wie ernst dieses
Problem sein kann. Damit nicht in der Endphase eines
spannenden Spiels der Bildschirm plötzlich schwarz wird,
gilt es bereits jetzt, die entsprechenden politischen Vorga-
ben auf- und auch umzusetzen.
Die rasante Entwicklung des Internet und die zuneh-
mende Konvergenz der einzelnen Medien beeinflusst
nachhaltig und tiefgründig die Ausrichtung unserer Ge-
sellschaft. Doch eines dürfen wir dabei nie vergessen: Die
Informationsgesellschaft muss für alle da sein – nicht nur
für Computerfreaks, Besserverdienende und Akademiker.
Lesen, Rechnen und Schreiben allein werden im globalen
Dorf des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausreichen, um sich
in dieser neuen, vernetzten Welt zu orientieren. Wer die
Sprache des Computers nicht versteht und beherrscht,
wird künftig zu den digitalen Analphabeten gehören. Die
Politik hat die Aufgabe, die Basis zu schaffen und einen
Netzzugang für alle und damit verbunden auch die Ver-
mittlung von Medienkompetenz zu ermöglichen.
Wir nehmen die Herausforderung Informationsgesell-
schaft an. Aber wir wissen auch: Auf dem Weg dorthin
müssen wir alle, wirklich alle mitnehmen. Im Gegensatz zu
unseren Fußballern sind wir bei dieser komplexen Thema-
tik eben noch nicht die eine Runde weiter, aber auf einem
guten Weg. Denn immer mehr Deutsche drängen ins Inter-
net und Medienkompetenz ist zu einem wichtigen Schlüs-
selbegriff der Informationsgesellschaft geworden. Denn
nur wer die Medien wirklich versteht, wird sie jemals sinn-
voll kontrollieren und positiv beeinflussen können.
Hans-Joachim Otto (FDP):Wenn wir uns hier heute
ernsthaft mit einer Reform der Medien- und Kommunika-
tionsordnung beschäftigen wollen, so kann aus Sicht der
FDP der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
dafür keine Grundlage sein. Überschrift und Inhalt haben
wenig miteinander zu tun: „Reform der Medien- und
Kommunikationsordnung für die Wissens- und Informa-
tionsgesellschaft verwirklichen“ ist sein wohlklingender
Titel. Doch was steht darunter im Antrag? Zunächst eine
Analyse der jetzigen Situation, die weit gehend zutrifft.
Der Kompetenzwirrwarr wird zutreffend beschrieben,
ebenso das Phänomen der Konvergenz. Die Konsequen-
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zen und Reformvorschläge hieraus indes sind dürftig und
für die FDP großteils nicht nachvollziehbar.
Zu kritisieren ist vor allem die von Rot-Grün gefor-
derte Entwicklungsgarantie der Öffentlich-Rechtlichen
im Internet. ARD und ZDF sind doch keine öffentlich-
rechtlichen Medienanstalten, sondern Rundfunkanstalten.
Hierauf, auf Fernsehen und Radio, mögen sie sich be-
schränken, hier gibt es noch viel zu verbessern. Es ist aber
im höchsten Maße wettbewerbsverzerrend, wenn mit
jährlich fast sieben Milliarden Euro Gebühren ausgestat-
tete Anstalten kleinen Internetunternehmen, die insbeson-
dere in diesen Zeiten froh sind, wenn sie mal so eben über
die Runden kommen, das Wasser abgraben. Die gezielte
Ausdehnung von ARD und ZDF ins Internet ist ein wei-
terer Schlag gegen die ohnehin schon äußerst angeschla-
gene Internetbranche.
Rechtlich zugelassen sind für ARD und ZDF nur „vor-
wiegend programmbegleitende Informationen“ im Inter-
net. Doch welche programmbegleitenden Informationen
vermitteln Partnervermittlungen, Sportwetten, Automärkte
und Bratpfannenauktionen? Solche kommerziellen Auf-
tritte haben auf den Webpages von ARD und ZDF nichts
verloren!
Eine derartige „dritte Säule“ des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks oder, wie es im rot-grünen Antrag heißt, „der
Ausbau von ARD und ZDF als Universal- bzw. Public
Service im Internet“ ist strikt abzulehnen! Dieser ord-
nungspolitische Irrsinn muss gestoppt werden!
Eher dürftig sind auch die weiteren Vorschläge zur Re-
form der Medienordnung. Lapidar wird die Bundesregie-
rung aufgefordert, den Reformbedarf der bestehenden
Medien- und Kommunikationsordnung zu überprüfen
und gegebenenfalls eine Bund- und Länderinitiative an-
zustoßen und eine Expertenkommission einzurichten. So-
weit ein Kommunikationsrat vorgeschlagen wird, geht
dies in die falsche Richtung. Wir Liberalen würden zwar
eine einheitliche Instanz befürworten, sofern sie nach dem
Vorbild der amerikanischen FCC die bisherigen
15 Landesmedienanstalten ersetzt. Rot-Grün jedoch will
eine zusätzliche Behörde. Da machen wir nicht mit! Nein,
lassen Sie uns abrüsten und nicht noch weiter aufrüsten.
Der Antrag enthält viele Allgemeinplätzchen, wenig
Konkretes und nichts Präzises. Offen bleibt die zentrale
Frage, mit welchen konkreten Maßnahmen der unstreitige
Reformstau bei der Medienordnung aufgelöst werden
soll. Wie könnte man den notwendigen Dialog zwischen
Bund und Ländern institutionalisieren, um zu einer um-
fassenden Reform zu kommen und den Kompetenzwirr-
warr aufzulösen? Was ist bisher geschehen? Stückwerk!
Eine kleine Kompetenzverschiebung im Jugendschutz
und eine kleine Zuständigkeitsänderung im Datenschutz.
Gerade das wollen die Autoren des Antrages ja eigentlich
nicht. Dennoch ist es geschehen. Am Jugendschutz sieht
man: Es wird geflickschustert und kleinlich um Kompe-
tenzen geschachert.
Um einen großen Wurf zu ermöglichen, brauchen wir
in der nächsten Legislaturperiode endlich eine Bund-Län-
der-Enquete für eine moderne Kommunikationsordnung
in Deutschland. Damit diese effektiv und zielorientiert ar-
beitet, sollten präzise, auch zeitliche, Vorgaben gemacht
werden. Großer Vorteil einer solchen Bund-Länder-En-
quete ist: Es gilt das Konsensprinzip. Das heißt, Bund und
Länder wären hierin gezwungen, auf einen Nenner zu
kommen.
Nirgendwo sonst ist die Aufforderung von Altpräsident
Roman Herzog nach einem „Ruck“ berechtigter als beim
Erfordernis einer einheitlichen Medien- und Kommuni-
kationsordnung. Lange genug wurden die Probleme unter
den Teppich gekehrt. Jetzt ist die Zeit zum Handeln. Da
Rot-Grün diese Legislaturperiode nicht genutzt hat, wer-
den wir am 23. September hiermit beginnen. Darauf kön-
nen Sie sich verlassen!
Angela Marquardt (PDS): Es ist schön, dass sich alle
hier im Hause einig sind, dass die digitale Spaltung der
Gesellschaft in User und Loser verhindert werden muss.
Uneinigkeit herrscht wie so oft nur über das Wie. Wir sind
uns alle einig, dass es dabei auch um soziale Fragen geht.
Denn es kann nicht sein, dass nur diejenigen an den In-
formationen der Online-Gesellschaft teilhaben können,
die sich die nicht unbeträchtlichen Kosten eines Compu-
ters und eines Online-Zugangs leisten können.
Deshalb sind wir uns ja ebenfalls alle einig, dass es öf-
fentliche Internet-Zugänge in Rathäusern, Bibliotheken,
und Internet-Cafés geben muss. Und dennoch droht eine
digitale Spaltung. Denn schon heute ist es so, dass Bürge-
rinnen und Bürger, die auf den Internet-Zugang der
Bibliothek angewiesen sind, meist nur einen gefilterten,
einen zensierten Ausschnitt aus dem Netz zu Gesicht be-
kommen. Informationsfreiheit besteht nur für den, der ei-
nen eigenen Online-Anschluss hat.
Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht, der ein
Verbot von Filtern an öffentlichen Internet-Zugängen vor-
sieht. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was
dagegen sprechen soll, und finde die ablehnende Haltung
der anderen Fraktionen in den Ausschüssen äußerst be-
dauerlich.
Konkret fordern wir Folgendes: kein Einsatz von Fil-
tern an öffentlichen Internet-Zugängen, kein Einsatz von
Filtern innerhalb des Internets bzw. beim Provider, keine
staatliche Förderung der Entwicklung von Filter-Techno-
logie und eine Kennzeichnungspflicht für jede Filter-An-
wendung, auch der nutzerautonomen Anwendung.
All diese Forderungen müssten in diesem Hause ei-
gentlich konsensfähig sein, zumal uns das Grundgesetz
geradezu verpflichtet, jede Form von Zensur zu verhin-
dern. Ich bin froh, dass zumindest SPD und Grüne inzwi-
schen nur noch so genannte nutzerautonome Filter befür-
worten. Dennoch will ich dazu ein paar kritische Worte
sagen: Ich habe nichts gegen nutzerautonome Filter. Nur
sehe ich keine. Alle Hoffnungen lasten auf dem ICRA-
Projekt. Nur ist dies kein nutzerautonomes System.
Erstens wird den meisten Eltern die Einstellung eines
solchen Filters ohnehin zu kompliziert sein, und sie wer-
den daher lieber gleich auf einen Provider mit bereits ge-
säubertem Angebot zurückgreifen, solange eine Online-
basierte Zensur nicht verboten wird.
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Zweitens ist das ICRA-System an sich nicht nutzerbe-
stimmt. Es funktioniert eben nicht nur über das eigen-
ständige Einstellen bestimmter Filter-Kriterien, sondern
daneben auch über das Ausblenden bestimmter Seiten, die
auf einer Negativ-Liste geführt werden. Die ersten, die
den ICRA-Listen zugearbeitet und Seiten angezeigt ha-
ben, die ihrer Meinung nach zu sperren sind, waren das
BKA, der Verfassungsschutz und die CDU. Entschul-
digen Sie bitte, wenn diese Institutionen nicht mein voll-
ständiges Vertrauen genießen.
Das Problem ist Folgendes: Eltern können mit dem
ICRA-Filter zwar selbst bestimmen, welche Negativ-
Liste sie sperren wollen, aber dabei müssen sie den An-
bietern dieser Liste vertrauen. Sie haben keine Möglich-
keit zu kontrollieren, welche Seiten genau gefiltert
werden, wenn sie zum Beispiel die BKA-Liste „Rechts-
extremismus“ wählen. Es könnten genauso gut Seiten von
Antifa-Gruppen darunter sein. Die Listen sind nicht ein-
sehbar. Niemand kann kontrollieren, welche Seiten ge-
sperrt werden, und die Anbieter gesperrter Seiten haben
keinerlei Möglichkeit der Beschwerde.
Aus diesem Grund ist das ICRA-System ebenso wenig
nutzerautonom wie ICRA eine Non-Profit-Organisation
ist. Auch wenn das immer wieder behauptet wird. ICRA
ist ein Zusammenschluss von Unternehmen wie Bertels-
mann, AOL, Microsoft, IBM und T-Online. Das sind alles
bestimmt keine Non-Profit-Organisationen. Und bei
ICRAmitspielen darf auch nur, wer jährlich eine fünfstel-
lige Summe überweist. Hier spielen ganz klar Interessen
eine Rolle.
Die beteiligten Unternehmen werden Filter-Kriterien
wie „Gewalt“ und „Nacktheit“ sicherlich akzeptieren. Ein
Kriterium, das „Verführung zum Konsumrausch“ heißt,
werden uns diese Unternehmen aber bestimmt nicht an-
bieten. Wie gesagt, grundsätzlich ist nichts gegen nutzer-
autonome Filter einzuwenden, aber auch bei denen muss
eine Kontrolle möglich sein. Deshalb plädiere ich für eine
Kennzeichnungspflicht aller Filter-Anwendungen und ei-
nen Zugriff auf eine Liste der jeweils gesperrten Seiten.
Filtern findet auf der Seite des Betrachters statt und
entspricht dem Augenschließen. Filtern ist Wegsehen.
Das ist der falsche Weg. Damit werden wir strafbare In-
halte im Internet nicht verhindern. Es ist auch das Gegen-
teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit be-
stimmten Inhalten. Lassen Sie uns Schritte unternehmen,
damit der Zensur in Deutschland nicht der Weg geebnet
wird.
Dr. Julian Nida-Rümelin, Beauftragter der Bundes-
regierung für Angelegenheiten der Kultur und der Me-
dien: Gesellschaften bilden Kommunikations- und Ver-
ständigungszusammenhänge. Wenn Informationskanäle
und Kommunikationswege sich verändern, beeinflusst
dies die Verfasstheit der Gesellschaft signifikant. Im Kern
geht es also bei der Modernisierung der Medienordnung
um die Modernisierung der Gesellschaft selbst. Nur eine
Gesellschaft, die allen Bürgerinnen und Bürgern gleich-
berechtigt einen Zugang zu den Medien ermöglicht, ist
genuin demokratisch.
Ein gemeinsamer Bildungshintergrund, gemeinsame
politische Kenntnisse und auch Gemeinsamkeiten der
Unterhaltung und der Kultur sind ein zentrales öffentli-
ches Gut in der Demokratie. Eine verantwortliche Me-
dienpolitik muss dafür den Ordnungsrahmen setzen. Hier
setzt der Antrag der Koalionsfraktionen an. Er beschreibt
ausführlich und präzise die Anforderungen an die Politik,
die sich aus der als Digitalisierung beschriebenen Ent-
wicklung ergeben. Die Digitalisierung wird in absehbarer
Zeit zu einer weit reichenden Konvergenz der Übertra-
gungswege und am Ende möglicherweise auch der Me-
dieninhalte führen. Den im Antrag vor diesem Hinter-
grund beschriebenen Herausforderungen hat sich die
Bundesregierung gestellt. Sie teilt die Einschätzung, dass
die geltenden medienrechtlichen Regulierungen nicht
mehr passgenau sind: Vorhandene sektorspezifische Re-
gulierungsansätze müssen überdacht werden, weil sie an-
gesichts einer konvergierenden Medienlandschaft zuneh-
mend fragwürdig werden.
Die Bundesregierung hat sich seit Beginn der Legisla-
turperiode mit besonderem Nachdruck daran gemacht, in
enger Abstimmung mit den Ländern die Defizite der ge-
genwärtigen Struktur zu beseitigen. Die Reform der Me-
dienordnung ist auch eine Bewährungsprobe für den ko-
operativen Föderalismus. Im August des vergangenen
Jahres haben wir durch die Vereinbarung zwischen der
Bundesregierung und den Ministerpräsidenten der Länder
einen wichtigen Schritt getan. Sie sieht die gemeinsame
Verwirklichung einer Reform der Medienordnung vor,
insbesondere auf den Gebieten, die beiderseitige Interes-
sen und Kompetenzen berühren. Dabei geht es vorrangig
um den Jugendschutz, aber auch um die Bereiche Daten-
schutz und Medienkonzentration sowie eine verbesserte
Regelung der Nicht-Rundfunkdienste. Gerade hier haben
die Parallelregelungen zu großen Abgrenzungsschwierig-
keiten zwischen Telediensten und Mediendiensten ge-
führt.
Erfreulicherweise ist es im Jugendschutzgesetz bereits
gelungen, mit dem Begriff der Telemedien und eindeuti-
gen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu ei-
ner ganz erheblichen Verbesserung zu kommen. Die maß-
geblich von meiner Behörde vorbereiteten Eckpunkte
einer Neuregelung des Jugendschutzes lagen im Dezem-
ber 2001 beschlussreif vor und sehen einen einheitlichen
Schutzstandard in allen elektronischen Medien vor. Allein
den Sonderwünschen der bayerischen Staatsregierung ist
es zu verdanken, dass diese Eckpunkte erst im März die-
ses Jahres von der Ministerpräsidentenkonferenz und der
Bundesregierung beschlossen werden konnten.
Mit diesem Ergebnis haben wir ein zentrales Ziel er-
reicht: Die Länder regeln das materielle Jugendschutz-
recht für alle elektronischen Online-Medien. Auf Länder-
ebene wird eine einheitliche Aufsichtstelle geschaffen:
die Kommission für den Jugendmedienschutz. Sie wird in
einer institutionalisierten Zusammenarbeit mit der Bun-
desprüfstelle für ein wertungsgleiches Schutzniveau bei
jugendgefährdenden und jugendbeeinträchtigenden An-
geboten führen. Dies ist ein ganz wesentlicher Fortschritt
und ich bin froh, dass sich hier letztlich ein breiter Kon-
sens gebildet hat. Mit den Beschlüssen vom März dieses
Jahres wurde zugleich das Prinzip der regulierten Selbst-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224368
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regulierung im Jugendmedienschutz eingeführt, ich
werde auf diesen Ansatz noch zu sprechen kommen.
Die Umsetzung der Eckpunkte ist auf Bundesebene
rasch und umfassend in Angriff genommen worden: Die
Koalitionsfraktionen haben unter Mithilfe der Bundesre-
gierung und insbesondere meiner Behörde ein Bundesge-
setz eingebracht, das neben dem Jugendschutz in der Öf-
fentlichkeit auch die Bundesprüfstelle regelt und den
verabredeten Regelungsspielraum für die Länder offen
hält. Der entsprechende Staatsvertrag der Länder wird
derzeit vorbereitet. Mit dieser Verbesserung des Jugend-
schutzes im Medienbereich wird zum einen das materielle
Recht vereinheitlicht, zum anderen wird aber auch eine
gestraffte Aufsichtsstruktur geschaffen, die für eine
schnellere und homogenere Durchsetzung des materiellen
Rechts sorgt. Weitere Verbesserungen – insbesondere mit
Blick auf die Wahrung publizistischer Vielfalt – sind zu
erreichen, wenn wir uns, eventuell erst in der nächsten Le-
gislaturperiode, darauf verständigen können, einen Kom-
munikationsrat zu schaffen, wie ihn die sozialdemokrati-
sche Medienpolitik seit langem vorschlägt.
Das Konzept der regulierten Selbstregulierung wird
auch im Antrag der Koalitionsfraktionen zu Recht her-
vorgehoben. Die Bundesrepublik verfügt über eine lange
Tradition der Selbstregulierung: von der Einrichtung des
Presserates im Jahre 1949 bis zur Schaffung der Freiwil-
ligen Selbstkontrolle Fernsehen und der Freiwilligen
Selbstkontrolle Multimedia in den 90er-Jahren. Dieser
Ansatz ist nach meiner Überzeugung nach wie vor richtig.
Jetzt geht es darum, ihn so weiter zu entwickeln, dass er
den heutigen und den künftigen Rahmenbedingungen ge-
recht wird. Im Kern besteht die Herausforderung darin,
die Beibehaltung größtmöglicher Autonomie der Anbieter
von Inhalten mit einer effektiven Durchsetzung des
Rechts auszubalancieren. Dieses Spannungsverhältnis
besteht und angesichts dessen sind weder radikale Libe-
ralisierungsvorschläge noch weit reichende Forderungen
nach möglichst vollständiger Kontrolle hilfreich.
Vor diesem Hintergrund habe ich eine Modernisierung
des Konzepts der Selbstregulierung vorgeschlagen. Es geht
dabei um die Weiterentwicklung vorhandener Modelle mit
folgenden Merkmalen: Bereits im Vorfeld der Verbreitung
soll durch die vom Staat auf gesetzlicher Basis überprüf-
bare – und insofern regulierte – Selbstregulierung auf
Dauer ein hoher Standard normgerechter Angebote ex ante
gewährleistet werden. Wenn das normverletzende Angebot
verbreitet worden ist, liegt das Kind bereits im Brunnen.
Ordnungspolitik aber ergibt nur Sinn, wenn sie die Verfas-
sung und den normativen Grundkonsens einer Gesellschaft
schützt. Dies tut sie nicht in erster Linie durch das Strafen
begangener Verletzungen, sondern durch das Pflanzen von
Hecken, die den zu beschreitenden Weg umsäumen. Genau
darauf zielt die Einbindung der Selbstkontrolle in den staat-
lich sanktionierten Regulierungsrahmen.
Der Jugendschutz hat Verfassungsrang. Der Staat ist
daher aufgefordert sicherzustellen, dass die Einrichtun-
gen der Selbstkontrolle den rechtlichen Anforderungen
genügen. Darum muss es eine hoheitliche Zertifizierung
der Kontrolleinrichtungen mit Widerrufsmöglichkeit ge-
ben, darum müssen die Organisation und Arbeit der Ein-
richtungen, ihre finanzielle Ausstattung und ihre inhalt-
liche Unabhängigkeit überprüft werden können. Dies
sind die Hecken, die gepflanzt werden. Zwischen ihnen
gibt es breite Korridore, innerhalb derer die Selbstkon-
trolle Ihre Aufgaben eigenverantwortlich wahrnehmen
kann.
Dieser Ansatz findet erfreulicherweise breite Zustim-
mung vonseiten der Wissenschaft, aber auch und vor al-
lem vonseiten der Marktteilnehmer. Wir präsentieren so
ein Modell, das zukunftsfähig ist, weil es die Angebotsflut
im Zeitalter der Digitalisierung bewältigen kann und für
eine zeitgemäße Verschränkung von Staat und Gesell-
schaft sorgt. Das staatlich organisierte Verfahren stützt
bestehende zivilgesellschaftliche Strukturen und verleiht
ihnen die notwendige Durchsetzungskraft.
Nicht nur die medienpolitische Diskussion steht noch
immer unter dem Eindruck der schrecklichen Gewalttat
von Erfurt. Mir kommt es vor allem darauf an, dass wir
– bei allem Verständnis für die Besorgnis und die Erre-
gung – nicht eine kurzatmige Debatte führen. Dabei müs-
sen wir, mit Besonnenheit, auch die Zusammenhänge
zwischen Gewaltdarstellungen in den Medien und die
Entstehung realer Gewalt thematisieren.
Man liest immer wieder, dass die Medienwirkungsfor-
schung uneins sei, welche Folgen der Konsum exzessiver
Gewaltdarstellungen habe. Dies entspricht nicht oder
nicht mehr dem Stand der Forschung. Ego-Shooter-Ga-
mes wurden von der US-Army entwickelt mit dem Ziel,
die im Vietnamkrieg deutlich gewordene Hemmung, ei-
nem Gegner aus der Nähe ins Gesicht zu schießen, abzu-
bauen. Tatsächlich ist erwiesen, dass der Prozentsatz der
in dieser Weise Enthemmten nach Konditionierung durch
entsprechende „Spiele“ sich von einem Drittel auf etwa
zwei Drittel verdoppelte! Ich kann nicht begreifen,
warum die kommerziellen Anbieter solcher Spiele zulas-
sen, dass die Seelen junger Menschen in dieser Weise
Schaden nehmen.
Der Eingriff des Strafrecht ist ultima ratio; und das
sollte so bleiben. Dem Eingriff der Politik über Rechts-
normen sind in jedem Falle im Rahmen einer freiheitli-
chen Demokratie enge Grenzen gezogen. Daher ist die
Eigenverantwortung derjenigen gefordert, die die Me-
dieninhalte bestimmen – sei es im frei empfangbaren
Fernsehen, öffentlich-rechtlich oder privat, sei es im Ki-
nofilm oder Videofilm, sei es im Videospiel oder im In-
ternet. Eine zivile, an humanen Werten orientierte Ge-
sellschaft überlässt die Verantwortung nicht dem Staat
allein. Diese gemeinsame, zivilgesellschaftliche Verant-
wortung zu stärken und das Ausmaß der Gewaltdarstel-
lungen, ja die Gewaltfokussierungen in manchen Me-
dien, zurückzudrängen, ist das Ziel des heute vom
Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten gemeinsam
beschlossenen Runden Tisches, dem die Verantwortli-
chen für das Fernsehen und für die Offline- und Online-
Angebote in zwei Gesprächen beim Bundeskanzler
schon zugestimmt haben. Hier zeichnet sich ein – bei al-
len bestehenden inhaltlichen Differenzen – wichtiger
Grundkonsens ab, den es für eine humane Entwicklung
unserer Gesellschaft zu nutzen gilt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24369
(C)
(D)
(A)
(B)
Abschließend einige Bemerkungen zu den medienpo-
litischen Perspektiven für Europa: Das, was als Interna-
tionalisierung und Globalisierung beschrieben wird, hat
zweifelsohne gravierende Auswirkungen auf den Me-
dienbereich. Dennoch sind Medien immer auch auf die
unmittelbare Lebenswelt bezogen. Dies erklärt, zumin-
dest zum Teil, warum die Märkte für Medien, insbeson-
dere die Fernsehmärkte, in Europa überwiegend nationale
Märkte geblieben sind. Auch vor diesem Hintergrund er-
geben sich neue Herausforderungen durch Digitalisierung
und technische Konvergenz. Dem stellt sich die Bundes-
regierung. Mit Unterstützung übrigens der meisten Bun-
desländer arbeitet sie insbesondere auf die Realisierung
der folgenden Ziele hin: Bestand und Entwicklungsmög-
lichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks müssen
gewährleistet bleiben, nicht zuletzt unter den Gesichts-
punkten der Meinungsfreiheit und -vielfalt.
Die Grundregeln, innerhalb derer die privaten Medien
agieren, bedürfen der weiteren Konkretisierung. Deutsch-
land und Europa müssen für ausländische Investoren of-
fen bleiben. Zugleich gilt es aber, die positiven Erfahrun-
gen anderer Staaten mit der Begrenzung zulässiger
Anteile ausländischen Kapitals zu berücksichtigen. Aus
meiner Sicht spricht vieles dafür, die Anteile und Stimm-
rechte von Investoren aus Nicht-EU-Ländern an Fernseh-
unternehmen auf 25 Prozent zu begrenzen.
Die Bundesregierung wird sich auch dafür einsetzen,
den Grundsatz der Staatsferne des Rundfunks, wie er in
Art. 5 des Grundgesetzes verankert ist, innerhalb der EU
verbindlich zu machen.
Darüber hinaus wird es darauf ankommen, ein europä-
isches Medienkonzentrationsrecht zu schaffen, um Kon-
zentrationsentwicklungen in der Zusammenschau der
EU-Mitgliedstaaten beobachten und bewerten zu können.
Schließlich brauchen wir eine Fortentwicklung des eu-
ropäischen Kommunikationsgrundrechts: Neben dem
klassischen Medienrecht müssen auch das Wirtschafts-
und das Telekommunikationsrecht auf den Grundsatz der
Sicherung von Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt
verpflichtet werden. Das zusammenwachsende Europa
bedarf einer intakten Öffentlichkeit als kulturelle Basis.
Auch darin liegt die medienpolitische Herausforderung.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Gesetzentwürfe:
– Verbesserung des Schutzes derBevölkerung vor an-
gedrohten und vorgetäuschten Straftaten
– Verbesserung des Schutzes derBevölkerung vor an-
gedrohten und vorgetäuschten Straftaten („Tritt-
brettfahrergesetz“)
Joachim Stünker (SPD): Die heute in zweiter und
dritter Lesung zu debattierenden Gesetzesentwürfe der
CDU/CSU-Fraktion sowie des Bundesrates sind als Re-
aktion auf die Ereignisse des 11. September des vergan-
genen Jahres zu bewerten. Infolge dieser Ereignisse ver-
setzten so genannte Trittbrettfahrer Betroffene, aber auch
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Betrieben und Ver-
sorgungseinrichtungen, ja ganze Städte und die Öffent-
lichkeit in Angst und Schrecken. Ein Trittbrettfahrer ist
nach einer Definition des Dudens „jemand, der von einer
Sache zu profitieren versucht, ohne selbst dafür etwas zu
tun“. Eine Definition, die auf den Trittbrettfahrer der Ge-
genwart so gar nicht zuzutreffen vermag. Denn der tut so
einiges: Er führt Telefongespräche mit Polizeistationen
oder den Sicherheitsleuten von Chemiefabriken oder kün-
digt Bombenexplosionen an. Hauptsächlich durch das
Versenden von mit weißen, pulverförmigen Substanzen
gefüllten Briefen und Paketen entwickelte sich im ver-
gangenen Herbst in der Tat ein starkes Unsicherheitsge-
fühl in der Bevölkerung. Durch Trittbrettfahrerei entste-
hen außerdem extreme Kosten für das Gemeinwesen. Es
ist für uns alle unumstritten: Trittbrettfahrerei verdient
eine harte und zügige Bestrafung, und das geschieht auch:
Unsere Rechtsordnung zieht solche Straftäter einerseits
durch Kriminalstrafen wie auch andererseits durch Scha-
densersatzansprüche – einschließlich der Kosten für den
Einsatz von Polizei und anderen Behörden – mit Nach-
druck zur Rechenschaft. Das Strafgesetzbuch kennt zwei
Vorschriften zur Verfolgung von angeblichen Straftaten.
In § 145 d heißt es: „Wer wider besseren Wissens vor-
täuscht, dass eine rechtswidrige Tat begangen wurde oder
bevorsteht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren be-
straft.“ Dieser Paragraph wird angewandt bei Vortäu-
schung allgemeiner Straftaten ohne größere Auswirkung
auf die Öffentlichkeit, etwa Trittbrettfahrerei bei einer Er-
pressung. § 126 StGB zielt bei ansonsten gleichem Inhalt
dagegen auf die Störung des „öffentlichen Friedens“. Das
Strafmaß reicht auch hier bis zu drei Jahren Haft.
In besonders gelagerten Fällen, zum Beispiel Vortäu-
schung eines bevorstehenden Anschlags, den der Täter
bereit ist, gegen Zahlung einer größeren Geldsumme ab-
zuwenden oder zu unterlassen, ist daneben auch die Ver-
urteilung nach gravierenden Straftatbeständen möglich.
In diesem Beispiel wäre das etwa § 253 StGB, Erpres-
sung, mit einer Strafdrohung von Freiheitsstrafe bis zu
fünf Jahren oder Geldstrafe. Den Tätern droht aber nicht
nur die strafrechtliche Ahndung. Ihnen drohen auch zivil-
rechtliche Schadensersatzansprüche aus §§ 823ff. BGB
und darüber hinaus die öffentlich-rechtliche Kostener-
satzpflicht für den unbegründeten Einsatz von Polizei und
anderen Behörden. Die meisten Polizeigesetze enthalten
hierzu ausdrückliche Regelungen.
Die Verfasser der Entwürfe behaupten nun, dass der
§ 126 StGB in seiner bestehenden Fassung nicht aus-
reichend sei, um eine wirksame Abschreckung zu ge-
währleisten. Daneben würde die Arbeit der Polizei und
der Rettungsdienste sowie die der Fachinstitute und La-
bore von derartigen Fällen belastet. Aus diesem Grunde
fordern sie eine Verschärfung des Strafrahmens für derar-
tige Delikte. Beide Entwürfe präsentieren hierzu eigene
Vorschläge: Die CDU/CSU-Fraktion schlägt eine Er-
höhung der Höchstgrenze der Freiheitsstrafe auf fünf
Jahre vor. Die von Thüringen im Bundesrat eingebrachte
Initiative fordert eine Anhebung der Strafandrohung auf
fünf Jahre sowie die Einführung einer Mindeststrafe von
einem Jahr.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224370
(C)
(D)
(A)
(B)
Besteht wirklich gesetzgeberischer Handlungsbedarf
für eine Verschärfung des Strafrahmens? Kann dieser al-
lein damit begründet werden – so wie dies die Verfasser
der Entwürfe tun –, dass sich die sozialethische Bewer-
tung derartiger Straftaften durch die jüngsten Ereignisse
geändert habe? Oder versuchen die verehrten Kolleginnen
und Kollegen von der Union hier nicht gerade wieder, sich
populistische Reflexe anzueignen, um den Menschen vor-
zuspielen, dass den Gerichten in diesem Lande angeblich
die angemessenen Mittel zur Ahndung derartiger Delikte
fehlen? So verunsicherte beispielsweise in diesem thema-
tischen Zusammenhang der innenpolitische Sprecher der
CSU-Landesgruppe, Wolfgang Zeitlmann, im Oktober
vergangenen Jahres die Bevölkerung, indem er gar den
Bau von Zivilschutzbunkern anregte. Fällt den Kollegin-
nen und Kollegen von der Union denn bei gesellschafts-
schädlichem Verhalten immer nur die Straferhöhung ein?
Eine geänderte sozialethische Bewertung, von der Sie im
Entwurf sprechen – wenn dies überhaupt der Fall ist –
muss doch nicht zwangsläufig zu schärferen Strafrechts-
sanktionen führen.
Meiner Auffassung nach stellt das Instrumentarium des
§ 126 StGB in seiner bestehenden Fassung ein ausrei-
chendes Mittel dar. Es besteht kein Reformbedarf. Im Ge-
genteil: Der § 126 StGB in seiner geltenden Fassung er-
laubt eine flexible Antwort auf diese Art von Straftaten.
Das hat die Behandlung der nach dem 11. September be-
gangenen Straftaten durch Polizei und Justiz eindeutig ge-
zeigt. Auch die vergangenen Jahre belegen, dass die Ge-
richtsbarkeit, insbesondere im beschleunigten Verfahren,
zu schnellen Urteilen kommt. Dabei ist der existierende
Strafrahmen in keinem der Fälle nach oben hin ausge-
schöpft worden.
Außerdem erachte ich es als sehr wichtig in der Be-
kämpfung des Trittbrettfahrerverhaltens, eine Störung des
öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten so
schnell wie möglich zu ahnden; eben das erlaubt erfah-
rungsgemäß der § 126 StGB!
Die vorliegenden Gesetzentwürfe sind deshalb alle-
samt überflüssig und der Rechtsausschuss hat sie zu Recht
abgelehnt. Wenn wir die beiden vorliegenden Gesetzent-
würfe verabschieden würden, lägen die Strafrahmen des
in § 126 StGB benannten Delikte dann teilweise unter
oder gleich auf mit dem „Delikt der reinen Androhung“.
Folgender Hinweis sei mir erlaubt: Das wäre schon allein
rein handwerklich falsch!
Des Weiteren hat die Erhöhung des Strafrahmens kei-
nerlei Einfluss auf die letztendliche Entscheidung des
Richters, und die Schwierigkeiten, den oder die Täter
überhaupt zu ermitteln, bestehen weiterhin. Denn bei ei-
nem absenderlosen Brief verlaufen die Ermittlungen
meist im Sande. Wir alle sollten darauf hinarbeiten, dass
dieses üble Verhalten nicht noch durch unangemessene
Würdigung in den Medien belohnt wird. Ich empfehle Ih-
nen, darüber einmal nachzudenken.
Abschließend möchte ich noch kurz auf den vom Bun-
desrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der
Strafprozessordnung eingehen: Wir begrüßen solche Ini-
tiativen, die darauf abzielen, praktische Hemmnisse und
Schwierigkeiten, die bislang möglicherweise eine breitere
Anwendung des beschleunigten Verfahrens erschwert ha-
ben, zu beseitigen. Bei der Einführung des beschleunigten
Verfahrens wurde bewusst eine flexible Regelung ange-
strebt: Die Hauptverhandlung ist danach gemäß § 418
Abs. 1 StPO „sofort oder in kurzer Frist“ durchzuführen.
Die Einhaltung kürzerer Fristen sollte in erster Linie
durch personelle, organisatorische und technische Maß-
nahmen der Landesjustizverwaltung gewährleistet wer-
den. Die Erforderlichkeit der im Entwurf vorgeschla-
genen gesetzlichen Verankerung einer Frist für die
Durchführung der Hauptverhandlung in § 418 Abs. 1
StPO von sechs Wochen zur Beseitigung von Hemmnissen
und zu einer Vereinheitlichung der Anwendung des be-
schleunigten Verfahrens wird im Rahmen der Arbeiten an
einer umfassenden Reform des Strafverfahrens geprüft
werden müssen. Zurzeit wird allerdings lediglich vom
Oberlandesgericht Stuttgart eine enge Auslegung vorge-
nommen, sodass von einem Novellierungsbedarf nicht
gesprochen werden kann.
Sowohl durch das Ergebnis der vom Rechtsausschuss
des Deutschen Bundestages am 7. Juni 2000 zu dem vor-
liegenden Gesetzentwurf durchgeführten Sachverständi-
genanhörung, als auch durch das abgegebene Votum des
Rechtsausschusses sehe ich mich darin bestätigt, dass
diese Prüfung unter sorgfältiger Abwägung des Für und
Wider sowie unter Berücksichtigung der Gesamtkonzep-
tion der Reform der Strafprozessordnung vorzunehmen
ist. Teilregelungen bringen uns hier nicht weiter. Der Ent-
wurf ist daher abzulehnen.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Ich habe den Ein-
druck, dass die Erinnerung an den 11. September bei den
Koalitionsfraktionen von Tag zu Tag mehr verblasst. Be-
dauerlicherweise gilt dies auch für den vorliegenden Ge-
setzentwurf. Diese Haltung bedauere ich sehr, denn ich
bin mir ganz sicher, dass die Bereitschaft unserer Mitbür-
ger, anonyme Briefe gefüllt mit Puderzucker, Milzbrand-
drohungen per Telefon oder falsche Notrufe lediglich als
üblen Scherz abzutun und sie in irgendeiner Weise „lus-
tig“ zu finden, auch ein dreiviertel Jahr nach dem 11. Sep-
tember noch immer bei Null liegt.
Wir als CDU/CSU-Fraktion und auch die unionsge-
führten Bundesländer wollen gegen diejenigen, die man
verharmlosend als „Trittbrettfahrer“ in der Öffentlichkeit
bezeichnet, härter als bisher vorgehen. Wir wollen den
Männern und Frauen, die einen Kick aus ihrer anonymen
Macht gewinnen, indem sie ihre Mitbürger in Angst und
Schrecken versetzen, ein klares Stopp-Signal setzen. Un-
sere Botschaft ist ganz klar: Null Toleranz gegenüber
Trittbrettfahrern!
Ich hatte in der ersten Lesung, die zwei Monate nach
dem 11. September in diesem Hause stattfand, die Hoff-
nung, dass auch die Koalitionsfraktionen nicht nur ihre
tiefe Betroffenheit zum Ausdruck bringen und markige
Worte finden könnten, sondern auch die Kraft aufbringen
würden, zu handeln, auch wenn die Initiative zu diesem
Gesetzentwurf von der Union ausgegangen ist. Ich schloss
im Dezember meine Ausführungen mit den Worten: „Un-
sere Mitbürger erwarten es, dass wir bald den Trittbrett-
fahrern dieses eindeutige Stopp-Signal setzen.“ Ich bin der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24371
(C)
(D)
(A)
(B)
festen Überzeugung, dass unsere Mitbürger dieses Stopp-
Signal auch heute noch von uns erwarten. Die Union ist
hierzu bereit.
Leider steht die Union mit ihrer Bereitschaft zum Han-
deln aber offenbar allein da. Dies gilt nicht nur im vorlie-
genden Fall. Die Redebeiträge der anderen Fraktionen in
der ersten Lesung ließen dies bereits vermuten. Dort
fehlte es nicht an markigen Worten meiner Kollegen.
Trittbrettfahrer müssten schnell gefasst und auch zügig
vor Gericht gestellt werden. Die Härte des Gesetzes
wurde damals beschworen, die sie spüren müssten. Auch
dürften Trittbrettfahrer keine Nachsicht für sich in An-
spruch nehmen und selbstverständlich müssten Polizei
und Justiz unnachsichtig ihrer Aufgabe nachkommen. Ich
will an dieser Stelle die Aufzählung nicht weiter fortset-
zen. Entscheidend war schon damals, dass meine Kolle-
gen nach diesen kraftstrotzenden Bekundungen trotzdem
zur Quintessenz gelangten, dass überhaupt kein Grund
zum Handeln bestehe. Der Strafrahmen reiche aus, mit
den Urteilen der Gerichte sei man zufrieden und im Üb-
rigen stände ein zivilrechtliches Instrumentarium zur
Verfügung, um angemessenen Schadenersatz bis hin zu
relativ hohen Schmerzensgeldern zu erlangen. Nach Auf-
fassung der übrigen Fraktionen sei die Welt quasi in Ord-
nung.
Doch wäre die Welt in Ordnung, dann hätte es die vie-
len Trittbrettfahrer nach dem 11. September nicht gege-
ben, jedenfalls nicht als Massenphänomen. Zur ehrlichen
und ungeschminkten Bestandsaufnahme zählt doch das
Faktum, dass die bisherige Strafandrohung und die Praxis
im Justizalltag offensichtlich nur unzureichend die er-
hoffte Abschreckungswirkung entfaltet haben. Anders
lässt es sich sonst kaum erklären, dass seit Einführung des
Sondermeldedienstes für Milzbrandverdachtsfälle von
Oktober 2001 bis Dezember 2001 über 4 000 Verdachts-
fälle gemeldet wurden. Über Wochen lösten doch Tritt-
brettfahrer Großeinsätze von Polizei und Feuerwehr aus,
die ebenso unser aller Steuergeld kosteten wie die Unter-
suchungen in den Speziallaboren.
Die übrigen Fraktionen dieses Hauses mögen keinen
Handlungsbedarf sehen und die Welt für in Ordnung hal-
ten. Viele Bürger empfinden aber eindeutig den 11. Sep-
tember auch in dieser Frage als Wendepunkt. Mag man
früher vielleicht das ein oder andere Mal geneigt gewesen
sein, ein wenig Nachsicht mit vermeintlich „üblen Scher-
zen“ zu üben, so ist doch die Bereitschaft unserer Mitbür-
ger seit dem Herbst letzten Jahres sicherlich bei Null
angekommen und auch dort verblieben. Die Botschaft un-
serer Mitbürger gegenüber Politik und Justiz ist klar und
eindeutig: Null Toleranz gegenüber Trittbrettfahrern!
Als Union haben wir im Bundestag wie im Bundesrat
hieraus die Konsequenz gezogen und die beiden Gesetz-
entwürfe eingebracht, die heute zur Abstimmung anste-
hen. Wir wollen gegen diejenigen, die man verharmlo-
send als Trittbrettfahrer bezeichnet, härter vorgehen. Wer
in der gegenwärtigen Situation Straftaten androht oder
vortäuscht, seine Mitbürger in Angst und Schrecken ver-
setzt, Feuerwehrleute und Polizeibeamte bindet und diese
damit von ihren eigenen Aufgaben abhält, der begeht kein
Kavaliersdelikt mehr, sondern der entfaltet – ich sage dies
ganz klar und eindeutig – eine kriminelle Energie, die hart
bestraft werden muss.
Unser Gesetzentwurf sieht daher vor, die Strafandro-
hung des § 126 StGB zu erhöhen. Unser Entwurf bringt
deutlich zum Ausdruck, dass Delikte von solch hoher
Sozialschädlichkeit schwerer geahndet werden müssen,
als dies der bisherigen Praxis entspricht. Bisher waren
diese Taten im Höchstmaß mit geringerer Strafe bedroht
als ein Ladendiebstahl nach § 242 StGB oder eine Sach-
beschädigung nach § 303 StGB.
Diese relativ geringen Höchststrafen hatten selbstver-
ständlich zur Folge, dass die Gerichte, die selten die
Höchststrafe verhängen, recht milde mit den Tätern um-
gingen. Eine Abschreckungswirkung trat jedenfalls nicht
ein. Selbst am 6. Dezember letzten Jahres verhängte das
Amtsgericht Köln gegenüber zwei so genannten Milz-
brand-Trittbrettfahrern – also wahrlich keine harmlose
Sache – lediglich Geldstrafen in Höhe von 1 600 DM.
Und es befremdet schon – um die allerhöflichste Formu-
lierung zu wählen –, dass die Bundesregierung unserem
Anliegen auf Erhöhung der Strafandrohung mit dem Hin-
weis entgegentritt, die verhängten Verurteilungen zu Frei-
heitsstrafen würden sich im unteren Bereich des Straf-
rahmens bewegen, sodass bereits auf der Grundlage des
geltenden Rechts noch viel Spielraum für die Verhängung
weitaus höherer Strafen bestehe. Gerade diese unbefriedi-
gende Praxis, die offensichtlich auch keine ausreichende
Präventionswirkung entfaltete, ruft doch geradezu da-
nach, den bisherigen § 126 StGB zu novellieren.
Doch die Koalitionsfraktionen waren schon aus Prin-
zip unwillig, sich mit unserem Gesetzesentwurf zu be-
schäftigen. Herr Beck meinte in der ersten Lesung sich zu
der Aussage versteigen zu müssen, dass die Befassung mit
unserem Entwurf eine Zeitverschwendung für uns Parla-
mentarier sei. Entlarvendere und sich selbst disqualifizie-
rendere Äußerungen sind mir selten untergekommen.
Die Unwilligkeit der Koalition hat den Bundeskanzler
nicht gehindert, auf der Tagung der Staats- und Regie-
rungschefs nach dem 11. September eine Erklärung zu un-
terschreiben, dass „gegen die verantwortungslosen Perso-
nen, die die derzeitige Situation ausnutzen, um falschen
Alarm auszulösen, (...) die Mitgliedstaaten entschlossene
Maßnahmen ergreifen werden, indem sie insbesondere
Straftaten dieser Art streng ahnden“. Unsere europäischen
Nachbarn, wie Großbritannien, haben daher reagiert und
teilweise die Strafen für Trittbrettfahrer massiv angeho-
ben. Doch in Deutschland wird dies durch die Koalition
verhindert. Den populistischen Worten folgen keine Ta-
ten. Eine harte Strafe und damit gleichzeitig das klare
Stopp-Signal an tatgeneigte Trittbrettfahrer bleibt so-
mit aus. Die Bürger haben jedoch die Chance, dies am
22. September zu ändern.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die so genannte Trittbrettfahrerei erlebte insbesondere in
den Wochen nach den erschütternden Terrorakten vom
11. September 2001 eine gewisse Konjunktur. Es ist er-
freulich, dass diese schlimme Begleiterscheinung, wie es
mir scheint, in der letzten Zeit jedenfalls in Deutschland
nicht mehr so häufig vorkommt. Aber unabhängig davon
sind wir uns wohl alle einig: Vorgetäuschte Anthrax-
Briefe oder unwahre Bombendrohungen sind kein
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224372
(C)
(D)
(A)
(B)
schlechter Witz Sie versetzen Menschen unnötig in Angst
und Schrecken und sie verursachen extreme Kosten für
das Gemeinwesen. Deshalb muss klar sein: Trittbrettfah-
rerei verdient eine harte und zügige Bestrafung durch
unsere Justiz. Genau das geschieht auch: Vereinzelte Ge-
richtsentscheidungen in den vergangenen Wochen haben
ja gezeigt, dass die geltende Rechtslage durchaus aus-
reicht, um den Tätern angemessen und schmerzhaft ihr
Unrecht vor Augen zu führen.
Deshalb ist der Gesetzentwurf der Union schlichtweg
überflüssig. Es ist ja bei der Union im Übrigen auch im-
mer das selbe Ritual: Bei den Straftaten, die gerade in der
Öffentlichkeit aus welchen Gründen auch immer – in aller
Munde sind, fordert immer sogleich eine Erhöhung der
Strafrahmen. Als ob das irgendetwas bringen würde! Sie
sollten doch endlich mal ihre populistischen Reflexe ab-
legen. Den Menschen nicht vorgauckeln, dass den Ge-
richten in diesem Land angeblich der angemessene Straf-
rahmen für die Ahndung dieser Delikte fehlt. Das stimmt
einfach nicht. Ich kann nur sagen: Gesetzentwürfe dieser
Natur sind schlichtweg unseriös und die Befassung damit
ist eine Zeitverschwendung für uns Parlamentarier.
Unser Strafgesetzbuch enthält – je nach den Umstän-
den des Einzelfalles – für solche Trittbrettfahrer-Hand-
lungen eine ganze Reihe von einschlägigen Straftatbe-
ständen mit teilweise erheblichen Strafandrohungen: Der
§ 126 Abs. 1 beispielsweise bestraft eine Störung des öf-
fentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten mit
einer Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis. Im Abs. 2
derselben Vorschrift wird die „friedensstörende Vortäu-
schung der rechtswidrigen Tat eines anderen“ ebenso mit
bis zu drei Jahren Haft bestraft. Diese Freiheitsstrafe kann
auch demjenigen blühen, der nach §145 d Strafgesetzbuch
eine Straftat vortäuscht. Der Straftatbestand der Bedro-
hung im § 241 Strafgesetzbuch ermöglicht ebenfalls eine
Haft bis zu einem Jahr. Oft sind gleich mehrere dieser Tat-
bestände in Tateinheit verwirklicht.
Außerdem blüht den Tätern ja nicht nur die strafrecht-
liche Ahndung. Trittbrettfahrerei kann auch verdammt
teuer werden. Denn neben den strafrechtlichen Konse-
quenzen drohen den Trittbrettfahrern zivilrechtliche
Schadensersatzansprüche und überdies die öffentlich-
rechtliche Kostenersatzpflicht für den unbegründeten
Einsatz von Polizei und anderen Behörden. Ich empfehle
zum Beispiel da mal einen Blick in die diversen Polizei-
gesetze der Länder, die insoweit sehr ausdrückliche Re-
gelungen enthalten (zum Beispiel Art. 9 Abs. 1 BayPAG
in Verbindung mit § 1 Nr. 1 ByPolKV).
Das Problem bei der Trittbrettfahrerei ist also nicht die
fehlende Sanktionsmöglichkeit, wie uns dies heute die
Union erneut vorgaukeln will. Die Schwierigkeit besteht
vielmehr für die Strafverfolgungsbehörden darin, der Tä-
ter überhaupt habhaft zu werden. Denn bei einem absen-
derlosen Brief, gefüllt mit Waschpulver, verlaufen die Er-
mittlungen meist im Sande. Da hilft das Schrauben an der
Strafrahmen-Schraube überhaupt nichts.
Jörg van Essen (FDP): Das Unwesen der Trittbrett-
fahrer ist leider nicht neu. Schon seit vielen Jahren erre-
gen wir uns über Trittbrettfahrer, die in spektakulären Ent-
führungsfällen versuchen, das Lösegeld zu erpressen. Im
vergangenen Jahr hat das Problem im Zusammenhang mit
den Milzbrandfällen eine neue, erschreckende Dimension
erhalten. In unerträglicher Weise wird hier mit den Ängs-
ten der Bürgerinnen und Bürger gespielt. Die Sicherheits-
dienste werden dringend gebraucht, um der neuen Sicher-
heitslage in Deutschland angemessen zu begegnen.
Dieser Aufgabe können sie aber nur unzureichend gerecht
werden, da viele Ressourcen für die immer neuen Ver-
dachtsfälle gebraucht werden. Diese Einsätze sind nicht
nur mit einem hohen Personalaufwand verbunden, son-
dern darüber hinaus auch mit erheblichen Kosten.
Der Staat muss gegenüber diesen Tätern angemessen
reagieren. Trittbrettfahrer müssen die ganze Härte der Ge-
setze zu spüren bekommen. Unsere Rechtsordnung sieht
dafür mehrere Möglichkeiten vor. Zum einen können ge-
genüber diesen Tätern Schadensersatzansprüche geltend
gemacht werden. Dies schließt auch die Kosten für den
Einsatz von Polizei und anderen Behörden mit ein. Zum
anderen gibt es im Strafrecht zahlreiche Tatbestände, die
gegenüber Trittbrettfahrern zur Anwendung kommen
können. Wir brauchen in diesen Fällen eine schnelle Ver-
urteilung. Das beschleunigte Verfahren eignet sich hierfür
besonders. Nur wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, wird
sie weitere Nachahmungstäter abschrecken. Verurteilun-
gen zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung
sind der richtige Weg. Wichtig ist, dass hier die Bürgerin-
nen und Bürger mit den Organen des Staates gemeinsam
bekunden, dass das Vortäuschen einer widerwärtigen
Straftat keinerlei Billigung durch die Gesellschaft erfährt.
Die Medien können durch zurückhaltende Berichterstat-
tung zusätzlich helfen.
Aus Sicht der FDP sind die vorliegenden Gesetzent-
würfe kein taugliches Mittel, um mögliche Täter abzu-
schrecken. Allein die Erhöhung der Strafandrohung hat
keinerlei Einfluss darauf, wie der Richter im Einzelfall
tatsächlich entscheidet. Hier führt nur die schnelle Straf-
verfolgung durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte
zu dem beabsichtigten Erfolg. Die FDP wird die Gesetz-
entwürfe daher ablehnen.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Die seit den Terroran-
schlägen in den USA aufgetretenen Trittbrettfahrer haben
zeitweise zu einer Verunsicherung der Bevölkerung ge-
führt. Wir sind uns einig, dass solche Taten schnell und
konsequent verfolgt werden müssen. Nur so kann der öf-
fentliche Frieden gewährleistet und weitere Bedrohungen
vermieden werden.
Die Herausforderung, dass Trittbrettfahrer eine ange-
spannte Sicherheitslage schamlos ausnutzen, um ihr uner-
trägliches Spiel mit den berechtigten Sorgen der Bürge-
rinnen und Bürger zu treiben, ist bestanden worden. Denn
es hat sich gezeigt, dass Polizei und Justiz entschlossen
sowie mit hoher Priorität gegen die Trittbrettfahrer vorge-
gangen sind. Damit ist die von den Fraktionen aller Par-
teien – außer der der CDU/CSU – vertretene Auffassung
in der ersten Lesung bestätigt worden, dass das vorhan-
dene Instrumentarium unseres Rechtsstaates ausreicht.
Strafverschärfungen waren nicht notwendig, um gegen
diese besonders perfide Art der Kriminalität vorzugehen.
Trittbrettfahrer sind aufgrund des konsequenten Handelns
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24373
(C)
(D)
(A)
(B)
der Justiz zu keiner Massenerscheinung geworden. Sicher
hat auch dazu beigetragen, dass neben und unabhängig
von der strafrechtlichen Verfolgung die Trittbrettfahrer
zudem für die Kosten der von ihnen ausgelösten
Fehlalarme aufkommen mussten. Daneben waren einige
von ihnen weiterhin mit zivilrechtlichen Klagen von ge-
schädigten Bürgerinnen und Bürgern als auch von Firmen
konfrontiert.
Unmittelbar im Anschluss an die Terroranschläge am
11. September haben die Staatsanwaltschaften also dafür
Sorge getragen, dass Verfahren gegen Trittbrettfahrer vor-
dringlich behandelt werden. Dabei wurden – wenn dies
möglich war – beschleunigte Verfahren durchgeführt. Da-
mit sind wir auch bei dem zweiten zur Debatte stehenden
Gesetzentwurf, der im Rechtsausschuss ebenfalls ohne
Mehrheit blieb. Der Initiative zufolge sollten zukünftig
zwischen dem Eingang des Antrags der Staatsanwalt-
schaft bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung
nicht mehr als sechs Wochen liegen. Obwohl dadurch
schnell Rechtsklarheit in Sachen „beschleunigte Verfah-
ren“ entstehen würde, stimmte die SPD diesem Vorschlag
nicht zu, obwohl sie dem Antrag nicht grundsätzlich ab-
lehnend gegenüber steht.
Der Grund war folgender: Es sei nicht zielführend, das
Strafprozessrecht durch „Insellösungen“ ändern zu wol-
len. Besser sei es, das Problem im Rahmen der grundle-
genden Strafrechtsreform mit anzupacken.
Sicher sind komplexe und stimmige Lösungen besser
als eine eilige Flickschusterei. Doch bei der vorliegen-
den Initiative hätte ich es durchaus für angebracht ge-
halten, das eine zu tun ohne das andere zu lassen. Denn
nicht zuletzt die Trittbrettfahrerproblematik hat den
Wert der beschleunigten Verfahren gezeigt. Jüngst haben
sich die Regierungsfraktionen bei der Telefonüberwa-
chung von Sexualstraftätern zu einer Vorablösung ent-
schlossen.
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Rede
zurBeratung des Antrags: Weiterentwicklung ei-
ner Biotechnologiestrategie für den Forschungs-
und Wirtschaftsstandort Deutschland (Tages-
ordnungspunkt 13)
René Röspel (SPD): Erst vor zwei Tagen wurde uns
der in dieser Debatte zu behandelnde CDU-Antrag „Wei-
terentwicklung einer Biotechnologiestrategie für den For-
schungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland“ vorge-
legt. Warum diese Eile? Weil der Antrag ehrlicherweise
hätte heißen müssen: „Noch 101 Tage bis zur Bundes-
tagswahl“. Es handelt sich um ein Sammelsurium illustr-
er Forderungen, die wohl aus Wahlkampfgründen zusam-
mengekratzt worden sind. Wir erleben hier in der Tat das,
was der Opposition in vielen Politikbereichen passiert.
Die CDU schafft es wieder einmal, aus einem Papieran-
trag einen Bumerang zu machen, der sie hart treffen wird.
Dieser Antrag gibt uns nämlich erneut die Gelegenheit,
die Erfolge der rot-grünen Regierungspolitik zu themati-
sieren und damit die Opposition ins Leere laufen zu las-
sen; denn diese Regierung braucht sich in Fragen der För-
derung von Bio- und Gentechnologie nun wirklich nicht
zu verstecken. Dazu aber später mehr.
Die Kürze der Zeit erlaubt es leider nicht, diesen neun-
seitigen Antrag in allen Details zu behandeln – oder bes-
ser gesagt: auseinander zu nehmen. Deshalb möchte ich
zunächst auf eine der wenigen vernünftigen Aussagen des
Antrages eingehen, aus denen man gemeinsame Positio-
nen entwickeln könnte, wenn es der CDU nicht offenbar
allein um Wahlkampf ginge.
Wir sind uns sicher einig, dass wir klare Regelungen
für die genetische Diagnostik brauchen, in der Medizin,
aber auch im Bereich der Versicherungen und des Ar-
beitsrechts. Dies entspricht auch den Empfehlungen der
Enquete-Kommission, deren Abschlussbericht wir vor
wenigen Stunden hier an diesem Ort diskutiert haben. Das
Problem liegt aber – wie immer – im Detail. Deshalb ha-
ben wir aus parlamentarischem Respekt vor der Enquete-
Kommission zunächst deren Arbeit und Ergebnisse ab-
warten wollen, bevor wir in die endgültige Erarbeitung
eines Gesetzes gehen. Ich habe die Enquete-Mitglieder
der CDU eigentlich auch immer so verstanden, dass diese
Auffassung interfraktionell getragen wird. Warum dann
aber – wenn nicht wegen des Wahlkampfes – Ihr heutiger
Ruck-Zuck-Antrag?
Beispielweise sind wir einig darin, dass jeder Mensch
das Recht haben muss, seine genetische Disposition nicht
zu kennen; Stichwort „Recht auf Nichtwissen“. Gleich-
zeitig aber soll es jedem freigestellt werden, ob und wel-
chen Tests er sich unterzieht. Was heißt das denn in der
Konsequenz? Ungeregelter Zugang zu solchen Tests?
Und wie kann dann das Recht auf Nichtwissen bei Tests
geschützt werden, die auch Rückschluss auf die geneti-
sche Konstitution von Familienangehörigen erlauben, wie
zum Beispiel bei Morbus Huntington?
In der Frage Stammzellforschung ist es bereits Han-
deln der Bundesregierung, die Arbeit an adulten Stamm-
zellen vorrangig zu behandeln und die nordrhein-westfä-
lische rot-grüne Landesregierung ist es, die schon ein
Projekt mit Affenzellen fördert. Auch hier hinkt die Op-
position hinterher – oder handelt nicht glaubwürdig, denn
viele der CDU-Unterzeichnerinnen und Unterzeichner
dieses Antrages wollten doch in den Abstimmungen der
letzten Monate eigentlich viel mehr – bis hin zur Herstel-
lung von Stammzellen aus Embryonen auch in Deutsch-
land.
Geradezu unverschämt ist der lange Absatz, in dem Sie
fordern, „... das Verbot der Keimbahntherapie beizube-
halten.“ Sie wollen offenbar den Eindruck erwecken, dass
es an diesem Punkt Differenzen gibt. Bis auf Stimmen aus
der FDP aber kenne ich niemanden, der so etwas fordert.
Mit Rot-Grün jedenfalls wird es das nicht geben!
Bei der „Grünen Gentechnik“ fordern Sie auf Seite 4
vernünftigerweise Transparenz und Kennzeichnung, auf
Seite 8 dann die Straffung von Genehmigungsverfahren
und die Vereinfachung des Gentechnikrechtes, natürlich
„... ohne das bestehende Schutzniveau ... in Frage zu stel-
len.“ So blind kann man doch auch in der Opposition nicht
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sein, dass diese Balance gerade auf europäischer Ebene
schwierig ist. Und wenn wir den Anbau von gentechnisch
verändertem Mais nicht zulassen, weil es ernst zu neh-
mende wissenschaftliche Hinweise gibt, dass Schädlinge
Resistenzen entwickeln und auch Nützlinge getroffen
werden können, ziehen Sie Ihr im Kalten Krieg bewähr-
tes – heutzutage aber völlig untaugliches – Ideologie-Ar-
gument wieder aus der Tasche; es langweilt mittlerweile.
Unterlegen Sie Ihre Aussagen doch mal mit wissenschaft-
lichen Fakten.
Dass Sie es sich sehr einfach machen, merkt man auch
bei der Forderung, „... bei gentechnischen Veränderungen
von Tieren ethische Aspekte ... und den Tierschutz zu ge-
währleisten...“ Gentechnisch veränderte Tiere dürften nur
dann in der Forschung und Landwirtschaft eingesetzt
werden, fordern Sie, wenn feststehe, dass dies im Hin-
blick auf Gesundheit und Wohlbefinden der Tiere vertret-
bar ist – werden die Mäuse demnächst gefragt, wie sie
sich fühlen? Unglaublich! Über Jahre hinweg verweigern
Sie sich unserer Initiative, den Tierschutz ins Grundgesetz
aufzunehmen. Angesichts der kommenden Wahlen stim-
men sie dann vor einigen Wochen plötzlich doch zu, und
jetzt kommen sie mit einem Vorschlag, der eine absolute
Forschungsbremse darstellen würde. Da sich vermutlich
nur die wenigsten gentechnisch veränderten Tiere „wohl-
befinden“, wären Tierversuche nicht mehr möglich. Das
ist völlig unrealistisch. Wäre das eine Formulierung von
Rot-Grün, Ihre Forschungspolitiker würden heftigst pro-
testieren.
Unbelegt bleibt nach wie vor die Hoffnung, mit der
sogenannten Ersten-Welt-Gentechnologie den Hunger
bekämpfen zu können. Immerhin geben Sie auf Seite 8
ja endlich einmal zu, dass damit nicht „... die Vertei-
lungsprobleme der Dritten Welt...“ gelöst werden kön-
nen.
Neu der Hinweis, über Gentechnologieprobleme des
Alterns bekämpfen zu wollen. Es ist aber erst acht Tage
her, dass der Forschungsausschuss in diesem Haus eine
Anhörung zur Altersforschung gemacht und mit dieser
Hoffnung aufgeräumt hat.
Neu auch, dass Sie die Biotechnologie dadurch weiter-
entwickeln wollen, dass das so genannte Scheinselbst-
ständigengesetz abgeschafft werden soll. Ihnen ist für den
Wahlkampf nichts zu schade. Sie sind für diesen Antrag
mit dem groben Besen durch die Rumpelkammer Ihrer
abgestandenen Vorschläge gegangen und haben alles zu-
sammengefegt, was sich nur finden lässt. Aber Sie errei-
chen Ihr Ziel nicht.
Keine andere Bundesregierung kann auf dem Gebiet
der Bio- und Gentechnologie so viele Erfolge nachwei-
sen wie die rot-grüne. Während der Ex-Forschungsmini-
ster Rüttgers das Amtszimmer von Kanzler Kohl jedes
Mal mit gekürztem Etat verließ, gibt es unter der Leitung
der Ministerin Bulmahn seit vier Jahren wieder Zu-
wachs.
In seiner Regierungserklärung hat der Bundeskanzler
heute morgen deutlich gemacht, dass die Investitionen ge-
genüber 1998 um 21 Prozent gestiegen sind. Ich brauche
dies nicht mehr zu wiederholen. Deshalb hier nur stich-
wortartig einige Beispiele dafür, dass viele Ihrer Forde-
rungen schon längst erfüllt sind:
Bereits im ersten Etat der Ministerin Bulmahn ist die
Projektförderung um 10 Prozent gestiegen. Anfang 2001
verabschiedete das Bundeskabinett das Rahmenpro-
gramm Biotechnologie mit Forschungsgeldern in Höhe
von 800 Millionen Euro für fünf Jahre. Dazu kommen
180 Millionen Euro für das Genomforschungsnetz 90 Mil-
lionen Euro wurden für ein Förderprogramm zur Bio-
informatik zur Verfügung gestellt.
Hätte Rüttgers solche Zahlen vorzuweisen gehabt, ihm
wären vor Stolz geschwellter Brust die Jackenknöpfe
weggeplatzt.
In einem Punkt allerdings muss ich Sie bremsen. Da
können wir wirklich nicht mitmachen. Der Gipfel der For-
derungen im Abschnitt „Rote Gentechnik“ ist die Auffor-
derung, die Bundesregierung möge ... den Rückstand der
Therapien auf die Diagnostik so schnell wie möglich ver-
ringern...“
Nun hat Bundeskanzler Gerhard Schröder wirklich
viele Talente, und die Bundesregierung ist mit fähigen
und kompetenten Ministerinnen und Ministern versehen,
aber die Entwicklung von Therapien bleibt besser in den
Händen der Forscherinnen und Forscher. Die finanziellen
und strukturellen Rahmenbedingungen haben wir aller-
dings dafür ausgebaut.
Wir wollen die verantwortbaren Potenziale der Bio-
und Gentechnologie entwickeln. Das geht nur, wenn ge-
sellschaftliche Akzeptanz vorhanden ist. Anträge wie die-
ser CDU-Antrag schaden mehr, als sie nutzen.
Katherina Reiche (CDU/CSU): Mit dem Beschluss
der EU-Regierungschefs auf dem diesjährigen Gipfel in
Barcelona zur „European Life Science Strategy“ soll die
Entwicklung der Bio- und Gentechnologie in Europa eine
neue Perspektive erhalten. Ich frage mich nun: Wann und
wie wird diese Strategie in Deutschland umgesetzt? Denn
die Bio- und Gentechnologie ist eine Leittechnologie der
nächsten Jahrzehnte mit zukunftsweisenden Entwick-
lungschancen. Doch leider wurde die Debatte über Bio-
politik in den letzten Monaten oft verkürzt. Mitunter
scheint es, als ginge es ausschließlich um Stammzellen
und Gentomaten. Es geht aber um so viel mehr, um
Bioremediation, Pharmakogenetik, Antikörpertechnolo-
gien, Bioelektronik, Tissue Engineering, nachwachsende
Rohstoffe oder nährstoffreichere Lebensmittel.
Mit den Erkenntnissen der Biowissenschaften verbin-
den sich Hoffnungen und Chancen: Hoffnung auf die Ent-
wicklung neuer Medikamente und Chancen für Fort-
schritt und für positive Effekte am Arbeitsmarkt. Neue
technologische Entwicklungen müssen früh erkannt wer-
den und – wo diese Perspektiven eröffnen – gefördert
werden. Dabei ist es die Aufgabe der Politik, den wissen-
schaftlichen Fortschritt auf verantwortbare Weise zu er-
möglichen. Gleichzeitig ist es notwendig – insbesondere
im medizinischen Bereich –, die ethischen Grenzen auf-
zuzeigen. Forschung ohne Fortschritt ist nicht möglich.
Das muss auch die rot-grüne Bundesregierung erkennen.
Deshalb hat die Politik die Aufgabe, diesen Fortschritt zu
ermöglichen und ihn für die Zukunft nutzbar zu machen.
Genau das ist der Kern unseres Antrages.
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CDU und CSU haben bereits in den 90er-Jahren mit
der Novellierung des Gentechnikgesetzes und dem
Bio-Regio-Wettbewerb die Voraussetzungen für eine po-
sitive Entwicklung der Biotechnologie in Deutschland ge-
schaffen. Diese veränderten Rahmenbedingungen haben
in der Folge zu einer wahren „Gründerzeit“ geführt: Der
Technologietransfer aus universitären Forschungseinrich-
tungen in junge Start-up-Unternehmen hat zugenommen,
in der Biotechnologiebranche ist ein selbstbewusstes
Unternehmertum entstanden und die Akzeptanz der Bio-
technologie in der Öffentlichkeit ist insgesamt deutlich
gewachsen.
Vor wenigen Monaten hat der Deutsche Bundestag die
Regelung für den Import humaner embryonaler Stamm-
zellen beraten. Dies war keine leichte Entscheidung. Sinn
und Zweck des Gesetzes ist es, dem menschlichen Leben
von Anfang an Ehrfurcht entgegenzubringen und den
Schwerkranken die gebotene Hilfe nicht zu verweigern.
Wissenschaftler haben nun die Möglichkeit, sich an der
Setzung internationaler Standards zu beteiligen. Nach
drei Jahren müssen wir das Gesetz dahin gehend prüfen,
ob sich die neuen Rahmenbedingungen bewährt haben.
Die Biotechnologiepolitik der rot-grünen Bundesre-
gierung hat erkennbare Schwächen und ist in sich nicht
konsistent. Anstatt zentrale Querschnitts- und Schlüssel-
felder, wie die Bioinformatik, gezielt zu fördern, werden
sie leider zu spät oder zu wenig unterstützt. Bereits jetzt
werden jährlich etwa 800 bis 1 000 zusätzliche Bioinfor-
matiker benötigt – und der Bedarf steigt weiter!
Als führende Exportnation hat Deutschland eine be-
sondere Verantwortung, sich in die europäische Diskus-
sion aktiv einzubringen und vor allem auf nationaler
Ebene entsprechende Umsetzungsstrategien zu ent-
wickeln. Es macht jedoch keinen Sinn, auf der einen Seite
Forschungsprojekte zu fördern und auf der anderen Seite
den Marktzugang der daraus entstandenen Produkte zu
verzögern oder zu blockieren. Ebenso wenig Sinn macht
es, einerseits von der zunehmenden Bedeutung der Gen-
und Biotechnologie als Innovationsmotor zu sprechen
und andererseits alles zu tun, um diesen Motor abzu-
bremsen. So hat die rot-grüne Bundesregierung die grüne
Gentechnik sträflich vernachlässigt, ja, stiefmütterlich be-
handelt.
Wo Entwicklungsperspektiven gefragt sind, werden
diese aus ideologischen Gründen nicht weiterverfolgt.
Die Akzeptanz in der Bevölkerung für rote Gentechnik
ist hoch; immerhin befürworten 87 Prozent der EU-Bür-
ger die biotechnische Herstellung von Medikamenten.
Das ist verständlich, denn die Menschen wollen am me-
dizinischen Fortschritt teilhaben. Laut einer Allensbach-
Umfrage vom Oktober 2001 befürworten 79 Prozent der
Befragten den Einsatz der Gentechnologie zur Heilung
schwerer Krankheiten. 46 Prozent begrüßen die Immuni-
sierung von Pflanzen gegen Schädlinge und Krankheiten.
Diese Zahlen spiegeln eine große Aufgeschlossenheit wi-
der, die auch Rot-Grün zur Kenntnis nehmen muss. Da-
neben besteht ein allgemeiner Konsens in der Ablehnung
von Keimbahntherapien und denn Klonen von Menschen.
Die CDU befürwortet ausdrücklich die Zeichnung der
Bioethik-Konvention. Wir sehen darin einen wichtigen
Schritt in die Richtung eines einheitlichen und hohen eu-
ropäischen Schutzniveaus. Zudem sehen wir in der Kon-
vention einen entscheidenden Beitrag dafür, dass Maß
und Mitte, Menschlichkeit und Menschenwürde gewahrt
bleiben. Sonst wird Zukunftsangst an die Stelle von Zu-
versicht treten. Deshalb sage ich Ihnen: Denken Sie in
ganzheitlichen Lösungen, denken Sie über den rot-grünen
Tellerrand hinaus! Es wäre nicht zu verantworten, wenn
das Land der Dichter und Denker und Naturwissenschaft-
ler und Ingenieure zum Land der Zögerer und Zauderer
wird.
„Wer jedes Risiko ausschalten will, der zerstört auch
alle Chancen“, so der ehemalige Präsident des BDI, Hans-
Olaf Henkel. Wenn Deutschland seine führende Rolle in-
nerhalb der europäischen Biotechnologieindustrie selbst-
bewusst behaupten will, sind weitere Anstrengungen
durch die Bundesregierung notwendig. Wichtig ist ein
Klima, in dem neue Ideen und Innovationen entstehen
können. Schule und Ausbildung können dazu einen
großen Beitrag leisten. Junge Menschen sind bereit,
Neues zu lernen, und technischen Neuerungen gegenüber
aufgeschlossen. Diese Neugierde gilt es zu fördern – ins-
besondere im naturwissenschaftlichen Bereich. So ist der
naturwissenschaftlich interessierte Abiturient vielleicht
schon der selbstständige Biotech-Unternehmer von mor-
gen.
Heute stellen wir jedoch fest, dass in der Biotechnolo-
gie ein eklatanter Mangel an Nachwuchskräften besteht.
Diesen Engpass beobachten wir nicht nur bei Wissen-
schaftlern, sondern auch bei Laboranten und Technikern.
Bislang gibt es nur punktuelle Maßnahmen, aber kein ab-
gestimmtes nationales Konzept. Was Deutschland drin-
gend braucht, ist die Förderung des naturwissenschaftli-
chen Nachwuchses. Der Biotechniksektor ist ein
dynamischer Arbeitsmarktbereich: Waren 1999 etwa
8 100 Menschen in der biotechnologischen Forschung
und Entwicklung tätig, waren es im Jahr 2001 bereits über
14 000 Beschäftigte.
Es bestehen keinerlei Zweifel, dass auf diesem Gebiet
in den nächsten Jahren weitere Beschäftigungsmöglich-
keiten entstehen werden. Um die Potenziale der Bio- und
Gentechnologie in marktreife Produkte und innovative
Forschungslösungen umzusetzen, kommt es auf positive
Standortfaktoren an. Dazu zählen Wagniskapital, günstige
steuerliche Rahmenbedingungen und unkomplizierte Ge-
nehmigungsverfahren. Daneben müssen Wissenschaft
und Wirtschaft in einen offenen Dialog treten, um offen-
siv und möglichst breit miteinander kommunizieren zu
können. Die Akzeptanz in der Öffentlichkeit ist eine ent-
scheidende Voraussetzung für die Nutzung der Biotech-
nologie. Die Akzeptanz steigt insbesondere dann, wenn
dem Verbraucher die viel versprechenden und zukunfts-
fähigen Entwicklungsmöglichkeiten vermittelt werden
können. Was tut Rot-Grün? Im „Bericht der Arbeits-
gruppe zur Reorganisation des gesundheitlichen Verbrau-
cherschutzes“ heißt es, dass die Hauptaufgabe des neu zu
gründenden Bundesinstituts für Risikobewertung „die
Durchführung der Risikobewertung... im Bereich der Le-
bensmittelsicherheit“ ist. Ich frage mich: Warum gründen
Sie kein Institut für Chancenbewertung? Muss der Bürger
denn immer nur vor potenziellen Gefahren geschützt wer-
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den? Hat er kein Recht darauf, sich über Potenziale und
Chancen zu informieren? Hat Politik nicht die Aufgabe,
auch für Chancen zu werben?
In einer wissensbasierten Gesellschaft ist Stillstand
Rückschritt. Es geht daher um die Frage, ob Zurückhal-
tung und Skepsis die Möglichkeiten und Herausforde-
rungen dominieren sollen. Hubert Markl, der Präsident
der Max-Planck-Gesellschaft, gibt uns folgende Erkennt-
nis mit auf den Weg: „Weder wird es uns jemals möglich
sein, jene Art von Wissen zu erlangen, die auch die Zu-
kunft vorhersehen lässt. Noch werden wir jemals alles
wissen, was wir benötigen, um die Herausforderungen
der Zukunft zu bestehen, denn die Zukunft entwickelt
sich unerschöpflich neu und niemals gänzlich vorhersag-
bar.“ Umso dringender braucht die moderne Bio- und
Gentechnologie in Deutschland daher einen verlässli-
chen Rahmen, der Fortschritt ermöglicht und Prosperität
sichert.
Helmut Heiderich (CDU/CSU): Die Biotechnologie
in Deutschland wurde von der CDU/CSU-Fraktion ent-
scheidend vorangebracht. Das Gentechnikgesetz 1990
legte die Grundlagen. Mit dem Bio-Regio-Wettbewerb
wurde ab 1996 der entscheidende Durchbruch erzielt.
Kein Wunder, dass der erste Deutsche Biotechnik-Report
im Jahr 1998 eine breite Aufbruchstimmung in dieser
neuen Schlüsseltechnologie der nächsten Jahrzehnte ver-
melden konnte. An der weltweiten Spitzenforschung, zum
Beispiel der Entschlüsselung des menschlichen Genoms
oder der Sequenzierung des ersten Pflanzengenoms, wa-
ren deutsche Universitäten und Forschungsinstitute
führend beteiligt. Zahlreiche Start-ups gingen als Neu-
gründungen daraus hervor.
Unter Rot-Grün ist jedoch der politische Elan zur brei-
ten Unterstützung der Biotechnik erloschen! Zwar hat das
BMBF, insbesondere mit UMTS-Mitteln, versucht, einige
erfolgreiche Ansätze fortzusetzen; das Gesamtkonzept
ging jedoch verloren. Die Zersplitterung der Zuständig-
keit auf weitere Ministerien brachte dazu ein Übriges.
Insbesondere im Bereich der grünen Biotechnik ist die
Bundesregierung in sich zerstritten. Bei der Modernisie-
rung der gesetzlichen Rahmenbedingungen liegt Deutsch-
land inzwischen um Jahre hinter der Europäischen Union
zurück.
Dazu nur einige Beispiele: Die Biopatent-Richtlinie
wird seit 1998 ein ums andere Mal verschoben. Auch in die-
ser Woche stand sie wieder auf der Tagesordnung des
Plenums und wurde von Rot-Grün abgesetzt. Die Fort-
schreibung der Systemrichtlinie, das ist die Regelung gen-
technischer Laborarbeiten, wurde zwar jetzt endlich umge-
setzt, aber die Regelungen sind wesentlich bürokratischer
und die Genehmigungsvorschriften wesentlich ausufernder
formuliert worden als im übrigen Europa. Damit entstehen
für die deutschen Forscher und die anwendende Industrie
neue Wettbewerbsnachteile gegenüber der EU und der
übrigen Welt. Die Kennzeichnungsregelungen hat Ministe-
rin Künast zwar beim Europäischen Rat begrüßt, tut aber
nichts, sie praktikabel in deutsches Recht umzusetzen.
Gleiches gilt für die Festlegung von Grenz- bzw. Schwel-
lenwerten, ohne die eine praktische Nutzung von grüner
Biotechnik in Deutschland nicht möglich ist. Der vom
Kanzler auf der EXPO 2000 versprochene Durchbruch für
ein breites Anbauprogramm in der deutschen Landwirt-
schaft wurde über Nacht wieder einkassiert.
Durch die nach wie vor einseitig orientierte, ideolo-
gisch ausgerichtete Risiko-Diskussion wird von Rot-Grün
die Forschung blockiert, die Wissenschaft frustriert, wer-
den die Investoren düpiert und die Unternehmen strangu-
liert. Hubert Markl hat es kürzlich in der „Zeit“ vom
29. Mai 2002 treffend formuliert. Die deutsche Gesell-
schaft liebe die Wissenschaften, solange nichts dabei her-
auskomme, was gewohnte Verhältnisse radikal verändern
könne, „Aber wehe, wenn Gentechnik in Pflanzenzucht,
Nahrungsproduktion, Diagnostik oder Therapie von
Krankheiten die gottgegebenen Pfad urgroßelterlicher
Verhältnisse verlässt“. Die Bundesregierung tut vieles,
diese negative Tendenz zu verstärken. So hat Ministerin
Künast über ein halbes Jahr hinweg die Öffentlichkeit
über das wirkliche Meinungsklima in Deutschland ge-
genüber der Gentechnologie getäuscht. Eine entspre-
chende Studie des IFD Allensbach wurde von ihr unter
Verschluss gehalten. Die Studie kommt zum Ergebnis,
dass es eine „wachsende Akzeptanz der Gentechnologie“
in Deutschland gibt. Das passt Künast nicht ins Konzept.
Verkündet sie doch allenthalben, die große Mehrheit der
Bevölkerung sei gegen die Biotechnologie, insbesondere
die grüne Gentechnik.
Der druckfrische Biotechnik-Report 2002 deutet zu-
mindest zwischen den Zeilen an, dass die Branche inzwi-
schen in eine Phase der Stagnation geraten ist. Wenn die
Politik nicht umgehend die notwendigen rechtlichen Rah-
menbedingungen setzt, wird sich der Exodus in und aus
Deutschland deutlich verstärken.
Während die Europäische Union eine Strategie für die
Zukunft der Biotechnologie gerade beschlossen hat,
während Europäisches Parlament und Europäische Kom-
mission die Fortschreibung der Rahmenbedingungen auf
breiter Ebene forciert haben, während andere Länder aus
dem sechsten Forschungsrahmenprogramm erhebliche
Mittel für die Fortentwicklung – insbesondere auch der
grünen Gentechnik – abrufen, dümpelt die Biotechnik un-
ter Rot-Grün in Deutschland vor sich hin.
CDU/CSU setzen deshalb mit der Gesamtstrategie für
eine erfolgreiche Zukunft der Biotechnik in Deutschland
einen neuen Meilenstein. Je schneller wir dieses Konzept
in die parlamentarische, politische und wirtschaftliche
Umsetzung bringen, desto größere Chancen hat unser
Land, in der Biotechnik eine führende Position zu behal-
ten, wirtschaftliche Leistungskraft und neue Arbeitsplätze
zu gewinnen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Entwicklung biotechnologischer Forschungen und gen-
technischer Verfahren in vielen Bereichen der Medizin,
Landwirtschaft und Nahrungsmittelherstellung stellt un-
sere Gesellschaft vor neue Herausforderungen bei der Be-
wertung und der Entscheidung über den Einsatz dieser
Technologien. Bündnis 90/Die Grünen unterstützen mit
Nachdruck den öffentlichen Diskussionsprozess zu den
Antworten, die auf die ethischen, ökologischen, sozialen,
ökonomischen und juristischen Fragen gefunden werden
müssen.
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Bei diesen Bewertungen und Entscheidungen lassen
wir uns von folgenden Grundsätzen leiten: Wahrung von
Menschenwürde, Menschenrechten und des Rechtes auf
Selbstbestimmung, Sicherheit für Mensch und Umwelt,
Verbesserung der Heilungschancen kranker Menschen
und Anerkennung der Vielfalt des menschlichen Daseins,
Schutz der Umwelt, der Biodiversität und Achtung des
Tierschutzes, Transparenz und Demokratie in den Ent-
scheidungsprozessen, Vielfalt der Ansätze in Forschung
und Politikberatung und Wahrung des Selbstbestim-
mungsrechts auf ein gentechnikfreies Leben, Schutz der
gentechnikfreien Produktion und Lebensmittelerzeu-
gung.
Auf der Grundlage des rot-grünen Koalitionsvertrages
werden Biowissenschaften und -technologien verantwor-
tungsvoll weiterentwickelt: Die Bundesregierung hat mit
ihrer Technologie- und lnnovationsförderung die Voraus-
setzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in der
Biotechnologiebranche geschaffen. Die Anzahl der deut-
schen Biotechnologie-Unternehmen hat im Jahr 2001 im
Vergleich zum Vorjahr weiter um 10 Prozent, die der Be-
schäftigten um 35 Prozent zugenommen. Mit zusätzlichen
Mitteln von 180 Millionen Euro für das nationale Ge-
nomforschungsnetz bis Ende 2003 haben wir ein deutli-
ches Signal für Innovationen gesetzt. Damit ist Deutsch-
land im europäischen Vergleich führend bei der staatlich
geförderten Genomforschung, weltweit liegt es an zwei-
ter Stelle.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein, der maßgeblich
die Arbeitsbedingungen in den Forschungslabors be-
stimmt, ist mit der Novellierung des Gentechnikgeset-
zes im Mai dieses Jahres erreicht worden. Einerseits
werden Vorsorge und Sicherheit gestärkt und die Auf-
sichts- und Kontrollmöglichkeiten der zuständigen
Länderbehörden verbessert. Gleichzeitig nimmt das
neue Gentechnikgesetz dort, wo es verantwortbar ist,
Verfahrensvereinfachungen und -beschleunigungen
vor. Das entlastet Anwender und Behörden gleicher-
maßen und kommt den Interessen von Forschung und
Wissenschaft entgegen.
Mit dem Stammzellgesetz, das ab dem 1. Juli dieses
Jahres in Kraft tritt und der Empfehlung der Enquete-
Kommission, „Recht und Ethik der modernen Medizin“
folgt, wird das hohe Schutzniveau des Embryonenschutz-
gesetzes sichergestellt. Nur solche menschlichen embryo-
nalen Stammzellen dürfen importiert werden, die am
1. Januar dieses Jahres bereits existierten. Dadurch
schließen wir aus, dass zukünftig durch den Import – di-
rekt oder indirekt – weitere Embryonen getötet werden.
Weiter wird verhindert, dass irgendwo auf der Welt Em-
bryonen für deutsche Forschungszwecke getötet werden.
Weiter wird verhindert, dass irgendwo auf der Welt Em-
bryonen für deutsche Forschungszwecke getötet werden.
Die Stammzellen, die nach dem neuen Gesetz importiert
werden dürfen, existieren bereits und die Entscheidung
über das Leben dieser Embryonen ist irreversibel gefal-
len. Es bleibt weiterhin verboten, Embryonen zu For-
schungszwecken herzustellen, zu töten und zu verwen-
den. Der Import darf nur genehmigt werden, wenn das
damit verfolgte Forschungsvorhaben hochrangig und al-
ternativlos ist, das heißt nicht auf anderem Wege, zum
Beispiel mit tierischen oder adulten Zellen, verfolgt wer-
den kann. Damit wird sichergestellt, dass auch in Zukunft
der Schwerpunkt der Forschungsförderung bei den adul-
ten Stammzellen liegt. Nicht zuletzt wurde im Zuge der
Entwicklung dieses Gesetzes eine breite gesellschaftliche
Debatte auf sachlichem und hohem Niveau geführt. Aus-
druck demokratischer und verantwortungsbewusster
Selbstverständigungsprozesse.
Im Bereich der grünen Gentechnik stehen bei uns die
Verbraucherinnen und Verbraucher im Mittelpunkt. Eine
neue Technologie kann nicht gegen den Willen der Ver-
braucher eingeführt werden. Daher setzen wir uns für die
Sicherung eines hohen Schutzniveaus für die Verbraucher
ein. Konkret bedeutet dies: die Verbraucher sollen erken-
nen können, in welchen Lebensmitteln und Produktions-
prozessen genmanipulierte Stoffe enthalten sind. Dies
wollen wir durch eine klare Kennzeichnung erreichen.
Wir begrüßen daher die Vorschläge der Europäischen
Kommission über Rückverfolgbarkeit, Kennzeichnung
und Zulassung genetisch veränderter Lebens- und Futter-
mittel. Sie sind ein wichtiger Schritt in die richtige Rich-
tung, auch wenn derzeit noch Änderungsbedarf besteht,
insbesondere für die Schwellenwerte.
Der anhaltende Konflikt über die Nutzen und Risiken
der grünen Gentechnik macht deutlich, dass wir einen
breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Grüne Gen-
technik brauchen. Daher hat das Verbraucherministerium
den „Grünen Diskurs“ ins Leben gerufen, an dem sowohl
Wissenschaftler als auch verschiedene Verbände beteiligt
sind. Ziel dieses Diskurses ist eine breit angelegte Debatte
über Nutzen und Risiken der grünen Gentechnik sowie
die Entwicklung von Rahmenbedingungen.
Im Zuge der Umsetzung der umstrittenen Biopatent-
Richtlinie in nationales Recht sind wir in der inhaltlichen
Diskussion bis heute sehr weit gekommen, selbst wenn
diese erneut in der nächsten Legislaturperiode auf der Ta-
gesordnung steht. Im Kernbereich – der Reichweite der
Stoffpatente – konnten wir keine Einigung mit dem Jus-
tizministerium erzielen. Die Position der Grünen, die
sich auf Vorschläge des Vizepräsidenten der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, Professor Wolfrum und Prof.
Stoll vom Max-Planck-Institut für Ausländisches Öffent-
liches Recht und Völkerrecht stützt, sowie auf Argu-
mente von Patentanwälten wie auch der Enquete-Kom-
mission, der Kirchen und der Umweltverbände beruht,
sieht vor, Patentansprüche auf Gene und Gensequenzen
auf deren Funktion zu beschränken. Die materielle
Reichweite dieser Lösung bezieht alle Patente ein.
Der Gesetzesvorschlag der Koalitionsfraktionen um-
fasst rückwirkend auch die Vielzahl von Altanträgen, die
seit Mitte der 90er-Jahre gestellt und noch nicht von den
Patentämtern entschieden worden sind. Denn mit diesen
Altanträgen, die sozusagen „nur“ auf dem Auffinden und
Isolieren eines Gens beruhen und damit Anspruch auf alle
möglichen Funktionen eines Gens erheben, wäre bereits
der größte Teil der „genetischen claims“ des Humange-
noms abgesteckt. Eine solche umfassende Patentierung
würde die weitere Forschung, die Innovation und wirt-
schaftliche Entwicklung unangemessen einschränken und
ist ethisch nicht zu akzeptieren.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224378
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Die vom Bundesjustizministerium vorgeschlagene Be-
grenzung des Stoffpatentes auf den Geltungsbereich
Deutschlands würde dazu führen, dass beim Deutschen
Patentamt keine Anträge mehr gestellt und damit die In-
tention des Gesetzes unterlaufen würde. Wir bedauern,
dass es trotz vieler guter konsensualer Einigungspunkte
gerade im Bereich der Pflanzen und Tiere keine ausrei-
chende Zeit mehr für eine Lesung des noch strittigen
Punktes gegeben hat und werden die Diskussion in der
nächsten Legislaturperiode weiterführen. Ingesamt gilt:
Die rot-grüne Bundesregierung betreibt eine erfolgreiche
Strategie zur Entwicklung der Biotechnologie – die ja
zum größten Teil nicht gentechnische Arbeiten umfasst.
Dies lässt sich am Wachstum dieses Bereichs ebenso ab-
lesen wie an den – anders als während der Regierungszeit
der CDU/CSU/FDP– erheblich angestiegenen Haushalts-
mitteln.
Ulrike Flach (FDP): Die EU-Kommission hat bereits
vor einem halben Jahr ein sehr lesenswertes Papier vor-
gelegt, in dem eine europäische Biotechnologiestrategie
umrissen wird. Der vorliegende Antrag, den wir in weiten
Teilen unterstützen können, fordert eine kohärente und
abgestimmte nationale Biotechnologiestrategie für
Deutschland.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ha-
ben in dieser Legislaturperiode immer wieder gegentei-
lige, sich diametral widersprechende Signale an die Wis-
senschaftler und Unternehmer der Biotechnologiebranche
gegeben.
Beispiel eins: Für die Förderung der Pflanzengenom-
forschung gibt das BMBF circa 16 Millionen Euro aus.
Aber wenn es an die Zulassung genetisch veränderter
Pflanzen geht, blockiert Ministerin Künast. Sie hat das
Bundessortenamt angewiesen, bei der Zulassung einer
gentechnisch veränderten Maissorte keine Genehmigung
auszusprechen. Eine ähnliche Situation hatten wir bereits
im Jahr 2000 mit Ministerin Fischer. Sie fördern die
Grundlagenforschung, aber verstopfen die Anwendung.
Ja, es ist noch grotesker: Sie mauern auch auf europä-
ischer Ebene, wo es nur geht, obwohl Sie gleichzeitig über
die Mitfinanzierung des 6. Forschungsrahmenprogramms
auch die grüne Gentechnik fördern.
Beispiel zwei: Ich habe in dieser Woche an der Grün-
dung des Gesprächskreises „Biologische Sicherheitsfor-
schung“ teilgenommen, die das Institut für Organisations-
kommunikation im Auftrag des BMBF durchgeführt hat.
Interessanterweise haben sich SPD und Grüne bei diesem
wichtigen Feld einer vorsorgenden und begleitenden For-
schung nicht sehen lassen. Bei dieser Gelegenheit habe ich
erfahren, dass das BMBF beispielsweise 125 000 Euro
jährlich für Versuchsfelder zum Anbau von gentechnisch
verändertem Mais, Kartoffeln und Raps in Dahnsdorf in
Brandenburg ausgibt. Diese Felder werden von Chaoten
zerstört und die Forschung so zurückgeworfen.
Beispiel drei: Die Novellierung des Gentechnikgeset-
zes, basierend auf neuen Richtlinien der EU, sollte eine
spürbare Deregulierung für gentechnische Arbeiten in La-
bors bringen. Die Bundesregierung hat daraus ein Verre-
gelungsgesetz gemacht, das umfangreiche Dokumentati-
ons- und Meldepflichten vorsieht – von Entlastung keine
Spur.
Beispiel vier: Die Biopatent-Richtlinie, die eigentlich
heute beraten werden sollte, ist zwischen SPD und Grü-
nen so umstritten, dass Sie das Vorhaben endgültig aufge-
geben haben. Die Umsetzung ist zwei Jahre überfällig, für
die Wissenschaft und die Industrie besteht Rechtsunsi-
cherheit und Sie hinterlassen einen Scherbenhaufen.
Beispiel fünf: Wir haben eine jahrelange Debatte über
die Zulässigkeit des Imports von und der Forschung an
embryonalen Stammzellen geführt, die letztlich mit ei-
nem Minimalkonsens geendet hat. Die Deutsche For-
schungsgemeinschaft und Spitzenforscher in Deutschland
mussten auf die quälende Langsamkeit der politischen
Entscheidungsträger warten. So geht der Forschung für
die Entwicklung von Therapien für schwere Krankheiten
wertvolle Zeit verloren.
Die Biotechnologie ist nicht nur wirtschaftlich eine
Boombranche. Als Forschungspolitikerin ist mir der
Boom des Wissens über die Gene als Bausteine des Le-
bens noch wichtiger. Die Biotechnologie erweitert unse-
ren Wissenshorizont beachtlich.
Die Bundesregierung verhält sich hier wie Dr. Jeckyll
und Mr. Hyde, widersprüchlich und inkonsistent. Damit
gefährden Sie die beeindruckenden Erfolge auf dem Ge-
biet der deutschen Forschung und beim Aufbau einer na-
tionalen Biotechnologieindustrie. Wir halten deshalb eine
strategische Richtungsentscheidung für dringend geboten.
Wolfgang Bierstedt (PDS): Obwohl der vorliegende
Antrag sich folgerichtig an die biotechnologischen Akti-
vitäten der Bundesregierung anzuschließen scheint, kön-
nen wir ihn nicht unterstützen. Wir sind nicht der Mei-
nung, dass die Gentechnologien eine Schlüsselrolle bei
der Lösung der globalen Probleme wie Alter, Gesundheit,
Ernährung und Umwelt spielen. Bestenfalls werden sie ei-
nen Beitrag dazu leisten.
Die Bio- und Gentechnologien wurden von 1999 bis
2002 vorrangig öffentlich gefördert. Ihre Förderung stieg
bis 2001 um 6,4 Prozent, ab 2001 um weitere 27,6 Prozent
an. Der Bund hat zwischen 1998 und 2001 rund 2,377 Mil-
liarden Euro für biotechnologische Forschung ausgege-
ben, die Länder seit 1995 etwa 962 Millionen Euro. Allein
2002 werden dafür circa 676,55 Millionen Euro vom
Bund ausgegeben; siehe Drucksache 14/8949, Seite 79 bis
84. Die deutschen Biotech-Unternehmen haben bei För-
derwettbewerben, Ausgründungen, Spin-offs usw. daran
en masse partizipiert. Statt weiterer Deregulierungsmaß-
nahmen sind eindeutige Reglungen zu einem Privat-Pu-
blic-Partnership auch seitens großer Unternehmen erfor-
derlich.
Den größten Anteil an der Biotechnologieförderung
haben inzwischen Fördermittel für Gentechnologie-
forschung. Die Gesundheitsforschungsmittel kommen
mehrheitlich Genomforschung, Biomedizin und klini-
scher Forschung zugute. Der Wandel zu einer gen-
fokussierten Gesundheitsforschung basiert auf dem Pos-
tulat des Gendeterminismus und der Erhebung der
Genetik zur Leitwissenschaft. Allein industrie- und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24379
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machtpolitische Absichten zur Konkurrenzfähigkeit des
Pharmabereiches gegenüber Großbritannien und den
USA sowie Erwägungen zur Gestaltung eines ima-
ginären „Volks“-Körpers zur Abhilfe einer möglichen
„zivilisatorischen Degenration“ scheinen wesentlich.
Zur Akzeptanzbeschaffung für die umfangreiche öffent-
liche Förderung werden vielfältige Heilungschancen bei
monogenetischen und multifaktoriellen Krankheiten
vorgespielt.
Dies stößt bei vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern – auch aus der Genomforschung – auf Kritik.
Zum Beispiel meint Professor André Rosenthal aus Jena,
dass die Genomforschung vieler Jahrzehnte Förderung be-
darf, um nach einer Funktionsanalyse des Genoms even-
tuell zur Unterstützung der Diagnostik beizutragen. Ob
sich aber überhaupt jemals Therapien durch das Wissen
um das menschliche Genom ableiten lassen, sei ungewiss.
Im Prinzip wäre meines Erachtens für einen ersten
Schritt die forschungspolitische Konzentration auf die
monogenetischen Krankheiten ausreichend. Forschung
an multifaktoriellen Krankheiten, zum Beispiel Herz-
Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen oder Alz-
heimer, sollten ganzheitlich nach medizinischen, sozialen,
sozialpsychologischen, umweltbedingten und anderen
Aspekten angelegt sein.
Ebenso vorsichtig muss der Umgang mit Forschungs-
ergebnissen der „grünen“ Gentechnik erfolgen. Langfris-
tig angelegte Laborversuche müssen gesetzlich Vorrang
haben vor einer durch die Industrie profitmotivierten Frei-
setzung,von genmanipuliertem Saatgut, Mikroorganis-
men oder Ähnlichem sowie begleitenden Freisetzungs-
monitorings, um mittel- und langfristig bisher nicht
absehbare Folgewirkungen für Natur, Pflanzen, Tiere und
Menschen explizit auszuschließen. Biopatente müssen
auf die erfinderische Leistung beschränkt bleiben und
dürfen nicht auf Teile des menschlichen Körpers, von Tie-
ren oder Pflanzen ausgedehnt werden.
Wir halten es für ausreichend, an Stammzellen tieri-
schen Ursprungs sowie menschlichen adulten Stammzel-
len zu forschen. Das neue Stammzellgesetz torpediert
meines Erachtens das Embryonenschutzgesetz, weil es
seinen nächsten Öffnungsschritt geradezu herausfordert.
Die Biotechnologie ist ein wesentliches Gebiet der in-
ternationalen Forschungszusammenarbeit mit Transfor-
mations-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Bei den
konkreten Verschuldungsproblemen dieser Länder ist
aber die Forschungskooperation in der Biotechnologie
nachrangig, die bedingungslose Schuldenstreichung
durch die lndustrieländer vorrangig. Sie ist die eigentliche
Voraussetzung für die dortige Entwicklung.
Dann muss mit einer massiven Anhebung des Förder-
mittelumfangs seitens der Industrieländer ein umfassen-
der Beitrag zur materiellen, finanziellen und personellen
Forschungs- und Entwicklungsinfrastruktur in diesen
Ländern geleistet werden. Denn die Industrieländer
schulden diesen Ländern deren Entwicklung. Mit neoko-
lonialer Ausbeutung und Ausnutzung von Finanzmacht
haben sie jahrzehntelang den Grundstein für das Arten-
sterben, die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser
sowie anhaltende Armut gelegt. Ein angemessener Bei-
trag der Bundesrepublik wäre eine internationale Vorrei-
terrolle bei der völligen Schuldentilgung und der Initiie-
rung eines forschungspolitischen Entwicklungspro-
gramms nach den Bedürfnissen dieser Länder statt
einseitiger, interessengeleiteter Forschung in der Biotech-
nologie.
Wolf-Michael Catenhusen Parlamentarischer
Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und
Forschung: Natürlich freuen wir uns, wenn die Opposi-
tion unsere Förderstrategie stützt und bestätigt. In der Bio-
technologie läuft sie damit nun aber wirklich offene Türen
ein. Wir haben die Forschungsförderung im Biotech-
nologie-Titel von 119 Millionen Euro im Jahr 1998 auf
243 Millionen Euro im Jahr 2003 hochgefahren. Das ist
eine Steigerung von über 100 Prozent. In diesem Bereich
dürfen Sie die angekündigte Verdoppelung der Investitio-
nen in Bildung, Forschung und Wissenschaft ganz wört-
lich nehmen.
Gleichzeitig haben wir mit dem neuen Rahmenpro-
gramm ein umfassendes, strategisch abgestimmtes För-
derkonzept vorgelegt und die Weichen für die Förderung
der Bio- und Gentechnologie in den nächsten Jahren ge-
stellt. Zu den wichtigsten Förderbereichen des Pro-
gramms gehören der Aufbau des Nationalen Genomfor-
schungsnetzes und strukturelle Maßnahmen zur
Unterstützung junger, forschender Biotechnologieunter-
nehmen. Ganz oben auf der Tagesordnung steht aber auch
die Nachwuchsförderung und die Umsteuerung der Bio-
technologie in Richtung Nachhaltigkeit.
Im Biotechnologieprogramm werden in den nächsten
Jahren über 800 Millionen Euro für die Projektförderung
zur Verfügung stehen. Hinzu kommen 180 Millionen
Euro für das Nationale Genomforschungsnetz aus dem
Verkauf der Mobilfunklizenzen. Natürlich werden wir uns
bemühen – und dies dann hoffentlich auch mit der Unter-
stützung der Opposition – diesen großen innovativen
Schub auch in den kommenden Jahren zu finanzieren.
Mit der Etablierung des Nationalen Genomforschungs-
netzes setzt die Bundesregierung eine Kernaktivität ihres
Zukunftsinvestitionsprogramms um. Mit diesem Maßnah-
menpaket wird die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
auf einem der wichtigsten Zukunftsfelder in Wissenschaft
und Wirtschaft nachhaltig gestärkt. Gleichzeitig verfolgt
die Bundesregierung damit ihr forschungspolitisches
Kernziel: Forschung für den Menschen. Fünf Krankheits-
bereiche, die viele Menschen betreffen, sollen erforscht
werden: Herz-Kreislauf, Krebs, Erkrankungen des Ner-
vensystems, umweltbedingte Erkrankungen, Infektionen
und Entzündungen. Ethische, soziale und rechtliche Fra-
gestellungen der Genomforschung integrieren wir dabei.
Wir haben die besten Arbeitsgruppen und Forschungsein-
richtungen, die fortgeschrittensten Technologien und die
dafür notwendige interdisziplinäre Forschungsexpertise
aus Biologie, Medizin, Physik, Mathematik, Chemie und
den Ingenieurwissenschaften gebündelt. Mit einer Pro-
jektförderung von über 400 Millionen Euro setzt sich
Deutschland damit in den kommenden drei Jahren europa-
weit an die Spitze der staatlichen Förderung in der Ge-
nomforschung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224380
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Mit den Programmen „Biochance“ und „Bioprofile“
– um zwei Beispiele zu nennen – fördern wir gezielt For-
schungsarbeiten junger Unternehmen und deren Koopera-
tion mit der Wissenschaft. Für beide Programme werden in
den nächsten Jahren über 100 Millionen Euro zur Verfü-
gung gestellt. Natürlich haben wir auch längst das Schlüs-
selfeld Bioinformatik entdeckt. Im Rahmen der „Ausbil-
dungs- und Technologieoffensive Bioinformatik“ werden
sechs Bioinformatik-Kompetenzzentren gefördert, um den
eklatanten Mangel an Bioinformatikern zu beheben. Auch
die innovativen neuen Gebiete der Biotechnologie wie die
Proteomforschung, das Tissue-Engineering oder die Sys-
tembiologie worden von uns aufgegriffen und gezielt ge-
fördert. Deutsche Forschergruppen liegen in der Proteom-
forschung mit an der Weltspitze. Das BMBF fördert diesen
zukunftsträchtigen Bereich umfassend. Allein im Jahr
2001 wurden über 40 Millionen Euro Fördergelder neu be-
willigt. Gene, Proteine und kleine Moleküle werden künf-
tig im Zusammenhang betrachtet. Und vom neuen Förder-
programm „Systembiologie“ wird ein entscheidender
Schritt von der beschreibenden Biologie hin zu einem
ganzheitlichen Systemverständnis der Lebensprozesse er-
wartet. Hier liegt ein Schlüssel für maßgeschneiderte Me-
dikamente der Zukunft.
Durch abgestimmte Existenzgründungs- und For-
schungsprogramme ist es der Bundesregierung gelungen,
die Gründung von Biotechnologiefirmen in Deutschland
erfolgreich zu stimulieren. Die deutsche Biotechnologie-
branche ist mittlerweile in einen dynamischen Wachs-
tumsprozess übergegangen. Das enorme wissenschaftli-
che Potenzial in Deutschland, das nur darauf wartete, von
Unternehmern in vermarktungsfähige Produkte, Techno-
logien und Konzepte umgesetzt zu werden, wird heute
besser verwertet als je zuvor. In der von der Consulting-
firma Ernst & Young eng definierten Kern-Biotech-Indus-
trie wurden im vergangenen Jahr in Deutschland 3 735
neue Arbeitsplätze geschaffen, insgesamt wurden über
14 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt; das
sind 35 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch beim Gesamt-
umsatz erzielten die deutschen Kernunternehmen ein
Wachstum von 33 Prozent und erreichten mit 1 045 Mil-
lionen Euro erstmals die Größenordnung von einer Milli-
arde. Unsere Unternehmen haben im Produktbereich
inzwischen viel zu bieten. Nach Angaben der Geneh-
migungsbehörden befinden sich über 90 mit biotechnolo-
gischen Methoden hergestellte Wirkstoffkandidaten in
der klinischen Prüfung.
Nachdem die Hauptnachricht des letzten „Ernst & Yo-
ung Biotechnologie-Reports“ war, dass Deutschland, ge-
messen an der Zahl der Biotechunternehmen, die europä-
ische Spitze erreicht hat, lässt sich heute sagen, dass
deutsche Unternehmen auch qualitativ aufholen. Ein Be-
leg für diese Einschätzung ist der Erwerb amerikanischer
und britischer Biotechnologieunternehmen durch deut-
sche Firmen. Ein Vorgang, der noch vor wenigen Jahren
undenkbar gewesen wäre.
Die rasante Entwicklung der Biotechnologiefirmen in
Deutschland wurde durch eine erhebliche Steigerung der
strategischen staatlichen Förderung flankiert. Damit setzt
die Bundesregierung ein deutliches Signal für die Ent-
wicklung der Lebenswissenschaften in Deutschland, für
mehr Ursachenforschung und eine bessere Vorbeugung
gegen Krankheiten, aber auch für neue Therapie- und Be-
handlungsmöglichkeiten. Nach Einschätzung des Fach-
dialogs „Beschäftigungspotenzial im Bereich Bio- und
Gentechnologie“ des BMBF zum Bündnis für Arbeit wird
sich die Zahl der Arbeitsplätze bei den Kern-Biotechnolo-
gieunternehmen in Deutschland innerhalb von sieben bis
zehn Jahren verfünffachen. Im gleichen Zeitraum kann
durch eine verstärkte Diffusion der Biotechnologie in be-
troffenen Branchen die Zahl der Arbeitsplätzen von heute
etwa 220 000 auf über eine halbe Million anwachsen.
Bei allen möglichen Anwendungen der modernen Bio-
und Gentechnologie steht aber immer der Mensch im Vor-
dergrund. Deshalb hat die Sicherheit der Bürgerinnen und
Bürger in jedem Fall Vorrang. Dies gilt in besonderem
Maße für die gentechnischen Anwendungen in der Land-
wirtschaft sowie im Nahrungs- und Lebensmittelbereich.
Wir werden hier eine hinreichende Risikovorsorge si-
cherstellen.
Gegen einen kommerziellen Anbau gentechnisch verän-
derter Pflanzen existieren vielfältige Sicherheitsbedenken,
die eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung in Frage stel-
len. Darüber hinaus hat die BSE-Problematik zu einem
Umdenken über die Bedingungen der Nahrungs- und Le-
bensmittelproduktion geführt. Wir werden daher die Agrar-
politik konsequent auf die Bedürfnisse der Verbraucher
ausrichten und überzeugende Antworten auf die gestiege-
nen Anforderungen an den Gesundheits- und Umwelt-
schutz geben. Die Bundesregierung trägt dem Rechnung
und verfolgt sowohl in der grünen Gentechnik als auch in
der Ernährungsforschung verbraucher- und vorsorgeorien-
tierte Ansätze. So werden die bei der grünen Gentechnik die
Anstrengungen in der Sicherheitsforschung zur Freiset-
zung gentechnisch veränderter Organismen verstärkt. Bei
der Sicherheitsforschung stehen daher erstmals die Metho-
denentwicklung für ein anbaubegleitendes Monitoring und
ein Kommunikationsmanagement im Mittelpunkt.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen
Möglichkeiten der Biotechnologie führen zu neuen Op-
tionen für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Die
Förderpalette der Bundesregierung trägt dieser Heraus-
forderung voll Rechnung. Entsprechend des Titels des
Biotechnologieprogramms nutzen und gestalten wir die
Chancen der modernen Bio- und Gentechnologie.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Keine Vorzugsbe-
handlung der Deutschen Post AG bei der Um-
satzsteuer (Tagesordnungspunkt 15)
Dieter Grasedieck (SPD): Seit der Novelle zum
Postgesetz ist das Land NRW und das Finanzministerium
einer Meinung. Für Ihren Wahlkampf wäre der Krach be-
grüßenswert. Schön, dass Sie Pech haben.
Nein, in Ihrem Antrag geht es um Ihr Postgesetz vom
1. Januar 1998. Es geht um Fragen: Braucht die Post Steu-
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ervorteile? Braucht die Post Planungssicherheiten? Hier
sagen wir: Auf Gesetze und Verordnungen müssen sich
die Unternehmer und Bürgerinnen und Bürger verlassen
können. Die Postdienste müssen 2007 aus folgenden
Gründen steuerfrei bleiben:
Erstens. Die Deutsche Post AG erfüllt soziale Dienste.
Sie befördert unsere Briefe und Zeitschriften von München
zur Hallig Hooge an die Nordsee. Sie befördert Zeitungen
und Pakete von Bottrop zur Jausenstation in 1 600 Meter
Höhe in den Alpen. Unsere Post ist verpflichtet, diese Lie-
ferungen flächendeckend in ganz Deutschland vorzuneh-
men. Hierzu zählen Standardbriefe bis 200 Gramm
ebenso wie Päckchen bis 2 000 Gramm.
Die Universaldienstleistung umfasst fast den ganzen
Postsektor, Briefsendungen bis 2 000 Gramm, Pakete bis
20 Kilogramm, Zustellungen von Zeitungen und Zeit-
schriften, Einschreiben, Eil-Nachnahmen und Wertsen-
dungen, Briefkästen, Postfilialen sowie werktägliche Zu-
stellungen. Die Deutsche Post AG ist verpflichtet, diese
Leistungen zu erbringen.
Hier fallen Kosten an, die sonst kein Wettbewerber hat.
Diese Aufgaben wollen und können die privaten Anbieter
nicht übernehmen. Es findet faktisch kein Wettbewerb
statt. Die Vertreter vom Paketzusteller UPS winken ab
und sagen, wie die Zeitungen berichten: „Diese Aufga-
benbereiche zählen nicht zu unserem Geschäft.“ Die
Deutsche Post AG hat natürlich auch einen gewerblichen
Bereich. Dort kann sie Umsatzsteuer erheben. Diese Um-
satzsteuer wird an die Finanzverwaltung abgeführt.
Zweitens. Deutschland benötigt ein flächendeckendes
Dienstleisternetzwerk. Nur die Post bietet in 12 000 Post-
stellen ihre Arbeit an. In meinem Wahlkreis Bottrop,
Gladbeck und Dorsten haben wir zum Beispiel 20 Postfi-
lialen. Auch diese Kosten rechtfertigen ein Steuerprivileg.
Welcher private Kurierdienst würde beispielsweise in
Dörfern im Münsterland oder im Allgäu diese Dienste für
den Bürger absichern? Die Umsatzsteuerfreiheit der
Deutschen Post AG hat nicht nur Vorteile. Erforderliche
Materialien sind beim Einkauf natürlich nicht vorsteuer-
abzugsberechtigt. Dies benachteiligt die Post in Teil-
märkten, in denen private Anbieter auftreten können.
Drittens. Die Postgebühren werden von der Regie-
rungsbehörde festgelegt. Für unsere Bürgerinnen und
Bürger soll die Versendung von Briefen noch bezahlbar
bleiben. Was würde geschehen, wenn die Deutsche Post
AG auf Leistungen im Universaldienstleistungsbereich
16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen müsste? Unsere Bür-
gerinnen und Bürger müssten die Rechnung bezahlen. Da
sagen wir Nein.
Viertens. Die Liberalisierung verläuft im Übrigen exakt
nach Plan. Warum wollen Sie diese Planungen stören? Ist
es vielleicht reiner Wahlkampf um jeden Preis? Bis Ende
des Jahres darf nur die Post in Deutschland Briefe bis
200 Gramm und Massensendungen bis 50 Gramm beför-
dern. Ab 2003 können Briefe über 100 Gramm und ab
2006 Briefe über 50 Gramm auch bei der Konkurrenz auf-
gegeben werden.
Konkurrenten wie UPS schätzen: „Unser Marktanteil
wird sich etwas erhöhen, der Anteil der Post wird aber im-
mer über 90 Prozent liegen.“ Die Post entwickelt sich
heute schon in Europa weiter. Die Post kann mit ihrem
großen Netz auch in anderen europäischen Ländern auf
Kundenfang gehen. Diesen Vorteil haben die Konkurren-
ten nicht einkalkuliert. Die Post ist gut für den Wettbe-
werb gerüstet. Warum wollen Sie diese Planung stören?
Fünftens. Unsere Post braucht Planungssicherheit; vor
allem, weil alle staatlichen Postunternehmen in der EU
keine Umsatzsteuern zahlen. Das Briefmonopol ist ver-
traglich in den EU-Richtlinien verankert. Das gilt EU-ein-
heitlich bis 2007. Die EU-Kommission hat im Sommer
2001 den Antrag „Ungleichbehandlung im Wettbewerb“
mit der Post AG abgelehnt. Wir haben in Europa eine
europaweite Richtlinie. Auch deshalb ist die Übergangs-
zeit bis 2007 für unsere Post erforderlich.
Sechstens. Unsere Post braucht auch Planungssicher-
heit, weil 300 000 qualifizierte Postangestellte uns auch in
Zukunft Tag für Tag mit Briefen beliefern wollen. Sie stel-
len nicht die Frage: „Was geschieht, wenn die Umsatz-
steuerfreiheit wegfällt?“ Ich sage Ihnen: Sie reduzieren die
sozialen Aufgaben der Deutschen Post AG. Das Briefporto
wird teurer. Sie gefährden weiterhin 300 000 Arbeits-
plätze. Unser Fazit ist: Die Postdienste müssen bis 2007
umsatzsteuerfrei bleiben.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Es geht heute um
die Vorzugsbehandlung der Deutschen Post AG bei der
Umsatzsteuer. Im Kern aber geht es darum, dass im Ge-
gensatz zu der optimistischen und von Aufbruchstim-
mung gekennzeichneten Privatisierungspolitik unserer
Regierung in den 90er-Jahren die gegenwärtig noch re-
gierende Mehrheit entgegen öffentlicher Beteuerungen
tiefe Skepsis gegen die Leistungsfähigkeit einer wettbe-
werblichen Marktordnung hegt.
In Sonntagsreden loben sie zwar Marktwirtschaft und
Wettbewerb, in Wirklichkeit aber verteidigen sie jeden
Millimeter staatlicher Regulierung und versuchen mit al-
lerlei Tricks, die früheren staatlichen Monopole, die nun-
mehr in private Gesellschaften in staatlichem Besitz ge-
wandelt sind, vor echtem Wettbewerb zu schützen.
Der einzige Bereich, in dem nennenswerte Vorstöße zur
Privatisierung gemacht worden sind, belegt zugleich, dass
sie nicht aus innerer Überzeugung in die Überlegenheit ei-
ner Wettbewerbsordnung bereit sind, Privatisierungs-
schritte zu gehen, sondern nur angesichts der Finanznot ih-
res Finanzministers: Ich meine den Verteidigungsbereich.
Hier war man bereit, Privatisierungsvorhaben anzuschie-
ben, um deren vermeintliche Dividenden zugleich im
Haushalt zu vereinnahmen und damit die Haushaltsnöte
des Defizitministers Eichel zu lindern. Damit der frühere
vermeintliche Musterschüler keinen blauen Brief erhält,
halten sie in diesem Bereich trotz besserer Erkenntnis an
der Einplanung ihrer Mondgewinne fest.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich,
dass nach Bekanntwerden der ungewöhnlichen Einzel-
weisung des Bundesfinanzministeriums an das Finanzmi-
nisterium des Landes Nordrhein-Westfalen öffentlich so-
fort gemutmaßt wurde, hier sei seitens des Anteilseigners
mit Blick auf einen geplanten Börsengang der Versuch der
Kurspflege mit hoheitlichen Mitteln gestartet worden.
Ebenso wenig verwundert die Tatsache, dass die gleiche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224382
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Person als Aufsichtsrat einer privaten Aktiengesellschaft
in Staatsbesitz zugleich durch hohheitliche Weisung auf
das Unternehmen Einfluss nimmt, dem er nach den recht-
lichen Regelungen des Aktiengesetzes verpflichtet ist.
Sie dürfen sich auch nicht wundern, in Anbetracht ih-
res ansonsten an den Tag gelegten Verhaltens, dass eine
solche Mutmaßung in der Welt ist. Stichwort UMTS-Li-
zenzen: Natürlich haben hier die Unternehmen der Tele-
kommunikationsbranche auf dem Höhepunkt des Neuer-
Markt-Hypes schließlich selbst für Lizenzzahlungen in
astronomischer Höhe gesorgt. Erkennbar war aber auch,
dass es Ihnen von vornherein nicht um eine schnelle Auf-
schließung einer neuen Technologie für unser Land geht,
sondern darum, Kasse zu machen. Das ist Ihnen auch ge-
lungen, fast 100 Millarden DM haben sie damals verein-
nahmt. Sie haben damit aber den Markt so viel an Kapital
entzogen, dass die Einführung der neuen Technik ins
Stocken geraten ist, weil schlicht das Kapital zum Aufbau
der Infrastruktur fehlt. Dass Sie bei dieser Gelegenheit
wegen der Verluste, die die Telekommunikationsfirmen
nunmehr machen, und der damit verbundenen Steueraus-
fällen einmal mehr aus anderer Leut’ Leder Riemen ge-
schnitten haben, sei nur noch am Rande erwähnt.
Sie haben darüber hinaus hier im konkreten Bereich
der Postversorgung durch die Ablehnung der Preissen-
kung für den Standardbrief sowie die Verlängerung der
Exklusivlizenz bis zum 31. Dezember 2007 alle ent-
täuscht, die auf weitere Liberalisierungsschritte hofften.
Ihr Verhalten in dem unserem Antrag zugrunde liegenden
Fall belegt dies einmal mehr. Die Bundesregierung hat
wörtlich ausgeführt, dass es sich bei der Auslegung der
Umsatzsteuerbefreiungsvorschrift um eine Rechtsfrage
handele, die sicherlich kontrovers diskutiert werden
könne. Die Tatsache, dass die Bundesregierung in einem
solchen Fall zugunsten des Monopols entscheidet, belegt
einmal mehr, was ich nun an verschiedenen Themen auf-
gezeigt habe: Dem Wunsch, Kasse zu machen, und tief-
sitzenden Bedenken gegen das Marktgeschehen werden
die Grundsätze einer ordnungspolitisch sauberen Wettbe-
werbspolitik geopfert.
Nun ist es unstreitig so, dass der Übergang von den
staatlichen Monopolen auf eine privatwirtschaftliche
Ordnung nicht in jedem Punkt klar prognostizierbar war
und insofern mit unbestimmtem Rechtsbegriffen befrach-
tet ist, die der Auslegung bedürfen. Der Grundsatz, dass
derjenige, der für die flächendeckende Postversorgung
verpflichtet wird oder verpflichtet werden kann, hierfür
eine Entschädigung zu erhalten hat, ist unstreitig. Hierfür
bietet sich nach dem gegenwärtigem EU-Regelwerk die
Befreiung von der Umsatzsteuerpflicht an, auch wenn es
hier eher wohl nur zufällig so sein kann, dass die Kosten
der Versorgungsverpflichtung unbeschadet der jeweiligen
Höhe der jährlichen Umsätze immer bei etwa 16 Prozent
dieser Umsätze liegen. Für die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion ist es aber völlig klar, dass der Exklusivbereich,
also die Briefe bis 200 Gramm, umsatzsteuerfrei zu stel-
len sind.
Die streitbefangene Einzelweisung des Finanzminis-
ters regelt den Bereich der Universaldienstleistungen, wo
wir bereits einen Wettbewerb haben und es aus der Sicht
der CDU/CSU nicht nachzuvollziehen ist, dass dem ehe-
maligen staatlichen Monopolisten hier die steuerliche Pri-
vilegierung gewährt wird. Unser Appell geht deshalb an
das gesamte Hohe Haus, die Bundesregierung aufzufor-
dern, diese Einzelweisung zurückzunehmen und auf die-
sem Wege für einen fairen Wettbewerb im Universal-
dienstleistungsbereich eine Bresche zu schlagen. Darüber
hinaus erwarten wir, dass die Bundesregierung durch
klare Regelungen dafür sorgt, dass der Anschein oder die
tatsächlich vorhandene Interessenkollision zwischen der
Bundesregierung als hoheitlichem Akteur auf der einen
und Aktieninhaber auf der anderen Seite eindeutig been-
det wird.
Lassen Sie mich zum Abschluss einen Appell an Sie
alle richten: Legen Sie ihre Skepsis gegenüber der Leis-
tungsfähigkeit wettbewerblicher Strukturen ab. Wir alle
haben doch in den zurückliegenden Jahren gerade erst er-
lebt, dass die von unseren Ministern Dr. Christian
Schwarz-Schilling und Wolfgang Bötsch durchgeführten
Privatisierungsschritte eben nicht den Zusammenbruch
der flächendeckenden Versorgung bewirkten. Im Gegen-
teil: Wir alle haben eine Explosion der Leistungsspektren
im Telekommunikationsbereich und sinkende Preise für
den Kunden erlebt. Dies war ein Lehrstück, unmittelbar
dem volkswirtschaftlichen Kompendium entnommen,
das noch nicht so lange zurückliegt, als dass die Erinne-
rung daran verblasst sein könnte. Haben Sie Mut zu einer
freiheitlichen Wettbewerbsordnung in unserem Lande!
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Be-
reits die Überschrift des CDU/CSU-Antrags signalisiert
die Behauptung, dass die Deutsche Post AG eine Vor-
zugsbehandlung bei der Umsatzsteuer erhält. Dabei geht
der politisch vorgezeichnete Weg, das ehemalige Mono-
polunternehmen Post in einen funktionsfähigen Wettbe-
werbsmarkt zu überführen, auf die Regierungszeit der
CDU/CSU/FDP-Koalition zurück. Das Postgesetz sieht
eine befristete Übergangszeit bis 2007 vor. Im Jahr 2002
befinden wir uns also mitten im Übergangszeitraum, um
funktionsfähigen Wettbewerb in allen Bereichen nach und
nach zu verwirklichen. Im Rahmen des dritten Gesetzes
zur Änderung des Postgesetzes wird derzeit seitens der
Bundesregierung die Absicht verfolgt, die Exklusivlizenz
der Deutschen Post AG weiter einzuschränken. Danach
soll dem Unternehmen ab 2003 bis Ende 2005 das aus-
schließliche Recht zustehen, Briefsendungen und adres-
sierte Kataloge, deren Einzelgewicht bis 100 Gramm und
deren Einzelpreis weniger als das Dreifache des Preises
für entsprechende Postsendungen der untersten Ge-
wichtsklasse beträgt, gewerbsmäßig zu befördern. In den
Jahren 2006 und 2007 wird die Exklusivlizenz auf
50 Gramm weiter eingeschränkt. Damit ist der Weg zur
Auflösung der letzten Monopolbereiche vorgezeichnet.
Mit dieser Zeitachse korrespondiert die Behandlung
der Frage: Welche Dienstleistungen der Post sind umsatz-
steuerfrei bzw. umsatzsteuerpflichtig? Die Deutsche Post
AG hat zurzeit das ausschließliche Recht, Briefsendungen
und adressierte Kataloge, deren Einzelgewicht weniger
als 200 Gramm beträgt, gewerbsmäßig zu befördern (Ex-
klusivlizenz). Alle Postdienstleistungen, die nicht der Ex-
klusivlizenz unterliegen, sind hingegen dem Wettbewerb
geöffnet. Es gibt deshalb das Recht von privaten Anbie-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24383
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tern auch im Bereich der so genannten Universaldienst-
leistungen (Briefe von 200 Gramm bis 2 000 Gramm,
Pakete bis 20 Kilogramm und bestimmte Zeitungen und
Zeitschriftenversand) mit der Deutschen Post AG zu kon-
kurrieren.
Unabhängig von diesem Recht, den Wettbewerb sei-
tens der privaten Unternehmen zu eröffnen bzw. zu ver-
stärken, besteht seitens der Post weiterhin die Pflicht, in
jedem Winkel der Republik die Universaldienstleistungen
zu erbringen. Der konkrete Umfang des Universaldienstes
ist nicht im Postgesetz selbst festgelegt; vielmehr über-
lässt es § 11, Abs. 2 PostG der Bundesregierung Inhalt und
Umfang des Universaldienstes festzulegen. Deshalb ist
im Rahmen der Post-Universaldienstleistungsverordnung
vom 21. Dezember 1999 festgehalten, welche einzelnen
Dienstleistungen zum Universaldienst gehören. Mit dem
2. Postgesetz vom 30. Januar 2002 wurde klargestellt,
dass die Deutsche Post AG den Universaldienst zu er-
bringen hat. Die Umsatzsteuerbefreiung umfasst nicht nur
alle Postdienstleistungen, die die Deutsche Post AG auf-
grund der so genannten Exklusivlizenz erbringt, sondern
auch alle Umsätze, die zu den so genannten Universal-
dienstleistungen nach der Postuniversaldienstleistungs-
verordnung (PUDLV) zählen. Alle Dienstleistungen
außerhalb dieser Vorordnung sind umsatzsteuerpflichtig
(zum Beispiel der Verkauf von Briefpapier, Briefum-
schlägen etc, oder auch die Veräußerung von Anlagege-
genständen der Deutschen Post AG).
Die Frage der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen
Post AG spitzt sich auf die Universaldienstleistungen zu,
die sich bereits im Wettbewerb mit anderen privaten An-
bietern befinden. Eine teilweise Ungleichbehandlung der
Wettbewerber, insbesondere in den lizenzierten Bereichen,
wird vom EG-Recht hingenommen, um im stufenweisen
Übergangszeitraum vom Monopol zum funktionsfähigen
Wettbewerb Universaldienstleistungen für alle Bürger in
allen Winkeln oder Teilen der Republik zu gewährleisten.
Diese Gewährleistungsaufgabe ergibt sich aus Art. 87f
Abs.1 Grundgesetz, nach dem der Bund in Ausprägung des
Sozialstaatsgebots im Bereich des Postwesens flächen-
deckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen
sicherstellen muss. Diese Aufgaben erfüllt die Deutsche
Post AG mit erheblichen Kosten. Ihre privaten Wettbe-
werber müssen sich dieser Aufgabe nicht stellen.
Deshalb kann die Umsatzsteuerbefreiung der Post für
alle Universaldienstleistungen im Verhältnis zu den Wett-
bewerbern zeitlich befristet bis zum Ende des Monopol-
zustandes vertreten werden. Hinzugefügt werden muss,
dass die Deutsche Post AG durch die Umsatzsteuerbefrei-
ung selbstverständlich auch keinen Vorsteuerabzug in den
Geschäftsbereichen der Universaldienstleistungen gel-
tend machen kann. Deshalb sind wettbewerbsrelevante
Unterschiede, die in Verbindung mit dem Privileg der
Umsatzsteuerbefreiung stehen, auf die Wertschöpfung
des Unternehmens beschränkt.
Politisch kann kräftig darüber gestritten werden, ob der
Katalog der Universaldienstleistungen beschränkt werden
soll oder ob kürzere Laufzeiten der Exklusivlizenz der
Deutschen Post AG frühzeitiger funktionsfähigen Wettbe-
werb bringen. Richtschnur muss hierbei auch die Entwick-
lung eines funktionsfähigen Wettbewerbs im europäischen
Binnenmarkt auf dem Gebiet der Postdienstleistungen sein.
Wir wollen gleiche Wettbewerbsbedingungen in der EU,
deshalb ist der stufenweise Aufbau von Wettbewerbsstruk-
turen bis 2007 angemessen.
Rainer Funke (FDP): Die FDP stimmt dem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zu. Wir haben stets gefordert,
dass die Deutsche Post AG bei der Umsatzsteuer keine
Vorzugsbehandlung genießen soll und dies auch stets mit
ordnungspolitischen Überlegungen begründet.
Ziel jeder Postpolitik der FDP ist es, freien Wettbewerb
am Postmarkt zu erreichen. Das setzt die Aufhebung des
Postmonopols voraus und macht deutlich, dass Post-
dienstleistungen keine Dienstleistungen besonderer Art
sind, sondern am Markt im Wettbewerb erbracht werden
sollen. Das setzt automatisch voraus, dass alle Wettbe-
werber am Markt gleich zu behandeln sind. Diese Gleich-
behandlung muss sich auch auf Steuern und insbesondere
auf die Umsatzsteuer beziehen. Dies ergibt sich auch aus
dem Gebot, gegenüber dem Staat für Wettbewerbsneutra-
lität zu sorgen.
Wir werden uns daher nach dem 22. September dieses
Jahr dafür einsetzen, dass erstens das Postmonopol auf-
gehoben wird, zweitens alle am Postmarkt tätigen Unter-
nehmen gleich behandelt werden und drittens alle am
Markt tätigen Postunternehmen denselben steuerlichen
Bedingungen unterliegen.
Dies ist im Interesse der Verbraucher, aber auch im In-
teresse der Post AG. Denn schließlich ist nur ein solches
Unternehmen auf Dauer leistungsfähig, das sich im Wett-
bewerb behaupten muss.
Heidemarie Ehlert (PDS): Es ist schon ein interes-
santer Lebenssachverhalt, den die CDU/CSU-Fraktion
zum Anlass genommen hat, um den Antrag auf der Druck-
sache 14/9101 mit der Überschrift „Keine Vorzugsbe-
handlung der Deutschen Post AG bei der Umsatzsteuer“
hier im Deutschen Bundestag einzubringen. Vermeintli-
che Auslegungsschwierigkeiten bzw. -streitigkeiten be-
züglich des Umsatzsteuergesetzes hinsichtlich der
Besteuerung von Dienstleistungen, die durch die Deut-
sche Post erbracht werden, wurden dadurch „beseitigt“,
dass die Bundesregierung gegenüber dem Land Nord-
rhein-Westfalen durch Einzelweisung angeordnet hat,
dass die Deutsche Post AG neben dem Bereich der Ex-
klusivlizenz auch für den Bereich der Universaldienstleis-
tungen von der Umsatzsteuer zu befreien ist.
Die Hintergründe für dieses Vorgehen liegen auf der
Hand. Die Deutsche Post sollte börsenfähig gemacht wer-
den und die Bundesregierung wollte hohe Erlöse erzielen.
Wenn sich jetzt allerdings die CDU/CSU gegen Steu-
erprivilegien ausspricht, sollten die Kolleginnen und Kol-
legen dieser Fraktion an den Rüstungskonzern Diehl erin-
nert werden. Damals hat das Land Bayern entschieden,
wie das Steuerrecht auszulegen ist.
Hinsichtlich des hier in Rede stehenden Falles bleiben
entscheidende Fragen weiter offen: Wer ist für die Ertei-
lung der gegebenen Weisung verantwortlich und durch
wen wurde die Weisung letztlich erteilt? Warum hielt es
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224384
(C)
(D)
(A)
(B)
die Bundesregierung nicht für angebracht, durch eine
klare gesetzliche Regelung, die hier wohl geboten ist, eine
eindeutige Regelung zu schaffen? Scheute sie etwa den
Gang vor das Parlament?
Aber auch ganz praktische Fragen der Auswirkungen
der erteilten Anweisung drängen sich dem geneigten Be-
trachter auf: Welcher Schaden ist den Ländern und Kom-
munen durch dieses Vorgehen der Bundesregierung ent-
standen und ist die Bundesregierung bereit, diesen
Schaden auszugleichen?
Ausgangspunkt für die Haltung der PDS zur gesamten
Problematik ist, dass die Universaldienstleistungen der
Deutschen Post und damit die Versorgung in der Fläche
mit den 12 000 Filialen erhalten bleibt. Welche wirt-
schafts- und steuerpolitischen Maßnahmen auch immer
ergriffen werden, so dürfen diese doch nicht dazu führen,
dass den Bürgern, gerade auch im ländlichen Raum, die
Wahrnehmung dieser Dienstleistungen erschwert oder gar
unmöglich gemacht wird.
Die steuerrechtliche Behandlung sollte in der EU
gemäß der 6. EG-Richtlinie einheitlich geklärt werden
und nicht auf dem Rücken der Beschäftigten zum Wahl-
kampfthema gemacht werden.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
– Gesamtkonzeption für Berliner Gedenkstät-
ten für die Opfer der SED-Diktatur notwendig
– Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschön-
hausen als Gedenkstätte erhalten und restau-
rieren
(Tagesordnungspunkt 16 und Zusatztagesord-
nungspunkt 11)
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Wir debattieren
heute bereits zum zweiten Mal den Antrag der CDU/CSU-
Fraktion über eine Gesamtkonzeption für Berliner Gedenk-
stätten für die Opfer der SED-Diktatur. Der Unterschied zur
damaligen Debatte ist allenfalls, dass das „Ultimatum“, das
uns die CDU/CSU in dem Antrag als Stichtag für die Er-
stellung eines Konzeptes gesetzt hat, längst abgelaufen ist.
Der 31. Mai 2001 liegt bereits seit über einem Jahr hinter
uns. Schon aus diesem Grunde ist die Forderung der Oppo-
sition, die wir heute debattieren, nicht mehr zeitgemäß. Dass
das noch aus anderem Grunde gilt, werde ich an anderer
Stelle noch erläutern. Die Auseinandersetzung mit dem An-
trag heute ist jedenfalls überflüssig.
Keineswegs überflüssig hingegen ist die Auseinander-
setzung mit der Gedenkstättenproblematik in Berlin und
Deutschland überhaupt. Gedenkstätten sind – und da sind
wir uns einig – ein wichtiger Aspekt demokratischer Kul-
tur. Sie erinnern uns an die Gräueltaten und den Terror un-
serer Geschichte. Sie erinnern uns an die Versäumnisse
um das demokratische Verständnis unseres Volkes in der
Vergangenheit. Und sie erinnern uns vor allem an unsere
Verantwortung als Demokraten, auch dieses Erbe der
Deutschen im Bewusstsein zu erhalten. Jeder Anflug von
Wiederholung, jeder unbedachte Umgang mit unserer ei-
genen Geschichte, muss den Widerstand von uns allen zur
Folge haben. Das ist ein zentrales Merkmal der demokra-
tischen Kultur der neuen wie der alten Bundesrepublik.
Die Gedenkstätten leisten hierzu einen ungeheuer wichti-
gen Anteil.
Ich möchte gleich von vornherein feststellen: Dies gilt
für das Gedenken an die Opfer der SED-Diktatur im glei-
chen Maße wie für die Opfer des Nationalsozialismus.
Wir werden uns auf keine Debatte einlassen, die versucht,
die Opfer der jeweiligen Herrschaft gegeneinander aus-
zuspielen.
Ich werfe dies dem Antrag der CDU/CSU auch gar
nicht vor. Aber einige Sätze der Rede von Herrn Nooke in
der letzten Diskussion um eben diesen Antrag lassen die-
sen Versuch fast vermuten: Zwar formuliert er zu Beginn
seiner Rede noch, er wolle keine Debatte über die Frage
führen, ob das Erinnern an die eine Diktatur mit dem Er-
innern an die zweite Diktatur gleichgesetzt werden sollte;
aber genau das tut er dann, wenn er die Größe der Kränze,
die vom Bundeskanzler und vom Bundestagspräsidenten
anlässlich des 9. Novembers 2000 vor der Synagoge in
der Oranienburger Straße niedergelegt worden sind in Be-
ziehung setzt zu einem angeblichen Nicht-Gedenken an
den Mauerbau.
Die CDU/CSU suggeriert hiermit, die Bundesregie-
rung gedenke an die Opfer des Nationalsozialismus und
vergesse diejenigen von Stalinismus und SED-Diktatur.
Es ist schon schlimm genug, dass man auf diese Weise
versucht, Opfer gegeneinander auszuspielen. Besonders
schlimm daran ist aber, dass die Christdemokraten genau
wissen, dass dem nicht so ist. Ich will diese Debatte, mit
der Teile der Opposition offenbar versuchen, irgendein
seltsames politisches Süppchen zu kochen, auch gar nicht
weiterführen. Es ist mir nur wichtig festzustellen, dass
niemand aus der SPD-Fraktion und auch niemand aus der
Bundesregierung die Opfer der SED als zweitrangig an-
sieht.
Das Engagement der Bundesregierung im Bereich der
Gedenkstätten ist beispielhaft. Besonders und gerade in
Berlin. Die drei in dem Antrag genannten – und zweifellos
besonders wichtigen – Gedenkstätten an der Bernauer
Straße, in der Normannenstraße und in Hohenschönhausen
sind von dem Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung
im gleichen Maße betroffen, wie die Gedenkstätten an die
Opfer des Nationalsozialismus. Die Bundesregierung hat
sich mit den Ländern auf eine zumindest hälftige Beteili-
gung des jeweiligen Sitzlandes der Gedenkstätte geeinigt.
Dieses ist im Einvernehmen mit den Ländern erfolgt. Und
es macht auch Sinn, das so zu machen, da die Gedenkstät-
ten in den Bereich der föderalen Kompetenz fallen. Wir
achten dieses Prinzip, sind uns aber der gesamtstaatlichen
Verantwortung die der Bund dabei trägt, bewusst. Das ha-
ben wir in diesem Hause beschlossen. Eben deshalb ist ge-
nau diese Vereinbarung zustande gekommen. Und – das
möchte ich ausdrücklich betonen – dieses Prinzip gilt nicht
nur für die drei Gedenkstätten an die Opfer der SED-Dik-
tatur in Berlin.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24385
(C)
(D)
(A)
(B)
Ein weiterer wichtiger Aspekt neben der Zuständigkeit
der Länder ist die Unabhängigkeit der Gedenkstätten, die
ein wichtiger Grundsatz der Gedenkstättenkonzeption ist.
Es kann nicht sein, dass wir nun darangehen, den Ge-
denkstätten mit unseren Konzeptionen inhaltliche Vorga-
ben zu machen. Sicherlich hat der Bund auch hier ein
Recht und eine Pflicht zur Mitsprache. Aber wenn die For-
derung der CDU/CSU-Fraktion nach einer Gesamtkon-
zeption auch so verstanden werden soll, dass der Bund
hier detaillierte inhaltliche Vorschriften macht, dann stößt
das auf unsere Ablehnung.
Was den finanziellen Aspekt betrifft, so wollen wir, dass
die Gedenkstätten für die Opfer auf einer finanziell gesi-
cherten Grundlage stehen. Ich glaube, dass das durchaus im
Interesse aller ist. Um dieses zu erreichen, haben wir in die-
ser Legislaturperiode schon einige Fortschritte gemacht.
Fortschritte im Übrigen, die die Kohl-Regierung in den ers-
ten acht Jahren nach der Wiedervereinigung nicht vorzu-
weisen hatte. Allein dies zeigt, wie widersinnig das von Ih-
nen gestellte Ultimatum im Antrag war und ist. Finanzielle
Sicherheit kann an dieser Stelle nicht bedeuten, dass Alles
und Jedes auf den Bund abgewälzt wird. Wir sind bezüglich
der Gedenkstätten der Überzeugung, dass diese eines Bei-
trages von allen relevanten Ebenen bedürfen. Die maximal
hälftige Beteiligung des Bundes ist dabei ein gutes Konzept,
das sowohl die gesamtstaatliche Verantwortung wie auch
den Respekt vor den Verantwortlichkeiten der Länder und
Stiftungen akzeptiert. Was die von den Christdemokraten in
ihrem Antrag genannten Gedenkstätten anbetrifft, so erge-
ben sich aus der finanziellen Situation Berlins sicherlich be-
sondere Probleme. Dem Bund ist diese Tatsache bewusst.
Aber auch das kann nicht bedeuten, dass wir Verantwort-
lichkeiten missachten oder dass der Bund alle Kosten trägt.
Denn täten wir das, so würden andere Mahn- und Gedenk-
stätten auf uns zukommen und – zu Recht fragen, warum
die einen komplett vom Bund finanziert werden und andere
nicht. Das kann unserer Ansicht nach auch nicht im Sinne
der Opposition sein. Wenn der Bund sich also umfangreich
finanziell an den drei Gedenkstätten beteiligt, dann muss ein
Konzept dafür vorliegen. Ein Konzept – das möchte ich
betonen –, das sowohl inhaltlich als auch finanziell auf soli-
den Füßen steht. Das mit einem Ultimatum zu verbinden,
wie es der Antrag der CDU/CSU vorsieht, wird der Sache in
keiner Weise gerecht.
Durch die Arbeitsgemeinschaften, die sich mit der Zu-
kunft der Gedenkstätten in Hohenschönhausen und in der
Normannenstraße befassen, gehen wir den richtigen Weg.
Und eben deswegen ist der Antrag der CDU/CSU wie
der der FDP nicht zeitgemäß. Sie stellen eine Forderung
nach einer Konzeption, der längst nachgegangen wird.
Nur geschieht das nicht unter dem Druck von Ultimaten,
unausgegoren und letztlich konzeptionslos, sondern an-
gemessen, mit der Beteiligung der relevanten Kräfte und
solide. Schon in der Sommerpause werden weitere
Schritte erfolgen.
Wir stampfen hier kein – wie auch immer geartetes –
Gesamtkonzept aus dem Boden, um gleichsam im
Schnellverfahren Versäumnisse der alten Bundesregie-
rung aufzuholen. Wir wollen auch nicht ein Konzept ohne
Beteiligung der betroffenen Gedenkstätten und des Lan-
des Berlin aufbauen. Und wir wollen für den Bund kein
finanziell nicht abschätzbares Fass ohne Boden aufma-
chen, weil wir ein unausgereiftes Konzept vorlegen. Was
wir wollen ist eine grundsolide, durchdachte und ange-
messene Konzeption für die Gedenkstätten an die Opfer
der SED-Diktatur; Thema und Verantwortlichkeiten ver-
langen ein solches Vorgehen.
Was die drei Gedenkstätten im Einzelnen angeht, so
dürfte das Denkmal „Berliner Mauer“ eigentlich kein
Problem für die Opposition darstellen. Die Finanzierung
des Denkmals wurde aus Bundesmitteln gesichert. Die
Beteiligung an der Gedenkstätte durch den Bund steht
weiterhin. Und der Vorwurf, die Bundesregierung würde
den Mauerbau nicht als historisch wichtiges Ereignis be-
trachten, wie er von der Opposition bei der letzten Debatte
vorgebracht wurde, dürfte spätestens seit dem 13. August
2001 hinfällig sein. Bei der Kranzniederlegung – ich will
jetzt nicht die Größe der Kränze mit denen in der Orani-
enburger Straße vergleichen, wie Herr Nooke das gerne
tut – bezeichnete der Bundeskanzler den Bau der Mauer
als „brutalen Versuch die Massenflucht in den Westen zu
unterbinden, die eigene Bevölkerung einzusperren und
ihr Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Selbstbe-
stimmung zu verweigern.“ Wenn es von Ihrer Seite also
noch Zweifel an der Einordnung der DDR-Geschichte
durch den Bundeskanzler gab, sollten diese wohl wider-
legt sein.
Was die ehemalige Zentrale der Staatssicherheit der
DDR in der Normannenstraße und die Gedenkstätte
Hohenschönhausen angeht, so hat der Bund immer be-
kräftigt, dass diese Orte von besonderer historischer Be-
deutung sind. Bezüglich der Normannenstraße hatten
wir schon bei der letzten Debatte darauf hingewiesen,
dass die Grundlage für ein weiteres Vorgehen eine wissen-
schaftliche Konzeption zur Nutzung sein muss. Aus die-
sem Grund wurde die Fachkommission unter Leitung von
Dr. Siegfried Vergin eingerichtet, die Leitlinien für die
künftige Nutzung des Hauses und eine inhaltliche Per-
spektive erarbeiten sollte. Diese Kommission hat schon
hervorragende Arbeit geleistet, die Grundlage für die
diesbezüglichen Entscheidungen der Bundesregierung
sein wird. Gespräche der Bundesregierung mit der Ar-
beitsgruppe werden in Kürze stattfinden, sodass wir im
Herbst dieses Jahres wissen, wie der Bund sich an der
Konzeption der Normannenstraße finanziell beteiligen
wird. Es war richtig, auf diese Weise vorzugehen, um die
nötige finanzielle wie konzeptionelle Planungssicherheit
zu gewährleisten.
Gerade was Hohenschönhausen angeht, scheint die
Opposition zu bezweifeln, dass die Bundesregierung ihrer
Pflicht nachkommt. Neben dem Antrag der CDU/CSU
drückt das auch der FDP-Antrag „Stasi-Untersuchungs-
haftanstalt Hohenschönhausen als Gedenkstätte erhalten
und ausbauen“ aus. Es ist in der Tat auch in unserem In-
teresse, die Anstalt in Hohenschönhausen zu erhalten. Ich
rufe Ihnen dazu nochmals den aktuellen Sachstand in Er-
innerung: Die Gedenkstätte wird mit bis zu 50 von Hun-
dert institutionell vom Bund gefördert. Die Bundeszu-
wendungen betrugen in 2001 521 000 Euro. Für das Jahr
2002 sind 504 000 Euro vorgesehen. Zudem sind in 2001
614 000 Euro für Baumaßnahmen an die Gedenkstätte ge-
zahlt worden. In 2002 sind dafür sogar 1,1 Millionen Euro
vorgesehen. Was die Baukosten in einer geschätzten Ge-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224386
(C)
(D)
(A)
(B)
samthöhe von 25 Millionen Euro betrifft, so sind durch
eine Vereinbarung aus dem Jahre 1997 bereits über 5 Mil-
lionen Euro in den Finanzplan eingestellt. Uns ist be-
wusst, dass das nicht ausreichend ist. Daher muss über die
Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln eine erneute Ver-
einbarung zwischen dem Bund und dem Land Berlin er-
folgen.
Auch für Hohenschönhausen ist die Erarbeitung eines
Konzeptes für die weitere Planung erforderlich. Dies gilt
sowohl für die inhaltliche Konzeptionierung wie auch für
die Bau- und Kostenplanung. Daher ist auch hier vom
Stiftungsrat eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, die
mit der entsprechenden Vorarbeit beauftragt ist. Sie setzt
sich zusammen aus Mitgliedern von BKM, Senatsverwal-
tung für Kultur, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung,
der Gedenkstätte und der Stiftung Haus der Geschichte.
Für das BKM ist dabei die Einbindung des Hauses der Ge-
schichte in die Ausstellungsgestaltung von besonderer
Relevanz. Selbstverständlich unter Wahrung der Rechte
der Berliner Stiftung und ihrer Gremien. Mit Ergebnissen
hierzu ist auch im Herbst dieses Jahres zu rechnen. Wir
unterstützen jedenfalls diesen Weg der Bundesregierung,
Hohenschönhausen als wichtige Gedenkstätte der Deut-
schen Geschichte zu erhalten und zu würdigen. Die fi-
nanziellen Probleme des Landes Berlin müssen dabei
natürlich berücksichtigt werden.
Sie sehen also: Der Antrag der CDU/CSU ist – genauso
wie der der FDP – völlig unbegründet. Planungssicherheit
für die Gedenkstätten in Deutschland – für die an die Op-
fer des Nationalsozialismus genauso wie an die der SED-
Zeit – hat erst die heutige Regierungskoalition geschaf-
fen. Wir sind an einigen Punkten in Hohenschönhausen
und in der Normannenstraße noch nicht fertig, aber die
Konzepte sind kurz vor dem Abschluss und werden dann
eingehend mit der Bundesregierung erörtert. Das Konzept
– da bin ich mir sicher – wird die finanzielle und inhaltli-
che Planungssicherheit für alle drei Gedenkstätten ge-
währleisten.
Aber ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden die Bun-
desregierung auch weiterhin dabei unterstützen, die Verant-
wortlichkeiten und Rechte – genauso wie die Pflichten –
von Ländern und Stiftungen zu beachten. Die Annahme,
der Bund könne allein die Verantwortung für die Gedenk-
stätten übernehmen, ist widersinnig. Auch die Kulturho-
heit der Länder muss dabei berücksichtigt werden.
Und wir werden auch nicht zulassen, dass Opfer mitei-
nander verglichen werden, dass gleichsam die Frage, wer
mehr Opfer war und ist, in der Diskussion auftaucht. Da-
her bitten wir Sie, sich zu gedulden und die Ergebnisse der
Gespräche der Bundesregierung mit den Arbeitsgruppen
abzuwarten, und dann das Ergebnis zu bewerten. Die Ar-
beit der Gedenkstätten und der sorgsame Umgang mit der
Erinnerungskultur liegen bei uns in guten Händen. Das
wissen die Länder genauso wie die Gedenkstätten selbst.
Und das sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen.
Günter Nooke (CDU/CSU): Auch wenn es zu so ei-
ner späten Stunde ist, so freue ich mich trotzdem, dass wir
hier im Deutschen Bundestag unmittelbar vor dem
17. Juni noch einmal über unseren Antrag diskutieren
können.
Bei zahlreichen Gelegenheiten hat sich der Deutsche
Bundestag zur Notwendigkeit der Aufarbeitung der
SED-Diktatur bekannt. Nicht zuletzt ist dies in der Ein-
richtung von zwei Enquete-Kommissionen zum Ausdruck
gekommen. Die zweite Enquete-Kommission unter dem
Namen „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im
Prozess der deutschen Einheit“ legte die Ergebnisse in acht
Bänden im Jahre 1999 vor. Dem Haus und allen daran be-
teiligten Abgeordneten aller Fraktionen sowie den exter-
nen Sachverständigen ist dafür noch einmal zu danken.
Es kommt nicht von ungefähr, dass wir beim Blick auf
die Geschichte des SED-Staates fast schon selbstver-
ständlich von der zweiten deutschen Diktatur sprechen.
Dabei muss noch nicht einmal der große geschichtsphilo-
sophische Streit über Gleichsetzung oder Vergleich der
nationalsozialistischen und der kommunistischen Dikta-
tur geführt werden. Das wurde und wird teilweise immer
noch an anderer Stelle ausführlich getan. Fest steht, und
deshalb findet sich diese Formulierung auch in dem vor-
liegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion: „Das Erinnern
an die zweite deutsche Diktatur muss weiterhin fester Be-
standteil demokratischer Kultur unseres Landes bleiben.“
Wahrscheinlich können diesen Satz fast alle Mitglieder
dieses Hauses unterschreiben.
Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass
es in der sichtbaren Form des Erinnerns an die zweite deut-
sche Diktatur erhebliche Defizite gibt. Und da die ehema-
lige so genannte „Hauptstadt der DDR“ Berlin das Zen-
trum der SED-Macht war, sind hier auch die wichtigsten
Stätten des kommunistischen Terrors zu finden. Jedenfalls
stehen sowohl die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftan-
stalt Hohenschönhausen sowie die Zentrale des Ministeri-
ums für Staatssicherheit in der Normannenstraße und die
Mauergedenkstätte nebst Dokumentationszentrum Ber-
nauer Straße symbolisch für dieses Erinnern an die Opfer
der zweiten deutschen Diktatur. Diese Gedenkstätten in
Berlin sind eben keine lokalen Angelegenheiten. So wie
die zweite deutsche Diktatur Bestandteil der gesamtdeut-
schen Geschichte ist, so sollten auch diese Gedenkstätten
von zentraler und nationaler Bedeutung sein.
Diese zentrale und nationale Bedeutung muss in ent-
sprechenden Konzeptionen sichtbar werden. Ansonsten
wird das Bekenntnis zur Wichtigkeit der Aufarbeitung der
SED-Diktatur schnell Makulatur. Ich will noch einmal für
unseren Standpunkt werben. Es kann nicht sein; dass die
wichtigsten Gedenkstätten und die zentralen Orte des Ter-
rors während der zweiten deutschen Diktatur in einem Zu-
stand sind, der eine mittel- oder gar langfristige Planung
für deren Arbeit eigentlich unmöglich macht. Ich finde es
auch ein Stück weit unehrlich, wenn unser Antrag, wie das
in den Ausschüssen weitestgehend geschehen ist, mit Hin-
weis auf Finanzierbarkeit, Länderkompetenzen oder ähn-
lichem abgelehnt wurde. Jedenfalls sollte alles getan wer-
den, damit solche Diskussionen nicht als Ausreden
interpretiert werden können. Das wäre den Opfern der
SED-Diktatur gegenüber einfach schäbig. Es kann keine
Opfer erster und zweiter Klasse geben. Deshalb hielte ich
es auch für unangemessen, wenn wir auf der einen Seite
die Stätten des Gedenkens an die nationalsozialistische
Diktatur finanziell und organisatorisch sehr gut ausstatten
– was ich ausdrücklich begrüßen möchte –, wir aber für
die Opfer des DDR-Regimes kaum etwas übrig haben.
Und wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, dass
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24387
(C)
(D)
(A)
(B)
uns die Gedenkstätten der zweiten Diktatur nicht so wich-
tig sind.
Denn ich will es noch einmal deutlich sagen: Im Ver-
gleich zu den Kosten für die Gedenkstätten an die Opfer
der NS-Diktatur handelt es sich hier vergleichsweise um
Peanuts. Die Bedeutung der Gedenkstätten gerade für die
Jugend, für die vielen Schüler und Studenten, die in den
letzten Jahren dort waren, um sich zu informieren, liegt
doch wirklich auf der Hand.
Ich möchte Sie hier noch einmal auffordern, mit uns
über ein abgestimmtes Gesamtkonzept für die drei Berliner
Gedenkstätten zu diskutieren. Es wäre ein Zeichen für die
ansonsten immer eingeforderte Courage im Kampf gegen
politisch motivierte Gewalt und ein klares Bekenntnis für
die Wurzeln unserer Demokratie.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Dass wir
diesen Tagesordnungspunkt erst zu später – oder besser
gesagt: zu früher Stunde – im Plenum behandeln, deutet
aus Sicht der FDP auf zweierlei hin:
Erstens. Für Rot-Grün ist der Erhalt der Berliner Ge-
denkstätten, insbesondere der Stasi-Untersuchungshaft-
anstalt Hohenschönhausen, kein wichtiges Thema. Jetzt,
da die PDS nicht nur im Berliner Roten Rathaus, sondern
auch auf Bundesebene als Koalitions- respektive Dul-
dungspartner ernsthaft in Betracht gezogen wird, gibt es
kaum noch Interesse an der Erhaltung der Terror-Bauten
der SED.
Zweitens. Der Drei-Uhr-Morgen-Termin ist geschickt
gewählt, um nicht vor der Öffentlichkeit das Scheitern der
Gedenkstättenkonzeption der rot-grünen Bundesregie-
rung eingestehen zu müssen.
Es ist schon merkwürdig, dass die Kollegen von der
SPD-Fraktion noch in der Beschlussempfehlung des Kul-
turausschusses zum CDU/CSU-Antrag zur Gesamtkon-
zeption der Berliner Gedenkstätten am 14. Februar 2001
ausführten, „bei der Gedenkstätte Hohenschönhausen sei
momentan Handlungsbedarf nicht ersichtlich“. Die Grü-
nen sekundierten diese Aussage mit den Worten, „dass die
Gedenkstätten in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal
dauerhaft auf eine solide Finanzierungsbasis gestellt wor-
den sind und ein weiteres Drängen deshalb nichts bringt“.
Jetzt, knapp ein Jahr später, stellt dieselbe SPD-Frak-
tion im Kulturausschuss zu unserem Antrag zur Erhaltung
und zum Ausbau der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Ho-
henschönhausen lapidar fest: „Bei den weiteren Baumaß-
nahmen gibt es Handlungsbedarf“.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD,
was ist denn innerhalb dieser paar Monate so vollkommen
Unerwartetes passiert? Es verwundert schon, dass Sie da-
mals alles für wunderbar in Ordnung hielten, jetzt aber
– scheinbar aus heiterem Himmel – Handlungsbedarf
sehen.
Nun weisen Sie darauf hin, es gebe eine Arbeitsgruppe,
die den Auftrag habe, „eine Konzeption der Daueraus-
stellung vorzulegen und die Bau- und Kostenplanung zu
überarbeiten“. Was darunter konkret zu verstehen ist, sa-
gen Sie allerdings nicht. Da muss man sich schon beim
Berliner Senat erkundigen, der unverblümt offenbart, er
beabsichtige, sich aus seiner Beteiligung an den Kosten
für einen weiteren Ausbau und die Sanierung der be-
stehenden Gebäude zulasten des Bundes vollkommen
zurückzuziehen – im Widerspruch zum Gedenkstätten-
konzept von Bund und Ländern. Der Bund hat jetzt also
nicht nur die Kosten der Sanierung der Museumsinsel,
sondern auch der Gedenkstätte Hohenschönhausen allein
an der Backe. Ich frage Staatsminister Nida-Rümelin: Ha-
ben Sie diese Problematik eigentlich schon dem Haus-
haltsausschuss des Deutschen Bundestages vorgetragen?
Entsprechende Signale sind jedenfalls bei uns nicht ange-
kommen.
Aber vielleicht werden diese auch niemals gesendet
werden, denn das Ziel von Rot-Rot-Grün – von Bundes-
regierung und Berliner Senat – scheint ein anderes zu
sein: In der besagten Arbeitsgruppe will man sich – so hört
man vonseiten des Senats – darauf einigen, lediglich mi-
nimale Sanierungs- und Erhaltungsarbeiten vorzuneh-
men. Auf die dringend notwendige Sanierung des „Neu-
baus“, also des von der Stasi errichteten Hauses mit den
berüchtigten „Vernehmerzellen“, in denen etwa Bärbel
Bohley tagelang verhört worden ist, will man ganz ver-
zichten. Dafür sei kein Geld vorhanden.
Aus der PDS-geführten Kulturverwaltung – dass aus-
gerechnet ein Kultursenator der PDS qua officio den Vor-
sitz im Stiftungsrat der SED-Gedenkstätte führt, ist schon
ein Treppenwitz der Geschichte – wird ungeschminkt ein-
geräumt, im Grunde genommen habe man gar nichts da-
gegen, wenn der Bau so langsam verfiele und sich all-
mählich der Mantel des Schweigens über die ganze
Angelegenheit lege.
Es ist schon bemerkenswert: Das Land Berlin inves-
tiert – wenn auch zögerlich – 80 Millionen DM in die „To-
pographie des Terrors“ der ersten deutschen Diktatur, einen
Neubau mit zumindest nicht unumstrittener Architektur.
Aber für die Erhaltung eines authentischen baulichen Zeug-
nisses der zweiten deutschen Diktatur, wie sie die Stasi-
Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen darstellt, will
man noch nicht einmal circa 10 Millionen DM für dessen
überfällige Sanierung aufbringen.
Die Wahrheit ist doch Folgende: Hier geht es letztlich
nicht um Geld, sondern schlichtweg um das allmähliche
Verdrängen der SED-Untaten. Dies, meine Damen und
Herren von SPD, PDS und Grünen, werden die Liberalen
hier im Bundestag und im Land Berlin nicht zulassen. Ich
sage Ihnen hier und jetzt: Nach dem 22. September die-
ses Jahres wird die FDP, nachdem uns die Wähler den
Auftrag dazu gegeben haben werden, Ihre Politik der
Schönfärberei, der Geschichtsklitterung und des Ver-
schweigens der Verbrechen des SED-Staates beenden
und mit einer finanziell tragfähigen Konzeption für die
Sanierung und den Erhalt auch der SED-Gedenkstätten
Sorge tragen.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kollegen von der Union. Sie fordern in dem vorlie-
genden Antrag die Bundesregierung auf, eine verbin-
dende Gesamtkonzeption inklusive der notwendigen Fi-
nanzierung für die Erinnerungsstätten der SED-Diktatur
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224388
(C)
(D)
(A)
(B)
Bernauer Straße, Hohenschönhausen und Normannen-
straße vorzulegen.
Ich sehe dazu keine Notwendigkeit und ich will Ihnen
auch sagen, warum.
Vielleicht ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass die
rot-grüne Bundesregierung bereits in der ersten Hälfte die-
ser Legislaturperiode – nämlich 1999 – ein sehr umfassen-
des Gedenkstättenkonzept zur Erinnerung an NS- und
SED-Unrecht vorgelegt und umgesetzt hat. Ein Projekt,
dass die CDU/CSU-FDP-Regierung in den Jahren nach der
Wende nicht einmal in Erwägung zog und in dessen Ent-
stehungsprozess die Union in der Opposition auch keine
Anregungen im Sinne dieses Antrags für notwendig hielt.
Auf der grundlegenden Feststellung basierend, dass die
Gedenkstätten vorrangig Aufgabe gesellschaftlicher
Gruppen, der Kommunen und der Länder sind, beteiligt
sich nach unserer Entscheidung der Bund an Projekten
von nationaler bzw. internationaler Bedeutung bis zu ei-
ner Höhe von 50 Prozent. Im Jahre 2000 hat der Bund die
Gedenkstätten mit 9,7 Millionen Euro im Jahre 2001 al-
lein im Rahmen des Gedenkstättenkonzepts mit 7,7 Mil-
lionen Euro gefördert. Für das Jahr 2002 sind für die Ein-
richtungen, die von dem Gedenkstättenkonzept gedeckt
sind, wieder 7,7 Millionen Euro bereitgestellt worden und
für die Jahre 2003 und 2004 sind jeweils 10,2 Millionen
Euro vorgesehen. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen
wird schon jetzt im Rahmen des Gedenkstättenkonzepts
zu 50 Prozent vom Bund gefördert.
Obwohl die Gedenkstättenförderung anerkannter-
maßen Sache der Länder und Kommunen ist, hat die
rot-grüne Regierung die Bedeutung der Erinnerungsstät-
ten sehr ernst genommen und die bundesdeutsche Ge-
denkstättenförderung nicht nur auf ein konzeptionell
durchdachtes Fundament gestellt, sondern auch ihre Fi-
nanzierung langfristig gesichert. Das ist ein Beispiel für
nachhaltige Kulturpolitik. Im Nachhinein mit weiteren
konzeptionellen Vorschlägen zu kommen, ist zwar typi-
sches Vorgehen der Opposition, trägt aber nicht zur Lö-
sung von Problemen bei. Die Förderung von Gedenkstät-
ten vonseiten des Bundes ist generell mit dem Konzept
abgedeckt.
Für weiteren Förderbedarf – und der besteht nicht nur
bei den von Ihnen genannten Institutionen sicherlich – müs-
sen die Länder und Kommunen erst einmal einen Plan vor-
legen, und zwar mit konkreten Zahlen, darüber was sie be-
reit sind zu zahlen. Dann kann man prüfen, ob der Bund
– der Bedeutung der Einrichtungen gemäß –, seinen Teil
dazu tun sollte. Bevor die Landesebene – und hier ist Berlin
gemeint – keine konkreten Vorstellungen zur eigenen Betei-
ligung hat, kann der Bund nicht handeln. Ich empfehle da-
her, dem Beschluss des Ausschusses für Kultur und Medien
im September 2001 zu folgen: Wir lehnen den Antrag ab.
Dr. Heinrich Fink (PDS): In Bezug auf den Titel des
Antrages der Union sage ich namens der PDS-Fraktion:
Ja, eine derartige Gesamtkonzeption wäre logisch und
notwendig. Auf in der DDR geschehenes Unrecht sollte in
angemessener, seriöser, alle geschichtlichen Umstände
einschließender Weise hingewiesen werden. Das sind wir
zuerst allen Menschen schuldig, die unschuldig gelitten
haben: Das ist Anerkenntnis der gelebten Geschichte und
gehört zur demokratischen Erinnerungskultur und das ist
nicht zuletzt notwendiger Teil der Verpflichtung, die uns
gegenüber künftigen Generationen auferlegt ist.
In Anerkenntnis dessen kann es meines Erachtens kei-
nen anderen Weg geben als den eines möglichst objektiven
geschichtswissenschaftlich fundierten Herangehens. Das
umfasst mehr als die Forderung nach finanziellen und bau-
lichen Investitionen in das Bestehende und es kann dabei
auch nicht allein um die drei hier genannten Einrichtungen
gehen. Was beispielsweise ist mit dem Checkpoint Char-
lie, was mit der Kennzeichnung des ehemaligen Mauer-
verlaufs und anderen markanten Orten, die aus gutem
Grund der Erinnerung bedürfen? Sie bedürfen nicht nur
der Erinnerung, sondern – wenn wir uns nicht mit zwei-
felhaftem Stückwerk zufrieden geben wollen –, unbedingt
auch der wissenschaftlichen Begleitung und Erklärung.
Diese Dimension vermisse ich etwas im vorliegenden An-
trag. Ich vermisse auch eine Erklärung dafür, warum sich
die CDU erst jetzt dieser Angelegenheit erinnert.
Ich gebrauche dieses Argument nicht gern, weil es
schon so oft und immer wieder eine Rolle spielte und
spielt. Trotzdem muss ich fragen, warum die Union in der
langen Zeit ihrer politischen Verantwortung sowohl im
Bund als auch noch länger in Berlin hier offensichtlich
Dinge unerledigt gelassen haben, die sie jetzt in ihrem An-
trag fordert. Dieses Gesamtkonzept, das die Union nun-
mehr von der rot-grünen Bundesregierung verlangt, hätte
also längst vorgelegt werden können.
Es versteht sich nicht allein als Frage guten politischen
Stils, dass bei jedem Konzept dieser Zielsetzung das Ein-
vernehmen des Bundes mit Berlin gesucht werden sollte.
Damit meine ich ausdrücklich nicht, dass Berlin hier in die
Pflicht zur Gegenfinanzierung genommen werden sollte.
Das wäre überdies wenig zielführend. Es ist ja kein Ge-
heimnis, dass Berlin aufgrund seiner finanziellen Misere,
für die bekanntlich nicht der jetzige Senat die Schuld trägt,
ganz nüchtern betrachtet schwerlich in der Lage ist, die in
der Diskussion befindlichen Investitionen aufzubringen.
Beispielsweise spricht der Direktor der Gedenkstätte Ho-
henschönhausen von 20 Millionen Euro, die er allein für
sein Objekt als Mindestsumme für gebäudetechnische Er-
haltung und denkmalgerechte Sanierung erwartet.
Ich will ungeachtet dessen aber keinen Zweifel an der
Feststellung lassen. Die in Rede stehenden Stätten sind als
zentrale und nicht lokale Gedenkorte anzusehen. Es wäre
danach eine folgerichtige Überlegung, sie auch vollständig
durch den Bund zu konzipieren und zu finanzieren. Inso-
weit folgt die PDS ungeachtet einiger nach unserer Auf-
fassung ahistorischer Formulierungen dem Grundgedan-
ken des CDU-Antrages nach Verantwortung des Bundes.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratung derGroßen Anfrage: Situation und
Perspektiven der Ingenieurinnen und Ingenieure
in Deutschland (Tagesordnungspunkt 17)
Bodo Seidenthal (SPD): Die Antwort der Bundesre-
gierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Opposition
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macht die große Bedeutung des Ingenieurwesens deutlich.
Sie macht vor allem deutlich, dass die sozialdemokratisch
geführte Bundesregierung mit Bundeskanzler Gerhard
Schröder und der Bundesministerin für Bildung und For-
schung, Edelgard Bulmahn, der mathematisch-naturwis-
sentschaftlichen Bildung ebenso wie der Bildung insge-
samt eine hohe Bedeutung beimisst. Bildung und
Qualifizierung sind entscheidende Grundlagen für die Be-
rufs- und Lebenschancen der jungen Menschen und für die
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Die Bundesregierung hat seit ihrem Amtsantritt einen
deutlichen Schwerpunkt auf die Zukunftsinvestitionen
von Bildung und Wissenschaft – und damit auch auf die
Ausbildung von Fachkräften gesetzt. Zum vierten Mal in
Folge wurde der Haushalt des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung deutlich erhöht. Im Hochschulbe-
reich wurden zahlreiche Maßnahmen und Programme ge-
startet, die darauf zielen, Eigenverantwortung und Leis-
tungsorientierung zu stärken sowie Innovationskraft und
internationale Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln. Diese
grundlegenden Verbesserungen der Rahmenbedingungen
kommen auch dem Ingenieurswesen zugute.
Daran möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen er-
innern. Die Opposition wäre gut beraten, wenn sie dies
endlich zur Kenntnis nehmen würde. Ihre Kritik geht ins
Leere, denn die Politik unter ihrem Forschungsminister
Jürgen Rüttgers war durch Haushaltskürzungen und Still-
stand geprägt.
Als ausgebildeter Ingenieur ist mir bewusst, dass zur
Erhaltung des Technologiestandortes Deutschland die
Themen Schul- und Hochschulausbildung sowie die stär-
kere Integration von Frauen und arbeitslosen Ingenieuren
in technische Berufe entscheidend sind. Allerdings ist dies
nur durch längerfristige Maßnahmen möglich und nicht
durch kurzfristige, wie es die Opposition mit ihren Fragen
suggerieren möchte.
Die Ingenieurausbildung in Deutschland genießt auf
der ganzen Welt einen exzellenten Ruf. Ingenieure und In-
genieurinnen haben mit ihrer Arbeitsleistung zu einem
wesentlichen Teil zum wirtschaftlichen Wachstum und
zum technischen Fortschritt beigetragen. Der Auseinan-
dersetzung mit der Zukunft der Ingenieurberufe und der
Ingenieurausbildung kommt deshalb in Deutschland ein
hoher Stellenwert zu. Wegen der hohen Bedeutung des In-
genieurwesens und der in jüngerer Zeit drängender ge-
wordenen Nachwuchssorgen diskutieren Bundesministe-
rin Edelgard Bulmahn und Staatssekretär Dr. Uwe Thomas
mit Vertretern der Ingenieurverbände, der Wirtschaft, der
Hochschulrektorenkonferenz, der Hochschulen, der Kul-
tusministerkonferenz sowie der Bund-Länder-Konferenz
für Bildungsplanung und Forschungsförderung regel-
mäßig über die aktuelle Situation und Entwicklung des
Ingenieurwesens in Deutschland. Diese Treffen sind als
„Ingenieurdialog“ zu einem Begriff geworden. Die Op-
position sollte sich vielleicht einmal das Memorandum
dieses Ingenieurdialogs anschauen, denn die dort zwi-
schen dem BMBF, den Ingenieurverbänden, der Industrie,
der KMK, der HRK und BLK beschlossenen Handlungs-
empfehlungen, die die Beteiligten für erforderlich halten,
werden Zug um Zug umgesetzt. Insgesamt halten die
Bundesregierung und alle Beteiligten nachstehende Maß-
nahmen für erforderlich, die auch ihren Niederschlag in
einer 19 Punkte umfassenden Erklärung des Verbandes
Deutscher Ingenieure gefunden haben.
Schule und Technik. Die Länder sollten ihre zahlreichen
Aktivitäten zur Stärkung und Weiterentwicklung des natur-
wissenschaftlich-technischen Unterrichts – einschließlich
der Fächer Mathematik und Informatik – intensivieren.
Dies gilt insbesondere auch für die Lehrerbildung – Aus-
und Weiterbildung – in den betroffenen Unterrichtsfächern,
wobei auch die ganzheitliche, fachübergreifende Sicht-
weise berücksichtigt werden sollte. In den Schulen sollte
ein attraktives Angebot von Pflicht- und Wahlfächern bis
zum Abitur bereitgestellt werden, in dem ein enger Bezug
zur Praxis hergestellt und so Interesse für die Welt der
Technik geweckt wird. Der Frage eines ausreichenden
Angebots an motivierten, auch jüngeren Lehrern für na-
turwissenschaftliche und techniknahe Fächer sollte be-
sonderes Augenmerk gewidmet werden.
Im Rahmen der Aktivitäten zur Förderung des mathe-
matisch-naturwissenschaftlich-technischen Unterrichts gibt
es bereits zahlreiche Kooperationsprojekte zwischen Schu-
len, Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen. Die Län-
der setzen sich für eine Intensivierung der Zusammenar-
beit von Schule und außerschulischen Einrichtungen ein
und begrüßen die Bereitschaft der Ingenieurverbände,
sich daran zu beteiligen. Schulen, Hochschulen, Wirt-
schaftsverbände und infrage kommende Berufsverbände
müssen gemeinsam in der Öffentlichkeit verstärkt daran
mitwirken, das Wahlverhalten der Schülerinnen und
Schüler sowohl beim Eintritt in die gymnasiale Oberstufe
als auch bei der Aufnahme eines Hochschulstudiums zu-
gunsten mathematisch-naturwissenschaftlich-technischer
Fächer zu verändern.
Ingenieurstudium. Die schnelle und breite Einführung
von Bachelor- und Master-Studiengängen mit einem be-
rufsqualifizierenden Abschluss sowie berufsbegleitende
Studienangebote können einen wesentlichen Beitrag leis-
ten, dem Ingenieurmangel abzuhelfen. Da es mit der Aus-
bildung an Universitäten und Fachhochschulen bereits
fünf- und vierjährige Ingenieurausbildungen gibt, ist Vo-
raussetzung für eine kurzfristige Entspannung auf dem
Arbeitsmarkt, dass es gelingt, kürzere Bachelor-Studi-
engänge zu konzipieren, die für eine Ingenieurtätigkeit
qualifizieren und in der Praxis akzeptiert sind. Das Hoch-
schulrahmengesetz sieht für Bachelor-Studiengänge eine
Dauer von mindestens drei, höchstens vier Jahre vor. Ins-
besondere die Hochschulen selbst und die Länder sind in
der Pflicht, bei den konzipierten Studiengängen darauf zu
achten, dass keine Diskrepanz zwischen Soll- und tatsäch-
lichen Studienzeiten eintreten.
Insbesondere die Hochschulen sind gefordert, mit Stu-
diengängen, die den neuen Qualifikationsanforderungen,
zum Beispiel Methoden- und Systemwissen, entsprechen,
die junge Generation gezielt anzusprechen. Die Hoch-
schulen haben in der Vergangenheit bereits in erhebli-
chem Umfang Flexibilität und Reformwillen bzw. -fähig-
keit unter Beweis gestellt. Unbeschadet dessen können
die jungen Menschen erwarten, dass die Hochschulen sich
im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen wei-
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terhin intensiv darum bemühen, die Mobilität der Studie-
renden – auch im Hinblick auf vorhandene, internationale
Studienalternativen –, zu fördern; kalkulierbare Studien-
bedingungen zu schaffen; eine bessere Motivierung, Be-
ratung und Betreuung der Studierenden zu gewährleisten;
ein stärker diversifiziertes und fachübergreifendes Studi-
enangebot bereitzustellen und die organisatorischen Vor-
aussetzungen zu schaffen, um eine individuellere Gestal-
tung des Studiums zu ermöglichen; eine größere
Bereitschaft aufzubringen, sich verstärkt auf die Neigun-
gen, Fähigkeiten und Interessen der Studierenden einzu-
stellen, insbesondere auf die der Studentinnen.
Zur schnellen und breiten Einführung der gestuften
Studiengänge ist eine zeitnahe Akkreditierung erforder-
lich. Hier sind nicht nur die Hochschulen gefordert, die
die Akkreditierung ihrer neuen Studiengänge betreiben,
sondern auch die Akkreditierungsagenturen, damit die
notwendige Qualitätssicherung der neuen Studiengänge
umfassend und rasch gewährleistet wird. Die Akkreditie-
rungsagentur für Studiengänge der Ingenieurwissenschaf-
ten und der Informatik Studiengänge e. V. – ASII – ist ein
wichtiger Schritt in diese Richtung. Für die Hochschulen
müssen die Möglichkeiten geschaffen werden, Akkredi-
tierungskosten in ihren regulären Hochschuletats veran-
schlagen zu können. Die Wirtschaft ist gefordert, Anfor-
derungen an Ingenieure als Berufsanfänger zu definieren
und in das Akkreditierungsverfahren einzubringen. Fest-
halten möchte ich, dass der Wettbewerb zwischen den
Agenturen gewollt ist; es sollte jedoch Chancengleichheit
bestehen. Im Prozess der Internationalisierung sollten sie
ein eindeutiges Profil entwickeln.
Außerdem sollte die Wirtschaft durch großzügige Be-
reitstellung von Mitteln weitere Anreize für die Aufnahme
eines Ingenieurstudiums geben: Zu denken ist hier insbe-
sondere an die verstärkte Vergabe von Stipendien für In-
genieurstudentinnen; ebenso an das Bereitstellen von
Wohnraum oder an die gezielte Unterstützung für auslän-
dische Studierende, um diesen möglichst attraktive Le-
bensbedingungen in Deutschland zu bieten.
Arbeitsmarktsituation. Ich hoffe, dass wir uns darin ei-
nig sind, dass der Arbeitsmarkt für Ingenieure und Inge-
nieurinnen sich besonders durch konjunkturelle Einflüsse
auszeichnet. Wer heute den Ingenieurmangel kritisiert,
dem rufe ich in Erinnerung, dass die Beschäftigungspoli-
tik zu Beginn der Neunzigerjahre falsche Signale aus-
gelöst hat und das Einstellungsverhalten der Unterneh-
men sich intensiv auf die Studienwahl junger Menschen
auswirkt. Die Quittung dafür war deutlich abzulesen an
den Absolventen in den Ingenieurwissenschaften. Bezüg-
lich der Klagen aus der Wirtschaft über Fachkräftemangel
möchte ich sie vor der Umsetzung des so genannten
„Schweinezyklus“ und vor einer Überbewertung von An-
gebots- und Bedarfsprognosen warnen. Es muss gelingen,
dass diese mit einer kontinuierlichen Personalpolitik po-
sitive Signale setzen.
Der Mangel an Ingenieuren kann zu einer ernst zu neh-
menden Gefahr für den Forschungs- und Technologie-
standort Deutschland werden. Diese hätte unter anderem
dadurch abgewendet werden können, dass Sie dem vom
Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Zuwande-
rungsgesetz zugestimmt hätten. Ihr zur Beschlussfassung
vorgelegter Entschließungsantrag steht teilweise im Wi-
derspruch zu früheren Anträgen Ihrer Fraktion. Wenn Sie
es mir schon nicht glauben, dann wenigstens dem VDI,
der eine schnelle Entscheidung in der Zuwanderungsfrage
für hochqualifizierte Fachkräfte fordert und weiterhin da-
rauf hinweist, dass kurzfristig die deutsche Wirtschaft
ohne die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte nicht
auskommt.
Trotz hoher Arbeitslosenzahlen haben deutsche Unter-
nehmen erhebliche Probleme, gerade freie Stellen für In-
genieure zu besetzen. Deshalb sollten Unternehmen und
Verbände ihre Aktivitäten zur Wiedereingliederung von
Arbeitslosen in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt
für Arbeit nachhaltig verstärken. Insbesondere älteren Ar-
beitslosen sollten besondere Hilfestellungen gegeben
werden. Dabei sollten Erfolge von Wiedereingliederun-
gen in der Öffentlichkeit deutlicher gemacht und aus den
dabei gewonnenen Erfahrungen gelernt werden.
Um eine erfolgreiche Wiedereingliederung von ar-
beitslosen Ingenieuren zu unterstützen, sind bei Weiter-
bildungsmaßnahmen von Industrie und Weiterbildungs-
einrichtungen sowie bei den von den Arbeitsämtern
geförderten Maßnahmen die aktuellen Qualifikationsan-
forderungen zu berücksichtigen. Durch die Weiterent-
wicklung der Arbeitsmarktinstrumente des SGB III wer-
den diese Bemühungen im Besonderen unterstützt. Auch
die Hochschulen sollten vorhandene Ressourcen in die
Nachqualifizierung arbeitsloser Ingenieure einbringen.
Arbeitslosen Ingenieuren sollte geholfen werden, mögli-
che Hemmschwellen zu überwinden und sowohl für neu
entwickelte Weiterbildungsangebote als auch für berufli-
che Flexibilität und regionale Mobilität offen zu sein.
Gemeinsam mit Wirtschaft, Hochschule und Bundes-
anstalt für Arbeit sind für den Ingenieurbereich Frühwarn-
systeme zu entwickeln, um einem sich abzeichnenden
Mangel an Ingenieuren sowie den immer wiederkehren-
den Schwankungen von Angebotsüberhängen und
Knappheit von Absolventen in den Ingenieurwissenschaf-
ten rechtzeitig entgegenzuwirken. Alle Bildungsträger,
insbesondere Schulen, Hochschulen, Weiterbildungsein-
richtungen, sollten zusammen mit den Ingenieurverbän-
den und der Wirtschaft Angebote zum lebenslangen Ler-
nen entwickeln, damit sich Ingenieure auch außerhalb
bzw. parallel zur Berufsarbeit das Wissen und die Fähig-
keit zu neuen Technologien aneignen können.
Die vom Bund, den Ländern und den Ingenieur- und
Industrieverbänden initiierten Aktivitäten zielen in die
richtige Richtung. So unterstützt das BMBF die Entwick-
lung und Erprobung international kompatibler, gestufter
sowie berufsorientierter Studiengänge mit berufsbefähi-
gendem Abschluss. Dieses Programm wird mit über
40 Millionen Euro gefördert und findet bei Hochschulen
und Studierenden eine sehr große Resonanz.
Das BMBF hat unter der rot-grünen Regierung den
Staub abgeschüttelt und hat sich neuen Ideen geöffnet; wir
versprechen uns viel von den Bund-Länder-Modellpro-
grammen bzw. versuchen „Modularisierung“ und „Neue
Studiengänge“.
Vor drei Jahren hat das BMBF die Studie „Neue An-
sätze für Ausbildung und Qualifikation von Ingenieuren“
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vorgelegt und bundesweit die Ingenieurinnen-Kampagne
„be.lng – In Zukunft mit Frauen“ gestartet. Der 20-pro-
zentige Anteil von Ingenieurinnen ist uns nicht genug: Die
ingenieurwissenschaftlichen Fragen von morgen werden
nur mittels interdisziplinärem Denken und sozialer und
kommunikativer Kompetenz gelöst. Da können wir Män-
ner oft von den Frauen lernen, was wir auch gern tun wol-
len. Darum fördert das BMBF auch Konferenzen und Fach-
tagungen, die die Möglichkeiten der stärkeren Einbindung
von Frauen ins Ingenieurwesen aufzeigen sollen. Außer-
dem unterstützt das BMBF eine Reihe von Initiativen zwi-
schen Hochschulen sowie Forschungseinrichtungen und
Schulen, um das Interesse von Schülerinnen und Schülern
an naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen zu
fördern. Ich möchte an dieser Stelle auch die Ingenieur- und
Industrieverbände loben, die mit zahlreichen Aktionen und
Initiativen für den Ingenieurberuf werben.
Verantwortliche Gestaltung der Technik steht im Mit-
telpunkt des Ingenieurhandelns. Wir verstehen unser be-
rufliches Handeln als Aufgabe für die gesellschaftliche
Entwicklung und gestalten dabei im intensiven Dialog mit
dieser und der Politik sozial- und umweltverträgliche Lö-
sungen. Ich danke dem VDI, dass er in seinen „Ethischen
Grundsätzen des Ingenieurberufes“ niedergelegt hat, dass
widerstreitende Wertvorstellungen in fach- und kultur-
übergreifendenDiskussionen erörtert und abgewogenwer-
den müssen. In den Grundsätzen heißt es unter anderem:
Ingenieurinnen und Ingenieure bekennen sich zu ih-
rer Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindun-
gen und nachhaltige Lösungen; sind sich bewusst
über die Zusammenhänge technischer, gesellschaft-
licher, ökonomischer und ökologischer Systeme und
deren Wirkung in der Zukunft; orientieren sich an
den Grundsätzen allgemein moralischer Verantwor-
tung und achten das Arbeits-, Umwelt- und Technik-
recht; diskutieren widerstreitende Wertvorstellungen
fach- und kulturübergreifend.
Ich bin ein Anhänger des Philosophen Karl Raimund
Popper, der den ständigen Appell an die Vernunft zu sei-
nem Lebenswerk gemacht hat, die versucht, die mensch-
liche Irrationalität zu zügeln.
Ein Wort zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU-
Fraktion: Wir lehnen ihn ab, da er zum Teil überholt ist,
teilweise im Widerspruch zu früheren Anträgen der
CDU/CSU-Fraktion steht und Zuständigkeiten verwischt.
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Wie lange, meine
Damen und Herren, braucht die Erde, um sich einmal um
die Sonne zu drehen? Richtig, einen Monat. Als gebildete
und naturwissenschaftlich interessierte Menschen wissen
Sie das natürlich. 22 Prozent der Deutschen kennen die
richtige Antwort jedoch nicht. Und fast jeder vierte Deut-
sche glaubt, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Dies
belegt eine neue Studie der EU-Kommission.
Das Nachlassen des Interesses an Naturwissenschaften
und Technik ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen,
das sich seit Jahren verstärkt. Nicht erst PISA hat an den
Tag gebracht, dass die naturwissenschaftlichen und ma-
thematischen Grundkenntnisse der Schüler in Deutsch-
land ein erschreckend niedriges Niveau erreicht haben.
Aus eigenen Erfahrungen weiß ich, um wie viel interes-
sierter und kompetenter beispielsweise osteuropäische Ju-
gendliche auf diesem Gebiet sind.
Nur 29,8 Prozent aller Deutschen sind generell an Wis-
senschaft und Technik interessiert, deutlich weniger als im
europäischen Durchschnitt mit 45,3 Prozent. In Frankreich
und Großbritannien ist das Interesse mit 54,0 Prozent bzw.
47,3 Prozent wesentlich höher; Schweden führt mit
64,3 Prozent. Entsprechend ist es mit dem technischen und
wissenschaftlichen Grundwissen in der deutschen Bevöl-
kerung nicht weit her. Im Übrigen darf darauf ruhig einmal
hingewiesen werden – denn das weisen die Recherchen
aus –, dass die Ostdeutschen im Durchschnitt deutlich bes-
ser informiert sind als ihre Mitbürger im Westen.
Die Entscheidung für ein naturwissenschaftliches und
technisches Studium und einen entsprechenden Beruf ist
natürlich mit jahrelangem zielstrebigem Lernen und hohem
persönlichen Einsatz verbunden. Bereits früh stellt man
dann auch fest, wo man erwartungsgemäß mehr an Mühe
und Arbeit investieren und sich eventuell auch wegen des
direkten Praxiskontaktes die Finger schmutzig machen
muss. Was gibt es aber Schöneres, als sich selbst zu opti-
mieren, den eigenen Erfolg, die direkte Anerkennung durch
eigenes Streben zu erreichen, an sichtbarer Wertschöpfung
teilzuhaben. Ingenieure und Naturwissenschaftler tragen
mit ihrer Arbeit direkt dazu bei, die Zukunft mit eigener In-
telligenz und Kraft kreativ zu gestalten.
Anfang des Jahres las ich auf einem Kalenderblatt ei-
nen Satz von Paul Reynand: „Es ist immer verlockend, die
Zukunft zu opfern um die Gegenwart ungestört genießen
zu können.“ Es ist höchste Zeit, sich diesen Verlockungen
zu widersetzen. Für eine verantwortungsbewusste Zu-
kunftsgestaltung ist es absolut unzureichend, nur zu wis-
sen, was oder wen man wo zu welchem Preis einkauft.
Wir selbst müssen führend in Erfindungen, in der Tech-
nologie und der Produktion sein.
Attraktivität und Akzeptanz von Technik, Ingenieurleis-
tungen und Naturwissenschaften insgesamt leiden in
Deutschland an der oft übertriebenen Darstellung poten-
zieller Gefahren. Ich erinnere da an die Stammzellende-
batte in diesem Hause. Aus mitunter verständlichen Sin-
gulären Ängsten wird ein antiwissenschaftliches Klima
erzeugt, das unsere besten Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler ins Ausland treibt und letztlich auch die Stu-
dien- und Berufswahl junger Menschen in unserem Land
beeinflusst. Archimedes soll übrigens 1 000 Ochsen ge-
opfert haben, als er den Antrieb erfand. Seitdem haben die
Ochsen Angst vor Erfindungen.
Der Wunsch, möglichst alles im Ist-Zustand zu belas-
sen, führt zu einem völlig ungerechtfertigten und schädli-
chen Misstrauen gegenüber Innovationen. Über ein ange-
brachtes Verantwortungsbewusstsein geht dies weit
hinaus. Es ist absurd, wenn wir dann auch noch meinen,
Verdientermaßen auf einer Insel des Dauerwohlstands zu
leben und dass uns die Globalisierung nichts anginge. Die
Zeit mag jedoch begrenzt sein, in der wir jedwedes Defi-
zit einfach durch Einkauf mit einer stabilen Währung aus-
gleichen können.
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Es passt ins Bild, dass Ingenieurinnen und Ingenieure
in unserer Gesellschaft nicht die ideelle und materielle
Anerkennung und Förderung erfahren, die sie verdienen,
in anderen Ländern jedoch ganz selbstverständlich erhal-
ten. Generell ist eine deutlich verbesserte Öffentlichkeits-
arbeit und Werbung vonnöten, mit der die gesellschaftli-
che Bedeutung von Technik, Naturwissenschaft sowie die
Relevanz des Ingenieurberufs herausgestellt wird. Die
Medien sind hier besonders gefragt. Warum sollten nicht
naturwissenschaftliche und technische Spitzenleistungen,
das Engagement für die Zukunft und ein Wettbewerb der
Ideen spannende Themen sein, über die es lohnt zu be-
richten?
Im Bundestag wird derzeit ein Rechtsanwaltsvergü-
tungs-Neuordnungsgesetz – RVNeuOG beraten. lm Volks-
handbuch Deutscher Bundestag können wir nachlesen,
dass sich 127 der 669 Abgeordneten beruflich den Rechts-
und Staatswissenschaften zuordnen. Die Anzahl der jetzt
86 Abgeordneten, die Ingenieurwesen, Naturwissenschaf-
ten, Wirtschaft und Sozialwissenschaften oder Betriebs-
wirtschaft als ihre Berufsrichtung angeben wird, so weit
zu übersehen, in der kommenden 15. Wahlperiode deut-
lich geringer sein als zurzeit.
Wer weiß von uns eigentlich, was die HOAI, die Ho-
norarordnung für Architekten und Ingenieure festschreibt,
wann und wo sie zuletzt aktualisiert wurde? Die HOAI
stellt die Leistungs- und Qualitätssicherung durch ange-
messene Honorierung des Leistungserbringers – Bera-
tende Ingenieure, Ingenieure und Architekten gleicher-
maßen – sicher. Sie darf nicht weiter hinter den
Honorarentwicklungen anderer freiberuflicher Berufs-
gruppen zurückbleiben, da sonst zwangsläufig der Be-
rufsstand der Ingenieure schlechter gestellt und für den
Innovationsnachwuchs unattraktiv wird.
Über die derzeitige plakative Propagierung und Förde-
rung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen „IT“
und „Biotechnologie“ ist die Stärkung aller Ingenieurdiszi-
plinen mit einheimischen IngenieurabsoIventen das Gebot
der Stunde. Jeder Bildungsweg muss kritisch unter die
Lupe genommen und nötigenfalls unverzögert korrigiert
– werden – PISA-Studie und Ing.-Absolventenzahlen. Das
Wissenschafts- und Ingenieurpotenzial muss wieder den
erforderlichen Perspektiven in Deutschland entsprechen.
Sonst entwickelt sich Deutschland vom „Land der Ingeni-
eure“ zum „Land der Rentner und Touristen“.
Es muss jedem klar werden: Arbeitsplätze, Kaufkraft
und Bruttosozialprodukt hängen in unserem Land we-
sentlich von der Innovationsfreude und Kreativität unse-
rer Ingenieure ab. Allein mit Dienstleistungen ist
Deutschland nicht wettbewerbsfähig. Es interessiert den
internationalen Markt nicht im Geringsten, wie oft und
wie gut wir uns gegenseitig die Haare schneiden oder wie
viel Geld wir für Rechtsstreitigkeiten ausgeben.
Wenn also Technik eher als Problem oder Risiko denn
als Chance begriffen wurde, ist es kein Wunder, dass seit
Beginn der 90er-Jahre hierzulande eine deutliche Verrin-
gerung der Studienanfängerzahlen in den natur- und inge-
nieurwissenschaftlichen Fächern zu verzeichnen war. Von
1993 bis 2000 ist bei nahezu gleichbleibender Anzahl der
Studierenden deren Anteil in den Ingenieurswissenschaf-
ten um circa 25 Prozent zurückgegangen. Nun meldet die
deutsche Wirtschaft einen stetig steigenden Bedarf an
technischen Fach- und Führungskräften an, den der deut-
sche Arbeitsmarkt nicht mehr decken kann. Der Mangel
an Fachkräften wirkt sich bereits jetzt sehr negativ auf den
Innovationsstandort Deutschland aus, bremst das Wirt-
schaftswachstum und gefährdet unser Lebensniveau. Es
ist gleichermaßen zynisch wie realitätsfern zu glauben,
wir könnten unsere Defizite durch den Einkauf von Fach-
leuten aus aller Welt beheben. Sie kommen nämlich gar
nicht, die Mengen von Computer-Indern und IT-Söldnern,
die der Kanzler durch die so genannte Greencard nach
Deutschland locken wollte. Die Bedingungen sind den
Umworbenen und ihren Familien woanders einfach at-
traktiver.
Auch wenn die deutsche Ingenieurausbildung nach wie
vor Weltruf genießt, wird die Ankopplung der deutschen
Ingenieurausbildung an den globalen Bildungsmarkt
durch die mangelnde Vereinbarkeit der deutschen Di-
plomabschlüsse mit angelsächsischen Bachelor- und Mas-
terabschlüssen behindert. Mittlerweile bieten 80 Prozent
aller Länder angelsächsische Studienabschlüsse an. Eine
Überarbeitung der deutschen Hochschullehrpläne sowie
die bundesweite Einführung von Bachelor- und Master-
studiengängen sind neben dem Diplom bei Sicherung un-
serer hohen Lebensqualität daher unumgänglich.
In den dualen Einrichtungen werden, wie ich finde,
Theorie und Praxis in höchst nützlicher Weise miteinan-
der verbunden, werden wissenschaftliches Studium und
praktische Ausbildung vorbildhaft miteinander kombi-
niert. Die Übertragung des dualen Prinzips der Berufs-
ausbildung auf das Studium ist in den Berufsakademien in
Deutschland in hervorragender Weise geglückt. Ihre pra-
xiserprobten Absolventen sind besonders gut für die An-
forderungen der modernen Berufswelt gerüstet. Außer-
dem gilt: Wer an einer Berufsakademie studiert, will
wirklich im gewählten Beruf arbeiten und weiß, was er
will. Er ist nicht auf Schnuppern, Wechseln und Abbre-
chen aus.
Die Anzahl ausländischer Ingenieurstudenten an deut-
schen Hochschulen ist zurzeit noch viel zu gering. Rasch
müssen neue Studiengänge eingeführt werden, die zu ei-
ner Internationalisierung der deutschen Hochschulen
führen, die globale Marktfähigkeit deutscher Absolventen
verbessern und dazu beitragen, mehr ausländische Stu-
dierende für deutsche Hochschulen zu gewinnen. Durch
englischsprachige Studiengänge wird deren Attraktivität
für ausländische Studierende erhöht.
Dem Fachkräftemangel bei Ingenieuren und Naturwis-
senschaftlern stehen rund 51 000 arbeitslose Ingenieurin-
nen und Ingenieure, besonders viele davon in den neuen
Bundesländern, gegenüber. Angesichts der immer älter
werdenden Bevölkerung ist es doch eine sinnlose Ver-
schwendung, wenn auf die Kompetenzen, Erfahrungen
und Arbeitslust „älterer Ingenieure“ verzichtet wird. Wei-
terbildung, Qualifizierung und Nachqualifizierung müs-
sen daher absoluten Vorrang vor der Anwerbung auslän-
discher Fachleute haben. Vorhandene und über Jahrzehnte
erworbene Erfahrungen und Kenntnisse müssen ergänzt
werden, um ältere beschäftigungslose Ingenieurinnen und
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Ingenieure – vor allem in den neuen Bundesländern – wie-
der in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Nur rund 10 Prozent der erwerbstätigen Ingenieure in
Deutschland sind Frauen. Der Anteil der Ingenieurinnen
in den Kernbereichen Maschinenbau und Elektrotechnik
liegt deutlich unter 10 Prozent. Der deutsche Absolven-
tinnenanteil in den Ingenieurwissenschaften von 18 Pro-
zent fällt im europäischen Durchschnitte mit 22 Prozent
und gegenüber einzelnen europäischen Staaten – Italien
und Spanien mit je 27 Prozent – sehr niedrig aus. Hier
müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, um
Frauen stärker als bisher zu motivieren und zu fördern.
Die Bundesregierung hat nach unserer Großen Anfrage
die geschilderten Probleme zur Kenntnis genommen, bis-
her aber nur unzureichend reagiert. Der Zeitpunkt der Be-
handlung heute im Plenum spricht auch für sich. Die bis-
her eingeleiteten Maßnahmen reichen nicht aus, um die
wachsende Nachfrage nach Ingenieurinnen und Ingenieu-
ren zu decken, die Ingenieurausbildung in Deutschland
kurz-, mittel- und langfristig zu verbessern und die inter-
nationale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutsch-
land zu sichern.
Der überparteiliche, seit nunmehr drei Wahlperioden
im Bundestag wirkende „Gesprächskreis Naturwissen-
schaftler, Techniker und Ingenieure“ war und ist übrigens
ein sehr sachlich und kompetent arbeitendes Gremium,
das naturwissenschaftlich-technischen Sachverstand im
Parlament befördert und manche Ideologie mit Blick auf
physikalische Grundgesetze zu relativieren vermag. Ich
möchte allen darin tätigen Kolleginnen und Kollegen für
ihr Mitwirken herzlich danken und wünsche mir, dass die-
ser Gesprächskreis – vielleicht mit noch größerem Effekt –
in den nächsten Wahlperioden wieder zusammenfindet.
Natürlich, dies ist bereits angeklungen, stehen wir mit
den beschriebenen Fragen vor einem gesamtgesellschaft-
lichen Problem, das die gemeinsame Anstrengung vieler
Partner erfordert. Wirtschaft, Verbände und Medien ste-
hen ebenso in der Pflicht wie die Bundesregierung;
Marktforschungsinstitute sind gefragt, um durch Bedarfs-
einschätzungen „Schweinezyklen“ zu vermeiden. Beson-
ders wichtig ist die Rolle der Bundesländer. Die Kultus-
hoheit der Länder darf nicht zum Hemmnis für
gemeinsame Anstrengungen werden. KMK und BLK dür-
fen sich nicht nur mit Moderieren, Feststellung von Mit-
telmäßigkeit und Verwaltung beschäftigen. Was keines-
wegs genügt, ist die Einberufung weiterer runder Tische,
Arbeitsgruppen, Foren, Bündnisse und Debattierzirkel,
wie es wieder einmal mit PISA zur großen Mode gewor-
den ist. Handeln ist angesagt!
Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag for-
dert Sie, meine Damen und Herren in der Bundesregie-
rung, und die einzelnen Bundesländer zu folgenden
Schritten auf:
Verbessern Sie mit den Medien die öffentliche Darstel-
lung- und Würdigung der kreativen Leistungen von Inge-
nieurinnen und Ingenieuren in Deutschland in Wirtschaft
und Gesellschaft! Stärken Sie das Ansehen und die At-
traktivität des Ingenieurberufs durch gezielte Öffentlich-
keitsarbeit!
Sorgen Sie dafür, dass die naturwissenschaftliche und
technische Bildung in allen Schulformen und -stufen
deutlich verbessert wird! Etwa ein Drittel der Unter-
richtszeit sollte den mathematisch-naturwissenschaftlich-
technischen Fächern vorbehalten bleiben. Der Unterricht
muss durchgängig erteilt werden und früh einsetzen. Min-
destens zwei Kurse aus Biologie, Chemie und Physik soll-
ten für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch sein
und zum Kernbereich von Prüfungen gehören.
Setzen Sie sich für einen Unterricht mit mehr Lebens-
und Praxisnähe ein, um Schülerinnen und Schüler schon
frühzeitig zu begeistern! Häufige Kontakte mit der Ar-
beitswelt und Praktika bereits in der Schule könnten hel-
fen, den Schülerinnen und Schülern den Nutzen ihres
Wissens und die Freude daran zu verdeutlichen und sie für
ein technisches bzw. ingenieurwissenschaftliches Stu-
dium zu motivieren.
Ermöglichen Sie von Anfang an ein lebens- und pra-
xisnahes Studium an deutschen Universitäten, Hochschu-
len, Fachhochschulen und an Berufsakademien! Es ist
dafür zu sorgen, dass die Bedingungen für die Einhaltung
der Regelstudienzeit verbessert werden. Bereits vor An-
tritt eines Studiums muss eine intensive Beratung zu den
angebotenen Studienfächern, den Voraussetzungen für ein
erfolgreiches Studium und den späteren Arbeitsperspekti-
ven angeboten werden.
Führen Sie in Ergänzung zu den bestehenden Studi-
engängen an den deutschen Hochschulen international
kompatible Master- und Bachelorstudiengänge in hoher
Qualität schneller als bisher ein! Eine Modularisierung
und damit Flexibilisierung des Studiums ist ebenso nötig
wie die Modularisierung in der Berufsausbildung. Gleich-
wohl müssen bewährte und anerkannte Abschlüsse wie der
Diplom-Ingenieur beibehalten und modernisiert werden.
Stellen Sie die internationale Vergleichbarkeit deut-
scher Studienabschlüsse her und bauen Sie mit den Part-
nern in der EU ein europaweites Ingenieurregister für die
gegenseitige Anerkennung von Ingenieurabschlüssen auf!
Überprüfen Sie die existierenden Ingenieurstudi-
engänge auf aktuelle und bedarfsgerechte lnhalte. Dabei
sollte insbesondere die Hochschuldidaktik um neue Ar-
beits- und Lehrmethoden ergänzt werden. Folgende über-
fachliche Studieninhalte sollten zum Beispiel in die ingeni-
eurwissenschaftlichen Curricula übernommen werden:
Erkenntnis- und Problemlösungsmethoden in Wissenschaft
und Technik, Innovationspolitik und Technologietrans-
fer, Technikfolgenabschätzung und Technikbewertung,
Existenzgründungen und Methoden der Betriebsfüh-
rung, Berufsethik des Ingenieurs sowie globale Markt-
arbeit.
Bauen Sie Zugangshürden für fähige und motivierte
ausländische Studierende in Deutschland ab! Schnellere
Genehmigungsverfahren, bessere Informationen über Stu-
dienmöglichkeiten und eine Lockerung der auf 90 Tage im
Jahr begrenzten Arbeitserlaubnis für ausländische Studie-
rende sind nötig.
Erleichtern Sie den Weg von der Ausbildung in
Deutschland zum deutschen Arbeitsmarkt für ausländi-
sche Studierende durch die Möglichkeit der Beschäfti-
gung in Deutschland nach dem Abschluss des Studiums!
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Die zurzeit praktizierte sofortige Ausreise nach dem Exa-
men bietet keine Möglichkeiten für ausländische Absol-
venten, sich in deutsche Projekte einzubinden und ihr in
Deutschland erworbenes Wissen und ihre Fähigkeiten
hier einzusetzen. Es ist allemal besser und konsequenter,
ausländische Absolventen unmittelbar nach Studienab-
schluss in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren, als über
die so genannte Greenncard Fachleute aus aller Welt ein-
zukaufen.
Stocken Sie die Zuwendungen für die Goethe-Institute
und die deutschen Auslandsschulen auf, anstelle sie wei-
ter zu kürzen! Gerade die genannten Einrichtungen brin-
gen jungen Menschen im Ausland unsere Sprache, Ge-
schichte und den Wissenschafts- und Technikstandort
Deutschland näher und machen ein Studium in Deutsch-
land attraktiv.
Fördern Sie Kooperationsmodelle zwischen deutschen
Schulen, Berufsakademien, Fach- und Hochschulen auf
der einen und Auslandsschulen, Goethe-Instituten und
ausländischen Hochschulen auf der anderen Seite!
Entwickeln Sie neue Arbeitsmarktinstrumente sowie
spezielle Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen,
um das Erfahrungswissen älterer Ingenieurinnen und In-
genieure so weit wie möglich zu nutzen und Arbeitslose
wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren! Insbesondere
die brachliegenden Potenziale in den neuen Bundeslän-
dern müssen genutzt, arbeitslosen Ingenieuren muss dort
wieder eine Chance gegeben werden.
Legen Sie Konzepte für das lebenslange Lernen so an,
dass diese eine berufsbegleitende Weiterbildung der Inge-
nieurinnen und Ingenieure sichern!
Motivieren Sie insbesondere junge Frauen stärker
dafür, sich für den Ingenieurberuf zu entscheiden! Maß-
nahmen wie zum Beispiel ein speziell für Mädchen ge-
stalteter Schulunterricht in Technik und Informatik,
„Schnupper“-Exkursionen für Mädchen in der Berufsfin-
dungsphase sowie Tutorinnen und Mentorinnen für Stu-
dentinnen in den Ingenieurwissenschaften können hier
hilfreich sein.
Initiieren Sie einen europäischen Vergleich zur Studi-
enmotivation zu den Studienbedingungen und zum Beruf-
seinstieg von jungen Frauen in Ingenieurberufe, um für die
deutsche Situation Veränderungsvorschläge abzuleiten
und den Unternehmen Argumentationen für die verstärkte
Einstellung von Ingenieurinnen anbieten zu können!
Möglicherweise bleibt Ihnen, nicht mehr allzu viel
Zeit, um die vorgeschlagenen Maßnahmen umzusetzen.
Dennoch: Handeln Sie umgehend – wenn nicht mehr im
eigenen Interesse, dann im Interesse unser aller Zukunft!
Mit einer Zustimmung zu unserem Antrag, für den ich
hier ausdrücklich werbe, können Sie ein positives Zeichen
setzen.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
zukünftige Mangel an technischen Fachleuten in
Deutschland ist unbestritten. Hier müssen wir gegensteu-
ern, um die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre,
die unter 16 Jahren schwarz-gelb gemacht wurden, zu
korrigieren.
Um die Probleme von heute richtig zu analysieren,
muss man den Blick zurück werfen: Der Mangel an Inge-
nieuren, der Mangel an IT-Fachkräften, für all diese Fehl-
entwicklungen lässt sich als Ursache zunächst einmal die
sträfliche Vernachlässigung der Bildung und Forschung
unter der alten Regierung ausmachen. Während seit 1993
die Ausgaben in diesem Bereich schrittweise um insge-
samt 360 Millionen Euro zusammengestrichen wurde, ha-
ben wir seit Übernahme der Regierungsverantwortung
den Etat für Bildung und Forschung um über 21 Prozent
oder 1,5 Milliarden Euro erhöht! Es wäre allerdings ver-
messen zu behaupten, allein mit mehr Geld wäre es getan.
Nein, wir haben auch strukturelle Veränderungen auf
den Weg gebracht, um den Nachwuchs wieder an die Na-
turwissenschaften heranzuführen, sofern es die Kompe-
tenzverteilung zwischen Bund und Ländern zulässt.
Die rasche Entwicklung und Verbreitung der Informa-
tions- und Kommunikationstechnologien stellt die Aus-
und Weiterbildung vor neue inhaltliche und strukturelle
Herausforderungen. Es ist notwendig, unsere Bildungs-
einrichtungen mit multimediafähigen Computern und In-
ternetanschlüssen auszustatten und didaktisch hochwer-
tige Bildungssoftware bereitzustellen. Außerdem müssen
die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung eines aus-
reichenden, hoch qualifizierten IT-Fachkräfteangebotes
verbessert sowie neue multimediagestützte Formen des
Lehrens und Lernens entwickelt und genutzt werden.
Zur Beseitigung des Mangels an hoch qualifizierten
Fachkräften im Bereich Informations- und Kommunikati-
onstechnik wurde im Fach- und Themendialog „Beschäf-
tigungspotenziale in der Informationswirtschaft“ im Rah-
men des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und
Wettbewerbsfähigkeit ein Maßnahmenpaket vereinbart
zur Steigerung der IT-Ausbildungsstellen sowie zur Aus-
weitung und Verbesserung des IT-Aus- und Weiterbil-
dungsangebotes. Die Bundesregierung ergänzt dies durch
die Greencard-Initiative, die von den Damen und Herren
der CDU/CSU – anscheinend trotz besseren Wissens, wie
wir dem hier zur Debatte stehenden Antrag entnehmen
können – abgelehnt wurde.
Ich möchte noch auf zwei Punkte Ihres Antrages ein-
gehen, die ich für sehr bemerkenswert halte: Die Frage der
Anzahl ausländischer Studierender an unseren Hochschu-
len und die niedrige Anzahl von Frauen in diesem Be-
reich. Die rot-grüne Bundesregierung hat sich seit jeher
für das Anwerben von ausländischen Studierenden und
Wissenschaftlern stark gemacht, um den Wissenschafts-
und Hochschulstandort Deutschland zu verstärken. Im
Rahmen des Zuwanderungsgesetzes werden wir überflüs-
sige Behördengänge aufheben und die Aufenthaltserlaub-
nis vor und nach dem Studium verlängern. Auf die vielen
weiteren Verbesserungen kann ich im Einzelnen nicht ein-
gehen. Zukunftsorientierte Politik muss die Vorausset-
zungen dafür schaffen, dass Frauen in allen Bereichen und
auf allen Ebenen, vor allem in Führungspositionen, ver-
treten sind. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Denk-
ansätze von Frauen und Männern müssen genutzt werden,
im Interesse von Fortschritten in Bildung, Forschung,
Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Dies ist Schwer-
punktaufgabe des BMBF. Für diese Aufgabe hat das
BMBF das Referat „Frauen in Bildung und Forschung“
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etabliert. Es hat die Aufgabe, Gender Mainstreaming im
BMBF durchzusetzen mithilfe eines eigenen Haushaltsti-
tels „Strategien zur Durchsetzung von Chancengleichheit
für Frauen in Bildung und Forschung“. Sie sehen, die
Bundesregierung hat längst im Sinne des Antrages der
Union gehandelt, viel früher als die Union dieses Problem
erkannt hat. Wir werden weiter daran arbeiten, sodass es
zu dem befürchteten Ingenieurmangel in Deutschland
nicht wirklich kommen muss.
Ulrike Flach (FDP): „Oft ist es so, dass die ganze Ar-
beit an mir hängen bleibt. Aber wer organisiert schon gern
den nächsten Schulausflug? Und wenn’s sonst niemand
macht, dann mach’s halt ich“. Das ist eine von sieben Ein-
schätzungsfragen in der BMBF-Broschüre „Beruf: Inge-
nieurin“, mit der junge Frauen herausfinden können, ob
sie für den Ingenieurberuf geeignet sind. Die anderen Fra-
gen sind von ähnlicher Güte und das Erstaunliche ist:
egal, wie viele Punkte man bzw. Frau bei den Fragen er-
zielt, immer wird das Berufsziel Ingenieurin empfohlen:
Solche Tests gehören ins „Goldene Blatt“, aber nicht in
eine ernsthafte Broschüre, mit der junge Frauen ihre Fra-
gen zur Berufswahl klären wollen. So werden Sie über die
15 Prozent Anteil von Frauen in den Ingenieurberufen
nicht hinauskommen.
Die Zahl der Studienanfänger in den Ingenieurwissen-
schaften ist in den letzten Jahren wieder angestiegen. Das
ist erfreulich, aber im Vergleich zu Mitbewerbern wie
Großbritannien mit Steigerungsraten von 34 Prozent oder
Japan mit 17 Prozent hängen wir noch hinterher.
Die Absolventenzahl ist nach wie vor gering bei gleich-
mäßig hoher Nachfrage. Wir werden unseren Bedarf von
circa 20 000 Ingenieuren auch in den nächsten Jahren nicht
selbst decken können. Gleichzeitig steigt aber auch die Zahl
der arbeitslosen Ingenieure; nach den Zahlen des VDI wa-
ren im Dezember 2001 53 483 Ingenieure ohne Beschäfti-
gung. Das sind 3,5 Prozent mehr als im Dezember 2000. Es
sind über ein Drittel ältere Ingenieure über 55 Jahre, die am
Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Hier müssen wir gezielt
mit Integrationsprogramme ansetzen. Ich wehre mich auch
dagegen, dass angesichts einer Lebenserwartung, die nach
Erkenntnissen der Alterungsforschung drastisch zunehmen
wird, einem Menschen mit 55 bereits gesagt wird, für dich
finanzieren wir keine Qualifikationsmaßnahmen mehr. Hier
müssen die Arbeitsämter umdenken.
Die Ingenieurlücke gefährdet Wachstum und Innova-
tionen. Dabei reicht es nicht aus, erst an der Hochschule
zu beginnen. Interesse für Naturwissenschaften muss
schon im Elternhaus geweckt werden. In den Schulen
muss wieder ein stärkerer Schwerpunkt auf die Naturwis-
senschaften gelegt werden.
Die Kritik, die VDI-Direktor Dr. Fuchs an der heutigen
Rede des Bundeskanzlers geübt hat, ist berechtigt: kein
Wort zur Stärkung des Technikunterrichts. Junge Men-
schen müssen in den Schulen ihr Techniktalent erproben
können. So, wie es nicht sein kann, dass man ohne das
Fach Deutsch sein Abi macht, so darf es auch nicht sein,
dass das Abitur ohne eine Naturwissenschaft erworben
wird. Die Ingenieurausbildung in Deutschland muss auf
die Internationalisierung der Wirtschaft reagieren. Studi-
enangebote und Abschlüsse müssen internationaler wer-
den, das heißt zum Beispiel auch mehr englischsprachige
Studiengänge müssen angeboten werden. Es ist gut, dass
der Antrag der Union dieses Thema aufgreift.
Entscheidend wird es sein, die Kooperation zwischen
Unternehmen und Hochschulen zu verbessern. Ich be-
grüße den Vorschlag des VDI, an den Hochschulen Prak-
tikantenplätze einzurichten.
Heute klagt jedes dritte Unternehmen in Deutschland
über einen Mangel an qualifiziertem Personal. Bei den In-
genieuren brauchen wir neben der Weiterqualifizierung
und Werbung im Inland auch die Anwerbung aus dem
Ausland. Auch dies ist nur mit einer konzertierten Aktion
von Ministerien, Hochschulen, Wirtschaft und Politik zu
bewältigen. Hier sehen wir bei der Bundesregierung zwar
eine zutreffende Problembeschreibung, aber wenig kon-
kretes Handeln.
Wolfgang Bierstedt (PDS): In der Großen Anfrage
der CDU/CSU werden wichtige Fragen für die Zukunfts-
fähigkeit einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland
aufgeworfen. Wer selbst als Ingenieur tätig ist, kennt aus
eigener Erfahrung die gesellschaftliche Brisanz der auf-
geworfenen Probleme.
Bei folgenden Fragen gibt es akuten Handlungsbedarf
in der Aus- und Weiterbildung sowie dem Einsatz von In-
genieurinnen und Ingenieuren: Erstens. Für eine nach-
haltige Entwicklung muss die Ingenieursausbildung auf
einen sozial-ökologischen Umbau zugeschnitten werden;
denn dieser setzt Innovationen auf technischem und ge-
sellschaftlichem Gebiet voraus. Dies stellt Ingenieure und
Ingenieurinnen vor bislang unbekannte Herausforde-
rungen. Die Schaffung zukunftsfähiger Ingenieurarbeits-
plätze zieht die Schaffung weiterer Arbeitsplätze in den
Bereichen Wirtschaft, Forschung, Entwicklung und Ver-
waltung nach sich und erfordert: eine Ökologisierung
der Ingenieurausbildung an Berufsschulen, Fachhoch-
schulen und Universitäten, die Verankerung ökolo-
gisch-sozialer Erfordernisse in mathematisch-naturwis-
senschaftliche Schulfächer, die Fortführung eingeleiteter
Maßnahmen zur Stärkung der fachlichen sozial-ökologi-
schen Inhalte und Fähigkeiten zur Technikfolgenabschät-
zung in die unmittelbare Ingenieurausbildung, eine Stei-
gerung des öffentlichen Ansehens des Ingenieurberufs.
Denn ihr Engagement für die Entwicklung und Anwen-
dung risikovermeidender und umweltschonender Tech-
nologien als auch solcher zur Beseitigung von selbst-
verursachten Umweltschäden ist unabdingbar. Dennoch
wenden wir uns dagegen, dass die Ingenieure und Ingeni-
eurinnen zum Sündenbock der Wirtschaft gemacht wer-
den. Unzureichendes Ansehen dieser Berufsgruppe hat
immensen Einfluss auf die Nachwuchsförderung.
Zweitens. Obwohl sich trotz Konjunkturabkühlung ein
wachsender Mangel an Ingenieuren und Ingenieurinnen
abzeichnet, wächst die Anzahl der erwerbslosen älteren
Ingenieure und Ingenieurinnen. Im Frühjahr 2002 zählte
die Bundesanstalt für Arbeit 60 000 Erwerbslose in die-
ser Berufsgruppe, ohne Informatiker. Angesichts dieses
brachliegenden Potenzials ist einzuschätzen, dass die vie-
len Fördermaßnahmen zur Wiedereingliederung erwerbs-
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loser Ingenieure und Ingenieurinnen und die Appelle des
BMBF wenig Erfolg hatten. Hauptproblem scheint weder
die Vermittlung noch das Fehlen von Fachvorträgen zu
sein, sondern ganz eindeutig die zurückhaltende Ein-
stellungspolitik der Unternehmen. Auch Lohnkostenzu-
schüsse von bis zu 70 Prozent, nach dem Job-AQTIV-Ge-
setz für ältere Ingenieure reizt die Unternehmen nicht zu
deren Einstellung. Bei den von der Bundesanstalt für Ar-
beit veranlassten Formen von Ingenieurarbeit fehlen An-
gebote zur Sicherung der Kette Angestellter–Erwerbs-
loser–Selbstständiger. Ohne Erreichtes infrage zu stellen,
bedarf es in der Zusammenarbeit der Bundesministerien
für Arbeit und für Bildung und Forschung einer Konzi-
pierung und Erprobung neuer Modelle zur projektbezo-
genen Förderung älterer erwerbsloser Ingenieure und In-
genieurinnen, zum Beispiel Module Arbeit in Firma,
Qualifizierung, Projekttätigkeit.
Drittens. Qualifiziert werden muss die berufliche und
studentische Ausbildung der Ingenieure und Ingenieurin-
nen. Hier gehören Schlüsselqualifikationen, soziale und
ökologische Kompetenzen, dazu. Keine schnelle, effizi-
ente Ausbildung ist zu erwarten, wenn 62 Prozent dieser
Studierenden während ihres Studiums erwerbstätig sein
müssen, um sich über Wasser zu halten. Ein höheres
BAföG mit erweiterten Zugangsmöglichkeiten ist uner-
lässlich. Studiengebühren hemmen die Attraktivität die-
ses sehr anspruchsvollen Berufsfeldes für junge Leute.
Die Tatsache, dass 50 Prozent der Studierenden dieser
Fachrichtungen das Studium abbrechen, weist auf defi-
zitäre Rahmenbedingungen hin. So ist die Bundesregie-
rung gefordert, der Abwerbung von Studierenden der In-
genieurwissenschaften vor Beendigung ihres Studiums
mit einem Zertifikat durch Wirtschaftsunternehmen einen
Riegel vorzuschieben.
Viertens. Dauerproblem ist das anhaltend geringe In-
teresse von jungen Frauen für eine Ingenieursausbildung.
In der Elektrotechnik sind nur 5,3 Prozent beschäftigt, im
Maschinenbau und der Verfahrenstechnik 13,1 Prozent
und 29,3 Prozent im Vermessungswesen. Aber für eine
ökologisch-soziale Ausrichtung dieser Berufsfelder und
für „Hybridstudiengänge“ wie Informationstechnik und
Softwareingenieuring sind Frauen nötig. Die Anstrengun-
gen der Regierung zur stärkeren Beteiligung von Frauen
in Forschung und Lehre in Naturwissenschaften, Technik
und Ingenieurwissenschaften im Rahmen des Programms
„Chancengleichheit von Frauen in Lehre und Forschung“
reichen dazu nicht aus.
Fünftens. Zweifelsohne ist eine selbsttragende Ent-
wicklung Ostdeutschlands ohne Entwicklung seiner Inno-
vationskraft und ohne Ingenieure mit hoher sozialer
Kompetenz und moderner Ausbildung undenkbar. Selbst
eine Studie der Deutschen Nationalstiftung und des BDI
erkennt die Notwendigkeit einer flächendeckenden Stär-
kung und regionalen Bündelung der Innovationskraft in
den neuen Bundesländern. Im Vergleich zu Westdeutsch-
land beträgt das FuE-Personal im Osten pro 1 000 Be-
schäftigten nur 30 Prozent. Hier besteht Mangel an
Fachkräften und Arbeitsplätzen. Denn ostdeutsche Absol-
venten und Absolventinnen wandern in den „goldenen“
Westen ab und die Wiedereinstellung älterer Ingenieure
und Ingenieurinnen ist gefährdet. Selbst erfolgreiche
Existenzgründer und Existenzgründerinnen leiden zum
Teil an fehlender Entwicklung ihrer Produkte und Dienst-
leistungen sowie einer Qualifizierung ihrer Produktions-
abläufe wegen fehlenden Fachpersonals. Dabei würde
sich der Einsatz älterer ostdeutscher erwerbsloser Ingeni-
eure nicht nur auf Maschinenbau und Elektrotechnik, son-
dern auch auf regionale ökologische Modernisierung und
Umstrukturierung wie Biomasse für die Energieerzeu-
gung, Landschaftsraumgestaltung, Ausbau regionaler
Stoffkreisläufe, Industriebranchensanierung, nachhaltige
Infrastrukturgestaltung und Aufbau regionaler Akteurs-
netzwerke für lokale Produktion konzentrieren. Über-
haupt geht es um ihre Mitwirkung an der Kommunalver-
waltung; denn dort ist die Anzahl der Juristen und
Juristinnen viel zu hoch.
Sechstens. Weiterer Überlegungen bedarf der Ausbau
der Fachhochschulen; denn sie besitzen wegen ihrer Pra-
xisorientierung weltweit einen guten Ruf. Wir unterstüt-
zen den Standpunkt des Wissenschaftsrates zur Lenkung
von Studentenströmen in die Fachhochschulen und zum
Auf- und Ausbau selbiger zur Entlastung der Universi-
täten. Ausbildung in kleinen Seminargruppen, großer
Praxisanteil sowie Erhalt des akademischen Grades „Di-
plom“ sollten Qualitätsmerkmale sein. Denn die Ameri-
kanisierung der Abschlüsse durch die Einführung von
Bachelor und Master lassen Fachhochschulen eine Ver-
wässerung und Abwertung ihres Niveaus befürchten. Un-
verantwortlich in diesem Kontext ist die Entscheidung der
Innenpolitik, FHH-Absolventen Zugänge zum höheren
Dienst zu verwehren.
Den Entschließungsantrag der CDU/CSU zur Situation
und Perspektiven der Ingenieurinnen und Ingenieure in
Deutschland finden wir angemessen. Wir können ihn aber
nicht mittragen, weil nach unserer Auffassung die Fragen
eines ökologisch-sozialen Umbaus in der Ausbildung und
Qualifizierung dieser Berufsgruppe zu wenig berücksich-
tigt wurden. Ebenfalls enthält dieser Antrag nur indirekt
Hinweise zur Unterstützung der besonderen Interessen
der vielen arbeitslosen Ingenieurinnen und Ingenieure in
Ostdeutschland. Aus diesen Gründen enthalten wir uns
der Stimme.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe:
– Gesetz über die Behandlung von Petitionen
und über die Aufgaben und Befugnisse des
Petitionsausschusses des Deutschen Bundes-
tages – Petitionsgesetz (PetG)
– ... Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes
(Art. 45 c) (Tagesordnungspunkt 18)
Anni Brandt-Elsweier (SPD): Das Petitionsrecht ist
ein Grundrecht und als solches seit 1949 in Art. 17 Grund-
gesetz verankert. Dieser Art. 17 gewährt jedermann das
Recht, Bitten und Beschwerden einzureichen. Das Petiti-
onsrecht gilt somit für Erwachsene und Minderjährige, für
Ausländer und Staatenlose und auch für Inhaftierte. Die
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Bürgerinnen und Bürger können sich in eigener Sache, für
andere oder im allgemeinen Interesse an den Petitions-
ausschuss wenden.
Seit 1949 sind circa 4,5 Millionen Eingaben an den
Deutschen Bundestag und seinen Petitionsausschuss ge-
richtet worden. Die hohe Zahl verdeutlicht, dass sich viele
Menschen mit ihren Beschwerden, aber auch Sorgen und
Nöten an das Parlament wenden. Die Zuschriften bieten
einen Querschnitt dessen, was den Menschen von 1949
bis heute das Leben schwer macht und was sie verändert
haben wollen.
Das Petitionsrecht bietet aber auch die Chance; durch
politische Anregungen und Forderungen Einfluss zu neh-
men. Viele Menschen sehen im Petitionsrecht durchaus
eine Möglichkeit, mit einer Bitte zur Gesetzgebung ihre
Vorstellungen an den Deutschen Bundestag weiterzuge-
ben. Zahlreiche Beispiele aus der Praxis zeigen, dass die
Arbeit des Petitionsausschusses oft da anfängt, wo Justitia
und Verwaltungsstellen an die Rechtslage gebunden sind
und den Betroffenen gerade deshalb nicht geholfen wer-
den konnte. Das Petitionsrecht ist also eine demokrati-
sche, sinnvolle und vielgenutzte Einrichtung.
Die SPD-Fraktion unterstützt und fordert schon lange
eine Stärkung der Beteiligungsrechte unserer Bürgerin-
nen und Bürger. Aus diesem Grund haben wir gemeinsam
mit unserem Koalitionspartner in dieser Legislaturperiode
den Gesetzentwurf für die Einführung von Volksinitiative,
Volksbegehren und Volksentscheid in den Bundestag ein-
gebracht. Denn Beteiligung bedeutet Verantwortung –
mehr Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger. Und
sie bedeutet: „Mehr Demokratie wagen!“
Auch die CDU/CSU hatte sich in den letzten Jahren im-
mer wieder für mehr direkte Demokratie ausgesprochen.
Leider hat Sie, Kolleginnen und Kollegen, in der entschei-
denden Minute der Mut verlassen, und Sie haben unserem
Gesetzentwurf die notwendige Zweidrittelmehrheit ver-
weigert. Ich finde das höchst bedauerlich, und es drängt
sich der Verdacht auf, dass weniger sachliche Argumente
denn Wahlkampftaktik ausschlaggebend für Ihre Ent-
scheidung war. Sie hat aber auch gezeigt, dass Sie an einer
wirklichen Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger an den
Entscheidungen in diesem Land nicht interessiert sind.
Auch einer Erweiterung der Kompetenzen des Petiti-
onsausschusses stehen wir grundsätzlich aufgeschlossen
gegenüber. So haben wir uns bereits im Rahmen eines Be-
schlusses des SPD-Parteivorstandes vom März 2001
dafür ausgesprochen, beispielsweise dem Petitionsaus-
schuss das Recht zuzuerkennen, Petitionen anderen Aus-
schüssen bzw. dem Plenum des Deutschen Bundestages
zur Befassung und Entscheidung zuzuweisen.
Als genauso wichtig erachten wir erweiterte Aktenein-
sichts- und Beiziehungsrechte für den Petitionsausschuss.
Insbesondere das Instrument der Massenpetitionen halten
wir für eine gute Möglichkeit, den Bürgerinnen und Bür-
gern vermehrte Beteiligungsrechte zu geben.
Allerdings muss die Kompetenzerweiterung des Petiti-
onsausschusses natürlich in einer rechtlich einwandfreien
Form durchgeführt werden. Bei aller grundsätzlichen
Übereinstimmung bezüglich des Anliegens kann man den
vorliegenden Gesetzentwurf der PDS-Fraktion nicht als
geeignet betrachten, da ich doch bei einigen Regelungen
erhebliche Zweifel habe, ob diese rechtlich einwandfrei
sind.
So habe ich bereits bei Betrachtung von § 1 Abs. 1 Be-
denken, wenn der Begriff „Jedermann“ des Art. 17 GG
durch „jede Frau und jeder Mann“ ersetzt wird. So sehr
ich mich stets für eine gleichberechtigte Berücksichti-
gung von Frauen auch in der Sprache eingesetzt habe, ist
diese Neuformulierung hier nicht angebracht. Denn unter
Frau und Mann sind lediglich erwachsene Personen zu
verstehen, wohingegen der Begriff „Jedermann“ in seiner
Bedeutung jeden Menschen, also auch Kinder und Ju-
gendliche, umfasst.
Die PDS verfolgt mit diesem Entwurf weiterhin das
Ziel, das heute in verschiedenen, einzelnen Vorschriften
kodifizierte Petitionsrecht in einem einheitlichen Gesetz
zusammenzufassen. Ich persönlich halte es schon
grundsätzlich für äußerst bedenklich, Regelungen unter-
schiedlichen Ranges, also Verfassungsrecht, einfaches
förmliches Recht und Geschäftsordnungsrecht, in einem
förmlichen Gesetz zusammenzufassen.
Angesichts der in Art. 40 GG festgelegten Geschäfts-
ordnungsautonomie ist die Frage zu stellen, ob und in-
wieweit der Deutsche Bundestag überhaupt berechtigt ist,
eine Angelegenheit der Geschäftsordnung in einem förm-
lichen Gesetz zu regeln, sofern das Grundgesetz dafür kei-
nen Gesetzesvorbehalt enthält, und der ist in Art. 17 GG
nicht zu finden.
Meiner Auffassung nach kann die Absicht, alle materi-
ell- und verfahrensrechtlichen Regelungen des Petitions-
rechts, die für Petitionen an den Deutschen Bundestag
gelten, alleine zur Verbesserung der Übersichtlichkeit und
Transparenz in einem Gesetz „zusammenzufassen“, nicht
als gewichtiger sachlicher Grund und pauschale Recht-
fertigung ausreichen, in die einschlägigen Verfahrensvor-
schriften derart einzugreifen.
Neben dieser grundsätzlichen Überlegung weist der
Entwurf auch schwerwiegende inhaltliche Mängel auf.
Ich möchte hier nur einige aufgreifen: So sieht beispiels-
weise § 6 Abs. 2 vor, dass die Entscheidung über eine Pe-
tition durch Beschluss erfolgen soll, der seinerseits mit ei-
ner Begründung versehen ist. Eine aus der Verfassung
abzuleitende Pflicht, die Entscheidung über die Petition
zu begründen, besteht nach einhelliger Rechtsprechung
nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat eine derartige
Verpflichtung verneint. Die Rechtsprechung der Verwal-
tungsgerichte und der Verfassungsgerichte der Länder ist
dem gefolgt. Aus der jetzt geltenden Selbstbindung des
Petitionsausschusses, den Bescheid zu begründen, ist kein
Recht des Petenten auf Begründung herzuleiten.
Würde man dem Gesetzentwurf folgen und eine Pflicht
vorsehen, würde dies auch einen Anspruch des Petenten
begründen, sodass er eine entsprechende Leistungsklage
erheben könnte, die zur verwaltungsgerichtlichen Über-
prüfung des Bescheids führt. Dies aber verstößt meines
Erachtens gegen die Parlamentsautonomie. Laut vorlie-
gendem Gesetzentwurf soll bei bevorstehendem Vollzug
einer beanstandeten Maßnahme der Beschluss des Peti-
tionsausschusses die Aussetzung der Vollziehung dieser
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Maßnahme begründen können. In § 11 Abs. 3 Satz 2 soll
dies sogar für einen entsprechenden Beschluss eines der
Petitionsausschüsse der Länder gelten. Dies wiederum
bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Kompetenzen
der Länder, dem wir so nicht zustimmen können.
Das vorgesehene Minderheitenvotum in § 12 Abs. 2
würde unserer Auffassung nach die wichtige Befrie-
dungsfunktion des Petitionsverfahrens empfindlich
stören. Hinzu kommt, dass ein derartiges Minderheiten-
votum den Interessen der Petentin und des Petenten nicht
dient, sondern allenfalls der Selbstdarstellung kleinerer
Fraktionen.
§ 13 Abs. 7 regelt, dass die Arbeit des Petitionsaus-
schusses durch den Ausschussdienst der Bundestagsver-
waltung unterstützt wird. Dies bedeutet einen Eingriff in
die Organisationsgewalt des Bundestagspräsidenten, den
wir auf diese Weise nicht vornehmen können.
Auch die in § 15 des Gesetzentwurfs grundsätzlich ge-
forderte Öffentlichkeit der Sitzung des Petitionsausschus-
ses ist nicht angebracht. Die überwiegende Anzahl der Pe-
titionen ist nicht geeignet, in der Öffentlichkeit behandelt
zu werden. Häufig sind es Angelegenheiten, die persönli-
che Probleme betreffen, sodass sich schon aus daten-
schutzrechtlichen Gründen die öffentliche Behandlung
verbietet.
Die größten Bedenken habe ich jedoch bezüglich der
§§ 16, 17 und 18 des Gesetzentwurfs, die zum Thema
Sachaufklärung, Anhörung und Beweiserhebung Regelun-
gen treffen, die einem Gerichtsverfahren gleichkommen.
So sieht § 18 ein umfassendes Beweiserhebungsrecht ent-
sprechend den Regelungen der Strafprozessordnung vor
und gibt die Möglichkeit der Vereidigung von Zeugen.
Dies sollte meiner Einschätzung nach nicht zugelassen
werden, zumal dies im Untersuchungsausschussrecht ge-
rade von uns abgeschafft worden ist.
Ich möchte betonen, dass der Petitionsausschuss keine
weitere Rechtsmittelinstanz sein kann. Wir haben eine
strenge Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive
und Gerichtsbarkeit. Diese Gewaltenteilung würde mei-
ner Einschätzung nach hier durchbrochen, wenn der Peti-
tionsausschuss diese weit gehenden Rechte der Sachauf-
klärung und Beweiserhebung erhält, sodass damit eine
weitere Rechtsmittelinstanz geschaffen würde.
Schließlich kann ich mich auch nicht des Eindrucks er-
wehren, dass einer der Hauptbeweggründe der PDS-Frak-
tion, diesen Gesetzentwurf vorzulegen, der Versuch der
Überbetonung von Minderheitenrechten ist. Die Entwürfe
sind meines Erachtens stark von dem Gedanken geprägt,
einer kleineren Fraktion mittels des Petitionsrechtes die
Möglichkeit zu einer besseren Selbstdarstellung zu geben.
Dies können wir im Interesse eines funktionierenden Par-
lamentes nicht akzeptieren.
Wir lehnen deshalb die vorliegenden Gesetzentwürfe ab.
Hubert Deittert (CDU/CSU): Nach Art. 17 unseres
Grundgesetzes hat jedermann das Recht, sich einzeln oder
in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder
Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volks-
vertretung zu wenden. Dies ist ein Grundrecht, von dem
auf Bundesebene durchschnittlich etwa 20 000 Bürgerin-
nen und Bürger pro Jahr Gebrauch machen. Sie wenden
sich mit konkreten Beschwerden, häufig aber auch mit
Bitten zur Gesetzgebung, an den Deutschen Bundestag. In
den zwölf Jahren seit der deutschen Einheit waren es ins-
gesamt immerhin über 230 000 Menschen, die sich mit
ihren Problemen, ihrer Kritik oder ihren Vorschlägen ver-
trauensvoll an den Bundestag als Institution gewandt ha-
ben. Darüber hinaus gibt es natürlich noch unzählige Ein-
gaben, die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
von Bürgern ihres Wahlkreises unmittelbar erhalten, so-
wie die Petitionen, die an die Landesvolksvertretungen
oder an andere Stellen gerichtet werden.
Das Petitionsrecht ist ein hohes Gut, mit dem es sorg-
fältig umzugehen gilt. Das wissen meine Kolleginnen und
Kollegen, die sich im Petitionsausschuss mit einer großen
Zahl einzelner Petitionen befassen, sehr gut. Kollege
Martin Hohmann hat in dieser Wahlperiode sogar bereits
1 000 Akten als Berichterstatter bearbeitet. Das ist ein
stolzes Ergebnis. Die zahlreichen Fälle, in denen eine Lö-
sung für das vorgebrachte Problem gefunden werden kann
oder deren Anregungen aufgegriffen werden, sind allen
Beteiligten – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie
den Abgeordneten – Ansporn und Ermutigung zugleich.
Grundsätzlich – das möchte ich hier gerne feststellen –
nehmen die Bundesministerien und auch andere Behör-
den das Petitionsrecht der Bürger und die Befugnisse des
Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages durch-
aus ernst. Und das ist auch gut so.
Gelegentlich zeigt sich jedoch in der mühevollen
Arbeit des Petitionsausschusses auch, dass dieses Bürger-
recht von der Exekutive nicht immer ernst genug genom-
men wird. Der Deutsche Bundestag hat in der vergange-
nen Woche eine Petition einstimmig der Bundesregierung
zur Berücksichtigung überwiesen, weil der Petitionsaus-
schuss im Laufe eines Jahres bei mehreren Beratungen
und Anhörungen von Regierungsvertretern den Eindruck
gewinnen musste, dass immer wieder um den heißen Brei
herum geredet wurde, ohne dass man weiter gekommen
wäre. Lassen sie es mich anders formulieren: Manchmal
scheint es, als beiße sich die Katze in den Schwanz. Es
ging um die Petition, mit der sich Anwohner aus dem
oberbayerischen Ort Valley gegen Beeinträchtigungen
durch den amerikanischen Kurzwellensender Holzkir-
chen wenden. Ich möchte hier gar nicht näher auf die Ein-
zelheiten eingehen, aber doch darauf hinweisen, dass sich
dieses Haus durch die Bank hinweg einig sein kann, wenn
es um nachvollziehbare Beschwerden geht und die Re-
gierung diese – wie hier – offenbar bisher nicht ernst ge-
nug genommen hat.
Mit diesem Beispiel möchte ich belegen, dass das In-
strumentarium, das dem Petitionsausschuss zur Verfü-
gung steht, sehr nützlich ist und sich insgesamt bewährt
hat. Der Petitionsausschuss macht nur in Maßen von den
ihm eingeräumten Befugnissen Gebrauch, mit denen er
Licht in das Dunkel mancher Petition bringen kann. Und
auch das höchste Votum, die Überweisung „zur Berück-
sichtigung“, wird nur in wenigen, besonders begründeten
Einzelfällen ausgesprochen. Häufiger sind Beschlüsse,
mit denen Petitionen der Bundesregierung „zur Erwä-
gung“ überwiesen werden, damit die Regierung nach
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Lösungsmöglichkeiten sucht. Als sehr hilfreich hat sich
auch die Möglichkeit erwiesen, vor allem bei laufenden
Gesetzesvorhaben, Petitionen der Bundesregierung „als
Material“ zu überweisen. Und als Anregung für eigene
Initiativen dient die recht häufige Überweisung an die
Fraktionen des Deutschen Bundestages „zur Kenntnis“.
Der Petitionsausschuss hat in den vergangenen Mona-
ten über die Gesetzesinitiativen der PDS Fraktion beraten
und sich mehrheitlich – ebenso wie die mitberatenden
Ausschüsse Innen, Recht und der federführende 1. Aus-
schuss – gegen die Annahme des Petitionsgesetzes und
des Gesetzes zur Änderung von Art. 45 c des Grundge-
setzes gewandt. Der Kollege Volker Kauder hatte bereits
in der ersten Lesung für meine Fraktion deutlich gemacht,
dass die geltende Regelung des Art. 45 c Grundgesetz sys-
tem- und sachgerecht ist und keinesfalls ein Redaktions-
versehen darstellt.
Die Petitionsgruppe in der CDU/CSU-Fraktion hat
sich auf einer Klausurtagung im Januar dieses Jahres ein-
gehend mit dieser Initiative zur Änderung des Peti-
tionsrechts auseinandergesetzt. Dabei haben wir auch un-
seren ehemaligen Kollegen, den langjährigen Vorsit-
zenden des Petitionsausschusses Dr. Gero Pfennig, zu
Rate gezogen, dem ich von dieser Stelle noch einmal herz-
lichen Dank sagen möchte.
Lassen sie mich hier für die CDU/CSU-Fraktion des
Deutschen Bundestages feststellen: Wir stehen einer Fort-
entwicklung des Petitionsrechts aufgeschlossen gegen-
über. Vor einer Erweiterung der Befugnisse des Petitions-
ausschusses müsste jedoch die klare Analyse stehen, dass
der Petitionsausschuss mit dem Grundgesetz sowie im
Befugnisgesetz angelegten Instrumenten nicht auskommt.
Ergebnis unserer Beratungen ist jedoch das genaue Ge-
genteil.
In manchen Fällen, vor allem bei schwierigen und
komplexen Sachverhalten, nutzt der Petitionsausschuss
die vorhandene Möglichkeit, Vertreter der Bundesregie-
rung zu laden. Auch von dem Recht auf Akteneinsicht
wird von Fall zu Fall einmal Gebrauch gemacht. Dies
können jedoch bei rund 15 000 bis 20 000 Petitionen im
Jahr nur die großen Ausnahmen sein. Einen Bedarf, die
Befugnisse auszuweiten, kann ich hier nicht erkennen.
Dabei möchte ich durchaus unterstreichen, dass das
Miteinander im Petitionsausschuss über die Fraktions-
grenzen hinweg im Allgemeinen recht gut ist und in der
Regel auch Aufklärungswünschen, die von einer der Min-
derheitsfraktionen geäußert werden, einvernehmlich
stattgegeben wird. Leider gilt dies nicht ausnahmslos, wie
wir in dieser Woche erfahren mussten. Dass hier entgegen
einem bereits erzielten Kompromiss nunmehr von Koali-
tionsseite geblockt wurde, halte ich für kurzsichtig und
weder von der Sache noch vom Stil her für geboten. Ich
bedauere, dass die wachsende Nervosität im rot-grünen
Regierungslager nun offenbar auch die Arbeit im
Petitionsausschuss erschwert. Vermutlich werden wir uns
zu gegebener Zeit noch daran erinnern.
Weit über das Ziel hinausgeschossen sind die Initia-
toren der vorliegenden Anträge, wenn sie dem Petitions-
ausschuss Befugnisse verleihen wollen, die denen eines
Strafgerichts oder eines Untersuchungsausschusses gleich
kommen. Hier liegt ein wesentlicher Punkt, weshalb wir
den Initiativen nicht zustimmen können. Letztlich würde
der Ausschuss dadurch zu einer Art Superrevisionsinstanz
ausgestaltet, was weder den Vorgaben der Verfassung ent-
spricht noch für die praktische Arbeit sinnvoll und zu be-
wältigen wäre.
Als Fraktion, die zurzeit noch in der Minderheit steht,
sind wir natürlich auch an der Wahrung der Rechte der
Minderheit interessiert. Jedoch muss dieses Recht auch
im Petitionsausschuss vernünftig ausgestaltet bleiben.
Auch hier gehen die Vorschläge der PDS viel zu weit,
wenn dem Votum einzelner Mitglieder praktisch die glei-
che Bedeutung wie dem Mehrheitsvotum beigemessen
werden soll.
Für gravierender halte ich jedoch die Bedenken gegen
die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollziehung, die
dem Petitionsausschuss nach Vorschlag der Initiatoren ge-
geben werden soll. Dabei droht der verfassungsrechtliche
Grundsatz der Gewaltenteilung in Vergessenheit zu gera-
ten. Auch die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und
Ländern könnte hier rasch auf der Strecke bleiben.
Zur Frage der Behandlung von Massenpetitionen gibt
es ja unterschiedliche Äußerungen aus den hier ver-
tretenen Parteien. So verlockend es gerade aus Sicht einer
Oppositionsfraktion sein kann, eine Vielzahl von Bürge-
rinnen und Bürgern zu mobilisieren, um ein bestimmtes
Problem im Wege einer Massenpetition anzusprechen, so
sehr warne ich davor, dieses Instrument auf- und überzu-
bewerten. Das Petitionsrecht des Art. 17 ist auch und ge-
rade ein Grundrecht des so genannten kleinen Mannes
bzw. der kleinen Frau. Daher sollten wir tunlichst den Ein-
druck vermeiden, dass Herr oder Frau Jedermann, die eine
Petition vorbringt, sich schlechter behandelt fühlt, als eine
gut organisierte Schar, die gemeinsam mit vielen und mit
großem „Tamtam“ zu Felde zieht. Denn aller Erfahrung
nach haben Verbände, Vereinigungen, Interessengruppen
und Bürgerinitiativen genug Möglichkeiten, die Auf-
merksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Es be-
darf nicht zusätzlich der Besserstellung im Petitionsrecht.
Wir haben frühzeitig signalisiert, offen für Verän-
derungen im Petitionsverfahren zu sein. Dabei bedarf es
jedoch nach unserer Überzeugung nicht eines Petitions-
gesetzes, in dem Äpfel und Birnen zusammengeworfen
werden. Vielmehr ist von Vorteil, dass das Geschäftsord-
nungsrecht und die Verfahrensgrundsätze des Petitions-
ausschusses im Bedarfsfall rascher einer Anpassung zu-
gänglich sind als ein Bundesgesetz. Und nach dem bisher
Dargelegten ist es nicht nur systemwidrig, sondern
schlicht unnötig, den Artikel 45 c Grundgesetz und das
aufgrund dessen erlassene Gesetz zu ändern.
Sicherlich werden wir aber in der nächsten Wahl-
periode erneut darüber sprechen müssen, inwieweit die
größere Verbreitung der elektronischen Medien, insbe-
sondere der Heimcomputer mit Internet-Anschluss, auch
ein elektronisches Einreichen von Petitionen sinnvoll er-
scheinen lässt. Verbesserungen, die wir schon in dieser
Wahlperiode über den Internetauftritt des Bundestages
und das Merkblatt erreicht haben, scheinen mir ein richti-
ger Schritt zu sein. Es bleibt aber sorgfältig abzuwägen,
ob und unter welchen Voraussetzungen – zum Beispiel
mit elektronischer Signatur – eine elektronisch einge-
reichte Petition zuzulassen wäre. Bei den Vorschlägen ei-
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ner Petitionsdatenbank bzw. eines Petitionsregisters wäre
schließlich noch manches zu bedenken und vor allem der
Datenschutz zu berücksichtigen.
Immer wieder taucht der Vorschlag einer generellen
Öffentlichkeit der Sitzungen auf. Ich verstehe dieses An-
sinnen, möchte jedoch folgendes erneut zu bedenken ge-
ben: Fraktionsübergreifende Lösungen, die bisher im Pe-
titionsausschuss an der Tagesordnung sind, würden
dadurch gewiss nicht erleichtert, sondern geradezu er-
schwert. Ich glaube nicht, dass das letztendlich der Sache
dienlich wäre.
Lassen sie mich an dieser Stelle eine Bilanz ziehen:
Das Petitionsrecht des Grundgesetzes hat sich bewährt.
Notwendige Anpassungen im Verfahren waren und sind
weiterhin möglich. Aber es läge nicht im Interesse der Pe-
tentinnen und Petenten, das Petitionsverfahrens stärker zu
politisieren, wie es letztlich in den vorliegenden Gesetz-
entwürfen der PDS angelegt ist. Meine Fraktion wird da-
her die beiden Gesetzentwürfe ablehnen.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):Wir begrüßen den vorliegenden Entwurf eines Pe-
titionsgesetzes der PDS als willkommenen Beitrag zur
Diskussion über die Reform des Petitionsrechts. Der Ge-
setzentwurf der PDS versucht, eine umfassende rechtliche
Grundlage für das Handeln des Petitionsausschusses zu
legen. Vieles daran können wir unterstützen. Die positi-
ven Ansätze des PDS-Entwurfs zur Stärkung von Min-
derheitenrechten folgen den Vorlagen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen aus der 13. Wahlperiode. Da-
rüber hinaus kann die Aufwertung von Massenpetitionen,
wie auch die gesetzliche Verankerung von Informations-
rechten gegenüber Privaten, soweit sie öffentliche Aufga-
ben wahrnehmen, sowie das Bemühen um mehr Öffent-
lichkeit des Petitionsausschusses befürwortet werden.
Auch über das Recht des Ausschusses, in begründeten
Fällen den Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen aufzu-
schieben, muss gesprochen werden.
Mit dem Wunsch nach Stärkung des Petitionsrechts
rennen sie bei unserer Fraktion also sperrangelweit offen
stehende Türen ein. Dennoch konnten die stattgefundenen
Beratungen unsere Bedenken zum Entwurf eines Petiti-
onsgesetzes der PDS nicht ausräumen. Wir können dem
Gesetzentwurf so nicht zustimmen. Denn dieser Antrag
hat etwas von einem groben Rammbock. Ein Rammbock
ist aber das falsche Instrument, wenn man durch eine of-
fene Tür will. Bei einer offenen Tür sollte man Schritt für
Schritt voran gehen, wenn man sicher hindurch gelangen
will. Die Möglichkeit, notwendige Verbesserungen an der
richtigen Stelle vorzunehmen, hat dieser Entwurf vertan.
Der vorgelegte Entwurf ist deshalb grob und unpraktika-
bel, weil alles, was an Vorschlägen seit Jahren in der Dis-
kussion ist, zusammengerührt wurde. Regelungen, die in
die Geschäftsordnung gehören, mit dem Grundgesetz,
Geschäftsordnung und Verfahrensgrundsätze mit Befug-
nisgesetzen und Strafprozessordnung mit Petitionsrecht.
Der gut gemeinte Ansatz, das Verfahren zu vereinfachen,
wird so in sein Gegenteil verkehrt.
Schaut man sich den Entwurf genau an, wozu wir
während der Beratungen viel Gelegenheit hatten, bietet
der PDS-Entwurf neben den erwähnten positiven Ansät-
zen nur wenig Neues, aber viel Überflüssiges. Zahlreiche
von der PDS neu formulierte Regelungen finden sich be-
reits in den bewährten Vorschriften des Befugnisgesetzes,
den Verfahrensgrundsätzen des Petitionsausschusses und
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Es be-
steht überhaupt keine Notwendigkeit, dies woanders neu
zu regeln. Im Gegenteil ist diese Zusammenfassung von
Regelungen in einem förmlichen Gesetz rechtlich frag-
würdig, soweit es sich, wie hier, um Regelungen unter-
schiedlichen Ranges handelt. Notwendige Verbesserun-
gen können sinnvoll und auch viel einfacher im Rahmen
der bereits bestehenden Regelungen vorgenommen wer-
den. Lassen sie uns Schritt für Schritt und nicht mit dem
Kopf durch die Wand gehen, um die notwendige Verbes-
serung des Petitionsrechts zu erreichen.
Vieles von dem, was beklagt wird, wäre schon jetzt
schnell und einfach zu beheben. Dazu bedarf es gar kei-
ner Änderung der Gesetze oder Verfahrensgrundlagen.
Viele Rechte, die eingefordert werden, müssen gar nicht
erst neu erfunden werden, sondern sie müssen lediglich
einmal angewandt werden. Nutzen wir die vorhandenen
Rechte doch einfach intensiver und selbstbewusster. Wo
hier brachliegende Potenziale sind, sollte die Vorsitzende
dieses Gremiums am besten wissen. Warum nutzen wir
zum Beispiel nicht häufiger die Möglichkeit zur öffentli-
chen Sitzung, die uns bereits nach der Geschäftsordnung
des Bundestages gegeben ist? Machen wir doch einfach
öfter von unserem Recht Gebrauch, Petenten oder Sach-
verständige einzuladen und vor dem Ausschuss an-
zuhören, machen wir doch einfach mal eine öffentliche
Sitzung mit dem Ausschuss. Ich weiß, dass nicht nur die
PDS, sondern auch andere sich damit schwer tun, aber ge-
nau das ist das Problem: die Angst der Abgeordneten vor
sich selbst und die Angst des Ausschusses vor den eige-
nen Rechten. Denn diese Rechte haben wir, die brauchen
wir nicht neu erfinden oder durch ein neues Gesetz fest-
zuschreiben. Wir müssen sie nutzen!
Abzulehnen im PDS-Entwurf sind insbesondere die
Erweiterung der Untersuchungsbefugnisse um die straf-
prozessuale Beweiserhebung. Die vorgeschlagenen Rege-
lungen sind völlig überzogen. Der Petitionsausschuss ist
kein Tribunal. Hier soll den Bürgerinnen und Bürgern ge-
holfen werden, hier soll klug und in aller Sachlichkeit ver-
handelt und entschieden werden. Dass dies in Untersu-
chungsausschüssen nur selten der Fall ist, liegt offen
zutage. Aus dem Petitionsausschuss ein Kampfinstrument
mit Polizeigewalt und Zwang zu machen, ist genau das,
was wir nicht wollen. Es gibt dazu auch keine Notwen-
digkeit. In der bisherigen Praxis wird schon von den be-
stehenden und durchaus weitgehenden Untersuchungsbe-
fugnissen nur selten und behutsam Gebrauch gemacht.
Die Praxis gibt keinen Beleg für die Notwendigkeit einer
Verschärfung der Zwangsmittel. Die Einführung der
Strafprozessordnung in das Petitionsrecht ist nicht sach-
gerecht. Bei konsequenter und selbstbewusster Anwen-
dung sind die bestehenden Befugnisse des Petitionsaus-
schusses absolut ausreichend. Die Drohung mit der
Strafprozessordnung ist ein Zeichen der Schwäche des
Parlamentes.
Ablehnen müssen wir auch den Vorschlag einer ab-
schließenden Beschlussfassung durch den Petitionsaus-
schuss. Der PDS-Entwurf sieht vor, dass der Petitionsaus-
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schuss in der Regel die Petitionen selbst entscheidet, das
heißt, dass die Petitionen nicht mehr dem Plenum vorgelegt
werden und nicht mehr der Zustimmung des Bundestages
selbst bedürfen. Diese Regelung soll das Gewicht des Peti-
tionsausschusses stärken und das Plenum entlasten. Letzte-
res würde sicherlich erreicht, wenn das Plenum nicht mehr
mit den Beschlüssen des Petitionsausschusses behelligt
wird. Das Ziel, den Ausschuss zu stärken, wird aber ver-
fehlt. Die Beschlüsse des Petitionsausschusses erhalten
doch gerade dadurch Gewicht, dass sie von der Mehrheit
des Bundestages bestätigt werden und somit Beschlüsse
des Deutschen Bundestages sind. Bei einer Umkehrung
würde der Petitionsausschuss rechtlich abgewertet. Im
Zusammenhang mit der Diskussion um erweiterte, öffent-
liche Ausschusssitzungen des Petitionsausschusses wurde
bereits in der 13. Legislaturperiode vom Vorsitzenden des
Geschäftsordnungsausschusses darauf hingewiesen, dass
der Beschluss immer dem Plenum obliegt. So können zum
Beispiel erweiterte öffentliche Ausschusssitzungen im Pe-
titionsausschuss zwar die abschließende Aussprache erset-
zen und so das Plenum entlasten, aber niemals den Be-
schluss durch das Plenum. Das soll auch so bleiben.
Selbstkritisch bleibt anzumerken, dass es uns nicht ge-
lungen ist, einen breiten Konsens für mehr Beteiligungs-
rechte von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Parlament
herzustellen. Wir hatten gehofft, dass mit den von der Ko-
alition vorgelegten Initiativen zur Volksinitiative und zum
Volksbegehren auch ein Schub für die Erweiterung und
Stärkung des Petitionsrechts erfolgt. Leider haben Union
und FDP mehr Mitsprache für die Bürgerinnen und Bür-
ger verhindert. Dennoch wird dieses Thema auch in der
nächsten Wahlperiode auf der Tagesordnung stehen. Und
dann werden wir einen neuen Anlauf zur Reform des Pe-
titionsrechts nehmen und hoffentlich endlich alle einen
gemeinsamen Weg durch die offene Tür finden.
Jörg van Essen (FDP): Die FDP räumt dem verfas-
sungsrechtlich garantierten Petitionsrecht als Beteiligungs-
und Bürgerrecht einen hohen Stellenwert ein. Reformen,
die die Rechte der Petenten stärken, werden von der FDP
daher grundsätzlich begrüßt. Insbesondere vor dem Hinter-
grund der ständig steigenden Zahl von Eingaben der Bür-
gerinnen und Bürger ist eine Reform des Petitionsrechts
dringend geboten. Die FDP ist jedem Vorschlag gegenüber
aufgeschlossen, der dazu dient, das Petitionsverfahren zu
verbessern und mehr Transparenz herbeizuführen.
Die FDP hat die vorliegenden Gesetzentwürfe nach
diesen Kriterien sehr genau geprüft. Wir sind zu dem Er-
gebnis gekommen, dass trotz einiger positiver Ansätze
doch noch erhebliche Einwände bestehen. Dies zeigen
auch ganz deutlich die verschiedenen Stellungnahmen,
die uns zur Beratung vorgelegen haben.
Wesentliche Kritikpunkte sind die Eröffnung der Mög-
lichkeit von Minderheitenvoten sowie die umfassenden
Beweiserhebungsrechte.
Die Zulassung von Minderheitenvoten hat für den Pe-
tenten keinerlei Wirkung. Vielmehr kann dies im Einzel-
fall zu einer großen Verwirrung führen. Ein Minderhei-
tenvotum führt aus der Sicht des Bürgers zu keinerlei
rechtlicher Verbesserung. Der Bürger erwartet ein ein-
heitliches Votum des Ausschusses. Die Praxis, dass der
Petent einheitlich beschieden wird, hat sich bewährt und
sollte daher nicht geändert werden.
Die Regelung umfassender Beweiserhebungsrechte
würde die Position des Petitionsverfahrens zwangsläufig
erhöhen und ihm damit eine Stellung verschaffen, die
vom Grundgesetz so nicht gewollt ist. Es könnten hier
beim Petenten Erwartungen geweckt werden, die das Ver-
fahren nicht erfüllen kann.
Wir haben auf der Grundlage der Initiativen, über die
wir heute abschließend beraten, in den Ausschüssen gute
und konstruktive Beratungen gehabt. Die FDP schlägt da-
her vor, auf dieser Grundlage in der kommenden Wahlpe-
riode erneut in die Diskussion einzusteigen und gemein-
sam zu wirklichen Verbesserungen des Petitionsrechts zu
kommen. In der heutigen Abstimmung wird die FDP sich
daher der Stimme enthalten.
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Verordnung über die Entsorgung von
gewerblichen Siedlungsabfällen und von bestimm-
ten Bau- und Abbruchabfällen (Tagesordnungs-
punkt 19)
Franz Obermeier (CDU/CSU): Das Ziel der Verord-
nung ist gut gemeint, nämlich die so genannte „Schein-
verwertung“ von gewerblichen Siedlungsabfällen und be-
stimmten Bau- und Abbruchabfällen wirksamer zu
bekämpfen. Das soll durch höhere Anforderungen an die
Verwertung erreicht werden. Dazu zählt die Verpflichtung
zur getrennten Lagerung – so genannte Getrennthaltung –
und Vorbehandlung. Auch dagegen ist nichts einzuwen-
den. Dann kommt allerdings, dass die Verwertungsquote
in Vorbehandlungsanlagen nunmehr 85 Prozent betragen
muss und das halte ich für zu kurz gedacht. Man muss ehr-
geizige Ziele haben, um etwas zu erreichen. Aber wenn
man zu viel Gas gibt, drehen manchmal die Räder durch.
Wichtig ist, dass wir auch bei der Verwertung von
Abfällen zwischen dem ökologischen Nutzen und den
Kosten abwägen müssen. Wir Abgeordnete sind dem Ge-
meinwohl verpflichtet. Auch ein Mitglied im Umweltaus-
schuss trägt nicht nur Verantwortung für die schöne Natur.
Wir müssen immer auch bedanken, welche Auswirkungen
die eine Entscheidung auf andere Bereiche hat. Deshalb
kritisiere ich hier die starre Verwertungsquote, da sie teil-
weise wirtschaftlich nicht vertretbar ist. Ich kann Ihnen
jetzt schon sagen, was passieren wird. Weil die 85 Prozent
für viele Betriebe jetzt nicht zu verkraften sind, flüchten
sie erst recht in die Illegalität oder müssen aufgeben.
Aber ich will auch zugeben, dass die heute vorliegende
Fassung gegenüber der letzten vom Dezember 2001
– 14. Dezember 2001 – schon eine Verbesserung darstellt.
Wichtige Vorschläge der Länder sind über den Bundesrat
eingearbeitet worden. Damit wurden einige schwerwie-
gende Mängel beseitigt, auf die wir Unionspolitiker hin-
gewiesen hatten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224402
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(A)
(B)
Erstens. Zum Export von Abfällen: Durch die Strei-
chung des § 1 Absatz 5 wird klargestellt, dass die bloße
Absicht, Abfälle über die Grenze zu verbringen, nicht
genügt, um den Abfallerzeuger von der Pflicht zur Ge-
trennthaltung zu befreien.
Zweitens. Die Überwachung der Getrennthaltungs-
pflicht durch die Behörden der Länder und Kommunen ist
im Entwurf nunmehr genauer gefasst worden. Dies bezieht
sich auch auf die Pflichten der Entsorgungsfachbetriebe.
Drittens. Die Regelung zur „Sortenreinheit“ ist nach-
gebessert worden.
Viertens. Bei der Frage der 85-prozentigen Sortier-
quote wird jetzt der Wasseraustrag berücksichtigt, Stich-
wort Stabilat-Verfahren.
Aber das ist es auch schon.
Jetzt komme ich zu den Punkten, bei denen wir ange-
sichts der noch bestehenden Mehrheitsverhältnisse immer
noch nicht weitergekommen sind:
Erstens. Das Kriterium der „wirtschaftlichen Unzu-
mutbarkeit“ in § 3 Absatz 3, da bin ich mir absolut sicher,
wird in der Praxis für große Unsicherheiten sorgen. Die-
ser unbestimmte Rechtsbegriff wird wohl dann die Ge-
richte beschäftigen.
Zweitens. Die Verpflichtung für die Abfallerzeuger, im
angemessenen Umfang Restabfallbehälter der Kommu-
nen zu nutzen, ist in der Verordnung – § 7 Satz 4 – nicht
ausreichend rechtssicher formuliert. Den betroffenen Ge-
werbebetrieben wird die Möglichkeit genommen, die Ent-
sorgungskonditionen nach ihren Bedürfnissen auszuhan-
deln.
Drittens. Insbesondere die deutschen mittelständischen
Abfall- und Entsorgungsbetriebe erleiden durch die neuen
Hürden Nachteile im europäischen Wettbewerb.
Darüber hinaus sehen wir erhebliche Unsicherheiten
bei der gewerblichen Wirtschaft. Auch deshalb ist mög-
lichst rasch die Vorlage einer Novelle des Kreislaufwirt-
schaftsgesetzes und der Verpackungsverordnung durch
die Bundesregierung notwendig. Diese Einschätzung tei-
len auch wichtige Fachverbände.
Die Funktionsfähigkeit der kommunalen Abfallwirt-
schaft ist durch diese Verordnung bedroht, wenn nicht un-
verzüglich diese weiteren Novellierungen in Angriff ge-
nommen werden.
Der FDP-Antrag greift die Problematik auf. Die Priva-
tisierung der Verwertung und Beseitigung gewerblicher
Abfälle wird wohl kommen. Auch hier müssen sowohl die
ökologischen als auch ökonomischen Wirkungen ein-
fließen. Die kommunalen Anlagenbetreiber müssen eine
angemessene Übergangsfrist für die Vorbereitung auf den
Wettbewerb erhalten.
Abschließend ist festzuhalten: Der Schwerpunkt in der
Abfallpolitik muss die Abfallvermeidung sein. Dazu trägt
diese Verordnung nicht nur wenig bei. Im Gegenteil, sie
enthält sogar Anreize, die in der Praxis zu einer Hand-
lungsstrategie nach dem Motto führen werden: „Lieber
mehr verwerten und mehr verursachen als Abfall vermei-
den!“. Weiter habe ich schwere Bedenken, wie die Ver-
ordnung sich bei den kommunalen Entsorgungsverbän-
den im ländlichen Raum auswirken wird.
Dennoch – trotz der vorgetragenen Bedenken – sehen
wir in der vorgelegten Verordnung auch Fortschritte. Des-
halb lehnen wir Unionspolitiker sie nicht ab und werden
zustimmen. Wir erwarten aber im Gegenzug, dass jetzt
schnellstmöglich das Kreislaufwirtschaftsgesetz und das
Abfallgesetz geändert werden müssen, um den Anlagen-
betreibern Planungssicherheit zu geben.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nachdem die hier vorliegende Gewerbeabfallverordnung
unter Maßgabe von Änderungen den Bundesrat passiert
hat, können wir nun ein weiteres Kapitel der erfolgreichen
Regierungsarbeit von Rot-Grün abschließen. Mit dieser
Verordnung wird der Weg freigemacht für eine umwelt-
verträgliche Entsorgung von gewerblichen Siedlungsab-
fällen. Mit dieser Verordnung schieben wir der Schein-
verwertung von Abfällen einen Riegel vor. Bisher können
Gewerbe und Industrie, private und öffentliche Einrich-
tungen allen Abfall zusammenwerfen – Papier aus Büros,
Küchenabfälle und Abfälle aus der Werkstatt. Sie dekla-
rieren ihn als Verwertungsabfall – obwohl nur ein mini-
maler Anteil tatsächlich verwertet wird. Das meiste landet
auf der kostengünstigsten Deponie. Das hat mit dem zu-
grunde liegenden Stoffkreislaufgedanken wirklich nichts
mehr zu tun, besonders da nicht nur Deponiealtlasten für
nachfolgende Generationen geschaffen werden, sondern
auch Wertstoffe verloren gehen.
Alle Gewerbebetriebe sind nun verpflichtet, die öffent-
lich-rechtlichen Versorgungsträger zu nutzen, wenn sie
ihren Restmüll entsorgen wollen. Eine mangelnde Müll-
trennung macht dann keinen Sinn mehr. Der Nutzen für
die Umwelt liegt auf der Hand.
Zurzeit werden auch die für eine ordnungsgemäße Ent-
sorgung vorgehaltenen Anlagen nicht ausgelastet. Die
freien Kapazitäten müssen dann zum Teil unter Selbstkos-
tenpreis angeboten werden. Diese Anlagen haben dadurch
massive Probleme, obwohl wir sie für eine umwelt-
verträgliche Abfallwirtschaft dringend benötigen. Eine
Planungssicherheit der öffentlich-rechtlichen Entsor-
gungsträger ist dadurch nicht gegeben. Die neue Gewer-
beabfallverordnung nutzt zusätzlich dem Wettbewerb.
Die Opposition hat jahrelang ausgerechnet die vorbildli-
chen Versorger benachteiligt, die in moderne Trenn- und
Verwertungsanlagen investiert haben. Die rot-grüne Bun-
desregierung hat da ein ganz anderes Konzept: Wir arbei-
ten mit ökologisch fortschrittlichen Kräften zusammen
und schaffen faire Wettbewerbsbedingungen für sie.
Wir beenden mit dieser Verordnung auch die Schlech-
terstellung der Bürger bei der Umlage der Verwertungskos-
ten. Welcher Bürger kann denn den Weg der Billigentsor-
gung gehen? Private Haushalte sind auf den örtlichen
Entsorger angewiesen. Und bei den Haushalten bleiben
auch die Kosten für die Dumpingpreise hängen, die die
Entsorgungsunternehmen den Großkunden bieten. Das
bedeutet, dass die privaten Haushalte in steigendem Maße
die Kosten einer Entsorgungsstruktur tragen, die für alle
Abfallentsorger geschaffen wurde. Diese Fehlentwick-
lung wird nun beendet.
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Die wichtigsten Inhalte der neuen Gewerbeabfallver-
ordnung bestimmen im Wesentlichen die Anforderungen
an die Getrennthaltung von Abfällen, ihre Vorbehandlung
sowie Anforderungen an die notwendige Kontrolle. Ge-
werbliche Siedlungsabfälle müssen nun grundsätzlich ge-
trennt gesammelt und einer Verwertung zugeführt wer-
den. Darunter fallen zum Beispiel Papier, Glas,
Kunststoffe und Metalle. Anstatt einer Getrennthaltung
einzelner Fraktionen ist auch eine gemeinsame Erfassung
dieser Stoffe möglich, wenn diese in einer Vorbehand-
lungsanlage in weitgehend gleicher Menge und stofflicher
Reinheit wieder aussortiert werden. Hierdurch erfolgt
eine Flexibilisierung der Vorschriften, falls das Ziel der
hochwertigen Verwertung auch mit anderen gleichwerti-
gen Mitteln erreicht werden kann.
Die Vorbehandlung von Abfällen muss nun besondere
Anforderungen erfüllen. Vorbehandlungsanlagen müssen
eine Verwertungsquote von mindestens 85 Prozent errei-
chen. Bei Altanlagen gilt eine Übergangsregelung, bei der
bis Ende 2003 mindestens 65 Prozent und bis Ende 2004
mindestens 75 Prozent erreicht werden müssen. Durch
diese Vorgabe wird die Scheinverwertung besonders über
die Sortieranlagen verhindert.
Da in aller Regel in Gewerbebetrieben auch Restab-
fälle anfallen, die nicht verwertet werden, werden die Ab-
fallerzeuger nun zusätzlich verpflichtet, Restabfallbehäl-
ter in angemessenem Umfang zu nutzen.
Neben der Gewerbeabfallverordnung gibt es noch eine
Reihe weiterer Rechtsvorschriften, die die rot-grüne
Bundesregierung in dieser Legislaturperiode umsetzt: Wir
stützen die nachhaltige Kreislaufwirtschaft unter anderem
mit der Altholzverordnung. Sie trägt zum Umweltschutz
in der Abfallwirtschaft bei, indem sie die ordnungs-
gemäße und schadlose Verwertung von verschiedenen
Althölzern bundesweit einheitlich regelt. Des Weiteren
gibt es eine Novelle der Altölverordnung. Hier wurde der
Vorrang der Aufarbeitung von Altöl zu Basisöl rechtlich
festgeschrieben und eine Förderung der Aufarbeitung eta-
bliert. Auch die Verordnung zur Änderung abfallrechtli-
cher Nachweisbestimmungen ist ein wichtiger Baustein
für die Kreislaufwirtschaft. Mit dieser Verordnung wird
die Überwachung der Abfallentsorgung vereinfacht und
effizienter gestaltet.
Wir stärken das Verursacherprinzip und erreichen so,
dass schon beim Design der Produkte an ihre Verwertung
gedacht wird. Von der „Wiege bis zur Bahre“ ist der Pro-
duzent verantwortlich. Um Kosten zu sparen, wird er
leichter verwertbare Stoffe einsetzen. Das so genannte
Altfahrzeuggesetz regelt die kostenlose Rücknahme von
Altfahrzeugen durch die Hersteller. Dies gilt für Neufahr-
zeuge schon in diesem Jahr und für Altfahrzeuge ab 2007.
Die wilde Entsorgung von Altfahrzeugen hat damit ein
Ende. Es ist dann für niemanden mehr von Vorteil, das Alt-
auto im Wald verrotten zu lassen. Damit bleiben die Kos-
ten der Entsorgung nicht mehr bei den Letztbesitzern hän-
gen, die auch im Schnitt über weniger Geld verfügen als
die Erstbesitzer.
Mit der Verordnung über die Rücknahme und Entsor-
gung gebrauchter Batterien und Akkumulatoren – Stich-
wort Batterieverordnung – wird sichergestellt, dass es funk-
tionierende Entsorgungswege für Altbatterien gibt. Wer
seine Altbatterien zu einer Sammelstelle bringt, kann nun
sicher sein, dass sich sein Einsatz für die Umwelt lohnt.
Einen besonderen Stellenwert für unsere Abfall-
vermeidungspolitik hat die Pfandpflicht auf Einwegge-
tränkeflaschen. Ab dem 1. Januar 2003 wird die Pfand-
pflicht in Deutschland umgesetzt. Damit unterstützen wir
die Mehrwegverpackungen und sorgen zusätzlich dafür,
dass die Vermüllung der Landschaft zurückgeht. Umfra-
gen zeigen, dass die Mehrzahl der Verbraucher eine sol-
che Regelung unterstützen. Der Ex-und-Hopp-Mentalität
wird dadurch ein Riegel vorgeschoben.
Mit diesen umfassenden Regelungen, die beim Verur-
sacher und beim Verbraucher ansetzen, haben wir ein
großes Stück Arbeit geleistet und den Reformstau der Vor-
gängerregierung aufgelöst. Dies ist der richtige Weg hin
zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.
Birgit Homburger (FDP): Auch im Bereich der Ab-
fallpolitik hat Rot-Grün die Hausaufgaben nicht gemacht.
Im Koalitionsvertrag wurde großspurig angekündigt, die
Abgrenzung von Abfällen zur Verwertung von solchen
zur Beseitigung zu regeln. Bekanntlich ist dies nicht ge-
schehen. Stattdessen wird nun mit einzelnen Verordnun-
gen versucht, zu übertünchen, dass sich Rot-Grün nicht
über eine Novelle des Kreislaufwirtschafts- und Abfall-
gesetzes einigen konnte und die Versprechungen aus dem
Koalitionsvertrag nicht einhält.
Nachdem der Bundesrat dem ersten Entwurf der Ge-
werbeabfallverordnung nur nach Maßgabe zahlreicher
kleiner Detailänderungen zugestimmt hat, musste Bundes-
umweltminister Trittin seine Verordnung überarbeiten.
Der grundsätzlichen Kritik am Verordnungsentwurf, wie
sie von der FDP schon bei der Beratung des ersten Ver-
ordnungsentwurfs vorgetragen wurde, trägt dies jedoch
nicht Rechnung.
Nach wie vor bleibt der Eindruck, dass tatsächlicher
Zweck der Verordnung nicht die umweltverträgliche Ent-
sorgung von gewerblichen Siedlungsabfällen ist, sondern
denjenigen Deponiebetreibern Abfallströme garantiert
werden sollen, die ihre Deponie nicht rechtzeitig an die
Anforderungen der Abfallablagerungsverordnung ange-
passt haben.
Die Vorschriften zur Getrennthaltung bzw. zur Vorsor-
tierung von Abfallfraktionen sind ökologisch unbegrün-
det und lassen den Stand moderner Verwertungstechnik
unberücksichtigt. Es existieren bereits Verfahren, die eine
kostenträchtige Getrennthaltung von Abfällen erübrigen
und dennoch ökologisch einwandfreie Resultate gewähr-
leisten. Auch mögliche Innovationen blieben unberück-
sichtigt. Die geforderte Getrennthaltung wird sich bei
kleineren Betrieben sowie insbesondere im Bausektor
wegen fehlender räumlicher Voraussetzungen häufig als
unpraktikabel und kostspielig erweisen.
Zudem ist die für eine Vorbehandlung von Abfallgemi-
schen geforderte Verwertungsquote von 85 Prozent nach
dem heutigen Stand der Technik unter wirtschaftlich ver-
tretbaren Bedingungen kaum zu gewährleisten. Die ge-
plante Verordnung mindert aus betrieblicher Perspektive
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demnach die wirtschaftliche Attraktivität einer stofflichen
Abfallverwertung. Darüber hinaus sind erhebliche Voll-
zugsprobleme bei der Überwachung und Kontrolle ab-
sehbar, wobei aufgrund fehlender klarer Begriffsdefini-
tionen überdies mit einer Vielzahl von kostspieligen
gerichtlichen Auseinandersetzungen zu rechnen ist.
Auch der Umweltsachverständigenrat hat Zweifel an
der Vollzugstauglichkeit der Regelungen geäußert und
aufgrund des immensen bürokratischen Aufwands die
Verhältnismäßigkeit der Regelungen infrage gestellt.
Entgegen ihrem vorgeblichen Zweck wird die Gewer-
beabfallverordnung für den Bereich der gewerblichen
Siedlungsabfälle also absehbar keinen ökologischen Fort-
schritt im Sinne der Kreislaufwirtschaft bewirken. Die
vorgesehenen Regelungen sind bürokratisch und nur dazu
geeignet, abfallwirtschaftliche bzw. abfalltechnische In-
novationen zu behindern. Die betroffenen Unternehmen
werden wirtschaftlich belastet und in ihrer Wettbewerbs-
fähigkeit beeinträchtigt, ohne dass durch die Verordnung
Vorteile für den Umweltschutz erreicht werden. Die FDP
lehnt daher die Gewerbeabfallverordnung ab.
Eva Bulling-Schröter (PDS): Mit dem nunmehr von
der Bundesregierung vorgelegten und in Kernpunkten
überarbeiteten Entwurf für eine Gewerbeabfall-Verord-
nung soll die schadlose und möglichst hochwertige Ver-
wertung von gewerblichen Siedlungsabfällen und von be-
stimmten Bau- und Abbruchabfällen sichergestellt
werden. Insbesondere die sogenannte Scheinverwertung
soll durch Anforderungen an die Umweltverträglichkeit
der Verwertung verhindert werden.
Der Ursprungsentwurf hätte einseitig die privaten Ent-
sorger begünstigt – was nicht zum ersten Male die reale
neoliberale Politik dieser Bundesregierung dokumentiert –
und die kommunalen Entsorgungsträger mit ihren vorhan-
denen Entsorgungseinrichtungen, die sie aus Gründen der
Daseinsfürsorge vorhalten müssen, an den Rand des Ruins
getrieben.
Dem hat die einheitliche Intervention der Länder im
Vorfeld des neuen Entwurfs einen Riegel vorgeschoben.
Der neue Verordnungsentwurf der Bundesregierung si-
chert jetzt tatsächlich eine qualitativ höhere Verwertung
von gewerblichen Siedlungsabfällen. Gleichzeitig wird
neu – in § 7 – eine Überlassungspflicht von nicht ver-
wertbaren Siedlungsabfällen an die öffentlich-rechtlichen
Entsorgungsträger verankert. Die Ausdehnung des Be-
griffes von Abfällen aus privaten Haushalten auch auf ver-
gleichbare Einrichtungen wie zum Beispiel Wohnheime
garantiert zukünftig den kommunalen Abfallentsorgungs-
trägern zumindest einen definierten, wenn auch kleinen
Teil des zur Verfügung stehenden „Müllkuchens“.
Unbestritten ist es gesamtgesellschaftlich zu begrüßen,
dass wir aus dem Abfall zukünftig immer weniger nicht-
verwertbaren Müll und dafür immer mehr Wertstoff – der
diesen Namen aber auch qualitativ verdienen muss – ge-
winnen werden.
Aber wir sollten uns andererseits nichts vormachen. Es
existiert ein regelrechter Kampf um den Müll, der den
noch vor rund zehn Jahren propagierten „Müllnotstand“
längst ersetzt hat. Auch diese neue Gewerbeabfallverord-
nung wird nicht verhindern können, dass der so genannte
hausmüllähnliche Gewerbeabfall nahezu vollständig den
öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern entzogen wird.
Die Folge: Die meist langfristigen Verträge, zum Teil
25 bis 30 Jahre, zwischen den kommunalen Entsorgungs-
trägern und zum Beispiel Betreibern von Müllverbren-
nungsanlagen, werden in den nächsten Jahren, ja Jahr-
zehnten dazu führen, dass die vertraglich vereinbarten
Liefermengen für Müll nicht mehr eingehalten werden
können und dann auch eine Müllbeseitigung von zigtau-
send Tonnen nichtexistierenden Mülls in den jeweiligen
Kommunen trotzdem bezahlt werden muss; in letzter
Konsequenz wieder einmal von den Bürgerinnen und
Bürger über die Abfallgebühren.
Die Auswirkungen der Bioabfallverordnung und der
Altholzverordnung auf den Sperrmüll, dessen Holzbe-
standteile dann zukünftig auch nicht mehr in die kommu-
nale Abfallbeseitigung gehen, werden diesen Trend noch
verstärken.
Fazit: Die neugefasste Gewerbeabfallverordnung geht
in der Tendenzverschiebung von Müll zu verwertbaren,
nachweisbaren qualitativ-hochwertigen neuen Wertstof-
fen in die richtige Richtung.
Die PDS wird daher dem neuen Entwurf der Bundes-
regierung zustimmen. Gleichzeitig sollte aber die Verab-
schiedung dieser Verordnung mit ihren zwangsläufigen
Folgen für die kommunale Abfallwirtschaff dort auch als
eindeutiges Signal ankommen, die bereits vorhandenen
Überkapazitäten im Bereich der Müllverbrennung ange-
sichts tendenziell abnehmender Müllmengen nicht noch
weiter auszubauen.
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzproto-
koll vom 18. Dezember 1997 zum Überein-
kommen über die Überstellung verurteilter
Personen
– Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des
Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 zum
Übereinkomen über die Überstellung verur-
teilter Personen
(Tagesordnungspunkt 20)
Erika Simm (SPD):Die vorliegenden Gesetzentwürfe
haben durchaus historische Bedeutung. Immerhin wurde
das zugrunde liegende Übereinkommen über die Über-
stellung verurteilter Personen bereits am 21. März 1983
von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet.
Dieses Übereinkommen schuf die Möglichkeit, dass
Ausländer, die im Inland, und Inländer, die im Ausland ver-
urteilt wurden, ihre Strafe in ihrem jeweiligen Heimatstaat
verbüßen können; eine Regelung, der in Zeiten zunehmen-
der Mobilität der Menschen wachsende Bedeutung zuge-
kommen ist. Die Umsetzung des Übereinkommens nahm
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dann geraume Zeit in Anspruch. Erst am 13. Juni 1991
wurde das dazugehörende Vertragsgesetz vom Deutschen
Bundestag verabschiedet. Es trat am 6. Oktober 1991 in
Kraft.
Im Laufe der Jahre erwies sich bei der praktischen An-
wendung des Übereinkommens, dass dieses wesentliche
Lücken enthielt.
So setzte die Überstellung des Verurteilten zur Straf-
vollstreckung an den Heimatstaat eine förmliche Über-
gabe voraus. War der Verurteilte vorher in sein Heimat-
land geflüchtet, so konnte die Vollstreckung dort entgegen
dem Abkommen nicht durchgeführt werden, weil eine
Übergabe nicht möglich war. Umgekehrt scheiterte eine
Rückführung zur Vollstreckung in den Staat, wo die Ver-
urteilung erfolgte, daran, dass kaum ein Staat seine Staats-
angehörigen zu Vollstreckungszwecken an einen anderen
ausliefert. Im Ergebnis führte dies also zu dem allseits un-
erwünschten Ergebnis, dass die Strafvollstreckung unter-
bleiben musste.
Zum anderen war für die Überstellung des Verurteilten
immer dessen Zustimmung erforderlich. Dies galt auch,
wenn der Verurteilte aus dem Urteilsstaat rechtswirksam
ausgewiesen und nach der Haftverbüßung abzuschieben
war.
Beide Lücken wurden durch das Zusatzprotokoll vom
18. Dezember 1997 zu dem Übereinkommen behoben.
Die Strafvollstreckung nach dem Übereinkommen ist
nach dem Zusatzprotokoll nun auch bei Flucht in den Hei-
matstaat ohne Weiteres möglich. Auf die Zustimmung des
Verurteilten kommt es hier wegen der von ihm bereits ge-
troffenen Entscheidung für einen anderen Aufenthalts-
staat nicht an.
Die Überstellung des Verurteilten ohne seine Zustim-
mung ist künftig auch dann möglich, wenn er nach Haft-
verbüßung aufgrund einer rechtskräftigen Verfügung
verpflichtet ist, den Urteilsstaat zu verlassen. Der Gesetz-
entwurf „zu dem Zusatzprotokoll vom 18. Dezember
1997 zum Übereinkommen über die Überstellung verur-
teilter Personen“ schafft die innerstaatlichen Vorausset-
zungen für die Ratifikation des Zusatzprotokolls.
Daneben haben wir heute über ein Ausführungsgesetz
zu dem erwähnten Zusatzprotokoll zu beschließen. Der
Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zu dem diesbe-
züglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Reihe
von Änderungswünschen, denen im Rahmen der Aus-
schussberatung weitgehend Rechnung getragen wurde. Zu
zwei Punkten, wo auch die Bundesregierung dem Bundes-
rat in ihrer Gegenäußerung nicht gefolgt war, hat die
CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss Änderungsanträge ein-
gebracht, die wir mit guten Gründen abelehnt haben.
So sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung die
Einführung der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung nach
§ 71 Abs. 4 des Gesetzes über die internationale Rechts-
hilfe in Strafsachen (IRG) für die nun neu geregelten Fälle
vor, wo der Verurteilte auch gegen seinen Willen zur
Strafvollstreckung in das Heimatland überstellt werden
kann. Dies halte ich, angesichts dessen, dass es sich für
den Verurteilten bei der Überstellung zur Vollstreckung
im Ausland, wenn diese gegen seinen Willen erfolgt, um
eine Entscheidung von erheblicher Tragweite handelt, un-
ter rechtsstaatlichen Gesichtpunkten für zwingend gebo-
ten. Die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die §§ 23
bis 30 EGGVG, wie von der CDU/CSU mit ihrem Ände-
rungsantrag gewollt, erscheint mir demgegenüber, schon
weil es da, anders als im IRG vorgesehen, die Möglichkeit
der sofortigen Beschwerde nicht gibt.
Nur am Rande: Als das IRG in der neunten Wahlperi-
ode auf der Tagesordnung stand, hatte der Bundesrat
sogar gefordert, die Möglichkeit der Anrufung des Bun-
desgerichtshofes im Gesetz zu eröffnen, was allerdings
seinerzeit dem Rechtsausschuss zu weit gehend erschien.
Des Weiteren hat die Fraktion der CDU/CSU bean-
tragt, § 3 des Auführungsgesetzes zu streichen, wonach
bestimmte Personen von der Überstellung gegen ihren
Willen selbst dann ausgenommen werden, wenn gegen sie
wegen der Tat, derentwegen sie verurteilt wurden, eine
rechtskräftige Ausweisungsverfügung ergangen ist. Es
handelt sich dabei um Personen, die besonders starke Bin-
dungen an Deutschland haben, weil sie hier aufgewach-
sen sind, sich zumindest lange Zeit hier berechtigt aufge-
halten oder hier enge familiäre Beziehungen haben.
Die CDU/CSU hat die beantrage Streichung des § 3 da-
mit begründet, dass die Resozialisierung des Verurteilten
besser im Strafvollzug seines Heimatstaates erfolgen
könne, in dem er aufgrund der Ausweisung nach seiner
Haftentlassung sowieso leben werde. Sie verkennt dabei,
dass zur Resozialisierung Strafgefangener, aber auch zur
Wahrung ihrer Menschenrechte im Vollzug ganz wesent-
lich die Aufrecherhaltung sozialer Kontakte, insbesonde-
rere auch zur Familie gehört, die dem seit langem in
Deutschland lebenden Verurteilten bei Strafverbüßung im
Ausland kaum möglich ist. Abgesehen davon würden wir
in Fällen, in denen der Verurteilte hier seine Familie hat,
diese in einem Maße mitbestrafen, das durch den Zweck
einer Kriminalstrafe nicht zu rechtferigen ist.
Wir haben daher die Änderungsanträge der CDU/CSU
– wie ich meine – zu Recht abgelehnt. In der Fassung der
Ausschussempfehlung stellt das Ausführungsgesetz eine
auch die Interessen Verurteilter angemessen berücksichti-
gende Regelung dar, die den praktischen Bedürfnissen der
internationalen Rechtshilfe in Strafvollstreckungssachen
gerecht wird.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Es sind nicht nur
die großen Ereignisse wie die Einführung des Euro, die
uns vor Augen führen, wie wichtig internationale Zusam-
menarbeit und grenzüberschreitende Unterstützung sind.
Damit ein Staatenbund wirklich zusammenwächst und
möglichst reibungslos funktioniert, sind viele Maßnah-
men auf den unterschiedlichsten Feldern notwendig, die
oftmals nicht zu den ganz großen Themen gezählt werden.
Ein solches Thema behandelt das heute zur zweiten
und dritten Lesung anstehende Gesetz zum Zusatzproto-
koll vom 18. Dezember 1997 zum Übereinkommen über
die Überstellung verurteilter Personen. Sein Ursprung
reicht weit zurück bis an den Anfang der 80er-Jahre und
macht fast schon einen kleinen Ausflug in die Rechtsge-
schichte nötig.
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Die Bundesrepublik Deutschland ist – neben allen Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union und weiteren Staa-
ten – Vertragspartner des Übereinkommens über die
Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983,
welches die gesetzliche Grundlage für die Strafverbüßung
des Verurteilten in seinem Heimatland bildet. Die Pro-
bleme solcher grenzüberschreitenden Maßnahmen zeigen
sich jedoch oft erst, wenn sie den harten Bedingungen der
Realität und der Anwendung im praktischen Bereich
standhalten müssen und sollen. Auch das Übereinkom-
men von 1983 hat in der Praxis Schwächen gezeigt und
den Bedarf nach einer Korrektur hin zu mehr Lebens-
wirklichkeit bewiesen. Der Sachverständigenausschuss,
der die Anwendung europäischer Übereinkommen auf
dem Gebiet des Strafrechts überprüft, hat aufgrund der
von den Mitgliedstaaten geschilderten praktischen
Schwierigkeiten bei der Anwendung des Übereinkom-
mens nicht hinnehmbare Regelungslücken festgestellt
und den Bedarf eines Zusatzprotokolls angemahnt.
Ein wesentliches Problem des Übereinkommens ergibt
sich insbesondere in dem folgenden Punkt: Eine Übertra-
gung der Strafvollstreckung auf den Heimatstaat bzw.
eine Überstellung des Verurteilten in das Heimatland war
bisher nicht möglich, wenn der Verurteilte in sein Hei-
matland geflohen ist oder wenn er die uneingeschränkte
Zustimmung zu seiner Überstellung nicht erteilt hat. Im
Unterschied zum Übereinkommen von 1983 kommt es
nun beim Zusatzprotokoll hierzu nicht mehr darauf an, ob
der Verurteilte der Überstellung zustimmt oder nicht. Der
Zweck des Zusatzprotokolls liegt darin, sicherzustellen,
dass der Verurteilte in dem Staat seine Strafe verbüßt, in
den er sich freiwillig begeben hat oder in dem er nach
Haftentlassung voraussichtlich wird leben müssen, weil
infolge seiner Strafe eine bestandskräftige Ausweisungs-
oder Abschiebungsverfügung vorliegt.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf folgendes
hinzuweisen: In Anbetracht der Tatsache, dass die Straf-
vollzugsbedingungen in den Mitgliedstaaten des Überein-
kommens ein sehr unterschiedliches Maß an Mindeststan-
dards besitzen, kann eine Überstellung selbstverständlich
nur dann erfolgen – und zwar unabhängig ob mit oder
ohne Einverständnis des Betroffenen –, wenn sicherge-
stellt ist, dass der Strafvollzug im Ausland den Mindest-
anforderungen der Konvention zum Schutze der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten entspricht. Diese aus unserer
Sicht unerlässliche Voraussetzung gewährleistet in ausrei-
chender Art und Weise den Schutz der Persönlichkeits-
rechte des Verurteilten und verhindert eine zusätzliche
Bestrafung aufgrund unwürdiger Haftbedingungen über
das Maß des Urteils hinaus.
Das Übereinkommen und das Zusatzprotokoll sind je-
doch – darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen –
nicht die Lösung aller Probleme des Strafvollzugs; denn
sie stellen keine Verpflichtung für die Vertragsstaaten dar,
einem Ersuchen um Überstellung oder Übernahme der
Strafvollstreckung nachzukommen. Sie bilden lediglich
die Basis, aufgrund derer eine freiwillige Zusammenar-
beit der betroffenen Staaten möglich ist.
Mit dem von dem Sachverständigenausschuss vorge-
schlagenen Zusatzprotokoll haben wir eine zumindest
praxisnähere Grundlage für die Überstellung verurteilter
Personen, als es das Übereinkommen von 1983 je hätte
gewährleisten können, wäre da nicht das von der Bundes-
regierung eingebrachte Gesetz zur Ausführung eben die-
ses Zusatzprotokolls. § 1 des Entwurfs des Ausführungs-
gesetzes der Bundesregierung sieht eine gerichtliche
Zulässigkeitsentscheidung gemäß § 71 Abs. 4 IRG vor.
Diese wird das Überstellungsverfahren erheblich belasten
und zu einer Verkomplizierung und Verlängerung des oh-
nehin bereits schwierigen und langwierigen Überstel-
lungsverfahrens führen. Die Zulässigkeitsprüfung wurde
aus praktischen Erwägungen 1991 mit dem Gesetz zur
Ausführung des Übereinkommens von 1983 abgeschafft.
Warum soll jetzt diese gewissermaßen vorprogrammierte
Verfahrensverzögerung wieder eingeführt werden?
Die CDU/CSU-Mitglieder im Rechtsausschuss haben
deshalb beantragt, § 1 des Ausführungsgesetzes dahinge-
hend zu ändern, dass die gerichtliche Zulässigkeitsent-
scheidung nach § 71 Abs. 4 IRG durch eine Überprüfung
nach den §§ 23 ff EGGVG ersetzt wird. Wir halten diese
Lösung für besser, weil im Gegensatz zu § 71 Abs. 4 IRG
dann nicht in jedem Fall von Amts wegen umfassend über
die Zulässigkeit der Überstellung befunden werden muss,
sondern nur in den Fällen und in dem Umfang, in dem der
Verurteilte die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde
anficht. Dem Anspruch des Verurteilten auf gerichtlichen
Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz würde da-
mit hinreichend Genüge getan. Diese Lösung würde sich
auch vorteilhaft auf die Dauer der gerichtlichen Verfahren
auswirken, da die gerichtliche Entscheidung nach § 23
EGGVG gemäß § 29 EGGVG unanfechtbar ist. Leider hat
die Regierungskoalition diesen unseren Änderungsantrag
im Rechtsausschuss abgelehnt.
Noch weniger akzeptabel ist, was die Bundesregierung
in § 3 ihres geplanten Ausführungsgesetzes vorsieht: Hier
hat die Regierungskoalition einmal mehr bewiesen, dass
bei Rot-Grün Ideologie vor Sachverstand geht. Art. 3 des
Zusatzprotokolls sieht vor, dass auf Ersuchen des Urteils-
staates der Vollstreckungsstaat ohne Zustimmung des
Verurteilten in dessen Überstellung einwilligen kann,
wenn gegen die verurteilte Person infolge der Sanktion,
eine Ausweisungs- oder Abschiebungsanordnung vor-
liegt, aufgrund derer es dieser Person nach ihrer Verurtei-
lung nicht gestattet sein wird, nach der Haft im Hoheits-
gebiet des Urteilsstaates zu bleiben. Auf einen kurzen
Nenner gebracht heißt das, dass ein in Deutschland verur-
teilter Straftäter ohne seine Zustimmung in sein Heimat-
land gebracht werden kann, um dort seine Strafe zu ver-
büßen, wenn er in Deutschland kein Aufenthaltsrecht
mehr hätte.
Dieser Vorschrift liegt die Erwägung zugrunde, dass
die Strafvollstreckung, die im modernen Strafvollzug
auch wesentlich der Resozialisierung des Täters dient, nur
in dem Staat sinnvoll durchgeführt werden kann, in dem
der Verurteilte sich nach seiner Haftentlassung auch
tatsächlich aufhalten wird.
Die von der Bundesregierung in § 3 Satz 1 ihres Ent-
wurfes eines Ausführungsgesetzes vorgesehene Regelung
läuft jedoch dem Resozialisierungsanspruch Verurteilter
zuwider und ist daher nicht sachgerecht. § 3 Satz 1 des
Gesetzentwurfes schränkt den Anwendungsbereich von
Art. 3 des Zusatzprotokolls ein, wenn der Verurteilte be-
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sondere soziale Bindungen zu Deutschland hat. Zweck
des Zusatzprotokolls ist es aber, dass Verurteilte in dem
Land ihre Strafe verbüßen sollen, in dem sie nach Ver-
büßung der Strafe mutmaßlich leben werden. Völlig zu
Recht stellt der Bundesrat in seiner Stellungnahme hierzu
fest, dass § 3 des Gesetzentwurfes diesem Anliegen nicht
gerecht wird, da der dort genannte Personenkreis ausrei-
sepflichtig und unmittelbar nach Abschluss der Strafvoll-
streckung abzuschieben ist. Auf die Bindungen zu
Deutschland komme es, so der Bundesrat, im Hinblick auf
die unanfechtbare und vollziehbare rechtliche Maßnahme
ebenso wenig an wie bei in Freiheit befindlichen Perso-
nen. Maßnahmen der Resozialisierung wurden daher auf
Deutschland bezogen keinen Sinn mehr machen.
Die CDU/CSU teilt die Position des Bundesrates und
hat deshalb einen weiteren Änderungsantrag eingebracht,
wonach § 3 des Ausführungsänderungsgesetzes der Bun-
desregierung gestrichen werden soll. Auch dieser Ände-
rungsantrag wurde – man muss nach den Erfahrungen in
dieser Wahlperiode im Rechtsausschuss leider sagen: er-
wartungsgemäß – von Rot-Grün abgelehnt.
Die CDU/CSU-Fraktion wird daher heute zwar dem
Gesetz zu dem Zusatzprotokoll vom 18. Dezember 1997
zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter
Personen zustimmen, das Ausführungsgesetz aber aus den
bereits genannten Gründen ablehnen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Koalition hat im Hinblick auf die Ratifikation des
Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Überstel-
lung verurteilter Personen einen ausgewogenen, modera-
ten und praxisnahen Gesetzentwurf vorgelegt. Worum
geht es: Das Übereinkommen aus dem Jahre 1983 erlaubt
die Vollstreckung einer in Deutschland verhängten Strafe
im Ausland, wenn der Betroffene dem zustimmt. Sein
Zweck sollte es vor allem sein, den Interessen des verur-
teilten ausländischen Straftäters Rechnung zu tragen. Vor
Augen hatte der Europarat 1983 Fälle, in denen der be-
troffene ausländische Straftäter in einer inländischen
Strafanstalt saß, ohne die Sprache zu können und er des-
halb keine Chance hatte, an Resozialisierungsmaßnah-
men teilzunehmen.
Das Zusatzprotokoll von 1997 verfolgt nunmehr an-
dere Ziele. Möglich sein soll die Vollstreckung im Aus-
land, wenn der Straftäter aufgrund einer Ausweisung
nicht damit rechnen darf, nach der Straftat im Inland zu
bleiben, da dann die Resozialisierung durch den Straf-
vollzug vielfach ebenso gut im anderen Staat erfolgen
kann. Im Grundsatz ist gegen diesen Gedanken aus mei-
ner Sicht nichts einzuwenden. Der Grundsatz muss jedoch
so in das nationale Recht transportiert werden, dass er den
tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird. Genau dies tut
der Entwurf der Bundesregierung.
Lassen Sie mich insoweit einiges zu der Diskussion
dieses abgewogenen Entwurfes im Bundesrat sagen:
Erstens. In der Debatte im Bundesrat hatten einige
Redner offenbar die Vorstellung, mit dem Zusatzprotokoll
könnten die deutschen Haftanstalten weitgehend von aus-
ländischen Straftätern entlastet werden. Deshalb mache
ich zunächst den Hinweis, dass die Wirkungen des Zu-
satzprotokolls nicht überschätzt werden dürfen. Schon
jetzt ist eine Strafvollstreckung im Ausland nach dem Ge-
setz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
möglich. Dennoch gibt es keine massenhafte Strafvoll-
streckung im Ausland. Die Gründe liegen sicher in eini-
gen Fällen in menschenrechtswidrigen Haftbedingungen
im Ausland. Noch häufiger aber ist, dass selbst Anträge
der Straftäter, die Haft im Ausland zu vollstrecken, abge-
lehnt werden, weil der andere Staat nicht garantieren
kann, dass die Haft in einem Deutschland vergleichbaren
Umfang vollstreckt wird; sprich, dass der Straftäter nicht
kurz nach seiner Überstellung frei kommt. Im Interesse ei-
ner geordneten Strafrechtspflege sind und bleiben hier
also der Vollstreckung im Ausland enge faktische Gren-
zen gesetzt.
Zweitens. Im Bundesrat ist bedauert worden, dass der
Entwurf eine Vollstreckung der Strafe im Ausland erst
zulässt, wenn die Ausweisungsverfügung bestandskräftig
ist. Diese Kritik ist mir gänzlich unverständlich. Wie soll
es anders sein? Man stelle sich den Fall vor, dass eine Aus-
weisung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgeho-
ben wird, der Betroffene sich aber bereits in einer auslän-
dischen Strafanstalt befindet. In diesem Fall entstünde
auch für die Resozialisierung des Täters ein nicht wieder
gut zu machender Schaden. Aus diesem Grunde lässt auch
das Zusatzprotokoll – anders als einige meinen – die Voll-
streckung im Ausland erst zu, wenn die ausländerrecht-
lichen Entscheidungen bestandskräftig sind. Ich zitiere
aus dem erläuternden Bericht des Europarates: „Es ist
vorgesehen, dass eine Überstellung nach diesem Artikel
erst dann stattfindet, wenn alle Rechtsmittel gegen die
Ausweisung oder Abschiebung ... erschöpft sind.“ Ich bin
mir sicher, dass die Landesjustizminister deshalb letztlich
die Richtigkeit des Entwurfes der Bundesregierung aner-
kennen müssen.
Drittens. Im Bundesrat ist auch über die Beschränkun-
gen diskutiert worden, die der Entwurf der Bundesregie-
rung für die Vollstreckung im Ausland ausdrücklich vor-
gibt. Vorgesehen ist, dass eine Vollstreckung der Strafe im
Ausland bei Personen mit besonders engen Bindungen
nicht vorgenommen wird.
Besonders wichtig ist mir dabei, dass dies für Auslän-
der gilt, die in Deutschland aufgewachsen sind. Ich gebe
allerdings zu, dass es insoweit die klarere Lösung wäre,
wenn gegen diesen Personkreis schon keine Ausweisun-
gen verfügt werden könnten. Wir konnten im Zuwande-
rungsgesetz trotz des Willens beider Koalitionsfraktionen
– und soweit mir bekannt ist auch der FDP-Fraktion – eine
solche Regelung mit Blick auf die Konsensfähigkeit des
Entwurfes im Bundesrat nicht verankern. Umso wichtiger
aber ist, dass die Betroffenen nicht auch noch durch eine
Strafvollstreckung im Ausland gegen ihren Willen sozial
schwer geschädigt werden. In vielen Fällen sprechen sie
die Sprache des Herkunftsstaates der Eltern nicht oder nur
sehr schlecht. Wie soll dort, in einer fremden Umgebung,
der Strafvollzug einen Beitrag zur Resozialisierung leis-
ten? Deshalb ist es auf jeden Fall besser, dass die Strafe in
dieser Konstellation nicht gegen den Willen der Betroffe-
nen im Ausland vollstreckt wird, sondern sie in Deutsch-
land die Chance erhalten, sich im Strafvollzug zu stabili-
sieren und sie erst danach – wenn es denn nicht anders
geht – ins Ausland geschickt werden. Wer anders will, ent-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224408
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fernt sich letztlich von dem Gedanken, dass Strafvollzug
nicht nur Vergeltung ist und sein darf, sondern auch dem
Betroffenen eine Chance geben soll, sich aus seiner kri-
minellen Vergangenheit zu lösen.
Ich denke, wenn man dies in seine Erwägungen einbe-
zieht, sollte man dem Entwurf der Bundesregierung zu-
stimmen können.
Jörg van Essen (FDP): Das von der Bundesrepublik
Deutschland am 18. Dezember 1997 unterzeichnete Zu-
satzprotokoll hat die Defizite ausgeräumt, die sich in der
Praxis aus dem Übereinkommen vom 21. März 1983 er-
gaben. Wir haben damit die Möglichkeiten einer Über-
stellung des Verurteilten in sein Heimatland in zwei wich-
tigen und praktisch bedeutsamen Fallkonstellationen
eröffnet. Es ist nun die Übertragung der Strafvoll-
streckung auf den Heimatstaat bzw. die Überstellung des
Verurteilten in das Heimatland möglich, wenn der Verur-
teilte in sein Heimatland geflohen ist oder wenn infolge
der Sanktion eine bestandskräftige Ausweisungs- oder
Abschiebungsverfügung vorliegt. Zwingende Vorausset-
zung dieser Regelung ist, dass der Strafvollzug im Aus-
land den Mindestanforderungen der Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ent-
spricht. Auf die Einhaltung dieser Grundsätze ist in jedem
Einzelfall zu achten.
Mit dem Zusatzprotokoll gehen wir einen wichtigen
Schritt hin zu einer einheitlichen Innen- und Rechtspoli-
tik in Europa. Die FDP hat dies immer gefordert und be-
grüßt jede Anstrengung, die diesem Ziel gerecht wird. Die
vorliegenden Gesetzentwürfe sind die logische Folge aus
dem Zusatzprotokoll. Der bisherige Rechtszustand vor
der Ratifikation war unbefriedigend und wurde dem Pro-
blem nicht gerecht. Die Ratifikation wäre sicher auch
schon früher möglich gewesen.
Die FDP begrüßt die Umsetzung des Zusatzprotokolls
und die Schaffung einer einheitlichen Rechtslage und
stimmt den Gesetzentwürfen zu.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Meine Fraktion lehnt das
Gesetz zur Ratifizierung des Übereinkommens über die
Überstellung verurteilter Personen aus grundsätzlichen
rechtsstaatlichen Gründen ab. Die Vollstreckung von Haft-
strafen, die deutsche Gerichte verhängt haben, sollte in
Deutschland geschehen, es sei denn, der Verurteilte flüch-
tet in seinen Heimatstaat oder stimmt einer Überstellung
zur Vollstreckung in seinem Heimatstaat ausdrücklich zu.
Die erste der zwei Fallkonstellationen des Zusatzproto-
kolls ist nach meiner Meinung sachgerecht geregelt. Wenn
der Verurteilte in seinen Heimatstaat geflohen ist, dann soll
auch dort die Strafe vollzogen werden können. Ein Verur-
teilter soll sich nicht durch Flucht in seinen Heimatstaat
der Strafe entziehen können. Deshalb ist es richtig, dass
der Urteilsstaat ein Ersuchen an den Heimatstaat des Ver-
urteilten zur dortigen Strafvollstreckung stellen kann und
dass dieses Ersuchen auch ohne Zustimmung des Verur-
teilten genehmigt werden kann.
Problematisch ist der zweite Fall: Es besteht eine be-
standskräftige Verwaltungsentscheidung zur Ausweisung
eines verurteilten Ausländers in seinen Heimatstaat nach
Verbüßung seiner Strafe im Urteilsstaat. Dann soll es nach
dem Zusatzprotokoll ermöglicht werden, den Verurteilten
entgegen den bisherigen Regelungen auf Ersuchen des
Urteilsstaates auch ohne dessen Einwilligung in den Hei-
matstaat zur Strafvollstreckung zu überführen. Dies muss
aus humanitären Erwägungen und verfassungsrechtlichen
Gründen abgelehnt werden. Ich verweise auf Art. 1 des
Grundgesetzes, die Menschenwürde und Art. 3, Gleich-
heit vor dem Gesetz.
Ein in Deutschland verurteilter Ausländer darf nach mei-
ner Meinung nicht ohne seine Einwilligung, also zwangs-
weise, zum Strafvollzug in seinen Heimatstaat überführt
werden. Er muss in seinem Heimatstaat eventuell mit
Nachteilen im Hinblick auf Resozialisierung, Strafausset-
zung und Strafunterbrechung rechnen. Es muss dem Verur-
teilten überlassen bleiben, ob er seine Strafe in Deutschland
oder in seinem Heimatstaat verbüßen will. Daran kann auch
die Tatsache nichts ändern, dass er nach Verbüßung der
Strafe mit seiner Abschiebung zu rechnen hat.
Die einschränkenden Klauseln im Zusatzprokoll, wo-
nach die Meinung der verurteilten Person berücksichtigt
werden soll und die Überstellung nur erfolgen darf, wenn
gewährleistet ist, dass der Strafvollzug im Ausland den
Mindestanforderungen der Europäischen Menschenrechts-
konvention entspricht, können die Gründe meiner Ab-
lehnung nicht entkräften. Dem Ratifikationsgesetz kann
meine Fraktion deshalb nicht zustimmen.
Der Entwurf des Ausführungsgesetzes sieht zwei in-
nerstaatliche Bestimmungen vor, die den in Deutschland
verurteilten Ausländer vor negativen Folgen des Proto-
kolls schützen sollen. Erstens soll eine Überstellung der
verurteilten Person einer gerichtlichen Zulässigkeits-
prüfung unterliegen. Zweitens soll eine Überstellung
ohne Einwilligung dann nicht zulässig sein, wenn der
Verurteilte eine feste Bindung an Deutschland hat, wenn
er zum Beispiel im Inland aufgewachsen ist und bereits
als Minderjähriger seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen
Aufenthalt hatte oder wenn er mit einem deutschen Staats-
angehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt.
Von der zweiten Bestimmung soll abgewichen werden
können, wenn schwerwiegende Sicherheitsgründe vorlie-
gen. Diese zwei Bestimmungen ändern zwar nichts daran,
dass das Zusatzprotokoll für uns nicht zustimmungsfähig
ist. Aber sie mildern ein wenig die negativen Wirkungen
des Protokolls, wenn dieses, wie zu erwarten, ratifiziert
wird.
Deshalb werden wir uns zum Ausführungsgesetz der
Stimme enthalten. Den Änderungsantrag des CDU/CSU-
Fraktion lehnen wird ab, weil durch ihn die mildernde
Wirkung des Ausführungsgesetzes wieder ausgehebelt
werden würde.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Das Übereinkommen des Euro-
parats zur Vollstreckungshilfe von 1983 setzt – ähnlich
wie die Regelungen in der Europäischen Union und die im
Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen –
voraus, dass ein internationales Ersuchen um Voll-
streckungshilfe nur gestellt bzw. bewilligt werden kann,
wenn der Verurteilte zustimmt. Auf dieses Zustimmungs-
erfordernis verzichtet das Zusatzprotokoll nun für den
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Fall, dass der Verfolgte rechts- bzw. bestandskräftig aus-
gewiesen wurde, oder dass er sich durch Flucht ins Aus-
land der Vollstreckung entzogen hat. Die Bundesregie-
rung begrüßt diese Regelung ausdrücklich. Sie hat sich an
den Verhandlungen im Europarat, auch einer Forderung
der Länder folgend, mit Nachdruck beteiligt.
Die Forderung nach einem weitergehenden oder gar nach
einem vollständigen Verzicht auf das Zustimmungserfor-
dernis war und ist derzeit international nicht durchsetzbar.
Nicht einmal innerhalb der Staaten der Europäischen Union
werden solche Ansätze von einer nennenswerten Anzahl
von Staaten unterstützt. Auch würde eine Umsetzung die-
ser Forderung der materiellen Grundlage der Voll-
streckungshilfe widersprechen. Die Vollstreckungshilfe
dient national und international im Wesentlichen der Re-
sozialisierung Verurteilter und nicht der Minderung der
Überbelegung deutscher Haftanstalten.
Auch wenn ein verurteilter Ausländer Deutschland
nach der Vollstreckung verlassen muss, wird die Resozia-
lisierung nicht immer und ausnahmslos besser in dem
Staat durchgeführt, in welchem der Verurteilte später
leben muss. Entscheidend sind immer die Umstände des
Einzelfalles. Davon geht auch das Zusatzprotokoll aus.
Resozialisierungsbemühungen dürften allerdings in den
Fällen eher bei einer Vollstreckung in Deutschland als bei
einer Vollstreckung im Ausland gelingen, in denen sich
der Betroffene jahrelang in Deutschland aufgehalten hat
oder hier über enge familiäre Bindungen verfügt. Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung enthält in seinem § 3
eine ausgewogene Regelung für die unterschiedlichen
denkbaren Fallkonstellationen und Interessen. Die Rege-
lung trägt sowohl dem Sinn und Zweck des Zusatzproto-
kolls als auch dem Umstand Rechnung, dass eine gelun-
gene Resozialisierung für den Schutz der Bevölkerung
vor Kriminalität besonders wichtig ist.
Der Stellenwert der Entscheidung, ein deutsches Ersu-
chen um Vollstreckungshilfe an einen ausländischen Staat
zu stellen, und die Weite des dabei vorhandenen außenpo-
litischen Ermessens erfordern die gerichtliche Zulässig-
keitsentscheidung. Bei ausgehenden deutschen Ersuchen
um Übernahme der Strafvollstreckung kommt den tatsäch-
lichen Umständen des Strafvollzugs im ersuchten Staat be-
sondere Bedeutung zu. Bekanntlich ist teilweise auch bei
Mitgliedstaaten des Europarats die Durchführung des
Strafvollzugs im Einzelnen unter dem Gesichtspunkt der
Menschenrechte nicht unproblematisch. Mit seiner Zu-
stimmung zur Stellung eines Vollstreckungshilfeersuchens
erklärt ein Verurteilter regelmäßig auch, dass er der Auf-
fassung ist, dass durch den Vollzug im Ausland seine
Rechte nicht verletzt werden. Dies stellt international und
national ein Indiz dafür dar, dass im konkreten Einzelfall
bei einer Vollstreckung einer strafrechtlichen Sanktion im
Ausland keine Verletzung der Menschenrechte vorliegt.
Verzichtet man auf das Zustimmungserfordernis entfällt
diese Indizwirkung. Dies hat die Bundesregierung neben
formalen Gesichtspunkten bewogen, eine gerichtliche
Zulässigkeitsentscheidung für die Stellung eines deut-
schen Vollstreckungshilfeersuchens vorzusehen. Diese
Entscheidung entspricht den Grundsätzen des Gesetzes
über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen.
Der Vorschlag, nur die Möglichkeit einer Anfechtung
nach §§ 23 ff. EGGVG vorzusehen, widerspricht hinge-
gen den Grundsätzen des Gerichtsverfassungsgesetzes.
Die Entscheidung, ein Vollstreckungshilfeersuchen an ei-
nen ausländischen Staat zu stellen, ist kein Justizverwal-
tungsakt sondern eine Bewilligungsentscheidung im
Sinne der internationalen Rechtshilfe in strafrechtlichen
Angelegenheiten und damit eine Maßnahme der Pflege
der Beziehungen zu auswärtigen Staaten nach Art. 32
Abs. 1 des Grundgesetzes.
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Postgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 21)
Klaus Barthel (SPD): Zur weiteren Liberalisierung
des deutschen Postmarktes haben wir an dieser Stelle
schon des Öfteren diskutiert. Deshalb ist die heutige De-
batte für uns willkommener Anlass, die Postpolitik unse-
rer Koalition Revue passieren zu lassen und einen Aus-
blick auf die Zukunft zu geben. Auch im Postsektor haben
wir von der alten Regierung vor allem Probleme und of-
fene Fragen übernommen. Mit Müh und Not und nur mit
unserer Hilfe haben sie noch das Anfang 1998 in Kraft ge-
tretene Postgesetz über die Runden gebracht. Unser Er-
folg war es, gegen den Willen von Union und FDP fairere
Wettbewerbsbedingungen als zunächst gedacht, soziale
Standards und flächendeckende Dienste in diesem Gesetz
wenigstens zu verankern und zu ermöglichen. Gleich
nach dem Regierungswechsel, Ende 1998, ging es dann
weiter: Die Zusammenführung von Postbank und Post
AG beendete acht verlorene Jahre für den gemeinsamen
Vertrieb von Postbankprodukten und Postdienstleistun-
gen, acht Jahre, die vor allem für Kahlschlag im Filialnetz
stehen, und die Postbank in ihrer Existenz bedrohten.
Durch die Beendigung dieser Trennung haben wir beide
Unternehmen nachhaltig gestärkt, Tausende von Arbeits-
plätzen gesichert, und das Filialnetz wirtschaftlich renta-
bler gemacht.
1999 haben wir die Universaldienstleistungs-Verord-
nung durchgesetzt. Trotz anderslautender Ankündigun-
gen hatten Union und FDP das nicht mehr geschafft. Da-
mit waren Kundenrechte, Infrastrukturen und erneut
Tausende von Arbeitsplätzen gesichert. Überstanden wa-
ren damit mehr als ein Jahr rechtsfreier Raum und die Hal-
bierung der Zahl der Filialen in der Amtszeit der Unions
FDP-Koalition. 12 000 Filialen insgesamt sind seither
Mindestzahl, 5 000 davon in unternehmenseigener Form.
Schließlich haben wir die europapolitische Grundposi-
tion geändert: Wir wollen eine europaweit abgestimmte,
kontrollierte und schrittweise Liberalisierung der Post-
märkte; also Schluss mit der Marktöffnung mit Brech-
stange und Holzhammer, Schluss mit einer einseitigen
Liberalisierung in Deutschland, die nur zu Wettbewerbs-
verzerrungen geführt und andere Staaten dazu verleitet,
sich zurückzulehnen und nationale Monopole zu schüt-
zen. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr die Exklu-
sivlizenz der Deutschen Post bis 2007 verlängert, als ab-
sehbar war, dass es auf europäischer Ebene nicht zu einer
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totalen Marktöffnung zum 1. Januar 2003 kommt: Damit
haben wir wesentlich dazu beigetragen, dass eine neue eu-
ropäische Postdienstrichtlinie zustande kam, die unseren
Vorstellungen einer kontrollierten und schrittweisen Öff-
nung der Märkte entgegenkommt. Gleichzeitig haben wir
mit der Verlängerung der Exklusivlizenz für die DPAG
aber auch die Pflichten gegenüber den Kunden präzisiert
und teilweise erweitert. Dadurch entstehen derzeit bun-
desweit 328 neue Filialen in ländlichen Räumen, 200 da-
von in den neuen Bundesländern. Gleichzeitig haben wir
die Infrastrukturauflagen, die sonst ausgelaufen wären,
bis 2007 verlängert.
Dieses neue Paket von Rechten und Pflichten hat zwar
nicht die Zustimmung von Union und FDP in diesem Ho-
hen Hause gefunden, jedoch aus gutem Grund die Zu-
stimmung auch unionsregierter Länder im Bundesrat, bei-
spielsweise Bayerns und Thüringens. Eine ganze Reihe
Unionsabgeordneter sahen sich auch nicht gehindert, das
von ihnen hier bekämpfte Gesetz in ihren Wahlkreisen als
großen Erfolg zu verkaufen, wo auch immer der Bestand
und die Neueröffnung von Postfilialen zu feiern war.
Heute wollen offensichtlich manche nichts mehr davon
wissen: Infrastruktur hat ihren Preis. Die Zusatzkosten
werden durch Erträge aus der Exklusivlizenz mit abge-
deckt. Auch die Post AG ist kein Unternehmen, das im
Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. Deshalb
steht die SPD zu ihrem Kurs und zu dem Paket von Rech-
ten und Pflichten: Die Exklusivlizenz wird durch das
heute hier zu verabschiedende Dritte Gesetz zur Ände-
rung des Postgesetzes ab 1. Januar 2003 auf den Ge-
wichtsbereich bis 100 g, ab 1. Januar 2006 bis Ende 2007
auf den Gewichtsbereich bis 50 g reduziert. Das heißt,
schrittweise weitere Marktöffnung bei Aufrechterhaltung
des Universaldienstes.
Dass Union und FDP im Bundestag diesen Zusam-
menhang stets bekämpft und geleugnet haben, sind wir
gewohnt. Dass aber Landesregierungen wie Bayern und
Thüringen heute nichts mehr von ihrer Zustimmung zu
diesem Paket wissen wollen, riecht nach Wahlkampf. Will
der Kandidat jetzt auf die zusätzlichen 58 Filialen in Bay-
ern verzichten? Oder auf die 200 in den neuen Ländern?
Ist das seine neue Liebe zum Osten? Er verhält sich wie
ein Ladendieb: Die Ware mitnehmen, mit dem Geldbeu-
tel winken und sich jetzt ohne zu bezahlen in die Büsche
schlagen. Das nennt man dann Wirtschaftskompetenz!
Wir halten die Balance und setzen genau das um, was
wir in Europa vereinbart haben. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger. So gestalten wir wirtschaftliche Prozesse
im Zuge der Internationalisierung von Märkten. Wir flan-
kieren die Marktöffnung durch Schutz der Kunden und
Schutz der schwächeren Regionen, wir ermöglichen den
Aufbau sozialer Flankierung. Wir verhindern Wildwest
sowie Lohn- und Sozialdumping. Das ist das, was die
Menschen von uns in den unsicheren Zeiten zunehmen-
den Wettbewerbsdruckes erwarten: Sicherheit im Wandel,
Innovation und Gerechtigkeit.
Was kommt von der anderen Seite? Seit Jahren erzählt
uns die Union, Großbritannien werde demnächst den
ganzen Postmarkt öffnen. Zuletzt hieß es, Anfang 2002.
Jetzt sind wir schon – nach Verlautbarungen – bei Anfang
2003. In den Presseberichten ist jetzt nur noch von 30 Pro-
zent des Marktes die Rede, für den Rest erst 2007. Den-
noch lesen wir, es werde noch in diesem Jahr zu dras-
tischen Sparprogrammen und Massenentlassungen kom-
men. Mal sehen, ob das diesmal so stimmt. Das Schlimme
ist: Die Union feiert dies als ihr Modell. Das leichtfertige
Gerede von Totalliberalisierung begleitet von Massenent-
lassungen. Wieder ein Stück Wirtschaftskompetenz? Der
wirtschaftspolitische Sprecher der Union hat in dieser
Frage die Katze aus dem Sack gelassen. Er begründet die
Notwendigkeit der Liberalisierung mit den Streiks bei der
Post. Er befindet sich damit ganz auf FDP-Linie. Ein Zi-
tat dazu aus dem Tagesspiegel vom 7. Juni 2002 lautet:
„Gäbe es mehr private Anbieter, wäre das Risiko für die
Bürger nicht mehr so groß, und sie könnten im Falle eines
Streiks auf Konkurrenten ausweichen.“ Genauso hätten
Union und FDP es gerne: Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer rückhaltlos dem Wettbewerb ausgeliefert, belie-
big erpressbar und mit den heute üblichen Stundenlöhnen
von 7 Euro noch überbezahlt.
Was ich hier kritisiere, ist nicht, dass sich Union und
FDP täuschen, wenn sie glauben, Gewerkschaften
bräuchten Monopole. Das Schlimme ist die Vision, die da-
hintersteckt! Internationaler, von sozialen und tariflichen
Bindungen befreiter Wettbewerb soll die Menschen diszi-
plinieren. Gerhard Schröder hat recht, wenn er die Wahl
am 22. September 2002 als Richtungsentscheidung be-
zeichnet. Sollte der Bundesrat dem vorliegenden Gesetz
seine Zustimmung verweigern, dann werden wir den
Postkunden noch leichter klar machen können, was für sie
auf dem Spiel steht: Union und FDP legen die Axt an den
flächendeckenden und bezahlbaren Universaldienst. Wir
sichern ihn. Union und FDP wollen 16 Prozent Umsatz-
steuer auf Postdienste einführen und damit bei den Pri-
vatkunden abkassieren. Wir stehen zu den EU-konformen
Regelungen wie bisher. Union und FDP verunsichern mit
parteipolitischem Geplänkel Aktionäre und potenzielle
Anleger, in dem sie lügen und Halbwahrheiten über Un-
ternehmen im Wettbewerb verbreiten. Gleichzeitig for-
dern sie weitere Privatisierung von Bundesanteilen. Wer
soll sie denn kaufen? Wir haben die Voraussetzungen für
den Rückzug des Bundes als Hauptaktionär geschaffen
und setzen ihn mit Augenmaß um. Union und FDP argu-
mentieren mit Horrormeldungen über 30 000 angeblich
gefährdete Arbeitsplätze.
Betrachten wir die Realität: Obwohl die Regulierungs-
behörde für Telekommunikation und Post – anders als im
Postgesetz angelegt – nicht Arbeitsbedingungen prüft,
sondern nur sehr oberflächlich Arbeitsverhältnisse, wird
aus ihrem jüngsten Tätigkeitsbericht eines klar erkennbar:
Es handelt sich bei den neu entstandenen Jobs zum großen
Teil eben nicht um solche, die das entscheidende Krite-
rium eines Arbeitsplatzes erfüllen, nämlich die men-
schenwürdige und angemessene Existenz des arbeitenden
Menschen zu sichern. Mehr als die Hälfte der rund 20 000
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den Wettbe-
werbern der DPAG im lizenzpflichtigen Bereich, nämlich
gut 11 000, sind geringfügig Beschäftigte. Dass die Op-
position von Union und FDP unter Bezugnahme auf den
Tätigkeitsbericht der RegTP selbstzufrieden meint, mel-
den zu können, 99 Prozent der Beschäftigten bei den Li-
zenznehmern seien sozialversicherungspflichtig beschäf-
tigt, ist gerade nicht einer beruhigenden Entwicklung im
Postmarkt zu verdanken, sondern ausschließlich der viel-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24411
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gescholtenen 630-Mark bzw. 325-Euro-Regelung der rot-
grünen Bundesregierung. Wir sollten nicht vergessen,
dass es dieselben Oppositionsparteien sind, die eben diese
Regelung erbittert bekämpft haben. Sie haben es sich auf
die Wahlkampffahnen geschrieben, sie umgehend wieder
abzuschaffen, sollte der Wähler ihnen die Chance dazu
geben. Ich will es uns allen ersparen, sich auszumalen,
was dies gleichzeitig mit der sofortigen Totalliberalisie-
rung auf dem Postmarkt bedeuten würde.
Halten wir also fest: Nur ein gutes Fünftel, rund 4 500
der Arbeitsplätze bei den neuen Lizenznehmern, sind
annähernd so etwas wie Normalarbeitsverhältnisse. Wir
freuen uns über jeden zusätzlichen Arbeitsplatz. Keiner
davon wird durch uns gefährdet, weil wir das Marktseg-
ment für die Wettbewerber eben nicht verkleinern, son-
dern berechenbar erweitern. Auch das Argument, wenn
der Markt geöffnet werde, würden sich die Arbeitsbedin-
gungen bei den Wettbewerbern automatisch verbessern,
macht mit Blick auf die Zustände im KEP-Markt, der sich
bekanntlich voll im Wettbewerb befindet, wenig Hoff-
nung. Unsere Beobachtungen belegen vielmehr die Not-
wendigkeit zusätzlicher Anstrengungen zur Gewährleis-
tung sozialer Standards im internationalen Maßstab.
Wie gesagt, wir wollen sie durchsetzen. Wir tun das
auch im Interesse der Zukunft einer ganzen Branche. Ru-
fen wir uns diesen lebendigen und vielschichtigen Post-
markt noch einmal kurz ins Bewusstsein.
Auch ohne die angrenzenden Bereiche werden hier
derzeit jährlich circa 22 Milliarden Euro umgesetzt. Die-
ser Gesamtpostmarkt darf nicht – wie gerade jetzt wieder
in der aktuellen Diskussion über das Postmonopol –
gleichgesetzt werden mit dem weniger als halb so großen
lizenzpflichtigen Bereich mit seinen rund 11 Milliarden
Euro Umsatz, über den die Regulierungsbehörde für Te-
lekommunikation und Post zu wachen hat. Der Gesamt-
markt steht zu zwei Dritteln seiner Umsätze im Wettbe-
werb. Selbst der lizenzpflichtige Bereich besitzt mit
einem Volumen von circa 3 Milliarden Euro ein großes
Wettbewerbssegment und weist mit über 1 000 Lizenz-
nehmern auf zunehmende Wettbewerbsintensität hin.
Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich der Marktanteil
der neuen Wettbewerber ebenso wie deren Umsatz seit
1998 in etwa verdreifacht hat. Allein von 2000 auf 2001
hat sich deren Marktanteil und Umsatz um knapp 40 Pro-
zent erhöht. Wir verschweigen nicht die 97 Prozent Markt-
anteil der Post AG in diesem Segment, aber weisen auf die
Tendenz hin.
Trotz der marktbeherrschenden Stellung der DPAG, die
auch durch die Exklusivlizenz in einem Umfang von rund
8 Milliarden Euro bedingt ist, kann also von einer poli-
tisch induzierten Remonopolisierung nicht die Rede sein.
Daher ist es ziemlich grotesk, wenn jetzt immer wieder
behauptet wird, die Verlängerung der Exklusivlizenz ge-
fährde oder vernichte gar die Existenz der zarten Wettbe-
werbspflänzchen. Ich frage: Wer nicht einmal den Atem
hat, unter unveränderten Bedingungen weiter arbeiten zu
können – also in den gar nicht so unkomfortablen Nischen
der Exklusivlizenz – gerade der sollte eine völlige Markt-
öffnung mit ganz anderen, wesentlich brutaleren Wettbe-
werbsbedingungen überstehen?
Dennoch: Unter richtig gesetzten Bedingungen geben
die Perspektiven des Postmarktes insgesamt zur Zuver-
sicht Anlass. Angesichts von Telefon, Fax, E-Mail, Inter-
net und was auch immer: schon mehrfach totgesagt, leben
die Postdienste immer noch, und das nicht so schlecht.
Auch der E-Commerce, von vielen als der nächste Sarg-
nagel des Postsektors gesehen, ist eher eine Chance. Die
Internet-Fans mit dem verengten Blick auf Kabel und PC
haben übersehen: mit dem Home-Shopping am Bild-
schirm, mit dem Datentransfer zwischen Betrieben und der
Online-Bestellung von der Couch aus ist es nicht getan: Ir-
gendwie muss das Produkt ja doch vom Verkäufer zum
Käufer kommen. Also braucht man Pakete, Rechnungen,
manchmal Mahnungen, weitere Werbesendungen usw.
Die Mahner-Romberg-Unternehmensberatung rechnet
für das Jahr 2005 analog zu den Wachstumserwartungen
des Marktforschungsinstituts Forrester Research für den
elektronischen Handel mit zusätzlichen 819 Millionen
Sendungen durch E-Commerce. Daraus ergäbe sich für
denselben Zeitraum für die KEP-Branche in Deutschland
ein Umsatzwachstum von 36,8 Prozent auf 13,5 Milliar-
den Euro.
Im Zuge des Wandels der Postdienstleister zu Logistik-
anbietern gewinnen Mehrwertdienste, deren Volumen
derzeit auf EU-weit 70 Milliarden Euro geschätzt wird,
weiter an Bedeutung. Dies gilt sowohl für den vorgela-
gerten Bereich mit Adressieren, Kuvertieren, Kommissio-
nieren als auch für den nachgelagerten mit Inhouse-Post,
Inkasso und Finanzierung .
Große Chancen bieten sich den Logistikanbietern,
wenn sie den Kunden Qualität anbieten können: Zuver-
lässigkeit, Schnelligkeit, Internationalität – und das nicht
nur für ein paar Großkunden, sondern auch im Massenge-
schäft und flächendeckend. Dies verweist übrigens noch
einmal darauf, dass die Unternehmen schon allein aus
Qualitätsgründen kein Interesse daran haben können, ihre
Branche in die Nähe eines Niedriglohnsektors rutschen zu
lassen.
Wir sind uns darüber im klaren, dass dafür auch die
politisch gesetzten Rahmenbedingungen stimmen müs-
sen. Diese wiederum haben sich an den gesellschaftlich
erwünschten Zielen zu orientieren: Qualität der Dienstleis-
tungen, flächendeckendes und erschwingliches Angebot
für alle, Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen,
nachhaltiges Wachstum.
Wir schaffen diese Rahmenbedingungen anstatt stän-
dig alles schlecht zu reden.
Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Mit Sorge be-
trachten wir die Umkehrung des von der früheren Bun-
desregierung eingeschlagenen Liberalisierungskurses bei
den Postdiensten. Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung
des Postgesetztes wurde der Endtermin für die vollstän-
dige Liberalisierung der Postdienste von 2002 auf 2007
mit der Begründung verschoben, dass der europäische
Gleichklang eine frühere Liberalisierung nicht erlaube.
Nachdem zwischenzeitlich durch die zweite europäische
Postrichtlinie weitere Liberalisierungsschritte zwingend
festgelegt wurden, hat die Bundesregierung den Entwurf
des Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes vor-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224412
(C)
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(B)
gelegt. Dieser Entwurf setzt nur die Mindestforderungen
der europäischen Richtlinie um, ohne von der darin vor-
gesehenen Möglichkeit einer weiter gehenden Liberali-
sierung Gebrauch zu machen. Das Gesetz verstößt gegen
die elementaren wirtschaftlichen Interessen der Nutzer
und Betreiber von Postdiensten. Nach unserer Auffassung
ist es daher besser, das Gesetz insgesamt abzulehnen, als
es in der vorgesehenen Form zu verabschieden. Dies er-
gibt sich aus den folgenden Gründen:
Erstens. Die Herabsetzung der Gewichtsgrenze für mo-
nopolisierte Briefsendungen von 200 g auf 100 g stellt
eine Scheinliberalisierung dar; durch sie erhalten die mit-
telständischen Wettbewerber keinen ausreichenden Spiel-
raum für eine wirtschaftliche Betätigung im Briefmarkt.
Zweitens. Der Gesetzentwurf beinhaltet ein Monopol
für die Katalogbeförderung. Nach der Europäischen Post-
richtlinie 67/97 zählen Kataloge jedoch nicht zum reser-
vierbaren Bereich.
Drittens. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Preis-
grenze führt in Verbindung mit dem vorgesehenen Price-
Cap-Verfahren dazu, dass alle Briefe bis zum dreifachen
Wert des – von der Post selbst festgesetzten – Portos im
Monopolbereich verbleiben. Damit hat die Post die Be-
stimmung ihres Monopols selbst in der Hand.
Viertens. Bereits nach den geltenden Bestimmungen
des § 28 Postgesetz ist vorgesehen, dass Wettbewerber
Postsendungen an geeigneten Stellen in das Netz der Deut-
schen Post AG gegen angemessene Vergütung einliefern
können. Allerdings werden die geltenden Lizenzbestim-
mungen derzeit so ausgelegt, dass diese die Einlieferung
von Briefen durch Wettbewerber nicht ermöglichen. Im In-
teresse einer Klarstellung ist es daher von großer Bedeu-
tung, die entsprechende Lizenzbestimmung in § 51 Abs. 2
Satz 2 Ziff. 5 des Postgesetzes dahin gehend klarzustellen,
dass Wettbewerber eine Lizenz für die Abholung von Brie-
fen und deren Einlieferung an geeigneten Punkten im Netz
der Deutschen Post AG auch im eigenen Namen erhalten
können. Nach Erfahrungen in anderen Ländern der EU
und den Vereinigten Staaten ermöglicht der Netzzugang
für Wettbewerber eine erhebliche Ausweitung des Dienst-
leistungsspektrums der Postdienste. Der Netzzugang führt
damit zu einem erhöhten Kundennutzen und zur Schaf-
fung neuer Arbeitsplätze. Wir sehen daher in diesem Punkt
ein großes Potenzial für Fortschritte auf dem Postmarkt
und für eine mittelstandsfreundliche Postpolitik; vor allem
aber für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere
für Langzeitarbeitslose.
Bereits der Gesetzgeber des Postgesetzes von 1997 hat
vorausgesehen, dass die Inanspruchnahme von Teilleis-
tungen eine Vielzahl neuer Jobs im Mittelstand schaffen
kann – ohne dass die Post Schaden dadurch erleidet; denn
die Post hat Anspruch auf kostendeckende Vergütung plus
Gewinnzuschlag.
Die derzeitige Praxis, die es lediglich Großversendern
ermöglicht, Teilleistungen in Anspruch zu nehmen, dis-
kriminiert nicht nur die Wettbewerber, sondern auch alle
übrigen Kunden, die nicht über ausreichende Postvolu-
men verfügen, um sich für Teilleistungen zu qualifizieren.
Solche Kunden, die weniger als 20 000 Briefe am Tag
versenden, müssen das volle Porto bezahlen und werden
dadurch im Wettbewerb mit größeren Postkunden be-
nachteiligt. Abhilfe ist nur dadurch möglich, dass den
kleineren Kunden die Möglichkeit gegeben wird, sich der
Hilfe eines Konsolidators zu bedienen, der die Sendungen
bündelt, sortiert und zum Briefzentrum befördert.
Nicht umsonst werden Sie für diesen Gesetzentwurf
von allen Seiten kritisiert. Ich möchte Ihnen ein paar Sätze
aus der Pressemeldung des DIHK vorlesen. Ich zitiere:
Die Senkung der Gewichtsgrenze beim Briefdienst
von 200 g auf 100 g wird den verkrusteten Markt
nicht aufbrechen. Dies erklärt der Deutsche Indus-
trie- und Handelskammertag, DIHK, vor der mor-
gigen Kabinettsitzung, auf der dieser Schritt be-
schlossen werden soll. Wenn der Bundesregierung
tatsächlich, wie sie selbst dabei sagt, an den Ver-
braucherinteressen und einer Preissenkung gelegen
sei, müsse sie stattdessen die Exklusivlizenz für den
Briefdienst umgehend kippen.
Bei einem Marktanteil von derzeit 93,5 Prozent wür-
den gerade einmal sechs Prozent für Wettbewerber geöff-
net. Die privaten Postdienstleister, unter denen bereits
eine Flurbereinigung eingesetzt habe, blieben somit wei-
terhin chancenlos.
Also: Sie tun gerade das, was Sie tun müssen. Auf diese
Regierung passt das Zitat vom „Hund, der zum Jagen ge-
tragen werden muss“. Mit dieser Haltung mögen Sie zwar
weiterhin den Versuch der Börsenkurspflege für die Post
AG fortsetzen, aber es liegt doch auf der Hand, dass Sie
genau das Gegenteil erreichen.
In dem von der Regulierungsbehörde für Telekommu-
nikation und Post veröffentlichten aktuellen Bericht zur
Markteinführung im postalischen Bereich wird hinläng-
lich und erschöpfend die derzeitige Marktsituation be-
schrieben. Besonders hinzuweisen ist auf folgende Ent-
wicklungen:
Derzeit sind immer noch circa 400 Anfechtungsklagen
gegen Anbieter höherwertiger Dienstleistungen beim Ver-
waltungsgericht Köln anhängig. Zwar ist die derzeitige
Tätigkeit privater Briefdienste durch den Gang in die
Berufung zum Oberverwaltungsgericht Münster abge-
sichert, jedoch birgt die grundsätzliche rechtliche Un-
sicherheit aufgrund der Verfahren eine hohe Hemm-
schwelle für Wettbewerber und Banken, finanzielle
Risiken für den weiteren Geschäftsausbau einzugehen.
Die Anzahl der Insolvenzen ist in den letzten Monaten
bedrohlich angestiegen. Aufgrund der Verlängerung der
Exklusivlizenz zugunsten der Deutschen Post und der un-
sicheren Rechtslage ist die Zahl der Marktaustritte im
Jahre 2001 so hoch, wie in den vorhergehenden zwei Jah-
ren zusammen und in diesem Jahr setzt sich der Prozess
beschleunigt fort. Die Situation ist insbesondere deshalb
bedrohlich, da wertvolle Unternehmensgründungen im
Kleingewerbe und mittelständischen Bereich und die da-
mit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen abnehmen.
Mit der Abnahme der Anbieter im Postmarkt ist der
grundgesetzliche Auftrag einer Postversorgung im Wett-
bewerb mehr als gefährdet. Es muss immer wieder gesagt
werden, dass der Verbraucher den Schaden hat. Aber das
wissen wir aus vier Jahren Postpolitik dieser Regierung
bzw. der rotgrünen Regierungskoalition hinlänglich.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24413
(C)
(D)
(A)
(B)
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat am
31. Mai 2002 im Bundesrat ebenso wenig eine Mehrheit
gefunden wie am 12. Juni 2002 im Unterausschuss für Te-
lekommunikation und Post. Auf die fünf Punkte, die der
Bundesrat zur Verbesserung des Gesetzes eingebracht und
zur Voraussetzung seiner Zustimmung gemacht hat, hat
die Bundesregierung in Ihrer Gegenäußerung fünfmal mit
Ablehnung geantwortet. Die CDU/CSU-Fraktion hat
diese Punkte, die ich hier nochmals aufzähle, im Unter-
ausschuss ebenfalls zur Abstimmung eingebracht. Es wa-
ren folgende Vorschläge von uns:
Erstens. Auslaufen der Exklusivlizenz zum 31. De-
zember 2004.
Zweitens. Absenken der Gewichts- und Preisgrenze:
50 g bzw. das Zweieinhalbfache des Standardpreises.
Drittens. Freigabe der Infopost.
Viertens. Freigabe der Kataloge.
Fünftens. Grundsätzliche Anwendung der Ex-ante-
Preisregulierung auch bei größeren Einlieferungsmengen,
das heißt, Wegfall von Satz 2 in § 19.
Des Weiteren sollten erste Schritte zur Öffnung des
Netzes möglich sein, zum Beispiel das Einsammeln der
Post.
Auch hier hat Rot-Grün blockiert.
Wer sich so wie diese Regierung dem Wettbewerb ver-
weigert, wer so gleichgültig mit dem Mittelstand und mit
dem Verbraucher umgeht, ist nicht zukunftsfähig. Des-
halb stimmen wir, wie die Mehrheit der Bundesländer, ge-
gen das „Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes“ in
der vorgelegten Form und erwarten in einem Vermitt-
lungsverfahren, dass die Regierung endlich verantwor-
tungsvoll in ein konstruktives Gespräch zur Verbesserung
der Verbrauchersituation im Postbereich einlenkt.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bündnis 90/Die Grünen treten für eine klare, wettbe-
werbsorientierte Politik ein. Wir halten die schrittweise
und kontrollierte Öffnung der europäischen Postmärkte
für dringend erforderlich. Auch im Postsektor bedarf es
gleicher Wettbewerbschancen für alle Unternehmen in al-
len Ländern des Binnenmarktes.
Mit der Novelle des Postgesetzes setzt die Koalition
die europäischen Vorgaben zu einer stufenweisen Libera-
lisierung des Marktes für Postdienste um. Das Monopol
der Deutschen Post AG zur Briefzustellung wird ab 1. Ja-
nuar 2003 nur noch für Briefe bis zu einem Gewicht von
100 Gramm gelten. Bisher galt eine Grenze von
200 Gramm. Ab 1. Januar 2006 wird diese Grenze dann
auf 50 Gramm gesenkt.
Von 2003 an sind nur noch Briefe und adressierte Ka-
taloge mit einem Einzelgewicht bis 100 Gramm der Deut-
schen Post vorbehalten, deren Einzelpreis weniger als
1,68 Euro beträgt.
Wir begrüßen, dass es klare Vereinbarungen gibt, die
einen einheitlichen Liberalisierungsrahmen in der Euro-
päischen Union vorgeben. Die Reform geht in die richtige
Richtung. Allerdings geht sie uns nicht weit genug. Wir
halten das Monopol der Deutschen Post AG bei der Brief-
beförderung für überflüssig. Wettbewerb in Deutschland
würde die Deutsche Post AG besser auf den globalen
Wettbewerb vorbereiten als Monopolstrukturen.
Der Bundesrat fordert die Beendigung der Exklusiv-
lizenz bei der Briefbeförderung bis 2004 und macht dies
zur Voraussetzung zur Zustimmung zu dem Gesetzent-
wurf. Wir sind sehr daran interessiert, im Rahmen eines
Vermittlungsverfahrens zu einer Einigung mit dem Bun-
desrat zu kommen. Eine frühere Abschaffung des Post-
monopols wäre für Innovation und Arbeitsplätze auf dem
deutschen Postmarkt sinnvoll.
Bis Ende 2002 muss die EU-Richtlinie umgesetzt wer-
den. Wir sollten in Europa Vorreiter bei der Einführung
von Wettbewerb sein und weitergehende Schritte machen
als die von der EU vorgegebenen. Damit würden wir dafür
sorgen, dass die Deutsche Post AG sich modernisiert und
sich fit für den Wettbewerb macht. Sie würde einen Wett-
bewerbsvorteil gegenüber jenen Untenehmen erringen,
die in Europa zu spät in den Wettbewerb einsteigen.
Gerade bei der Umgestaltung früher in staatlichen Mo-
nopolen betriebener Infrastrukturen ist eine engagierte
Wettbewerbspolitik gefragt. Bündnis 90/Die Grünen ha-
ben die Umwandlung ehemaliger Monopolmärkte wie
zum Beispiel Telekommunikation, Strom und Gas, Post
und öffentlicher Personalverkehr immer aktiv unterstützt.
Wettbewerb ist innovativer und effizienter als Monopole
und nützt damit der Industrie und dem Verbraucher.
Manche meinen allerdings, sie müssten den früheren
staatlichen Monopolunternehmen weiterhin Vorteile auf
dem Heimatmarkt sichern, damit deutsche Global Player
geschaffen werden. Die von Deutschland aus agierenden
Konzerne sollen weltweit Unternehmen kaufen. Wert-
schöpfung in Deutschland soll durch die Nachfrage der
Konzernzentralen nach hochwertigen Dienstleistungen
wie Forschung, Werbung und Rechtsberatung gesichert
werden. Für die globale Wirtschaft kann man sich so nicht
fit machen. Gerade multinationale Konzerne vergleichen
die Qualität der einzelnen Standorte sehr genau – und ver-
lagern sie jeweils dorthin, wo sie am effizientesten pro-
duzieren können. Die Aktionärsstruktur der Konzerne in-
ternationalisiert sich ebenfalls. Nationale Rücksichten
spielen da keine Rolle mehr.
Zudem sind die Kosten dieser Strategie hoch, wenn
Monopole durch politische Maßnahmen verfestigt und
damit Hindernisse beim Marktzugang für kleine und mitt-
lere Unternehmen errichtet werden. Das verringert die
Chancen innovativer Unternehmen. Die Wettbewerbs-
fähigkeit wird verringert, ineffiziente Strukturen verfesti-
gen sich – auch in den Großunternehmen –, Arbeitsplätze
gehen verloren.
Natürlich spielen auch Großunternehmen für jede
Volkswirtschaft eine wichtige Rolle. Es ist gut für die
deutsche Wirtschaft, wenn möglichst viele Unternehmen
hier ihren Sitz haben. Aber: es macht wirtschaftspolitisch
eben keinen Sinn, wenn dadurch innovativen Wettbewer-
bern der Marktzugang verweigert wird. Durch weniger
Wettbewerb werden auch die Großunternehmen träge!
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224414
(C)
(D)
(A)
(B)
Rainer Funke (FDP): Die FDP-Fraktion stimmt ge-
gen das Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes, ob-
wohl zweifellos eine gewisse Liberalisierung des Post-
marktes hiermit verbunden ist. Wir wollen nämlich mehr
Liberalisierung. Wir wollen ein Ende des Postmonopols
jetzt oder zumindest noch im Jahre 2003. Die Bundesre-
gierung ist mit der Liberalisierung des Postmarktes nicht
nur nicht vorangekommen, sondern hat sie sogar behin-
dert. Das liegt einfach daran, dass weder der Bundes-
kanzler noch der Bundeswirtschaftsminister von Markt-
wirtschaft und Wettbewerb etwas verstehen. Von Leuten,
die in den Kategorien von Versorgungsmonopolen und
nationaler Versorgungssicherheit denken, ist auch nichts
anderes zu erwarten. Sie werden unterstützt vom Bundes-
finanzminister im Glauben, dass dadurch der Wert der
Postaktie steigen werde. Tatsächlich ist die Postaktie nur
noch zwei Drittel ihres Ausgabepreises wert. Tatsächlich
zahlt der private Postkunde in Deutschland Spitzenpreise
für durchschnittliche Leistungen.
Nur Unternehmen, die sich im Wettbewerb behaupten,
werden von den Anlegern für voll genommen. So braucht
man kein Prophet zu sein, wenn man sagt, dass der Kurs
der Post AG sich nicht nach oben entwickeln wird, so-
lange nur scheibchenweise Liberalisierung am Postmarkt
umgesetzt wird.
Das Dritte Änderungsgesetz kommt im Übrigen nicht
aus freien Stücken, sondern ist lediglich eine Minimal-
umsetzung der EU-Richtlinie. Das hat nichts mit verbrau-
cherfreundlicher Politik zu tun. Schon heute wäre eine
10- bis 15-prozentige Absenkung der Postgebühren mög-
lich, wenn die Post uneingeschränkt im Wettbewerb ste-
hen würde. Der Verbraucher wäre dann nicht mehr ab-
hängig von den Leistungen der Post AG und deren
Bediensteten und könnte im Wettbewerb den Anbieter
wählen. Dann wäre auch das Erpressungspotenzial der
Gewerkschaften geringer.
Der Bundesrat hat mit seinen Änderungsanträgen der
Bundesregierung im Ansatz den richtigen Weg gewiesen.
Die Bundesregierung hat sich über diese Empfehlung des
Bundesrates hinweg gesetzt, die im Übrigen der FDPauch
nicht weit genug gehen. Wir werden nach dem 22. Sep-
tember 2002 einen Radikalschnitt durchsetzen, nämlich
die Aufhebung des Postmonopols noch im Jahre 2003.
Man fragt sich im Übrigen: Wo bleibt der Protest der
Verbraucherministerin gegen dieses Gesetz? Denn im In-
teresse des Verbrauchers ist dieses Gesetz nicht, schreibt
es doch die überhöhten Gebühren de facto fest. Aber viel-
leicht will sich die Verbraucherministerin mit den mäch-
tigen Gewerkschaften vor der Wahl nicht anlegen. Al-
berne Teuro-Gipfel können konkrete Verbraucherpolitik
aber nicht ersetzen. Mit dieser kleinlauten Politik der Ver-
braucherministerin muss Schluss sein – spätestens am
22. September.
Gerhard Jüttemann (PDS): Der Bundesverband
Deutscher Postdienstleister hat uns und sicher auch den
anderen Fraktionen vor einigen Tagen seine Wahlprüf-
steine geschickt. Eine Frage lautet, ich zitiere:
Der Universaldienstleister ist zu einer flächen-
deckenden Postinfrastruktur verpflichtet. Wenn die
Exklusivlizenz wegfallen sollte, wie kann nach Mei-
nung Ihrer Partei dann der Universaldienstleister
trotz dieser Verpflichtung in Europa wettbewerbs-
fähig bleiben?
Ich gebe zu, die PDS hätte die Frage ein wenig anders
gestellt. Wir hätten gefragt, wie nach Ende der Exklusiv-
lizenz eigentlich der Universaldienst wenigstens im bis-
herigen Umfang aufrechterhalten werden soll. Die Ant-
wort auf beide Fragen ist aber die gleiche. Es wird nach
Ende der Exklusivlizenz zu einer weiteren spürbaren Aus-
dünnung des Universaldienstes kommen. Weiter hat uns
der BdVP gefragt, welche Maßnahmen unsere Partei vor-
sieht, damit im Post- und Logistiksektor neue hochwer-
tige und sozial abgesicherte Arbeitsplätze geschaffen wer-
den. Die klare Antwort darauf lautet, dass endlich jener
Teil des Postgesetzes durchgesetzt werden muss, in dem
festgelegt ist, dass Lizenznehmer die im lizenzierten Be-
reich üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen nicht er-
heblich unterschreiten dürfen. Denn das tun sie zurzeit in
zwei Drittel aller Fälle. 22 000 von 31 000 neu geschaffen
Stellen bei den Wettbewerbern der Post sind geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse.
Zusammengefasst heißt das: Was das Postgesetz uns
bisher gebracht hat, ist eine dramatischer Abbau sozialer
Standards bei den Beschäftigungsverhältnissen und eine
gewaltige Einschränkung des Universaldienstes. Und die
Tendenz weist in beiden Fällen weiter nach unten. Beides
widerspricht zwar den Interessen der Gesellschaft, liegt
aber durchaus in der Logik des Postgesetzes. Dessen hei-
ligster Zweck ist ausdrücklich nicht die Bewahrung so-
zialer Standards für Beschäftigte und Kunden, sondern
die Förderung des Wettbewerbs. Dies ist der Grund- und
Geburtsfehler dieses Gesetzes. Allerdings ist er von der
Mehrheit dieses Hauses bewusst gemacht worden, um
künftig auch im Postbereich die Gewinne zu privatisieren
und die Verluste zu sozialisieren.
Die deutsche Post AG ist unter den Bedingungen der
Konkurrenz und der freien Kapitalverwertung führend
an diesem Abbau beteiligt. Sie hat 150 000 Arbeitsplätze
vernichtet. Ihren neu eingestellten Mitarbeitern mutet
sie im Vergleich zu den Alteingesessenen Einkommens-
verluste bis nahezu 30 Prozent zu. Bei vielen Posttöch-
tern sind die Arbeitsbedingungen nicht besser als bei den
Wettbewerbern. Die heute auf der Tagesordnung ste-
hende dritte Postgesetzänderung steht nahtlos in dieser
Negativentwicklung und wird diese gleichzeitig erheb-
lich beschleunigen. Selbst die Europäische Kommission
geht davon aus, dass der Rückgang der Gesamtbeschäf-
tigung im Postsektor bis 2007 anhalten wird, was daraus
resultiere, dass der Stellenabbau durch Effizienzsteige-
rungen größer sei als das durch Marktwachstum be-
wirkte Plus.
In einer von der Kommission in Auftrag gegebenen Be-
schäftigungsstudie werden auch dauerhaft schlechtere Be-
schäftigungsbedingungen bei den entstehenden privaten
Postunternehmen prognostiziert. Dort sei die Beschäfti-
gung tendenziell weniger dauerhaft als bei öffentlichen
Betreibern. Die Arbeitszeiten seien länger, die Grundlöhne
geringer. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad sei er-
heblich geringer. Parallel dazu und bedingt durch die Kon-
kurrenz sei bei den öffentlichen Betreibern die Tendenz zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24415
(C)
(D)
(A)
(B)
verstärktem Einsatz von Teilzeitbeschäftigten und Aus-
hilfskräften zu beobachten. Es fragt sich allerdings, wozu
die Kommission solche Studien in Auftrag gibt, wenn sie
nicht die geringsten Schlussfolgerungen aus den Ergebnis-
sen zu ziehen bereit ist. Die PDS-Fraktion zieht diese
Schlüsse. Wir lehnen die Postgesetzänderung ab.
Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologien: Das Euro-
päische Parlament und der Europäische Rat haben im Lauf
der letzten Monate Änderungen zur Postdiensterichtlinie
einvernehmlich beschlossen. Diese neuen Regelungen
müssen die Mitgliedstaaten bis Ende dieses Jahres in na-
tionales Recht umgesetzt haben. Die Bundesregierung be-
absichtigt deshalb, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
die neue Postdiensterichtlinie in deutsches Recht umzu-
setzen.
Grundsätze der Postpolitik der Bundesregierung. Die
Bundesregierung verfolgt in der Postpolitik den Grund-
ansatz, die deutschen Postmärkte in denselben Schritten
und in derselben Geschwindigkeit wie die anderen euro-
päischen Postmärkte zu öffnen. Dadurch erreichen wir
zweierlei:
Erstens. Es werden Märkte geöffnet, die nicht nur
80 Millionen Nachfrager umfassen, sondern 370 Millionen.
Zweitens. Wir schaffen Chancengleichheit für die An-
bieter von Postdienstleistungen innerhalb der EU.
Die Bundesregierung lehnt einen deutschen Allein-
gang in der Postpolitik ab. Wir wollen keine auseinander
driftende Entwicklung innerhalb der Europäischen
Union. Wir haben auch weiterhin die Absicht, unsere
Partner innerhalb der Europäischen Union auf dem Weg
der schrittweisen Öffnung der Postmärkte mitzuziehen.
Konsequenterweise setzt sich die Bundesregierung auf
der europäischen Ebene für nachhaltige Schritte in der
Marktöffnung bei gleichzeitiger Wahrung der infrastruk-
turellen und sozialen Belange ein. Deutschland hat in die-
sem Prozess, unterstützt von anderen Mitgliedstaaten,
eine Lokomotivfunktion inne. Es kann klar festgestellt
werden: Ohne das deutliche Eintreten der Bundesregie-
rung für Fortschritte in der europäischen Postpolitik hätte
das deutsche Parlament kaum etwas in nationales Recht
umzusetzen.
Zur Postdiensterichtlinie. Zu Beginn der politischen
Diskussion auf europäischer Ebene bestanden große Ge-
gensätze einerseits zwischen den Mitgliedstaaten und an-
dererseits mit dem Europäischen Parlament. Trotzdem
konnte schließlich ein Kompromiss gefunden werden,
dem nahezu alle politisch Verantwortlichen zugestimmt
haben.
Er sieht im Wesentlichen vor, dass zu Beginn des
nächsten Jahres die Monopolgrenze für Briefe von der-
zeit 350 Gramm in der alten europäischen Richtlinie auf
100 Gramm abgesenkt wird und in einem weiteren Schritt
zu Beginn des Jahres 2006 auf 50 Gramm. Danach wird
die Europäische Kommission dem Parlament und dem
Rat einen Erfahrungsbericht vorlegen, auf dessen Grund-
lage über eine vollständige Marktöffnung für 2009 ent-
schieden wird.
Dynamik in der EU. Das Erreichte hat dazu geführt,
dass in jüngster Zeit Bewegung in ehemals verfestigte Po-
sitionen geraten ist: Überall in Europa wird über Reformen
im Postbereich nachgedacht. Im Stadium der konkreten
Planungen zur Privatisierung der staatlichen Postverwal-
tungen oder zur Öffnung der Märkte befinden sich insbe-
sondere Norwegen, Dänemark, Italien und Griechenland.
Die nationalen Regierungen und die staatlichen Postunter-
nehmen sind sich des klaren und unmissverständlichen
Willens des europäischen Gesetzgebers bewusst, die euro-
päischen Postmärkte zu öffnen. Darin liegt der Kern des
Erfolgs unserer Bemühungen in Brüssel!
Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die Bundesregie-
rung beabsichtigt, den eingeschlagenen Weg weiter zu ver-
folgen. Deshalb werden wir aus der europäischen Linie
nicht ausscheren. Die Zeit rein nationaler Märkte gehört
auch im Postsektor immer mehr der Vergangenheit an.
Die wirtschaftliche Verflechtung innerhalb Europas
nimmt auch hier zu. Wir sollten dem Rechnung tragen, in-
dem wir nicht – isoliert von der Entwicklung um uns
herum – nach ordnungspolitischen Ansätzen suchen, son-
dern diese einbinden in die europäisch gefundenen Kon-
zeptionen.
Die Bundesregierung hat deshalb einen Gesetzentwurf
vorgelegt, mit dem sie die Regelungen der Postdienste-
richtlinie unverändert in deutsches Recht umzusetzen be-
absichtigt. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum Ge-
setzentwurf der Bundesregierung.
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche
und der Bekämpfung der Finanzierung des Ter-
rorismus (Geldwäschebekämpfungsgesetz) (Zu-
satztagesordnungspunkt 10)
Hans-Peter Kemper (SPD): Der heute zur Verab-
schiedung anstehende Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zur Verbesserung der Geldwäschebekämpfung ist ein
weiterer richtiger Schritt zur Bekämpfung der organisier-
ten Kriminalität und des internationalen Terrorismus. Er ist
ein Schritt zur Erhöhung der inneren Sicherheit und zur
Festigung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung. Inter-
nationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität sind
– und das haben gerade die Anschläge vom 11. September
2001 in den USA und der später folgende Anschlag auf
Djerba deutlich gemacht –, geeignet, in hohem Maße Un-
ruhe in der Bevölkerung auszulösen, einhergehend mit ei-
ner empfindlichen, Störung des Sicherheitsgefühls.
Gerade Sozialdemokraten haben immer wieder deut-
lich gemacht, dass es ihnen ein ernsthaftes Anliegen ist,
die innere Sicherheit zu verbessern und damit den Men-
schen ein Leben in Sicherheit zu gewährleisten. Ein
Leben in Sicherheit, ein Leben ohne Angst, ist ein Stück
Lebensqualität. Verunsicherte, verängstigte Menschen
trauen sich beispielsweise nicht, zu bestimmten Tageszei-
ten die Wohnung zu verlassen, meiden bestimmte, ver-
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(C)
(D)
(A)
(B)
meintlich gefährliche Stadtteile. Sie verzichten darauf,
Freunde und Verwandte zu besuchen und reduzieren ihr
soziales Umfeld. Sie geben ein Stück persönlicher Frei-
heit und damit ein Stück Lebensqualität preis. Wir sorgen
dafür, dass die Menschen sich unabhängig von ihrem
Stand und unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen
in unserem Land sicher fühlen können und auch fühlen.
Wir Sozialdemokraten teilen die Auffassung der Poli-
zei und vieler Kriminologen, dass es zwischen organisier-
ter Kriminalität, Terrorismus und illegalen Geldströmen
einen engen Zusammenhang gibt. Um dem internationa-
len Terrorismus weltweit die logistische und strukturelle
Grundlage zu entziehen, müssen diese illegalen Finanz-
ströme ausgetrocknet werden. Hierzu leistet ein verbes-
sertes Geldwäschegesetz einen wichtigen Beitrag.
In unserer heutigen zunehmend technisierten Welt
verliert das Bargeldgeschäft zunehmend an Bedeutung.
Deshalb war die Anpassung bestimmter Sicherheitsme-
chanismen gerade für die unbaren Finanztransaktionen
unerlässlich. Elektronische Medien, wie zum Beispiel das
Internet, werden verstärkt genutzt, große Geldsummen in
kürzester Zeit rund um den Erdball zu transferieren. Ge-
rade diese neuen Medien eignen sich in besonderer Weise,
Herkunfts- und Eigentumsverhältnisse von inkriminier-
tem Vermögen zu verschleiern. Deshalb müssen Finanz-
transaktionen mittels elektronischem Geld denselben
Identifizierungs- und Anzeigepflichten unterliegen wie
Bargeldtransaktionen.
Das Geldwäschegesetz bezieht außerdem diejenigen
Berufe und Tätigkeiten in den Pflichtkreis des Geldwä-
schegesetzes ein, bei denen erfahrungsgemäß ein erhöh-
tes Risiko besteht, dass ihre Dienste zu Geldwäsche-
zwecken missbraucht werden. Deshalb werden künftig
auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie die An-
gehörigen der rechtsberatenden Berufe zur Identifizie-
rung und Dokumentierung verpflichtet.
Die Bekämpfung von Straftaten, auch die Bekämpfung
von terroristischer Gewalt, ist eine polizeiliche Aufgabe
und sie soll es auch bleiben. Ohne dass in Länderkompe-
tenzen eingegriffen wird, soll die Analysekompetenz der
BKA-Zentralstelle ausgebaut werden. Die Ausgestaltung
der deutschen Zentralstelle für Verdachtsanzeigen im
Bundeskriminalamt dient der Verbesserung der Zusam-
menarbeit mit den entsprechenden Stellen im Ausland.
Die parallel erfolgende Meldung einer Geldwäschean-
zeige von Anzeigenpflichtigen an die zuständigen Straf-
verfolgungsbehörden und an die bestehende Zentralstelle
des BKA minimiert Zeitverluste, beschleunigt Erkennt-
nisgewinnung und erleichtert die Ermittlungsarbeit.
Ich denke, wir haben hier ein sehr gutes Gesetz auf den
Weg gebracht und ich will mich in diesem Zusammen-
hang auch bei den Berichterstattern der anderen Fraktio-
nen ausdrücklich noch mal bedanken.
Einen Punkt möchte ich allerdings doch noch erwähnen
und mich hierbei besonders zum Kollegen Marschewski
äußern. Ich habe mir seine Rede, die er in der ersten Le-
sung zu Protokoll gegeben hat, natürlich sehr aufmerksam
durchgelesen: Er bedauert hier ausdrücklich, dass die
Umkehr der Beweislast, die ihm ja immer ein Herzensan-
liegen gewesen sei, nicht mit in dieses Gesetz aufgenom-
men wurde. Vielleicht ist es ihm nicht mehr so geläufig,
aber diese Umkehr der Beweislast war immer ein Anlie-
gen der Sozialdemokraten und sie war Bestandteil des so-
zialdemokratischen Antrages zur besseren Bekämpfung
der organisierten Kriminalität.
Ich bin ja nun in dieser Kommission zur Erarbeitung ei-
nes Gesetzentwurfes zur besseren Bekämpfung der orga-
nisierten Kriminalität über ein Jahr lang tätig gewesen
und ich kann sagen, dass der Punkt der Umkehr der Be-
weislast im Wesentlichen am damaligen Innenminister
Kanther gescheitert ist, der sich massiv gegen die Ein-
führung dieses Passuses gewehrt hat. Allerdings hatte
Herr Kanther selbst, wie sich erst später herausstellte, ein
ganz besonderes Verhältnis zur Geldwäsche mit ganz ei-
genen Erfahrungen.
Es war unser Kollege Prof. Meyer, der dann den Er-
satzvorschlag ins Verfahren eingebracht hat, über das Steu-
errecht eine Art Umkehr der Beweislast einzubringen. Es
ist sein Verdienst, dass heute bei verdächtigem Vermögen
sofort die Steuerbehörden eingeschaltet werden. Nach
dem Steuerrecht hat der Betroffene sich dann den Steuer-
behörden zu offenbaren. Es wird geprüft: Hat er für den
aufgefundenen oder sichergestellten Betrag Steuern abge-
führt und wenn nicht, woher kommt das Geld? Wenn er
seiner Mitwirkungspflicht in dieser Frage nicht nach-
kommt, erfolgt nach dem Steuerrecht die Schätzung. Auf
diesem Wege ist es zumindest möglich, einen Großteil des
Vermögens einzuziehen, auch wenn eine Beweislastum-
kehr „reinsten Wassers“ damit nicht erreicht wurde, was
allerdings von uns auch nicht zu verantworten war.
Dennoch stellt der heute hier vorliegende Gesetzent-
wurf in vielen Bereichen eine Verschärfung, eine Präzi-
sierung und eine erhebliche Beschleunigung des Erkennt-
nisaustausches und der Ermittlungen unter gleichzeitiger
strenger Wahrung unserer rechtsstaatlichen Prinzipien
dar. Die FDP hat zwar erkennen lassen, dass sie sich der
Einsicht in notwendige Veränderungen in Sachen Geld-
wäschebekämpfung nicht verschließt, dennoch stimmt sie
diesem Gesetz nicht zu. Ich kann das nicht recht nach-
vollziehen. Möglicherweise hängt es aber damit zusam-
men, dass nun auch bestimmte Formen der Steuerhinter-
ziehung von den Geldwäscheregelungen erfasst werden.
Ich freue mich darüber, dass es möglich war, ein gutes
und auch ein sehr wichtiges Gesetz, trotz des Wahl-
kampfgetöses, der ja mittlerweile unüberhörbar geworden
ist, bei uns sachlich zu beraten und es zu einem guten
Ende zu bringen.
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):
Geldwäsche in Zusammenhang mit Kriminalität ist wahr-
lich kein neues Phänomen. Jedoch: Der Terroranschlag
auf die USA hat auch hier die Welt verändert. Wir stehen
vor neuen Herausforderungen, die uns zu neuen Sicht-
weisen und zu veränderten Schwerpunkten bei den Auf-
gaben des Staates zwingen, weil wir die freiheitlichste
Gesellschaftsordnung, die Deutschland je gekannt hat, er-
halten und stärken wollen. Ein Gesetz zur Verbesserung
der Bekämpfung der Geldwäsche und zur Bekämpfung
der Finanzierung des Terrorismus notwendiger denn je,
weil gerade die finanziellen Strukturen des internationa-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24417
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(B)
len Terrorismus zerstört werden müssen. Nur dadurch
kann dem internationalen Terrorismus die logistische und
strukturelle Grundlage entzogen werden. Insofern ist das
Gesetz richtig, Ihre Initiative dankenswert. Aber: Ob Sie
dies mit dem vorgelegten Gesetzentwurf vollständig er-
reichen werden, ist hier und da leider doch zweifelhaft.
Deshalb ist es auch gut, dass es bei der Identifizierung bei
der Abgabe von Bargeld, Wertpapieren oder Edelmetallen
im Wert von 15 000 Euro oder mehr bleibt.
Wir haben deshalb unseren ursprünglich im Innenaus-
schuss gestellten Antrag jetzt gemeinsam mit der SPD-
Fraktion und dem Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen
Bundestag gestellt, wonach der Verzicht auf die Identifi-
zierungspflicht zurückgenommen wird. Wesentlich ist in-
soweit, dass das Schalterpersonal der Institute an der
Schnittstelle bei der Umwandlung von Bar- und Buchgeld
auch die Vermögensabflüsse intensiv beobachtet. Dadurch
konnten in der Vergangenheit eine Vielzahl von Ermitt-
lungserfolgen im Bereich der Betrugsdelikte – Organi-
sierte Kriminalität – erzielt werden. Darauf wollen wir
nicht verzichten. Nicht gut ist zum Beispiel, dass ihr Ge-
setzentwurf weitere bürokratische Hürden – im Wesentli-
chen bei den Banken – schafft, denn auf die sind wir ja bei
der Identifizierung von terroristischem Vermögen beson-
ders angewiesen. Gerade ihre Motivation, die ihrer Mitar-
beiter, führt zum Erfolg. Und diese Motivation müssen wir
stärken und nicht mit überflüssigen Aufgaben belasten.
Problematisch ist unter dem Gesichtspunkt des zusätzli-
chen unnötigen Verwaltungsaufwandes die neue Identifi-
zierungspflicht „... bei Abschluss eines Vertrages zur Be-
gründung einer auf Dauer angelegten Geschäftsbeziehung“
in § 2 Abs. 1 des Gesetzes. Es ist nicht nachvollziehbar,
warum für die Kreditinstitute zusätzlich zu § 154 Abga-
benordnung eine Identifizierungspflicht für die Anknüp-
fung einer Geschäftsbeziehung installiert werden soll, ob-
wohl nach dem geltenden Recht – Anwendungserlass zur
Abgabenordnung AEAO – insoweit praktikable Regelun-
gen bestehen. Die Praxis der Kreditinstitute, die erforder-
lichen personenbezogenen Daten nach diesen Vorschrif-
ten festzustellen und festzuhalten, hat sich doch seit
Jahrzehnten bewährt. Nicht mehr Verwaltungsaufwand,
sondern die Überzeugung bei den Mitarbeitern der Ban-
ken bestärken, dass die neuen Vorschriften sinnvoll sind,
und dass sie zur gemeinsamen notwendigen Bekämpfung
von organisierter Kriminialität und besonders der Terrori-
sierung dienen.
Sie hätten eben mehr vorschlagen müssen, um die we-
sentlichen Probleme bei der Geldwäschebekämpfung an-
zupacken: Das Regelwerk hätte erheblich effektiver ge-
staltet werden müssen, denn seit 1993 hat es in
Deutschland nur 100 Verurteilungen wegen Geldwäsche
gegeben. Was fehlt, sind effektivere gesetzliche Regelun-
gen. Was fehlt, ist eine erhebliche Verbesserung der Ko-
ordinierung aller betreffenden Institutionen. So waren
zum Beispiel im Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen
zehn Mitarbeiter für die Geldwäschebekämpfung bei
3 000 Instituten zuständig. Um die knappen Personalres-
sourcen sinnvoller einzusetzen, müssten Task Forces aus
fachkundigen Mitarbeitern von Staatsanwaltschaft, Poli-
zei, Finanzverwaltung gebildet werden, um den Beweis
führen zu können, dass das Geld aus einer strafbaren Vor-
tat stammt. Weil dies oft auf Schwierigkeiten stößt, ist
eine Verurteilung wegen Geldwäsche oftmals leider nicht
möglich.
Und Sie wissen: Ich habe deshalb an dieser Stelle im-
mer wieder die Einführung der Umkehr der Beweislast für
diesen Bereich gefordert. Dies ist in der Schweiz möglich.
Es wurde auf dem CDU/CSU-Bundesparteitag beschlos-
sen; die Polizei fordert dies. Wagen auch wir die ernst-
hafte Diskussion hierüber. Die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion hat aus denselben Gründen bereits vor dem
11. September 2001 immer wieder die Optimierung der
Geldwäschevorschriften gefordert. So haben wir unter an-
derem auch Verbesserungsvorschläge für die verfahrens-
rechtliche Ausgestaltung, der Gewinnabschöpfung vorge-
legt. Der Zugriff auf die sehr hohen Gewinne – damals
beschränkt auf die organisierte Kriminalität – war eines
unserer wichtigsten gesetzgeberischen Ziele bei der Ein-
führung der Geldwäschegesetzgebung. Es muss nämlich
die Gewinnabschöpfung auch solcher Vermögensgegen-
stände möglich sein, die das Ergebnis einer oder mehrerer
Geldwaschvorgänge sind. Darüber hinaus sind Beweiser-
leichterungen im Verfallsrecht sowie eine deutliche Ver-
längerung der Fristen für die vorläufige Sicherstellung er-
forderlich. Das fehlt hier. Das ist ein Mangel.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang weiterhin an un-
seren Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Straftaten der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus, der leider
nicht die erforderliche Mehrheit in diesem Hause bekom-
men hat. Es ist unverzichtbar, dass die erwirtschafteten
Profite, die insbesondere für Terrorismus verwendet wer-
den, entzogen werden können, wenn es auch angesichts
der internationalen Strukturen der Täter schwierig ist.
Aber es geht. – Wie wir gesehen haben, sind trotz
der hohen Zahl ausländischer Beziehungsstrukturen der
kriminellen Organisationen im vergangenen Jahr in einem
von der Union regierten Land, nämlich in Baden-Würt-
temberg, allein bei der Organisierten Kriminalität Vermö-
genswerte in Höhe von rund 10,7 Millionen Euro aufge-
spürt und beschlagnahmt worden. Dank gilt dem
zuständigen Innenminister Thomas Schäuble und dem
FDP Justizminister Ulrich Goll.
Nur so – nämlich mit der Abschöpfung der kriminellen
Vermögenswerte – kann die organisierte Kriminalität, mit
der letztendlich auch der Terrorismus finanziert wird, an
ihrer Lebensader getroffen werden. Nur so wird eine
Reinvestition dieser Mittel in weitere kriminelle und ter-
roristische Verbrechen verhindert. Und gerade deswegen
unterstützen wir, dass alle im Finanzsektor tätigen Insti-
tute verpflichtet werden, Verdachtsanzeigen im Einblick
auf den Terrorismus zu erstatten. Wir halten diese Rege-
lung im vorliegenden Gesetzentwurf für zielführend.
Wir begrüßen auch den Ausbau und die Verbesserung
der Funktionalität der im BKA bestehenden Zentralstelle
für Geldwäscheverdacht entsprechend den internationa-
len politischen Anforderungen. Sie wissen: Wir haben das
Geldwäschegesetz seinerzeit gegen Ihren Widerstand im
Bundestag durchgesetzt. Insofern begrüßen wir ausdrück-
lich, dass Sie nunmehr, wenn auch etwas spät, jedenfalls
zum Teil in der Realität angekommen sind. Dennoch:
Noch mehr Mut – auch gegen Grün – wäre nötig gewesen.
Der Terrorismus muss international bekämpft werden,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 200224418
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weil kein Land sich alleine schützen kann; da sind wir uns
doch einig.
Warum arbeiten Sie aber nicht daran, die internationale
Zusammenarbeit auszubauen? Es müssen internationale
Standards und ein Verhaltenskodex bei der Geldwäsche-
bekämpfung geschaffen werden. Das System weltweiter
Schattenbanken muss aufgebrochen werden.
Wir sind hier der Meinung, dass die 40 Empfehlungen
zur Geldwäschebekämpfung, der Financial Action Task
Force zwar als Grundlage dienen können. Sie müssen aber
im Hinblick auf die Terrorismusbekämpfung weiterent-
wickelt, erweitert werden. Vor allem darf die Umsetzung
nicht auf die 29 Mitgliedstaaten begrenzt bleiben.
Die nicht ordnungsgemäß beaufsichtigten und mangel-
haft regulierten Finanzplätze liefern vor allem den terro-
ristischen Netzwerken Grundlagen für ihre Finanztrans-
fers. Sie müssen konsequent ins Visier genommen
werden. Es müssen vor allem gemeinsame Sanktions-
möglichkeiten auf internationaler Ebene geschaffen wer-
den: Identische Gesetze; ein Strafgerichtshof; eine ange-
gliederte einheitliche internationale Strafvollstreckung.
Denn von der Politik, von uns, ist ein Jahr nach den
notwendigen Worten der Bestürzung, Trauer und Solida-
rität nunmehr tatkräftiges Handeln gefordert.
Deshalb wird die Union der Bundesregierung – wie bei
Terrorbekämpfungsgesetz – bei notwendigen Änderungs-
anträgen zur Seite stehen und zustimmen.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Wir
sind uns über die Grenzen der Fraktionen hinweg darüber
einig, dass die Finanzierung schwer krimineller und ter-
roristischer Taten nur mit einem weltweiten Netz interna-
tionaler Finanztransaktionen möglich ist. Die Bekämp-
fung gerade des Terrorismus ist von daher eine
internationale Aufgabe, der sich die Vereinten Nationen,
die Europäische Union, die Financial Action Task Forc on
Money Laudering (FATF) und viele andere nationale und
übernationale Organisationen zu stellen haben.
Das jetzt vorgelegte Gesetz leistet in der Umsetzung der
entsprechenden EU-Richtlinie einen wichtigen Beitrag zur
Bekämpfung dieser internationalen Machenschaften. Die
verbesserte Kooperation der an der Geldwäschebekämp-
fung beteiligten Ermittlungs- und Finanzaufsichtsbehör-
den ist ein wichtiger Punkt. Das gilt auch für die Verbes-
serung der Arbeit des BKA an dieser Stelle. Es kann auch
kein Zweifel bestehen, dass die Pflichten der im Finanz-
bereich tätigen Institute und Personen im Bereich der
Bekämpfung der Geldwäsche verschärft werden müssen.
An einer Stelle möchte ich aber auch Kritisches an-
merken. Es ist gewiss unabwendbar, bei der Umsetzung
der EG-Geldwäscherichtlinie aus dem vergangenen Jahr
die Einbindung bestimmter Berufsgruppen in die Ver-
pflichtungen des Geldwäschebekämpfungsgesetzes zu
überprüfen. Nach Auffassung meiner Fraktion geht dieses
in seiner Stoßrichtung richtige und wichtige Gesetz aber
über die Grenze des Sinnvollen und Vertretbaren hinaus.
Ich meine die neuen Regelungen zu den Vertreterinnen
und Vertretern der rechtsberatenden Berufe. Ich verhehle
an dieser Stelle nicht, dass wir uns hier eine bessere Rege-
lung wünschen, die dem besonderen Vertrauensverhältnis
von Anwalt und Mandanten gerecht wird. Die Kritik des
Deutschen Anwaltvereins und der Rechtsanwaltskam-
mern nehmen wir sehr ernst. Es wäre gut, wenn diese Po-
sition hier im Hause Unterstützung finden würde.
Die Einbindung der Anwaltschaft in die Strafverfol-
gung ist aus grundsätzlichen rechtsstaatlichen Erwägun-
gen immer sehr problematisch. Das Strafgesetzbuch
behält sich Eingriffe hier nur für die schlimmsten Verbre-
chen wie Mord und Völkermord vor. Sehr unbefriedigend
ist vor allem, dass der Anwalt auch noch verpflichtet wird,
seinen Klienten zu melden, ohne ihm dies mitteilen zu
dürfen. Dem sehr geringen praktischen Nutzen dieser
Regelung bei der Bekämpfung der Geldwäsche steht ein
großer Vertrauensschaden zwischen der Anwaltschaft als
Organ der Rechtspflege und den ratsuchenden Bürgerin-
nen und Bürgern gegenüber.
Meine Sorge wird auch nicht durch ein Einwand ent-
kräftet, die Hürden für die neue gesetzliche Verpflichtung
der Anwälte seien hoch genug, um eine normale Beratung
der Mandanten nicht zu gefährden. Ich befürchte, dass
schon ein Ermittlungsverfahren gegen einen Anwalt, auch
wenn keine Anklage erhoben wird, einen solchen Ver-
trauensschaden anrichtet, dass sich Klienten nicht mehr
trauen, offen mit ihrem Anwalt zu reden. Dieser Preis ist
zu hoch.
Rainer Funke (FDP):Der vorliegende Gesetzentwurf
zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und
der Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus klingt
im Titel gut, inhaltlich kann die FDP-Bundestagsfraktion
dem Gesetz aber nicht zustimmen. Jedermann möchte den
Terrorismus bekämpfen, selbstverständlich auch die FDP.
Die vorgesehenen Eingriffe in die Freiheiten der Bürger
sind jedoch so gravierend, dass wir unserer Zustimmung
zu diesem Gesetz versagen müssen.
Der Gesetzentwurf dient auch zur Umsetzung der ent-
sprechenden europäischen Richtlinie, geht aber weit üiber
eine einfache Umsetzung hinaus. Dies gilt sowohl hin-
sichtlich der Aufspürung illegaler Finanzströme als auch
der Austrocknung aller illegaler Finanztransaktionen, die
dem Terrorismus dienen können. So haben wir bereits mit
dem Terrorismusbekämpfungsgesetz, das am 1. Januar
2002 in Kraft getreten ist, und dem Vierten Finanzmarkt-
förderungsgesetz die Finanzkontrollen verschärft. In die-
sem Zusammenhang sei nur an das Kontenscreening erin-
nert, das weit reichende Einblickmöglichkeiten in die
Konten der Bürger ermöglicht.
Wir haben noch nicht einmal Erfahrungen mit diesen
beiden Gesetzen sammeln können, schon werden für den
Zahlungsverkehr weitere Erschwernisse vorgesehen.
Diese Erschwernisse des Zahlungsverkehrs mit den damit
verbundenen Prüfungspflichten werden zu einer erhebli-
chen Verteuerung der Bankdienstleistungen führen, die
auf den Kunden abgewälzt werden. Hier werden den Ban-
ken organisatorische Pflichten auferlegt, die diese gar
nicht erfüllen können, ohne, dass internationale Abspra-
chen getroffen sind. Das gleiche gilt für § 25 II KWG bei
der Prüfung der Plausibilität von Namens- und An-
schriftsdaten von Auftraggebern aus dem Ausland.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24419
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Der Hauptgrund unserer Ablehnung dieses Gesetzent-
wurfes liegt aber im massiven Eingriff in das Vertrauens-
verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant und trifft
damit den Kern der anwaltlichen Berufsausübung und da-
mit die Grundsätze unseres freiheitlichen Rechtsstaates.
Die geplanten Eingriffe sind durch die europäische Richt-
linie 2001/97 vom 4. Dezember 2001 nicht notwendiger-
weise veranlasst. Die Bundesregierung hat den ihr zuste-
henden Spielraum zur Wahrung der Freiheit der
anwaltlichen Tätigkeit nicht genutzt.
Das gilt in dreierlei Weise. Erstens gilt dies hinsichtlich
der Identifizierungspflichten. Es ist nicht ersichtlich, wel-
chem Zweck die dem Rechtsanwalt auferlegte Identifi-
zierungspflicht dienen soll, denn Rechtsanwälte sind we-
der berechtigt noch verpflichtet, irgend jemandem
Auskunft über die Identifizierung zu erteilen.
Zweitens. Mit § 11 wird Rechtsanwälten und Notaren
eine Pflicht auferlegt, die sich ebenso wenig wie die An-
zeigepflicht mit dem anwaltlichen Berufsbild vereinbaren
lässt. Dass der Anwalt, der von einem Mandanten aufge-
sucht wird, nach § 11 bei einem Verdacht gezwungen
wird, den Mandanten nicht von der Anzeige unterrichten
zu dürfen, greift tief in das Mandatsverhältnis ein.
Natürlich wollen wir keine Terroristen schützen. Das
will auch die europäische Richtlinie nicht. Mit der Über-
nahme der Richtlinie wäre es durch § 8 II möglich gewe-
sen, die Rechtsanwälte von der Pflicht auszunehmen, die
Anzeige gegenüber dem Auftraggeber zu verschweigen.
Hiervon hat die Bundesregierung leider keinen Gebrauch
gemacht.
Drittens. Die Bundesregierung hat auch davon abgese-
hen, die Berufskammer als Filter zu nutzen mit der Folge,
dass nicht jede Anzeige an die Ermittlungsbehörde wei-
terzuleiten ist. Ein solche Filterfunktion sieht die Richtli-
nie ausdrücklich vor.
Nach allem ist dieser Gesetzentwurf weit über das ei-
gentliche Ziel hinausgeschossen. Die anwaltliche Tätig-
keit wird tief beeinträchtigt, ohne dass rechtsstaatliche Er-
kenntnisse vorliegen, dass dies zur Bekämpfung der
Geldwäsche erforderlich und geeignet ist. Der vorgese-
hene Einsatz der Anwaltschaft als verlängerter Arm der
Ermittlungsbehörde begegnet erheblichen rechtsstaatli-
chen Bedenken.
Ulla Jelpke (PDS): Das vorliegende Gesetz bean-
sprucht, Geldwäsche und Terrorismus besser zu bekämp-
fen. Das würde verlangen, eine Analyse der Schwachstel-
len bei der Bekämpfung von Geldwäsche und eine
Definition von Terrorismus und seiner Finanzierungs-
strukturen. Beides findet nicht statt.
Im Bereich Geldwäsche verweise ich nur auf die Ein-
stellung der Ermittlungen gegen den früheren Bundesin-
nenminister Kanther, obwohl dieser Millionenbeträge aus
bis heute nicht geklärten Quellen in die Schweiz und von
dort wieder in die CDU-Kassen transferiert hat. Auch das
Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche gegen den
früheren CSU-Staatssekretär im Verteidigungsministe-
rium, den weltweit vom Bundeskriminalamt gesuchten
Herrn Pfahls, wurde eingestellt; laut Presseberichten des-
halb, weil in dem Land, in dem er Geld gewaschen haben
soll, dies nicht strafbar war. Beide Ermittlungsverfahren
würden auch nach dem heute vorliegenden Gesetz einge-
stellt. Nichts würde sich da durch dieses Gesetz ändern.
Ein nächster Punkt: Die OECD führt noch heute
EU-Staaten wie Monaco, Liechtenstein, Andorra und die
Kanalinseln auf ihrer schwarzen Liste für Steuerbetrug
und Geldwäsche. Was ändert das vorliegende Gesetz an
diesen Mängeln schon in der EU? Auch nichts! Stattdes-
sen darf das Bundeskriminalamt in Zukunft bei Verdacht
auf Geldwäsche und Terrorfinanzierung personenbezo-
gene Daten erheben. Damit wird keine einzige Ermittlung
verbessert. Sie wird nur auf Bundesebene gezogen. Die
Länderhoheit über die Polizei wird so erneut geschwächt.
An anderen Stellen im Gesetz werden Banken, Versi-
cherungen und andere Finanzinstitute zu Hilfspolizisten
gemacht. Sie sollen Anzeige erstatten, wenn sie Tatsachen
feststellen, ich zitiere, „... die darauf schließen lassen,
dass die vereinbarte Finanztransaktion ... der Finanzie-
rung einer terroristischen Vereinigung dient.“
Zur Definition, was eine terroristische Vereinigung ist,
wird auf § 129 a des Strafgesetzbuches und den noch nicht
in Kraft getretenen § 129 b StGB verwiesen. Beide Ge-
sinnungsparagraphen werden von der PDS, von Men-
schenrechtsgruppen und Strafverteidigern schon lange
abgelehnt, zum Beispiel vom 26. Strafverteidigertag im
März des Jahres in Mainz. In Zukunft sollen Firmen wie
die Deutsche Bank, die Allianz oder andere entscheiden,
ob eine Person oder Organisation in irgendeinem Land der
Welt terroristisch sein könnte und sie deshalb Finanzbe-
wegungen melden müssen. Dabei gibt es bis heute noch
nicht einmal eine allgemein akzeptierte Definition von
Terrorismus.
Außerdem verpflichtet das Gesetz Anwälte, Steuerbe-
rater und Notare zu Anzeigen gegen ihre Mandaten, wenn
sie, ich zitiere, „... wissen, dass der Mandant ihre Rechts-
beratung bewusst für den Zweck der Geldwäsche in An-
spruch nimmt.“
Auch das ist vom Strafverteidigertag in Mainz zu
Recht als „Sicherheitshysterie“ kritisiert worden.
Diese Anzeigepflicht soll nicht gelten, wenn nur ein
Verdacht auf Straftaten besteht. Wo aber verläuft die
Grenze zwischen Verdacht und Wissen? In Wirklichkeit
gibt es doch eine breite Grauzone.
Außerdem hat selbst ein ertappter Straftäter das Recht zu
schweigen. Soll das künftig nicht mehr gelten? Wer zum An-
walt oder Steuerberater geht, offenbart sich diesem. Anwälte
und Steuerberater sind keine Hilfspolizisten und Zeugen der
Anklage, ihr Beruf ist die Beratung und Verteidigung ihrer
Klienten. Darauf hat auch die Bundesrechtsanwaltskammer
hingewiesen. Ihre Forderung, die Bestimmung zu streichen,
wonach Anwälte verpflichtet werden, solche Anzeigen auch
noch gegenüber ihren Mandanten geheim zu halten, korri-
giert aber nur die Spitze des Eisbergs. Außerdem wird diese
Anzeigepflicht für Anwälte nach meiner Überzeugung in
der Praxis verpuffen. Zu Anwälten oder Steuerberatern, die
ihre eigenen Mandanten angezeigt haben, geht niemand
mehr hin. Die Idee, kriminelle Banden mithilfe ihrer eige-
nen Anwälte oder Steuerberater zu bekämpfen, ist naiv bis
zur Lächerlichkeit.
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Richtig ist auch die Kritik des Bundesrats an § 14 des
Gesetzes. Die Rasterung von Konten ist schon beim Vier-
ten Finanzmarktförderungsgesetz als verfassungswidrig
kritisiert worden. Sie verstößt gegen das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung.
All das zeigt: Das vorliegende Gesetz ist unter Grund-
rechtsgesichtspunkten in vielen Punkten bedenklich. Ge-
gen kriminelle Geldwäscher wird es zudem vermutlich
wenig bewirken. Ein solches Gesetz lehnen wir ab.
Fritz Rudolf Körper (Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern): Mit dem Geldwäschebekämp-
fungsgesetz will die Bundesregierung die weiteren not-
wendigen Verbesserungen für eine entschlossene und
wirksame Bekämpfung illegaler Finanzströme schaffen.
Dies geschieht weitestgehend in Umsetzung interna-
tionaler Verpflichtungen. Damit hat Deutschland als ers-
tes EU-Land die neue Geldwäscherichtlinie der Europä-
ischen Union umgesetzt und innerstaatlich die
Einbeziehung neuer Berufsgruppen in den Pflichtenkreis
des Geldwäschebekämpfungsgesetzes vollzogen.
Die vorgesehene Neuregelung steht im engen funktio-
nalen Zusammenhang mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft
getretenen Terrorismusbekämpfungsgesetz. Es geht ins-
besondere darum, die Pflicht der im Finanzsektor aktiven
Institute zur Erstattung von Verdachtsanzeigen auf die Fi-
nanzierung des Terrorismus auszuweiten, den sich stetig
wandelnden Methoden illegaler Finanztransaktionen
durch verbesserte bankinterne Sicherungssysteme zielge-
nau zu begegnen und die Aufdeckung von Strohmannge-
schäften und das Aufspüren des „wahren wirtschaftlichen
Berechtigten“ einer verdächtigen Finanztransaktion zu
verbessern.
Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs besteht darin,
die seit dem Jahre 2000 im Bundeskriminalamt beste-
hende Zentralstelle für Verdachtsanzeigen, „Financial In-
telligence Unit – FIU“, zur Verbesserung der Zusammen-
arbeit mit den FIUs im Ausland auszubauen. Sie soll die
Anzeigen schneller als bislang erhalten. Personell wird sie
um Wirtschafts- und Finanzexperten erweitert. Damit soll
eine verbesserte Analyse der Geldwäschemethoden sowie
ein stärkeres Feed-back an die Kreditwirtschaft gewähr-
leistet werden.
Die Bundesregierung steht mit dem vorliegenden Ent-
wurf an der Seite der internationalen Staatengemein-
schaft, die einen multidisziplinären Ansatz im Kampf ge-
gen die Finanzierung des Terrorismus fordert. Der
Gesetzentwurf führt in diesem Sinne polizeiliche, straf-
verfolgungs- und bankenaufsichtsrechtliche Maßnahmen
zusammen. Selbstverständlich werden wir die neuen
Maßnahmen fortdauernd einer kritischen Überprüfung
auf Wirksamkeit und Übereinstimmung mit den interna-
tionalen Standards unterziehen.
Lassen Sie mich zu den Ausschussberatungen noch
Folgendes anmerken: Die von den Ausschüssen des Bun-
destages beschlossenen Änderungsanträge tragen in wei-
ten Teilen auch den Vorschlägen des Bundesrates Rech-
nung. Damit ist nach meiner Überzeugung ein guter
Kompromiss erzielt worden. Die vorgesehenen Regelungen
zu den Aufgaben und Befugnissen der Zentralstelle für Ver-
dachtsanzeigen im Bundeskriminalamt, § 5 Abs. 11 des Ent-
wurfs, greifen nicht – wie von einigen Ländern zunächst
befürchtet – in die Strafverfolgungskompetenzen der Län-
der ein.
Insbesondere werden dem Bundeskriminalamt hiermit
auch keine weiteren Ermittlungsbefugnisse eingeräumt.
Dies wurde durch ein Schreiben von Minister Schily an
die Innenminister der Länder und durch eine Erklärung
des Innenausschusses ausdrücklich klar gestellt. Zudem
wurde eine entsprechende Klarstellung in den Gesetzent-
wurf übernommen. Ich gehe daher davon aus, dass der
Gesetzentwurf in der vorgelegten Fassung auch im Bun-
desrat Zustimmung erfahren wird.
Deutschland wird im Sommer für ein Jahr die Präsi-
dentschaft in der Financial Action Task Force on Money
Laundering, FATF, übernehmen. Die Verabschiedung des
vorliegenden Gesetzentwurfs, der zentrale Forderungen
der FATF insbesondere im Bereich der Terrorismus-
bekämpfung aufgreift, noch bis Mitte diesen Jahres ist
auch dafür eine wichtige Startvorlage.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 242. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Juni 2002 24421
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin