Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002
Vizepräsidentin Petra Bläss
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1) Anlage 12
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(B)
Altmaier, Peter CDU/CSU 06.06.2002
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 06.06.2002
Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 06.06.2002
Marieluise DIE GRÜNEN
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 06.06.2002
Bodewig, Kurt SPD 06.06.2002
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 06.06.2002
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 06.06.2002
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 06.06.2002*
Klaus
Eppelmann, Rainer CDU/CSU 06.06.2002
Erler, Gernot SPD 06.06.2002
Frick, Gisela FDP 06.06.2002
Friedrich (Altenburg), SPD 06.06.2002
Peter
Dr. Grygier, Bärbel PDS 06.06.2002
Hampel, Manfred SPD 06.06.2002
Hoffmann (Wismar), SPD 06.06.2002
Iris
Irmer, Ulrich FDP 06.06.2002
Jüttemann, Gerhard PDS 06.06.2002
Dr. Küster, Uwe SPD 06.06.2002
Labsch, Werner SPD 06.06.2002
Leidinger, Robert SPD 06.06.2002
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 06.06.2002*
Erich
Neumann (Bremen), CDU/CSU 06.06.2002
Bernd
Neumann (Gotha), SPD 06.06.2002
Gerhard
Onur, Leyla SPD 06.06.2002*
Palis, Kurt SPD 06.06.2002*
Raidel, Hans CDU/CSU 06.06.2002**
Rauber, Helmut CDU/CSU 06.06.2002**
Ronsöhr, CDU/CSU 06.06.2002
Heinrich-Wilhelm
Schily, Otto SPD 06.06.2002
Schlee, Dietmar CDU/CSU 06.06.2002
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 06.06.2002*
Hans Peter
von Schmude, Michael CDU/CSU 06.06.2002*
Seehofer, Horst CDU/CSU 06.06.2002
Dr. Freiherr von CDU/CSU 06.06.2002
Stetten, Wolfgang
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 06.06.2002**
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 06.06.2002
DIE GRÜNEN
Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 06.06.2002
DIE GRÜNEN
Weisskirchen SPD 06.06.2002**
(Wiesloch), Gert
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 06.06.2002*
Zierer, Benno CDU/CSU 06.06.2002*
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE
Anlage 2
Erklärung
des Abgeordneten Dr. Heinrich Fink (PDS) zur
Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes der
FDPfür eine Reform des Stiftungszivilrechts (Stif-
tungsrechtsreformgesetz) – Drucksache 14/5811 –
(233. Sitzung, Tagesordnungspunkt 9)
Namens der Fraktion der PDS erkläre ich: Unser Vo-
tum lautet ja.
Anlage 3
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Eckhart Pick auf die Frage
des Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/CSU)
(238. Sitzung, Drucksache 14/9188, Frage 14):
Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass angesichts
der Beschwerde der zu den Oberlandesgerichten singular zuge-
lassenen Rechtsanwälte gegen die Aufhebung der Singularzulas-
sung an dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EuGMR) eine erheblich über den 1. Juli 2002 hinausreichende
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Verlängerung der Übergangsfrist durch Gesetz geschaffen werden
sollte?
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur
Verfassungswidrigkeit der Singularzulassung bei den
Oberlandesgerichten (§ 25 Bundesrechtsanwaltsordnung)
eine eindeutige Übergangsregelung getroffen. Es besteht,
wie die Bundesregierung bereits auf eine schriftliche
Frage des Abgeordneten van Essen (FDP) ausgeführt hat
(Bundestagsdrucksache 14/8760, Seite 12, zu Frage 19),
für den Gesetzgeber kein Raum, die vom Bundesverfas-
sungsgericht getroffene Entscheidung abzuändern.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Solidarpaktfortführungsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 8)
Joachim Stünker (SPD): Auf dem Sonderfinanzpla-
nungsrat im März haben Bund und Länder einmütig klare
Absprachen zur innerstaatlichen Umsetzung der europä-
ischen Stabilitätskriterien getroffen. Diese Absprachen
umfassen verbindliche Höchstgrenzen für die Ausgaben-
entwicklungen der Haushaltsebenen für die kommenden
Jahre sowie eine nachhaltige Stärkung der Rolle des
Finanzplanungsrats bei der Überwachung und Einhaltung
der Kriterien.
Diese verstärkte Rolle des Finanzplanungsrats ist im
neuen § 51 a des Haushaltsgrundsätzegesetzes definiert.
Das vorzeitige In-Kraft-Treten dieser Bestimmung bereits
zum Juli diesen Jahres, die wir mit der Änderung des So-
lidarpaktfortführungsgesetzes jetzt beschließen, ist also
ein zentraler Teil des Bekenntnisses des Bundes und aller
16 Länder zur gemeinsamen gesamtstaatlichen Verant-
wortung für die Einhaltung der europäischen Stabilitäts-
kriterien.
Die Tatsache und der Inhalt der vom Bund und – ich
betone ausdrücklich – allen 16 Ländern gemeinsam ge-
troffenen Absprachen zur gemeinsamen Stabilitätsverant-
wortung zeigt, meine Damen und Herren von der Union,
dass Ihre Aktuelle Stunde von vorhin mit der angeblichen
Ausplünderung des einen durch den anderen schlicht un-
ter Wahlkampf abzubuchen ist.
Das haushaltspolitische Handeln in gemeinsamer Ver-
antwortung ist, wie wir jetzt gerade sehen, doch ein
ganzes Stück weiter, als Sie es hier vorführen wollten. Die
Bereitschaft des Bundes, seine Ausgaben in den nächsten
beiden Jahren um jeweils 1/2 Prozent zu reduzieren und
den Ländern damit einen größeren Spielraum in der ge-
meinsamen Ausgabenlinie zu belassen, ist im Übrigen ein
deutliches Zeichen dafür, dass sehr wohl eine faire inner-
staatliche Verteilung der Konsolidierungslasten im Zuge
der Einhaltung der Stabilitätszusagen auf europäischer
Ebene vorgesehen ist.
Eine wesentliche Voraussetzung der Verständigung
von Bund und Ländern im Finanzplanungsrat war ganz
offensichtlich, dass – anders als bei früheren Anläufen zu
einem nationalen Stabilitätspakt – auf eine kleinteilige
und vollkommen starre Zurechnung „maximal erlaubter
Verschuldung“ auf einzelne Gebietskörperschaften ver-
zichtet wurde. Denn so wurde den einzelnen Beteiligten
der Anreiz genommen, gleichsam „zur Sicherheit“ kom-
promisslos um einen möglichst großen eigenen Anteil an
der „erlaubten Gesamtverschuldung“ zu kämpfen. Ich
hoffe, dass dieser Weg auch künftig weiter verfolgt wird
und es keinen Rückfall in die gescheiterten Versuche gibt,
die Partner in starre, unveränderliche gesetzliche oder
förmliche vertragliche Bindungen zu zwingen.
Unangebracht wäre allerdings ebenso eine Verwässe-
rung des bereits Erreichten, wie sie der heute erneut ein-
gebrachte Antrag der PDS zur Folge hätte. Die kommu-
nalen Haushalte sind nun einmal Teil des öffentlichen
Gesamthaushalts und müssen natürlich in die Anstren-
gungen zur Erreichung des Stabilitätsziels einbezogen
werden. Ob der Finanzierungssaldo für sich genommen
eine aussagefähige Kenngröße für die Finanzlage der
Städte und Gemeinden ist – hierauf stellt ja die Antrags-
begründung ab –, ist doch eine ganz andere Frage.
Als Vorsitzender des Sonderausschusses Maßstäbe-
gesetz/Finanzausgleichsgesetz möchte ich es nicht ver-
säumen, darauf hinzuweisen, dass die Formulierung des
§ 51 a HGrG, die hier nun vorzeitig in Kraft treten soll, der
Arbeit unseres Ausschusses zu verdanken ist. Im Verfah-
ren zum Solidarpaktfortführungsgesetz im vergangenen
Jahr haben wir sie letztlich den Exekutiven von Bund und
Ländern abringen müssen.
Dass nun gerade das schnelle Inkraftsetzen dieser Rege-
lung ein wesentliches Ergebnis des Sonderfinanzplanungs-
rates war, zeigt, dass unsere Arbeit durchaus von Einfluss
auf die Stärkung einer gesamtstaatlichen Stabilitätskultur
und -verantwortung in unserem Land gewesen ist.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich allen Kolleginnen
und Kollegen im Sonderausschuss für ihre Arbeit danken.
Wie schon bei den großen Gesetzen, die wir behandelt
haben, dem Maßstäbegesetz und dem Solidarpaktfort-
führungsgesetz, sind wir auch bei dieser Änderung jetzt
mit breiter Mehrheit im Ausschuss zu einem positiven Er-
gebnis bekommen.
Dass es der FDP, die schon den Finanzausgleich und
den Solidarpakt II abgelehnt hat, nicht einmal heute – wo
es doch ganz eindeutig um ein Mehr an finanzpolitischer
Stabilitätskultur in Deutschland geht – möglich ist, zuzu-
stimmen, bedaure ich zutiefst.
Heinz Seiffert (CDU/CSU): Bund und Länder haben
sich bei der Verabschiedung des Solidarpaktfortführungs-
gesetzes 2001 in Art. 7 darauf geeinigt, dass sie eine
Rückführung der Nettoneuverschuldung mit dem Ziel
ausgeglichener Haushalte anstreben wollen und dass der
Finanzplanungsrat eine gemeinsame Ausgabenlinie emp-
fehlen kann, die sicherstellt, dass die Bestimmungen des
Maastricht-Vertrages und des europäischen Stabilitäts-
und Wachstumspaktes umgesetzt werden.
Es ist richtig, dass diese Regelungen nicht erst ab 2005,
sondern so bald wie möglich in Kraft gesetzt werden. Der
von der Bundesregierung – auch auf Wunsch der Länder –
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eingebrachte Gesetzesentwurf, über den wir heute beraten
und entscheiden, sieht vor, dass die genannten Verfahrens-
regeln zur Haushaltsdisziplin von Bund und Ländern noch
im Laufe dieses Jahres angewendet werden können. Dem
stimmt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich zu.
Die Verabredung zu strikter Ausgabendisziplin und
eine Rückführung der Neuverschuldung aller Gebietskör-
perschaften sind notwendige und richtige Vorhaben. Die
Union unterstützt nachdrücklich das Ziel ausgeglichener
Haushalte und finanzpolitischer Stabilität. Wir erwarten
allerdings, dass Bund und Länder ihrer finanzpolitischen
Gesamtverantwortung gerecht werden und insbesondere
den Kommunen keine weiteren Sonderlasten aufbürden.
Ich persönlich hätte es sehr begrüßt, wenn es Minister
Eichel gelungen wäre, dies in einem nationalen Stabili-
tätspakt – mit Sanktionsmöglichkeiten – festzuschreiben.
Es wäre allerdings ein Fehler, jetzt anzunehmen, durch
das Vorziehen der soeben beschriebenen Regelung sei al-
les Erforderliche getan, um Deutschland vor einer Über-
schreitung der Maastrichter Stabilitätskriterien zu be-
wahren. Vielmehr sind in erster Linie erheblich höhere
Wachstumsraten notwendig, als wir sie derzeit haben. Wir
müssen das gesamte Regierungshandeln darauf ausrich-
ten, das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln und
den Arbeitslosen Stellen zu verschaffen. Wir können uns
nicht damit abfinden, dass wir Schlusslicht beim Wirt-
schaftswachstum in Europa sind, aber Spitzenreiter bei
den Unternehmensinsolvenzen.
Wir sind das Land mit der höchsten Neuverschuldung
in ganz Europa. Aus dem einstigen Stabilitätsmuster-
schüler ist Deutschland mit einem Defizit von 2,7 Prozent
im Jahr 2001 und wohl mindestens 2,8 Prozent in diesem
Jahr unter der rot-grünen Bundesregierung das Schluss-
licht in Europa geworden. In allen europäischen Ländern
ist das Staatsdefizit seit 1998 gesunken, nur in Deutschland
ist es aufgrund der schlechten rot-grünen Wirtschafts-,
Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik gestiegen. Mit großen
Schritten bewegen wir uns auf die 3-Prozent-Defizit-
grenze zu. Es ist Bundesfinanzminister Eichel zwar vor-
erst gelungen, eine Frühwarnung der EU-Kommission
– den so genannten blauen Brief – abzuwenden, indem er
die Zusage gemacht hat, dass 2004 ein nahezu ausge-
glichener Haushalt erreicht wird. Angesichts der weg-
brechenden Steuereinnahmen – allein in den Jahren 2002
bis 2004 werden das für alle öffentlichen Haushalte wohl
etwa 47 Milliarden Euro sein – ist bei einem „Weiter so!“
Eichels Brüsseler Versprechen blanke Illusion. Eichel hat
sein Versprechen wohl auch nur gemacht, weil er ziemlich
sicher davon ausgehen kann, dass er 2004 nicht mehr Fi-
nanzminister ist.
Der Bundeskanzler hat wohl befürchtet, der verdiente
blaue Brief aus Brüssel werde seine Wahlchancen deut-
lich verschlechtern, da er das offenkundige Versagen der
rot-grünen Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Steuerpolitik
durch die EU-Kommission dokumentieren würde. Des-
halb hat er mit allen Mitteln – ohne an die Konsequenzen
und an den Schaden zu denken, der durch dieses Handeln
entstanden ist – die Frühwarnung der EU verhindert.
Nicht verhindern konnte er jedoch, dass die Deutsche
Bundesbank in ihrem letzten Geschäftsbericht der Bun-
desregierung einen blauen Brief ins Stammbuch geschrie-
ben hat. Und im Herbst – nach der Wahl – droht der blaue
Brief der EU-Kommission erneut. Die Arbeit der neuen
Bundesregierung wird also mit einer schweren Hypothek
belastet sein.
Unsere Wirtschaftsdaten sind allerdings durch Eichels
unrealistisches Versprechen um keinen Deut besser ge-
worden. Und unser Ansehen in der Eurozone hat so oder
so erheblich gelitten, schließlich war es gerade Deutsch-
land – Eichels Vorgänger Theo Waigel –, das den europä-
ischen Stabilitätspakt durchgesetzt hat.
Der Bundesfinanzminister hat zu den dramatischen
Steuerausfällen geäußert, er sei über die Folgen der von
ihm gegen den erbitterten Widerstand der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion und fast aller Sachverständigen
durchgesetzten Steuerreform „überrascht“. Er hat also die
Folgen seines Regierungshandelns falsch eingeschätzt –
und Sie von Rot-Grün sind ihm gefolgt. Und jetzt wun-
dern Sie sich! Statt ihre verfehlte Wirtschafts-, Arbeits-
markt- und Steuerpolitik zu korrigieren, versucht die Bun-
desregierung, Länder und Kommunen für die Folgen ihrer
verfehlten Politik verantwortlich zu machen. Das ist
falsch und soll nur ablenken.
Tatsache ist, dass die rot-grüne Bundesregierung die
gesamtwirtschaftliche Verantwortung für Wachstum, Ver-
schuldung und Arbeitsplätze in Deutschland trägt. Tat-
sache ist, dass Sie durch eine unverantwortliche Wirt-
schafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik Deutschland in
eine Rezession geführt haben, eine Rezession, die über-
wiegend hausgemacht ist und gewaltige Steuerausfälle für
Länder und Kommunen gebracht hat. Tatsache ist, dass
Rot-Grün – gegen den versammelten Sachverstand – eine
Steuerreform zugunsten der Kapitalgesellschaften durch-
gesetzt hat mit der Folge, dass die Körperschaftsteuerein-
nahmen dramatisch eingebrochen sind. Und schließlich
ist auch Tatsache: Schröder und Eichel haben die Finanz-
situation der Kommunen durch Lastenverlagerungen,
durch eine nicht gerechtfertigte Anhebung der Gewerbe-
steuerumlage und durch den hausgemachten Konjunktur-
einbruch dramatisch verschlechtert. Rot-Grün hat die
kommunalen Kassen geplündert. Und nun werfen Sie den
Städten und Gemeinden vor, dass sie die Verschuldung er-
höhen müssen. Die Schuldzuweisungen des Finanzminis-
ters an andere Gebietskörperschaften sind in der Sache
falsch und ungerecht.
Zur Beschreibung der aktuellen Finanzsituation gehört
auch, dass im Jahr 2002 die Nettokreditaufnahme nahe an
die Verfassungsgrenze des Art. 115 GG kommen wird.
Wenn weitere massive Einnahmeausfälle kommen – und
bei der Körperschaftsteuer zeichnet sich dies leider ab –,
dann wird die Nettokreditaufnahme höher sein als die In-
vestitionen im Bundeshaushalt. Jetzt rächt sich bitter, dass
diese Regierung keinerlei finanz- und wirtschaftspoliti-
sches Leitbild hat. Wer wie Rot-Grün immer neue Hürden
für mehr Wachstum und Beschäftigung errichtet hat und
am Jahresanfang 2002 den Investoren und Konsumenten
rund 5 Milliarden Euro durch Steuererhöhungen – bei der
Ökosteuer, der Tabak- und Versicherungsteuer und der
Schwefelsteuer – aus der Tasche gezogen hat, der handelt
ökonomisch verantwortungslos und muss sich über Kauf-
zurückhaltung und Nachfrageschwäche nicht wundern.
Viele auch von der SPD regierte Länder mussten auf die
massiven Verschlechterungen auf der Einnahmenseite
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mit Haushaltssperren reagieren. Sie sehen keinen anderen
Ausweg aus der misslichen Lage, in die sie diese Bun-
desregierung gebracht hat.
Dringend notwendig sind eine durchgreifende Deregu-
lierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und eine
Entbürokratisierung vieler Lebensbereiche. Zusammen
mit einer kräftigen Konjunkturbelebung wird dies auch
eine Entlastung des Arbeitsmarktes bewirken. Die Union
hat mit dem Modell „dreimal 40“ ein ehrgeiziges, aber not-
wendiges Ziel vorgegeben. Neben der stufenweisen Sen-
kung des Spitzensteuersatzes auf unter 40 Prozent sind vor
allem die Rückführung der Staatsquote von derzeit 48,5
Prozent schrittweise auf rund 40 Prozent und die Reduzie-
rung der Sozialversicherungsbeiträge auf im Ergebnis
circa 40 Prozent nötig, um die Beschäftigungsschwelle
deutlich zu senken. Der weit überwiegende Teil der Kos-
ten wird durch Umschichtungen im Bundeshaushalt, durch
die konsequente Rückführung der konsumtiven Ausgaben
und durch eine schrittweise Kürzung der Mittel für den
zweiten Arbeitsmarkt aufzubringen sein. CDU und CSU
wollen durch eine Rückführung der Abgaben und Steuern
die Eigenverantwortung der Bürger stärken und ihnen
mehr Möglichkeiten zur Eigenvorsorge geben. Dazu muss
es zu einer wachstumsfördernden Steuerpolitik und zu
sparsamem Wirtschaften in den öffentlichen Haushalten
kommen. Außerdem brauchen wir umfassende Reformen
bei den sozialen Sicherungssystemen und in allen gesell-
schaftlichen Bereichen.
Wir werden diese Aufgaben ab September – wenn dies
der Wähler will – mit Mut und Elan anpacken. Durch Wei-
terwurschteln mit „ruhiger Hand“ werden wir die Zukunft
sicher nicht gewinnen können.
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
heute zu debattierende Änderung des Solidarpaktfort-
führungsgesetzes ist eine kleine, aber sehr wesentliche. Wir
beschließen einen entscheidenden und konkreten Schritt,
die Länder in einen nationalen Stabilitätspakt einzubezie-
hen, um gemeinsam unseren Verpflichtungen gegenüber
dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu ent-
sprechen und ausgeglichene öffentliche Haushalte vorwei-
sen zu können.
Nachdem wir im letzten Jahr bei der Debatte zum Maß-
stäbegesetz eine eher weiche Absichtserklärung der Län-
der mit aufgenommen haben, geht es nun um die Schaf-
fung harter Fakten. Die Länder werden verpflichtet, ihren
Ausgabenzuwachs auf maximal 1 Prozent zu begrenzen.
Der Bund geht mit leuchtendem Beispiel voran, indem er
seinen Ausgabenzuwachs auf 0,5 Prozent begrenzt.
Es versteht sich, dass die Länder unterschiedlich schnell
und stark auf die Herausforderungen dieses nationalen Sta-
bilitätspakts reagieren können. Die Länder mit einer Haus-
haltsnotlage verdienen besondere Berücksichtigung. Das
Ziel ist für alle gleich: ausgeglichene Haushalte. Die Wege
und Geschwindigkeiten werden unterschiedlich sein. Des-
halb wurde die Vorgabe für die Länder doppelt so hoch an-
gesetzt wie für den Bund. Das lässt Spielraum.
Die Finanzministerkonferenz der Länder wünschte eine
Sondersitzung des Finanzplanungsrates, die am 21. März
2002 stattfand. Nachdem Deutschland am 12. Februar die-
ses Jahres dem Ecofin-Rat gegenüber die Umsetzung des
Stabilitätspaktes zugesagt hatte, waren sowohl der Bund
als auch die Länder daran interessiert, diese Umsetzung
konkret zu erörtern. Nun werden die Haushaltsgrundsätze
angepasst, um die Gewährleistung der Haushaltsdisziplin
im Sinne des Art. 104 EGV auf eine europataugliche
Grundlage zu stellen.
Auch wenn die heutige Aktuelle Stunde etwas anderes
suggierte, weiß ich doch, dass die Mehrheit des Hauses
die Sinnhaftigkeit und auch die Alternativlosigkeit dieser
Vorgehensweise erkannt hat und insofern heute dieser Än-
derung zustimmen wird.
Gerhard Schüßler (FDP): Die FDP hat dem Gesetz-
entwurf, den wir heute beraten, im Finanzausschuss nicht
zugestimmt und wird auch heute mit Nein votieren. Vor-
gezogen werden soll eine Änderung des Haushalts-
grundsätzegesetzes, deren Inhalt wir natürlich begrüßen.
Geregelt wird die Begrenzung der Ausgabensteigerung
von Bund und Ländern. Das ist aber schon das einzig Po-
sitive.
Die FDP lehnt dieses Gesetz ab, weil das Solidarpakt-
fortführungsgesetz – übrigens ein vollkommen falscher Ti-
tel – auf einem faulen Kompromiss von Bund und Ländern
beruht. Jetzt wollen Sie die Ausgabensteigerung begrenzen,
im letzen Jahr hätten Sie nicht nur die Gelegenheit, sondern
auch die Pflicht gehabt, die Aufgabenverteilung zwischen
Bund und Ländern neu zu regeln. Das hat uns allen das
Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben. Die Neurege-
lung des Länderfinanzausgleichs, als echtes Maßstäbege-
setz gefordert, als Verschiebebahnhof beschlossen, mit
dem Namen Solidarität tabuisiert, damit es ja keine Kritik
gibt: Hier macht die FDP nicht mit.
Gerade die Kollegen von den großen Fraktionen
scheuen davor zurück, endlich hoheitliche Aufgaben neu
zu ordnen und dabei kräftig zu stutzen. Stattdessen wird
jetzt der Anstieg der Ausgaben begrenzt. Das ist für sich
zu begrüßen, aber nur ein Kurieren an Symptomen.
Die FDP hat Vorschläge für eine Neuregelung des Län-
derfinanzausgleichs gemacht. Sie waren nicht bereit, diese
aufzugreifen. Die Koalition hat nach drei Jahren Nichtstun
jetzt eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen
bzw. der Abschaffung der Gewerbesteuer eingesetzt, um
Aktivität zu demonstrieren. Mit anderen Worten: Sie sind
trotz aller Lippenbekenntnisse nicht bereit, dringend not-
wendige und von den Bürgern erwartete Reformen einzu-
leiten. Hier macht die FDP keinesfalls mit.
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Die PDS-Fraktion
stimmt der generellen Zielsetzung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung, die Nettoneuverschuldung der Haus-
halte von Bund, Ländern und Gemeinden zurückzuführen,
zu. Dennoch wird der Gesetzentwurf wegen grundsätzli-
cher inhaltlicher Bedenken abgelehnt.
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte in
der Bundesrepublik beläuft sich derzeit zusammen auf
etwa 1,2 Billionen Euro. Natürlich darf daher auch das An-
liegen, ausgeglichene Haushalte anzustreben, nicht aus den
Augen verloren werden. Für das von Bundesfinanzminister
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223976
(C)
(D)
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(B)
Eichel abgegebene Versprechen, dies bereits im Jahr 2004
erreichen zu können, bestehen aber keine ausreichenden
Voraussetzungen. Allein der mit der Steuerschätzung vom
Mai dieses Jahres prognostizierte Rückgang der Steuerein-
nahmen in 2002 und 2003 um zusammen rund 30 Milliar-
den Euro nährt erhebliche Zweifel, dass die vom Finanz-
planungsrat im März dieses Jahres vereinbarte Begrenzung
des Ausgabenwachstums auch nur annähernd ausreichen
wird, diese Einnahmeausfälle zu kompensieren. Ohne kräf-
tig sprudelnde Einnahmen aber sind Bund, Länder und Ge-
meinden immer weniger in der Lage, ihrer Verantwortung
für die Förderung des Wirtschaftslebens und die Ankurbe-
lung des Arbeitsmarktes, für die notwendige Bildungsof-
fensive bzw. die Lösung sozialer, soziokultureller und öko-
logischer Aufgaben nachzukommen.
Die im Gesetzentwurf verankerte Vorziehung der An-
wendung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstums-
paktes verkommt in weiten Teilen zur Formalie. Besonders
davon betroffen sind Städte, Gemeinden und Landkreise.
Der so genannte Finanzierungssaldo hat nämlich auf der
kommunalen Ebene, anders als auf der Ebene von Bund und
Ländern, nur eine vergleichsweise geringe Aussagekraft zur
Beurteilung der jeweiligen Haushaltsituation. Daher sind
Vergleiche von Finanzierungssalden zwischen Bund und
Ländern einerseits und der kommunalen Ebene andererseits
auch nicht geeignet, ein zutreffendes Bild der vielerorts dra-
matischen kommunalen Finanzlage zu zeichnen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ignoriert die gravie-
renden Unterschiede zwischen dem kommunalen Haus-
haltrecht auf der einen Seite sowie der Bundeshaushalt-
ordnung bzw. den Haushaltordnungen der Länder auf der
anderen Seite. Die dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung mit zugrunde liegende Verpflichtung der Kommunen
nämlich, den gesamten Schuldendienst aus den laufenden
Einnahmen des Verwaltungshaushaltes zu decken, würde
bewirken, dass diese weit stärker als Bund und Länder ge-
zwungen sind, durch Leistungseinschränkungen zulasten
von Bürgern und Wirtschaft, durch weiteren Abbau des
Personals sowie anhaltende Rückführung der bereits dras-
tisch reduzierten Investitionen das kommunale Finanzie-
rungsdefizit zu senken.
Der von der PDS-Fraktion eingebrachte Änderungsan-
trag 14/9276 stellt die Dinge wieder vom Kopf auf die
Füße. Wir bitten Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen.
Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister
der Finanzen: Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Solidarpaktfortführungsgesetzes zieht das In-Kraft-
Treten von § 51 a Haushaltsgrundsätzegesetz auf den
1. Juli 2002 vor. Damit wird ein Beschluss des Finanz-
planungsrates vom 21. März 2002 umgesetzt.
Zur Erinnerung: Die Entwicklung des Staatshaushaltes
verlief im Jahr 2001 deutlich ungünstiger, als wir es in un-
serem Stabilitätsprogramm gegenüber der EU vom Okto-
ber 2000 ursprünglich prognostiziert hatten. Ursache hier-
für war insbesondere ein nicht vorhersehbarer Anstieg der
Defizite in den Haushalten der Länder. Die Länderdefizite
haben sich gegenüber dem Vorjahr verdreifacht.
Wir haben im Ecofin-Rat unser Ziel bekräftigt, im Jahr
2004 einen nahezu ausgeglichenen Staatshaushalt zu er-
reichen. Hierfür hat Deutschland unter anderem zugesagt,
Vereinbarungen mit den Ländern über einen nationalen
Stabilitätspakt zu treffen, der das Erreichen dieses Zieles
sicherstellt.
In schwierigen Verhandlungen haben Bund und Länder
auf der Sondersitzung des Finanzplanungsrats am 21. März
2002 beraten, wie sie in gemeinsamer Verantwortung die
Einhaltung der Vorgabe des europäischen Stabilitätspak-
tes sicherstellen können, im Jahr 2004 einen nahezu aus-
geglichenen Staatshaushalt zu erreichen.
Als wesentlicher Eckpunkt wurde beschlossen, die
Neuregelung des § 51 a Haushaltsgrundsätzegesetz be-
reits zur Jahresmitte 2002 in Kraft treten zu lassen.
Der neue § 51 a regelt zur Einhaltung der Haushalts-
disziplin im Rahmen der EU, dass Bund und Länder anstre-
ben, ihre Nettoneuverschuldung mit dem Ziel ausgegliche-
ner Haushalte zurückzuführen; durch die Empfehlung des
Finanzplanungsrates für eine gemeinsame Ausgabenlinie
sicherzustellen ist, dass die Bestimmungen des Maastricht-
Vertrages und des europäischen Stabilitätspaktes zur Be-
grenzung des gesamtstaatlichen Defizits umgesetzt werden,
der Finanzplanungsrat bei Abweichungen Empfehlungen
zur Wiederherstellung der Haushaltsdisziplin ausspricht.
Der letzte Punkt spiegelt das Verfahren, dem sich
Deutschland auf EU-Ebene stellen muss, auf nationaler
Ebene wider.
Im Geiste des neuen § 51 a haben die Mitglieder des Fi-
nanzplanungsrates einen nationalen Stabilitätspakt be-
schlossen, der für die Jahre 2003 und 2004 vorsieht, dass
der Bund seine Ausgaben im Vergleich zu 2002 um durch-
schnittlich 0,5 Prozent pro Jahr vermindern wird und Län-
der und Gemeinden ihr jährliches Ausgabenwachstum auf
jeweils 1 Prozent im Jahresdurchschnitt begrenzen werden.
Dabei bleibt der Bund bei seiner Planung, 2006 einen
ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Die Ausgabenempfehlung des Finanzplanungsrates
wird also so angepasst, dass im Jahr 2004 – bei Vorliegen
der konjunkturellen Voraussetzungen – ein nahezu ausge-
glichener Staatshaushalt erreicht wird.
Damit wurde der Kernpunkt unseres Konzeptes für eine
innerstaatliche Regelung zur Einhaltung der EU-Vorgaben
zur Haushaltsdisziplin verwirklicht: Statt eine bürokrati-
sche und unpraktikable Verteilung von Defizitobergrenzen
für jedes einzelne Bundesland anzustreben, wie es die Vor-
gängerregierung vergeblich versucht hat, wird die Ausga-
benlinie des Finanzplanungsrates für die Ziele des europä-
ischen Stabilitätspaktes instrumentalisiert.
Dieser Ansatz hat mit der neuen Ausgabenempfehlung
des Finanzplanungsrates seine erste Bewährungsprobe
bestanden.
Das Ergebnis der Sondersitzung des Finanzplanungsra-
tes ist ein großer Erfolg für die stetigen Bemühungen der
Bundesregierung, die Länder konkret in die gesamtstaatli-
che Verantwortung zur Einhaltung der Vorgaben des euro-
päischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzubinden.
Ausdrücklich möchte ich in diesem Zusammenhang auf
die Kooperationsbereitschaft aller Bundesländer hinweisen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23977
(C)
(D)
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(B)
die sich zu ihrer Verantwortung für die Einhaltung der euro-
päischen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin bekannt haben.
Damit wird im Übrigen auch einer Forderung der EU-
Kommission Rechnung getragen, die Rolle des Finanzpla-
nungsrates bei der innerstaatlichen Umsetzung der euro-
päischen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin aufzuwerten.
Entsprechend positiv wurde die Regelung eines nationalen
Stabilitätspaktes von der EU-Kommission aufgenommen.
Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent-
wurf wird die Finanzpolitik von Bund, Ländern und Ge-
meinden auf eine europataugliche Grundlage gestellt.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
der Berichte:
– Nationales Luftfahrtforschungsprogramm
fortsetzen
– Luftfahrtforschung voranbringen
(Tagesordnungspunkt 10 a und b)
Dr. Margrit Wetzel (SPD): Der Luftfahrtstandort
Deutschland ist ein starker Partner im europäischen Ver-
bund der Luftfahrtindustrie und muss als solcher gesichert
werden. Darin sind wir gewiss über alle Fraktionen hin-
weg einig. Nur allzu gut ist uns der Tiefpunkt Mitte der
90er-Jahre in Erinnerung: Ich nenne nur das Stichwort
„Dolores“. Der Umsatz der Branche, der Anfang der 90er-
Jahre noch bei 14 Milliarden DM lag, fiel um circa 40 Pro-
zent auf knapp 8 Milliarden. Die Zahl der Beschäftigten
nahm um 30 Prozent ab, fast 30 000 Arbeitsplätze gingen
verloren. Dann folgte die neue Erfolgsstory der Luftfahrt-
industrie: Nicht zuletzt unterstützt durch die Luftfahrtfor-
schungsprogramme stieg der Umsatz bis 2001 wieder auf
circa 15 Milliarden DM, verdoppelte sich also fast. 10 000
Menschen fanden neue, qualifizierte Arbeitsplätze.
Deutsche Unternehmen sind wieder Top-Partner in der
EU – und so soll es auch bleiben. Das heißt für uns: Wenn
wir die Wettbewerbsfähigkeit und die Planungssicherheit
für die Unternehmen unterstützen wollen, dürfen wir die
Industrie mit ihren hervorragenden Eigenbeiträgen nicht
allein lassen. Natürlich kann die Industrie, wenn sie
schwarze Zahlen schreibt, auch richtig große eigene An-
strengungen auf den Weg bringen. Und das tut sie auch.
Wenn es aber darum geht, Kernkompetenzen in Deutsch-
land zu halten, Arbeitsplätze und den Markterfolg der Un-
ternehmen zu sichern, dann müssen wir mindestens glei-
che Unterstützung gewähren wie unsere wichtigen Partner
in Europa. England und Frankreich zum Beispiel fördern
Forschung und Entwicklung ihrer Luftfahrtindustrie mit
namhaften Beträgen von 50 Millionen Euro jährlich. Wir
haben inzwischen erreicht, dass auch die Bundesländer, in
denen die Unternehmen ansässig sind, sich an der Unter-
stützung ebenso beteiligen wie der Bund – und ebenso
nicht zu vergessen die wissenschaftlichen Forschungsein-
richtungen.
Deutschland ist inzwischen weltweit führend in der
Triebwerkstechnik. Deutsche Unternehmen haben gera-
dezu Quantensprünge hinsichtlich der Lärmreduzierung
erreicht. Jedes Flugzeug muss landen. Diese einfache
Wahrheit verpflichtet uns alle, die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass immer leisere Flugzeuge entwickelt,
Start- und Landevorgänge geräuschärmer werden; das ge-
samte Flughafenumfeld mit seinen Lärmemissionen ist
für immerwährende Verbesserungen ein dankbares For-
schungsfeld. Mit Blick auf die langfristigen Wachstums-
prognosen des Flugverkehrs – für die produzierende In-
dustrie natürlich eine Freude – muss es uns aber gelingen,
Verkehrswachstum und Umweltbelastung zu entkoppeln.
Der Luftraum muss so effektiv wie möglich genutzt wer-
den. Und gleichzeitig wollen wir – gerade im Hinblick auf
den 11. September – mehr Sicherheit beim Flugverkehr,
möglichst die Verbesserung der Flugsicherheit zu einem
mitentscheidenden Förderkriterium erheben. Alle For-
schungen, die eine höhere Wirtschaftlichkeit, die mehr
Nutzerfreundlichkeit bewirken, verdienen unsere Unter-
stützung. Der Treibstoffverbrauch kann noch weiter ge-
senkt werden, ebenso die Schadstoffbelastungen, die Su-
che nach alternativen Treibstoffen kann gar nicht intensiv
genug betrieben werden.
Unsere Motivation, die Luftfahrtforschung weiter ste-
tig und angemessen zu fördern, kommt nicht zuletzt aus
den Erfolgen und Eigenanstrengungen unserer Industrie.
Das gilt für den Umweltschutz in der Produktion, für die
Arbeitssicherheit, den Gesundheitsschutz in den Unter-
nehmen ebenso wie für die Konstruktion oder neue Tech-
nologien für die Flugerprobung.
Wenn ich Ihnen einfach einmal einige Beispiele aus
den Airbus-Werken nennen darf: Neue Technologien bei
der Blechteilefertigung oder die Nutzung der Umkehr-
osmose im Bremer Werk sparen Energie und entlasten von
Umweltschäden. Oder nehmen wir die Hallenkonzeption
für den Neubau des A380. Ganz neue Dimensionen zeigen,
dass Unternehmen flexibel genug für langjährige Baupha-
sen planen können: Sie sind in der Lage, auch Optionen
für absolut technische Neuerungen in der Produktion of-
fen zu lassen. Das Hamburger Airbus-Werk hat übrigens
vom Amt für Arbeitsschutz eine Auszeichnung bekom-
men. Auch Arbeitsschutz gehört heute unverzichtbar zum
Fortschritt.
Ständige Fortbildung und Qualifizierung der Mitarbei-
ter kostet die Unternehmen nicht wirklich, wenn sie be-
weglich genug sind, die Kreativität ihrer Mitarbeiter zu
nutzen: Energie-Einsparungsvorschläge eines Mitarbei-
ters haben bei Presstechnik-Anlagen zum Beispiel zu
Einsparungen von 6 Prozent auf den Gesamtverbrauch
geführt. Das Laserstrahlschweißen hat auch in der Luft-
fahrt Einzug gefunden – und führt zu Materialeinsparung
und Lärmreduzierung gleichzeitig. Vergessen wir „Dolo-
res“, denken wir lieber an TANGO. Bei der Erforschung
neuer Werkstoffe kooperieren 34 Partner aus ganz Eu-
ropa. Darunter diverse Airbuspartner, Universitäten und
Forschungseinrichtungen aus ganz Europa.
Wenn wir also von der Vernetzung von Spitzenfor-
schungseinrichtungen reden, die wir stabilisieren wollen:
Die Beispiele gibt es bereits, wir müssen die Pflänzchen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223978
(C)
(D)
(A)
(B)
nur pflegen. Der A 380 ist nicht das Ende der Fahnenstan-
ge – Konstrukteure entwickeln auch ganz neue Flugzeug-
typen, die völlig andere ökologische und ökonomisch in-
teressante Dimensionen ahnen lassen. Und deshalb sind
sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ei-
nig: Wir wollen das erfolgreiche Luftfahrtforschungspro-
gramm fortsetzen. Die High Level Group, das fachliche
Beratungsgremium des Luft- und Raumfahrtkoordinators,
hat den Bedarf der Industrie auch mit Blick auf unsere
Nachbarländer auf circa 50 Millionen Euro beziffert. Un-
ser Antrag fordert im Rahmen der finanzpolitischen Leit-
linien eine angemessene jährliche Bundesförderung. Und
die heutige Debatte soll unseren Haushältern bei den
schwierigen Verhandlungen gegenüber anderen Interessen
und Bedürfnissen den Rücken stärken, damit sie entspre-
chende Haushaltstitel bis zur Einbringung des Haushalts
2003 im September einwerben können.
Gemeinsam machen wir unsere Haushälter stärker.
Max Straubinger (CDU/CSU): In zahlreichen Ge-
sprächen mit führenden Repräsentanten unserer heimi-
schen Luftfahrtindustrie und aufgrund eigener Erfahrungen
muss man feststellen, dass die deutsche Luftfahrtindustrie
bei europäischen Gemeinschaftsproduktionen, insbeson-
dere mit den französischen Partnern, im Hightechbereich
immer weiter zurückgedrängt wird. Deutschland droht, ge-
rade im europäischen Vergleich auch in diesem Bereich of-
fensichtlich ins Hintertreffen zu geraten und damit
langjährig erworbene Kernkompetenzen sowie ein enor-
mes Wirtschaftspotenzial verpuffen zu lassen.
So hat der Bund seine Förderaktivitäten im Luftfahrt-
forschungsprogramm leider von 600 Millionen DM – das
sind circa 300 Millionen Euro – im Zeitraum 1995 bis
1998 für LuFo I drastisch auf 240 Millionen – das sind
circa 120 Millionen Euro – im Zeitraum 1999 bis 2002 für
LuFo II zulasten der Länder und der Industrie zurückge-
fahren. Davon wurden erstaunlicherweise bis Ende 2002
nur 203 Millionen DM verfügt und die restlichen 37 Mil-
lionen DM stillschweigend auf die kommenden Jahre ver-
teilt mit der Folge, dass in diesem Jahr keine Projekte mehr
bewilligt werden konnten. Da läuft doch etwas schief!
Ohne eine echte Kraftanstrengung in diesem Bereich
wird Deutschland jedenfalls beim derzeitigen Restruktu-
rierungsprozess der europäischen Luft- und Raumfahrtin-
dustrie hinsichtlich der harten Kämpfe um das Bestehen
zukünftiger EADS-Standorte schnell das Nachsehen ha-
ben und weder im zivilen noch im militärischen Bereich
den Zuschlag, beispielsweise für die sich in Vorbereitung
befindliche, neu zu gründende europäische Gesellschaft
für den Bereich der militärischen Luftfahrt erhalten. Zu-
dem fließt in die US-Raumfahrtindustrie circa dreimal so
viel staatliche Unterstützung als in europäische Unter-
nehmen. Konkret stellt sich dabei ein Verhältnis von
23 Milliarden Dollar zugunsten der US-Unternehmen
jährlich zu circa 7,2 Milliarden Euro für europäische Fir-
men dar. Gerade im Vergleich zum Beispiel zu Frankreich
gibt Deutschland schlichtweg zu wenig Geld für Luft- und
Raumfahrt aus. Sollte hier in absehbarer Zeit keine Wende
erfolgen, droht Deutschland ein Abwandern der Wert-
schöpfung und damit verbunden ein Abwandern hoch
qualifizierter Spezialisten in andere Länder ganz zu
schweigen von dem Problem, überhaupt qualifizierten In-
genieurnachwuchs zu erhalten.
Wenn ich schon die Probleme und aktuellen Krisenbe-
wältigungsszenarien in diesem Bereich anführe, muss man
in diesem Zusammenhang erwähnen, dass der Bund zum
Beispiel auch gefordert ist, baldmöglichst die Grundlagen
für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Fairchild Dornier in
Oberpfaffenhofen zu schaffen und bei der Suche nach ei-
nem potenziellen strategischen Partner mit Bürgschaften
für die notwendige Finanzierung unterstützend zu wirken.
Denn der Erhalt von Fairchild Dornier ist nicht nur eine
Entscheidung für den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern
vor allem auch eine strategische technologische Entschei-
dung für den Erhalt des Flugzeugbaustandortes Deutsch-
land.
Deshalb wäre es notwendig, dass sich die Bundesre-
gierung bald für eine zielgerichtete Förderung der ange-
strebten Partnerschaft mit dem kanadischen Konzern
Bombardier ausspricht. Der Besuch des Bundeskanzlers
in Kanada am 25. Juni 2002, bei dem er auch bei Bom-
bardier sein wird, wäre ein guter Anlass dafür, endlich
Klarheit darüber zu schaffen, dass man bereit ist, konkret
den in Turbulenzen geratenen nationalen Flugzeugher-
steller zu retten.
Sieht man sich entsprechende Zahlen an, kann es sich
jedoch eine Bundesregierung, die vorgibt, sich um den Er-
halt von Arbeitsplätzen ernsthaft zu bemühen, nicht leis-
ten, die Luftfahrtforschung weiterhin ungenügend voran-
zutreiben. Denn allein in der Luft- und Raumfahrtindustrie
sind in Deutschland 70 000 Menschen direkt beschäftigt.
Vom gesamten Luftverkehr hängen 250 000 Arbeitsplätze
direkt und 500 000 indirekt ab. Darüber hinaus sprechen
Prognosen bis 2020 übereinstimmend von einem jährli-
chen Wachstum des Fluggästeaufkommens von bis zu
5 Prozent und von einem Anstieg des Luftfrachtverkehrs
um jährlich 7 Prozent. Von einer Festigung der Position
von Airbus, dem größten europäischen Flugzeughersteller,
könnte Deutschland bei einem Umsatz von insgesamt
600 Milliarden Euro bis 2020 maßgeblich, das heißt bis ge-
schätzte 40 Prozent profitieren: Das alles lässt kein weite-
res Zögern in der Bereitstellung von angemessenen För-
dermitteln zu! Auch wenn infolge der fürchterlichen
Ereignisse des 11. September 2001 optimistische Ein-
schätzungen kurzfristig revidiert werden mussten, ist lang-
fristig in jedem Fall mit einer Fortsetzung des positiven
Trends zu rechnen. Das zeigte auch die Erfahrung nach
dem Golfkrieg.
Weitere erfreuliche und fortzusetzende Trends sind
aufgrund der Leichtbauweise zum einen die in den letzten
30 Jahren deutlich gesunkenen Lärmemissionen, zum an-
deren der gesunkene Treibstoffverbrauch und damit ein-
hergehende verminderte C02-Emissionen, die bis 2020um weitere 30 Prozent gesenkt werden können.
Über eine weitere Verbesserung der Umwelt- und Lärm-
verträglichkeit des Luftverkehrs sind wir uns in diesem
Hause ja alle einig. Wenn ich mir allerdings die Ausführun-
gen des Kollegen Fell von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen in der letzten Debatte zu dieser Thematik vom
24. Januar dieses Jahres nochmals vor Augen führe, in de-
nen er sehr einseitig die Entwicklung sparsamer sowie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23979
(C)
(D)
(A)
(B)
alternativer Brennstoffe fordert, aber das Zurückfahren
nationaler Fördermittel ausdrücklich begrüßt, frage ich
mich, wie die Koalition, insbesondere das Bündnis 90/Die
Grünen, mit der notwendigen technologischen Fortent-
wicklung in der Luftfahrt Schritt halten möchte. Die vom
Kollegen Fell geforderten „intelligenten Materialien“
werden uns nicht aus dem Weltall zum Nulltarif zufliegen;
wenn ich das einmal so salopp formulieren darf. Wenn
Bundesumweltminister Trittin bei der dritten Teilgeneh-
migung des Forschungsreaktors in Garching das Verfah-
ren immer wieder verzögert und dabei den gesetzlich ver-
ankerten Grundsatz der Straffung einfach ignoriert hat,
muss man sich als Regierungspartei ernsthaft fragen las-
sen, ob man überhaupt an technischer Innovation interes-
siert ist.
Fest steht – darüber sind sich ebenfalls alle Parteien im
Grundsatz einig –, dass es auch ein Luftfahrtforschungs-
programm III geben muss. Zu unkonkret sind jedoch Aus-
sagen der Koalition darüber, was sie für die Luftfahrtfor-
schung ausgeben will. Es ist immer wieder die Rede
davon, die Luftfahrtforschung – ähnlich wie in Frankreich
und England – mit 50 Millionen Euro an jährlichen Bun-
desmitteln zu fördern. Das hat auch der PStS im BMWi,
Herr Mosdorf, in seinen letzten Amtswochen immer wie-
der verlauten lassen. Diese Fördersumme wurde auch auf
der Bund-Länder-Wirtschaftsministerkonferenz des ver-
gangenen Herbstes als politisches Ziel formuliert. In letz-
ter Zeit hört man davon seitens der Bundesregierung al-
lerdings nichts Konkretes mehr. Im Gegenteil: Aus
betroffenen Kreisen habe ich sogar vernommen, dass
Zahlen im Raum stehen, die deutlich unter dieser Summe
liegen. Die zuständigen Ministerien müssen sich nächste
Woche endlich auf für die Luft- und Raumfahrtindustrie
praktikable, zufrieden stellende und planbare Fördermit-
tel einigen. Ich fordere die Bundesregierung deshalb aus-
drücklich auf, möglichst rasch konkrete Zahlen auf den
Tisch zu legen und alles dafür zu tun, dass wir in der Luft-
und Raumfahrt international wettbewerbsfähig bleiben
und Planungssicherheit für die Unternehmen erhalten.
Wenn es auch in Zeiten von angespannten Haushalts-
lagen zugegebenermaßen schwieriger ist, so darf es zu
keinem weiteren Zurückfahren der nationalen For-
schungsförderung auf diesem Gebiet kommen. Ich ver-
weise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die
bereits genannten Arbeitsplätze und das Wachstums-
potenzial in der Luftfahrt. Zudem müssen wir hinsichtlich
der Förderung noch stärker als bisher bedenken, dass die
Mittel dem gesamten Netzwerk aus Universitäten, For-
schungseinrichtungen, Flugzeughersteller und Zuliefer-
unternehmen zugute kommen.
Abschließend möchte ich nochmals zwei Aspekte be-
sonders hervorheben:
Erstens fordern wir die Bundesregierung auf, die von der
deutschen Luft- und Raumfahrtwirtschaft geforderten
400 Millionen Euro für das Fortsetzungsprogramm LuFo III
zumindest zu 50 Prozent – ich möchte diese Zahl ausdrück-
lich als Untergrenze hervorheben – zu übernehmen. Denn
die unbestreitbar notwendigen und in unserem Antrag ver-
ankerten Anstrengungen im Hinblick auf die Erhöhung der
Passagier- und Flugsicherheit, der Verbesserung des Passa-
gierkomforts sowie die Vernetzung der Verkehrsträger
erfordern ein angemessenes Förderbudget.
Zweitens muss und kann sich Deutschland – so wich-
tig und richtig es ist, europaweite Kooperationen in mög-
lichst vielen Bereichen umzusetzen – nur aus einer star-
ken Position heraus international behaupten, denn die EU
wird das nicht für uns übernehmen. Im Gegenteil: Die an-
deren europäischen Staaten, vor allem natürlich die USA,
unterstützen ihre heimische Luft- und Raumfahrtindustrie
wesentlich stärker. Wir dürfen unsere Technologieführer-
schaft nicht aufs Spiel setzen. Deshalb noch einmal meine
Forderung an die Koalition: Unterstützen Sie uneinge-
schränkt unseren Antrag!
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Flugverkehr ist längst unverzichtbar. Durch ihn rücken
die Menschen weltweit näher zusammen. Durch den
Flugverkehr hat sich der Erfahrungshorizont vieler Men-
schen stark erweitert.
Die Luftfahrtindustrie ist darüber hinaus zu einem wich-
tigen Wirtschaftszweig geworden, einem Wirtschaftszweig
überdies, der sehr innovativ ist. Die Innovationsfähigkeit
entscheidet letztlich über die Zukunftsfähigkeit der deut-
schen und europäischen Luftfahrtindustrie. Hiermit
meine ich zum einen natürlich die Bedeutung der Innova-
tion für die Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist aber noch nicht
alles. Zukunftsfähigkeit bedeutet weit mehr: Schon jetzt
trägt der internationale Luftverkehr mit etwa vier Prozent
zum Treibhauseffekt bei. Bis zum 11. September wuchs
der Luftverkehr jährlich um durchschnittlich sieben Pro-
zent. Es ist zu erwarten, dass dieses Wachstum schon bald
wieder fortgesetzt werden wird. Der Flugverkehr wird da-
mit mittel- und langfristig zu einem der wichtigsten Kli-
mafaktoren.
Doch nicht nur das Klima wird durch das starke
Wachstum des Flugverkehrs gefährdet. Paradoxerweise
gefährdet der Flugverkehr sogar sich selbst. Die Flug-
zeuge, die derzeit entwickelt werden und erst in Jahren in
die Produktion gehen, werden auch in Jahrzehnten noch
fliegen. Bis dahin wird der Zeitpunkt der maximalen
Rohölproduktion sehr wahrscheinlich längst überschrit-
ten sein. Dies lässt sich nicht zuletzt im Bericht des Büros
für Technikfolgenabschätzung zur Nachhaltigen Energie-
versorgung nachlesen. Die Kerosinkosten werden somit
während der Nutzungsdauer der nächsten Flugzeuggene-
ration weit über denen von heute liegen.
Wer wie Boeing auf den Sonic Cruiser setzt, der 20 bis
30 Prozent mehr Kerosin benötigen wird als ein heutiges
Flugzeug, beraubt sich aller Wettbewerbschancen. Es ist
daher sehr zu begrüßen, dass Airbus mit dem A380 ein
Flugzeug entwickelt, das bis zu 30 Prozent weniger Kero-
sin verbraucht als die derzeitigen Maschinen.
Meine Damen und Herren, wer langfristig Mobilität
auch im Flugverkehr sichern will, muss daher alles daran
setzen, den Flugverkehr von den begrenzten und noch
dazu klimaschädlichen Energiequellen zu entkoppeln.
Die Flugzeuge müssen zum einen wesentlich sparsa-
mer werden, als sie es heute sind. Zum anderen müssen
– wie in allen anderen Energiesektoren auch – verstärkt
Alternativen zu klima- und luftchemiewirksamen Brenn-
stoffen entwickelt werden. Im Vordergrund könnten bio-
gene Treibstoffe sowie der Wasserstoff stehen. Dabei
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223980
(C)
(D)
(A)
(B)
sollte die Wasserstoffgewinnung durch Biomethanol ge-
prüft werden.
Ein weiteres Problem des steigenden Flugverkehrs ist
der Lärm. Deshalb sieht der rot-grüne Antrag vor, die
Anstrengungen zu verstärken, den Flugverkehr leiser zu
gestalten. Was technisch möglich ist, zum Beispiel über
intelligente Materialien, sollte auch gemacht werden. Da-
rüber hinausgehende Maßnahmen wie Nachtruhezeiten
werden auch in Zukunft im Interesse der Anwohner er-
forderlich sein.
Luftfahrtforschung muss innovativ bleiben. Das heißt,
es müssen auch Konzepte unterstützt werden können, die
vom „business as usual“ abweichen. In diesem Zusam-
menhang sollte zum Beispiel die Entwicklung und Ein-
führung von Luftschiffen gefördert werden. In den letzten
Jahrzehnten erhielt die Flugzeugindustrie in Deutschland
und Europa erhebliche Mittel. Diese Mittel dienten dem
Aufbau eines wettbewerbsfähigen Industriezweigs. Was
für die Flugzeugindustrie recht war, muss der Luftschiff-
industrie billig sein, zumal es sich hierbei um einen Indus-
triezweig handelt, der nach einer längeren Anfangsphase
global neue Märkte erschließen kann und bis auf weiteres
konkurrenzlos da stünde.
Flugverkehrsforschung darf aber nicht bei der Flug-
zeugtechnik und bei den Treibstoffen aufhören. Vielmehr
sind erstens Strategien zur Vermeidung von Flugverkehr
zu entwickeln. Der Flugverkehr ist in ein Gesamtver-
kehrskonzept einzubinden. Dazu bedarf es verkehrs- und
sozialwissenschaftlicher Forschung mit dem Ziel, Wege
zum Umstieg auf Verkehrsmittel mit geringerer Umwelt-
belastung zu finden. Die effizientere Nutzung des Luft-
raumes ist ein weiterer Schwerpunkt, damit Umwege und
Warteschleifen vermieden werden können.
Zweitens müssen unabhängige Szenarien und Bedarfs-
prognosen entwickelt und Technikfolgenabschätzungen
durchgeführt werden. Im Mittelpunkt sollte dabei die Frage
nach den Potenzialen des Luftverkehrs und der Grenzen
des Wachstums des Luftverkehrs in Deutschland stehen.
Drittens sollte die Beeinflussung der Luftchemie und
des Klimas durch den Luftverkehr verstärkt untersucht
werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der CDU/
CSU, es liegt in der Logik der Europäisierung der Luft-
fahrt, dass auch die Luftfahrtforschung europäisiert wird.
Aus bündnisgrüner Sicht war es daher folgerichtig, dass
in den letzten Jahren die Mittel in den europäischen For-
schungsprogrammen für Luftfahrtforschung aufgestockt
und im nationalen Budget abgesenkt wurden.
Damit der Flugverkehr zukunftsfähig ist, muss somit
bei der Verkehrs- und Luftfahrtforschung ein Schwer-
punkt auf die Nachhaltigkeitsforschung gelegt werden.
Der Antrag der Regierungsfraktionen setzt hier die richti-
gen Akzente. Die Vorstellungen der Union und der FDP
setzen hingegen einseitig auf Verkehrswachstum, ohne
die Folgen zu bedenken. Statt Technikfolgenabschätzung
muss man bei der Union und der FDP leider von Technik-
folgen-Ignoranz reden.
Ulrike Flach (FDP): Die Luftfahrtforschung wurde in
dieser Legislaturperiode eher stiefmütterlich behandelt,
was sicher damit zu tun hat, dass sie vom BMBF ins BMWi
verlagert wurde. Fast am Ende der Legislaturperiode ent-
scheiden wir heute über die Eckpunkte eines Anschluss-
programms an das LuFo II, das in diesem Jahr ausläuft.
Der Kollege Riesenhuber hat schon in der ersten Le-
sung davor gewarnt, dass ihre späte Vorlage vielleicht zu
spät für die Haushaltsberatungen 2003 sein kann. Das
würde die auch von Ihnen gewünschte bruchlose Fortset-
zung verhindern.
Die Luftfahrtforschung war in den vergangenen Jahren
sehr erfolgreich: Die Lärmemissionen wurden durch lei-
sere Triebwerke auf ein Viertel des Pegels von 1970 ge-
senkt. Der Treibstoffverbrauch konnte im gleichen Zeit-
raum um 40 Prozent pro Sitzplatzkilometer gesenkt
werden. Bis 2020 erwarten wir noch einmal eine Senkung
um über 30 Prozent, was unseren Energie- und Klima-
schutzzielen hilft.
Im 6. EU-Forschungsrahmenprogramm sind 1,075 Mil-
liarden Euro für die Luft- und Raumfahrt eingeplant. Wir
halten das für angemessen. Hier kommt es auf eine Ver-
zahnung mit den nationalen Programmen und For-
schungszielen an. Siegmar Mosdorf hat bestätigt, dass
nach Meinung der von ihm berufenen Experten 50 Milli-
onen Euro an Bundesmitteln erforderlich sind. Wir sind
sehr gespannt, ob sich diese Aussage auch im Haushalts-
entwurf 2003 wiederfindet. Unsere Mitbewerber England
und Frankreich bewegen sich in diesen Größenordnungen.
Alle Experten prognostizieren dem Flugverkehr kräf-
tige Zuwachsraten, trotz des 11. Septembers. Bis zu 5 Pro-
zent jährlich bis 2020 und beim Frachtverkehr sogar Stei-
gerungen bis zu 7 Prozent jährlich. Darauf muss sich auch
die Luftfahrtforschung einrichten. Es ist richtig, dass
beide Anträge die Flugsicherheit und die Umweltverträg-
lichkeit in den Mittelpunkt rücken. Es ist aber erstaunlich,
dass Herr Fell am 24. Januar im Bundestag als „ersten
Schwerpunkt“ der Flugverkehrsforschung die Entwick-
lung von Strategien zur Vermeidung von Flugverkehr be-
schrieben hat, die Vermeidung in Ihrem Antrag aber gar
nicht vorkommt. Es kommt lediglich die Einbindung in
ein Gesamtverkehrskonzept vor. Hier haben sich die Grü-
nen offenbar wieder nicht durchsetzen können.
Die FDP-Fraktion setzt auch in der Luftfahrtforschung
auf Wirtschaftlichkeit. Es zeigt jedoch einmal mehr Ihr
Verständnis von freier Forschung, dass Sie den Wissen-
schaftlern bei den Entwicklungs-, Fertigungs- und War-
tungskosten feste Reduktionsziele von 20 bis 30 Prozent
vorschreiben. Vielleicht kann die Wissenschaft sogar
mehr erreichen. Planwirtschaft und Freiheit der For-
schung passen nicht zusammen.
Wir halten den Koalitionsantrag für insgesamt dürftig,
aber symptomatisch für die gesunkene Bedeutung der
Luftfahrtforschung in dieser Bundesregierung. Auch das
muss nach der Bundestagswahl anders werden.
Wolfgang Bierstedt (PDS): Beim Nachlesen der am
24. Januar 2002 in der ersten Lesung zu Protokoll gege-
benen Reden ist mir eine scheinbare Nebensächlichkeit
aufgefallen, die auch im Antrag der CDU/CSU nur mit ei-
nem Nebensatz erwähnt worden ist: Die Verbesserung des
Passagierkomforts als ein Forschungsschwerpunkt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23981
(C)
(D)
(A)
(B)
Darauf gestoßen bin ich im Zusammenhang mit der
durchaus positiv zu sehenden Kennziffer des gesunkenen
Kerosin-Verbrauchs in Bezug auf die geflogenen Perso-
nenkilometer. Dies ist zweifelsfrei ein hervorragendes Er-
gebnis der Forschung im Bereich der verbesserten Trieb-
werkstechnologie und der Aerodynamik. Ganz sicher bin
ich mir allerdings nicht, ob da nicht auch eine kleine, aber
nicht zu vernachlässigende weitere Komponente eine
Rolle spielt, nämlich die Sitzplatzoptimierung. Gerade in
der Touristenklasse wird es immer enger, sodass manch-
mal der Eindruck der Passagierintensivhaltung entsteht.
Weshalb stelle ich dies an den Beginn meiner Aus-
führungen? Wenn wir ein drittes Luftfahrtforschungspro-
gramm fordern und einen leistungsfähigen und durchaus
finanzstarken Industriezweig fördern, kann dies nicht nur
mit dem Totschlagargument der Schaffung bzw. Sicherung
von Industriearbeitsplätzen begründet werden. Wer fördert
hat auch das Recht Ansprüche zu stellen. Das trifft oftmals
auf Zustimmung der Industrie, zum Beispiel wenn es da-
rum geht, die Verkehrs- und Flugsicherheit zu erhöhen
– nach dem 11. September wurden auch wir schmerzlich
auf bestimmte Defizite aufmerksam gemacht –, die
Sachkosten für den Betrieb, die Wartung und den Service
zu senken und die Kosten für die gerade in der Luftfahrt-
industrie erheblichen Entwicklungs- und Projektierungs-
aufwände zu optimieren.
Dazu gehören aber auch Dinge, bei denen der Staat
über Zuschüsse seine gesellschaftlichen und politischen
Ziele mit Nachdruck in die Industrie hineinträgt, wie die
Senkung des Fluglärms, die langfristige Orientierung auf
neue Antriebsstoffe und eben auch die Frage der Gesund-
heitsfürsorge für die Passagiere, die unmittelbar mit dem
Passagierkomfort zu tun hat.
Es muss aber auch von der Industrie gefordert werden,
zumindest ist das unser Ansatz, dass die Luftfahrtindustrie
ihre Chancen zukünftig wohl eher im Langstreckenbe-
reich sucht. Die im Koalitionsantrag stehende Forderung
nach der Einbindung des Luftverkehrs in ein Gesamtver-
kehrskonzept verstehen wir so, dass der Personenverkehr
im Bereich bis 500 Kilometer zukünftig wohl eher schie-
nengebunden abgewickelt wird.
Bedenken sollten wir auch den erforderlichen finanzi-
ellen Bedarf einer solchen Forschungsförderung und die
tatsächliche Höhe der notwendigen Finanzbeiträge, die
die Antragsteller beabsichtigen, zur Verfügung zu stellen.
Es gibt da schon sehr deutliche Unterschiede.
Allein mit dem Airbusprojekt A380 riskiert der Bund
über 2 Milliarden Euro, was ökonomisch im Lichte des
11. September 2001 riskant ist. Dessen Umwelteffekte
sind keinesfalls klar und es hat strukturpolitisch zumin-
dest für Ostdeutschland nur Peanuts gebracht. Aber nicht
allein deshalb werden wir dem Antrag der CDU/CSU un-
sere Zustimmung versagen und uns bei der Abstimmung
über den Antrag der Koalition enthalten.
Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie: In Anknüp-
fung an die 212. Sitzung des Deutschen Bundestages am
24. Januar 2002 kann ich feststellen, dass zum Thema der
Fortsetzung des nationalen Luftfahrtforschungspro-
gramms eine seltene Einmütigkeit zwischen der Regie-
rungskoalition und der CDU/CSU-Opposition herrscht.
Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat dies bei der
Eröffnung der Internationalen Luftfahrtschau ILA2002 in
Berlin-Schönefeld am 6. Mai 2002 ausdrücklich in seinen
Ausführungen bestätigt.
Die Fakten: Die europäische und insbesondere auch
die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie haben in den
vergangenen Jahren eine umfangreiche Restrukturierung
auf den Weg gebracht. Die Gründung der EADS im Jahre
1999 war ein vorläufiger Höhepunkt. Die Bundesregie-
rung hat diesen Prozess stets aktiv unterstützt.
Mit der Darlehensentscheidung für die Entwicklung
des Großraumflugzeugs A380 hat die Bundesregierung
trotz schwieriger Haushaltslage maßgeblich für die Si-
cherung deutscher Standorte und Schaffung neuer
Arbeitsplätze gesorgt.
Die Bundesregierung, die Länder, die Industrie und
die Wissenschaft haben in den Luftfahrtforschungs-
programmen seit 1995 insgesamt 1,2 Milliarden Euro
aufgewendet. Ein abgestimmtes Kompetenznetzwerk
sensitiver Technologieentwicklungen ist entstanden,
Kernkompetenzen, Arbeitsplätze und Standorte in
Deutschland wurden gesichert. Globale und innereu-
ropäische Wettbewerbsverzerrungen wurden so aufgefan-
gen. Die deutsche Luftfahrtindustrie hält eine führende
Position in Europa.
Forschungsergebnisse spiegeln sich im Markterfolg
wider:
Der spezifische Treibstoffverbrauch der Lufthansa-
Flotte wurde im Zeitraum von 1991 bis 2000 von 6,2 auf
4,6 Liter, also um 24,3 Prozent, gesenkt. Entsprechend ha-
ben sich die C02-Emissionen verringert.
Die NOx-Emission konnte im gleichen Zeitraum umetwa 25 Prozent reduziert werden. Die Fluglärmbelastung
im Flughafennahbereich ist seit 1990 um mehr als 50 Pro-
zent gesunken.
Die Luftfahrt ist gleichzeitig aber auch Vorreiter bei der
Umsetzung neuer innovativer Technologien in Produkte
und Verfahren. Im Januar dieses Jahres hat der neue A318
seinen Erstflug mit einem lasergeschweißten Rumpfseg-
ment absolviert. Dabei kommt ein Verfahren zur Anwen-
dung, das im Rahmen des Luftfahrtforschungsprogramms,
entwickelt wurde und 1999 mit dem Innovationspreis der
deutschen Wirtschaft ausgezeichnet wurde. Beim erfolg-
reichen Erstlauf eines lärmarmen Flugzeugantriebs mit
Getriebefan war unser Triebwerkshersteller mit einer
neuen Niederdruckturbine beteiligt. Auch der Mittelstand
beteiligt sich mit guten Erfolgsaussichten am Programm.
Diese Zwischenbilanz kann sich sehen lassen.
Die Bundesregierung hat aus volkswirtschaftlichen,
technologischen, sicherheits- und außenpolitischen Ge-
sichtspunkten unverändert ein großes Interesse an einem
innovativen und leistungsfähigen Luft- und Raumfahrt-
standort Deutschland. Deutschland muss in der Luft- und
Raumfahrt auch künftig eine essenzielle Rolle in einem
global wettbewerbsfähigen europäischen Verbund spielen
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und seinen Anteil an den Wachstumspotenzialen halten.
Deshalb wird die Bundesregierung auch in Zeiten der
Haushaltskonsolidierung in ihrem Engagement nicht
nachlassen und die Brancheninteressen, insbesondere
auch bei der notwendigen europäischen Harmonisierung
der Wettbewerbsbedingungen, weiter politisch flankieren.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Jetzt geht es darum,
das Erreichte zu sichern und neue strategische Herausfor-
derungen anzunehmen.
Das Europäische Parlament hat das 6. Rahmenprogramm
Forschung der EU verabschiedet. Es sieht 1,075 Milliarden
Euro für Luft- und Raumfahrt vor und setzt neue Akzente,
denen wir uns anpassen müssen. Das nationale Luftfahrt-
forschungsprogramm ist ein Baustein im europäischen
Kontext und soll ohne Bruch weitergeführt werden. Der
Programmentwurf liegt vor. Die Bundesregierung wird ei-
nen angemessenen Beitrag bereitstellen. Dies bestätigte
Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Eröffnung der in-
ternationalen Luftfahrtschau ILA2002, indem er sich dafür
aussprach: „Auch zukünftig ist die nationale Forschungs-
förderung wichtig, um im internationalen Standortwettbe-
werb bestehen zu können. Dabei setzt sich die Bundesre-
gierung dafür ein, im Rahmen ihrer finanzpolitischen
Möglichkeiten ein weiteres Luftfahrtforschungsprogramm
ab dem Jahr 2003 auf hohem Niveau aufzulegen.“
Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht
diese Einschätzung. Mit dieser Akzentuierung beabsich-
tigt die Bundesregierung, die Luftfahrtforschung weiter-
hin zu fördern. Es gilt, die Position unserer Unternehmen
und Forschungseinrichtungen im innereuropäischen und
im globalen Wettbewerb um Kompetenz zu stärken, qua-
lifizierte Partnerschaften in europäischen und internatio-
nalen Kooperationen zu ermöglichen, die Beteiligungs-
voraussetzungen für EU-Projekte nach Art. 169 zu
schaffen und Wettbewerbsnachteile auszugleichen, da die
Hauptluftfahrtländer USA, Frankreich und Großbritan-
nien die Forschung ihrer Industrie und Wissenschaft un-
verändert unterstützen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartell-
recht in Europa
(Tagesordnungspunkt 11)
Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik stehen
kleine und mittlere Unternehmen. Sie sind auf einen fai-
ren Wettbewerbsrahmen angewiesen. Eine Politik, die
meint, mit deutschen Multis der Globalisierung trotzen zu
können, geht in die Irre. Deswegen sehen wir auch die
drohende Fusion der Eon AG mit der Ruhgas AG eher kri-
tisch.
Gerade bei der Umgestaltung früher in staatlichen Mo-
nopolen betriebener Infrastrukturen ist eine engagierte
Wettbewerbspolitik gefragt. Bündnis 90/Die Grünen ha-
ben die Umwandlung ehemaliger Monopolmärkte, wie
zum Beispiel Telekommunikation, Strom und Gas, Post
und öffentlicher Personalverkehr, immer aktiv unterstützt.
Wettbewerb ist innovativer und effizienter als Monopole
und nützt damit dem Verbraucher.
Manche meinen allerdings, sie müssten den früheren
staatlichen Monopolunternehmen weiterhin Vorteile auf
dem Heimatmarkt sichern, damit deutsche Global Player
geschaffen werden. Die von Deutschland aus agierenden
Konzerne sollen weltweit Unternehmen kaufen. Wert-
schöpfung in Deutschland soll durch die Nachfrage der
Konzernzentralen nach hochwertigen Dienstleistungen
wie Forschung, Werbung und Rechtsberatung gesichert
werden. Für die globale Wirtschaft kann man sich so nicht
fit machen. Gerade multinationale Konzerne vergleichen
die Qualität der einzelnen Standorte sehr genau und ver-
lagern sie jeweils dort hin, wo sie am effizientesten pro-
duzieren können. Die Aktionärsstruktur der Konzerne in-
ternationalisiert sich ebenfalls. Nationale Rücksichten
spielen da keine Rolle mehr.
Zudem sind die Kosten dieser Strategie hoch, wenn
Monopole durch politische Maßnahmen verfestigt und
damit Hindernisse beim Marktzugang für kleine und mitt-
lere Unternehmen errichtet werden. Das verringert die
Chancen innovativer Unternehmen. Die Wettbewerbs-
fähigkeit wird verringert. Ineffiziente Strukturen verfesti-
gen sich, auch in den Großunternehmen. Arbeitsplätze ge-
hen verloren.
Natürlich spielen auch Großunternehmen für jede
Volkswirtschaft eine wichtige Rolle. Es ist gut für die
deutsche Wirtschaft, wenn möglichst viele Unternehmen
hier ihren Sitz haben. Aber es macht wirtschaftspolitisch
eben keinen Sinn, wenn dadurch innovativen Wettbewer-
bern der Marktzugang verweigert wird. Durch weniger
Wettbewerb werden auch die Grossunternehmen träge.
Pure Größe ist noch keine vernünftige Strategie. Denn in
80 Prozent der Fälle scheitern Fusionen. Es ist Aufgabe
der Politik, für alle Unternehmen vernünftige Rahmenbe-
dingungen zu schaffen. Mehr Wettbewerb bringt Innova-
tion und Wertschöpfung im eigenen Land voran. Wir set-
zen auf Zukunftstechnologien.
Die Wettbewerbsbehörden sollten mit stärkeren Rech-
ten ausgestattet werden und auf den Märkten der öffentli-
chen Infrastrukturen, wie zum Beispiel Strom, Wasser,
Gas, Telekommunikation und Bahn, sollten effiziente
Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit haben, den Unter-
nehmen unmittelbar geltende Auflagen zu erteilen. Bei
Bahn und Energieversorgung wollen wir Netzbetrieb und
Dienstleistungsangebot unternehmerisch entflechten.
Wir brauchen einen fairen Wettbewerbsrahmen in Eu-
ropa. Bei der Novelle der Fusionskontrollrichtlinie sollte
die Regelung, nach der die nationalen Behörden nicht zu-
ständig sind, wenn zwei Drittel des Umsatzes in seinem
Sitzland gemacht werden, überarbeitet werden. Wir brau-
chen die Prüfung der gesamten Auswirkungen auf den
Binnenmarkt. Die kann auch dann gegeben sein, wenn
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zwei Drittel des Umsatzes auf dem Heimatmarkt gemacht
werden.
Gudrun Kopp (FDP): Die FDP fordert weitere Libe-
ralisierungsschritte und damit mehr Wettbewerb im In-
land: Das Briefmonopol muss schnellstmöglich auslau-
fen, damit auch Wettbewerb bei Briefsendungen bis
200 Gramm und Infopost bis 50 Gramm möglich wird.
Die früheren Staatsmonopole Post und Telekommunika-
tion sind bis zum Jahr 2005 komplett zu privatisieren. Der
liberalisierte Netzzugang auf den Strommärkten ist wie-
der herzustellen. Bei der Abfall- und Wasserwirtschaft
sind Deregulierung und Privatisierung erforderlich. Netz
und Betrieb bei der Bahn AG sind konsequent zu trennen.
Die Aufgabe der Sicherstellung von Wettbewerb muss
zurückgeführt werden zum Bundeskartellamt. Die Regu-
lierungsbehörde für Post und Telekommunikation ist auf-
zulösen.
Um auch das Wettbewerbsrecht auf europäischer
Ebene zu stärken, ist besondere Wachsamkeit bei Neue-
rungen des europäischen Kartellrechts geboten: Würden
die derzeitigen Vorstellungen der EU umgesetzt, so träte
an die Stelle des bisherigen Kartellverbotes, bei dem Aus-
nahmen der ausdrücklichen Erlaubnis bedürfen, faktische
Kartellfreiheit. Die Unternehmen sollten dann selbst be-
urteilen dürfen, ob ein von ihnen angestrebtes Kartell frei-
gestellt ist. Damit entfiele der Zwang zur Rechtfertigung
eines Kartells, und wer sich dagegen stellen will, muss die
Beweislast für den Kartellverstoß tragen.
Das momentan geltende Kartellrecht würde also kom-
plett auf den Kopf gestellt. Ein solch fundamentaler Kurs-
wechsel wäre ein Rückschritt in der europäischen Wett-
bewerbsordnung, der den Interessen der Verbraucher und
auch den kleinen und mittleren Unternehmen nachhaltig
schaden würde. Die FDP spricht sich deshalb gegen eine
solche Regelung aus.
Die aktive Kontrolle des Wettbewerbs ist ein Grund-
feiler der Marktwirtschaft. Der Wettbewerb braucht des-
halb starke Anwälte!
Ursula Lötzer (PDS): Anlass für den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion ist die seit nunmehr zwei Jahren
stattfindende Diskussion über die Reform des europä-
ischen Wettbewerbs- und Kartellrechts. Auch wir meinen,
dass es angesichts der zunehmenden Konzentration im
Unternehmenssektor und grenzüberschreitender Fusio-
nen einer zeitgemäßen Revision bedarf, mit denen die ne-
gativen Effekte für die Verbraucher reduziert und die wirt-
schaftliche Macht von Unternehmen begrenzt werden
müssen.
Allerdings versucht der Antrag die Quadratur des Krei-
ses: Einerseits wird ein einheitlicher Rechtsrahmen im eu-
ropäischen Binnenmarkt mit einer effizienten „Aufsichts-
behörde“ eingefordert, andererseits auf das Prinzip der
Subsidiarität abgestellt und eine starke Beteiligung der
nationalen Wettbewerbsbehörden angemahnt. Begrüßt
wird eine modifizierte Legalausnahme im Notifizierungs-
verfahren, aber gleichzeitig wird das hohe Investitionsri-
siko in strittigen Fällen beklagt, dass sich durch die daraus
folgende Rechtsunsicherheit ergibt. Das Problem der Kar-
tellbildung und der Wettbewerbsbeschränkung wird gese-
hen, aber strukturelle Maßnahmen im Sinne einer Ent-
flechtung von Unternehmen werden kritisch beurteilt.
Der Antrag ist in der Beschreibung ausführlich, in den
Forderungen inkonsistent und unzureichend. Das Miss-
verhältnis resultiert nicht zuletzt aus der Überbewertung
des Wettbewerbs- und Kartellrechts. So gut die immer an-
gemahnten ordnungspolitischen Bedingungen auch sein
mögen, der Wettbewerb hat und wird nicht die „Vermach-
tung von Märkten“ verhindern. Hierzu war das nationale,
aber auch das europäische Wettbewerbs- und Kartellrecht
nie in der Lage und auch nicht konzipiert worden. Denn
von Anbeginn wurde darauf verzichtet, Konzerne und
Kartelle wirkungsvoll zu entflechten. Vielmehr will jede
Regierung und die EU als Ganzes ihre Unternehmen im
Konkurrenzkampf aufstellen und hofiert ihre Global
Player und außerdem melden sich Kartelle nicht freiwil-
lig bei den Behörden und bitten um Genehmigung.
Hinzu kommt, dass jedes Wettbewerbs- und Kartell-
recht zumindest an den tatsächlichen Konzentrationspro-
zessen ansetzen müsste, aber noch nicht einmal das ist
gewährleistet. Bereits vor einiger Zeit hat das lfo-Institut
dem Wirtschaftsministerium ein Gutachten zur Qualität
der Datenbasis bei der Ermittlung des Konzentrationsgra-
des übergeben. Fazit: Die Datenbasis spiegelt die Verän-
derungen in den Unternehmens- und Konzernstrukturen
unzureichend wieder. Besonders die mangelnde Kenntnis
über die wachsenden kooperativen Verbindungen und
Netzwerkstrukturen schränkt Aussagen zum tatsächlichen
Konzentrationsgrad in fast allen Branchen deutlich ein.
Und selbst die Monopolkommission stellt fest, dass „die
Ergebnisse der amtlichen Wirtschaftsstatistik systema-
tisch irreführend sind“. Die Daten und das bisherige Ver-
fahren sind empirisch nicht abgesichert und ungeeignet
für die Informations-, Beurteilungs- und Entscheidungs-
grundlage für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Vor diesem Hintergrund sind wir alle gefordert, nicht
nur Verbesserungen im Wettbewerbs- und Kartellrecht an-
zumahnen und durchzusetzen, sondern grundsätzliche
Entscheidungen zu treffen. Hier hilft auch nicht der stän-
dige Verweis, mit guter Ordnungspolitik würden Markt
und Wettbewerb aus sich heraus die Bedingungen für eine
ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung
schaffen. Diese Aussage ist unhaltbar und dient nur dazu,
dass sich die Politik der Verantwortung entzieht, wirt-
schaftspolitische Alternativen zu formulieren. Wir brau-
chen stattdessen eine Struktur- und Industriepolitik, um
soziale Probleme zu lösen und eine nachhaltige Entwick-
lung zu unterstützen. Unabhängig davon sehen auch wir
die Notwendigkeit, ein verbessertes Wettbewerbs- und
Kartellrecht in Europa zu etablieren. Eine Vereinheitli-
chung auf hohem Niveau bedarf allerdings erstens der
besseren Zusammenarbeit zwischen den nationalen
Behörden und der europäischen Ebene. Zweitens behin-
dert die unterschiedliche Kompetenz und Ausstattung der
nationalen Kartellbehörden eine Reform, sodass es ohne
personelle und finanzielle Begleitmaßnahmen keine Qua-
litätsverbesserung geben wird. Probleme werden nur ver-
schoben. Ungeklärt ist bis heute, wie ein Kartell über-
haupt definiert wird, was angesichts der unzureichenden
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Datenbasis kaum erleichtert wird. Daneben ist das Pro-
blem der „Hard-Core-Kartelle“ ungelöst und schließlich
stellt sich durch den grenzüberschreitenden Fusionspro-
zess immer dringender die Frage nach einer engen inter-
nationalen Zusammenarbeit oder dem Aufbau eines inter-
nationalen Kartellrechts. Alles offene Fragen, die im
Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht angesprochen wer-
den, aber dringend angegangen werden müssen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
– Bericht: Technikfolgenabschätzung – hier:
Monitoring „Kernfusion“
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-
trägen:
– Zukunftsorientierte Energieforschung –
Fusionsforschung
– Kernfusionsforschung für eine zukünftige
Energieforschung
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Ulrich Kasparick (SPD):Die gegenwärtigen Struktu-
ren zur Energieerzeugung sind Ergebnis der Energiefor-
schung vergangener Jahrzehnte. Sie sind geprägt von
Konzentration auf Großkraftwerke, vor allem im Bereich
Kohle und Atom. Seit dem 11. September letzten Jahres
wissen wir aber, wie verwundbar zentrale Einrichtungen
sein können. Um unsere Energieversorgung sicherzustel-
len, müssen wir daher dezentrale Versorgungsstrukturen
aufbauen. Unsere Energieversorgung darf nicht zusam-
menbrechen, wenn ein großes Kraftwerk ausfällt. Wer
Kernfusion als Grundlast der Energieversorgung auf-
bauen möchte, der spricht sich eindeutig für den Ansatz
von gestern aus. Wer Fusion will, will auch wieder kon-
zentrierte Großkraftwerke. Dies ist mit uns nicht zu ma-
chen, dieses Risiko wollen wir nicht eingehen.
Die Kernfusion ist derzeit keine energiepolitische Op-
tion. Wir werden erst um das Jahr 2050 wissen, ob Fusion
überhaupt geeignet ist, die Grundlast der Energieversor-
gung zu leisten. Das ist schlichtweg zu spät. Die neuen
Szenarien der Bundesanstalt für Geowissenschaften und
Rohstoffe prognostizieren, dass das traditionell geför-
derte Erdöl in 39 Jahren verbraucht ist. Wir müssen uns
jetzt Gedanken machen, wie wir dieses Problem lösen
können, ohne unsere Volkswirtschaften zu ruinieren. Wer
hier auf eine Technologie setzt, bei der wir erst Mitte des
Jahrhunderts wissen, ob sie eine Alternative sein kann,
geht nicht verantwortlich mit der Zukunft um.
Selbst Professor Doktor Alexander Bradshaw, der Di-
rektor des Garchinger Max-Planck-Instituts für Plasma-
physik, dessen Forschungsgegenstand ja die Entwicklung
eines Fusionskraftwerks ist, sagte in der Fusionsanhörung
des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung am 28. März 2001 indirekt, dass Energie
in Größen aus Kernfusion 2050 noch nicht zur Verfügung
stehen wird. Das ist im Protokoll der Anhörung auf Seite 26
nachzulesen. Bei den Szenarienberechnungen der En-
quete-Kommission für eine nachhaltige Energieversor-
gung im Zeitalter der Globalisierung der Liberalisierung
kommt die Fusion als Energiequelle nicht vor – und das
aus guten Gründen, die ich gerade benannt habe. Es macht
energiepolitisch keinen Sinn, einen Forschungsschwer-
punkt bei der Fusionsforschung zu setzen. Deshalb wird
sich Deutschland auch nicht um den Standort für den
ITER bewerben.
Die Anträge von der Union und der FDP zeigen, dass
diese Fraktionen nicht in Zusammenhängen denken. Sie
wollen hier eine einzelne Technologie fördern, ähnlich
dem, wie sie es schon mit der Brennstoffzelle versucht
haben. Was wir brauchen, ist aber eine Gesamtkonzeption
der künftigen Energieforschung, die alle Techniken und
Technologien berücksichtigt, um eine nachhaltige, sau-
bere und dezentrale Energieversorgung zu gewährleisten.
Dieses Gesamtkonzept muss sich in die europäischen Ent-
wicklungen einbetten. Dabei müssen wir vor allem auf die
Stärken setzen, die wir in Deutschland haben – und das
sind die Umwelttechnologien. Denn ein zukunftsfähiges
Energieforschungskonzept muss zugeschnitten sein auf
den Klimaschutz, muss schnell – und nicht erst in 50 und
mehr Jahren – zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes
beitragen.
Ein solches Energieforschungskonzept werden wir in
der kommenden Legislaturperiode vorlegen. Sowohl in
der HGF als auch im Bundeswirtschaftsministerium lau-
fen die Vorarbeiten. Wir werden mit großer Sorgfalt und
Verantwortung öffentliche Mittel für die Forschungsför-
derung bereitstellen. Dabei werden wir die Technologien
bevorzugen, die nachhaltig und nachwachsend einsetzbar
sind. Wir halten nichts von solchen Schnellschüssen, wie
Sie sie hier vorlegen. Wir sehen die Energieversorgung im
Zusammenhang – und nicht wie Sie immer nur torten-
stückweise. Wir in Deutschland werden unsere Volkswirt-
schaft auf einen neuen Energiepfad führen, der dezentral
organisiert und damit weniger verwundbar ist. Deshalb
lehnen wir Ihre Anträge ab.
Dr. Martin Mayer (CDU/CSU): Das Thema der heuti-
gen Debatte ist die Kernfusion. Kernfusion ist der Pro-
zess, der in der Sonne natürlich abläuft. Aus der Ver-
schmelzung von Atomkernen wird Energie erzeugt.
Dieser Prozess soll auf der Erde in Kraftwerken zur Ener-
giegewinnung genutzt werden. Die dazu notwendige For-
schung zu fördern ist die Intention der Anträge von
CDU/CSU und FDP, die der heutigen Debatte zugrunde
liegen.
Ebenfalls zur Debatte steht der Bericht des Büros für
Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag,
kurz TAB genannt. Dieser Bericht steht in seiner Tendenz
der Kernfusion einseitig kritisch und den regenerativen
Energien eher unkritisch gegenüber. Objektive Feststel-
lungen und Wertungen werden in dem Bericht nicht klar
voneinander getrennt. Damit steht der TAB-Bericht in ge-
wissem Gegensatz zu dem von Basler und Hoffmann vor-
gelegten Gutachten, das dem Bericht zugrunde liegt. Die-
ser Wertungswiderspruch ist unverständlich und so nicht
hinnehmbar. Es ist daher unerlässlich, bei der Entscheidung
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über die Kernfusion auch auf das Gutachten von Basler
und Hoffmann zurückzugreifen.
Zustimmen möchte ich dem TAB-Bericht, soweit er
eine breite Diskussion über Chancen und Risiken in der
Öffentlichkeit in Gang setzen will. Die Kernfusion kann
schließlich erst dann für die Energieerzeugung genutzt
werden, wenn die technischen Aufgaben gelöst sind und
diese Form der Energieerzeugung auch akzeptiert wird.
Die Auseinandersetzung mit den Ängsten der Menschen
ist letztlich genau so wichtig wie der technische Durch-
bruch.
Wie Sie unserem Antrag entnehmen können, unterstützt
die Union die Fusionsforschung – dies aus gutem Grund.
Denn es zeichnet sich doch bereits seit langem ab: Das
weltweite Bevölkerungswachstum und die vermehrte Teil-
nahme der Entwicklungsländer an der allgemeinen Wohl-
standsentwicklung werden zu einem immer weiter anstei-
gendem Weltenergieverbrauch führen. Trotz effizienter
Energienutzung sowie Ausbau und vermehrter Nutzung
erneuerbarer Energien wird sich deshalb im Laufe dieses
Jahrhunderts eine immer stärkere Energielücke auftun.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die fossilen
Energieträger wie Kohle und Erdöl, die bisher zur
Deckung des Energiebedarfs mit dem größten Prozentan-
teil beigetragen haben, sind nicht unerschöpflich. Und be-
denken Sie auch eines: Die Lagerstätten von Öl befinden
sich zum großen Teil in Krisenregionen. Das heißt, dass
die Versorgung mit Öl langfristig unsicher ist.
Die Beiträge, die Solarenergie, Wind- und Wasserkraft
sowie Biomasse zur besseren Energieversorgung der
Menschheit liefern können, haben naturgesetzliche und
wirtschaftliche Grenzen, die durch noch so intensive For-
schung nicht aufgehoben werden können. Ich weise nur
auf die gerade in unseren Breitengraden höchst unzuver-
lässige Sonneneinstrahlung und Windstärke hin.
Auch die Möglichkeit der Effizienzsteigerung bei der
Energienutzung stößt an Grenzen. Und eines sollten wir
gerade bei den fossilen Energieträgern nicht aus den Au-
gen verlieren: die Verbrennung fossiler Energieträger
setzt C02 frei, was zu einer immer größeren Gefahr für dieErderwärmung führt.
Umso wichtiger ist es, andere Alternativen der Ener-
gieerzeugung zu erschließen und zu entwickeln. Die
Kernfusion ist eine dieser Alternativen! Die kontrollierte
Kernfusion könnte eine entscheidende Option für eine
nachhaltige, sichere und verträgliche Energiequelle ab
dem Jahr 2050 sein. Denn die Kernfusion bietet gegen-
über anderen Energieträgern eine Reihe entscheidender
Vorteile: Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe,
Deuterium und Lithium, sind in nahezu unbegrenzter
Menge vorhanden und über die ganze Welt verteilt. Das
gewährleistet eine krisensichere Energiegewinnung. Bei
der Fusion entstehen keine Schadstoffe wie bei der Ver-
brennung von Kohle, Erdöl und Erdgas. Gegenüber den
Kernspaltungsreaktoren, die wir gegenwärtig nutzen, hat
die Fusionsenergie den Vorteil der inhärenten Sicherheit.
Das heißt, ein Unfall wie in Tschernobyl ist bei einem Fu-
sionsreaktor physikalisch ausgeschlossen. Bei der Fusi-
onsenergie gibt es keine abgebrannten Brennelemente mit
ihren langfristigen Problemen. Als Endprodukt entsteht
Helium, ein Gas, das auf der Erde natürlich vorkommt
und keine Radioaktivität aufweist. Die Baumaterialien
des Reaktors, die beim Betrieb radioaktiv werden, können
um vieles leichter endgelagert und entsorgt werden als die
abgebrannten Brennelemente eines Atomkraftwerks.
Diese Gründe sprechen dafür, alles daranzusetzen, die
Fusionsforschung voranzutreiben. Wir können dabei auf
einem guten Fundament aufbauen.
Die Erforschung der Kernfusion zur Energiegewin-
nung begann in Deutschland vor etwas mehr als vier Jahr-
zehnten. Die Institute in Garching bei München, Karls-
ruhe, Jülich und seit den 90er-Jahren auch in Greifswald
haben weltweit anerkannte Beiträge zur Erforschung der
Kernfusion geleistet.
Der europäische Experimental-Reaktor JET in Cul-
ham, Großbritannien, mit deutscher Beteiligung gebaut
und betrieben, hat gezeigt, dass die Kernfusion möglich
ist. Die Aussicht, mit einem Fusionsreaktor elektrischen
Strom im Dauerbetrieb zu erzeugen, steht damit auf einer
soliden Grundlage.
Auf dem Weg von den theoretischen Grundlagen zur
Lieferung von Strom aus einem Fusionsreaktor ist etwa
die halbe Strecke zurückgelegt. Deutschland hat einen er-
heblichen Beitrag zu den bisherigen Erfolgen geleistet.
Auch auf dem künftigen Weg wird Europa nur dann mit
an der Spitze bleiben, wenn Deutschland die Fusionsfor-
schung im nationalen, europäischen und internationalen
Rahmen aktiv betreibt und fördert.
Wir haben bereits sehr viel investiert, sowohl Geld als
auch forscherische Pionierarbeit. Hervorragende Wissen-
schaftler beschäftigen sich in Deutschland seit vielen Jah-
ren mit der Fusionsforschung. Soll das alles umsonst ge-
wesen sein? Und sollen wir bei diesem wichtigen
Vorhaben auch unseren europäischen Partnern die Unter-
stützung aufkündigen? Wollen wir das wirklich alles auf-
geben? Gerade jetzt, wo – wie es aussieht – sogar unsere
amerikanischen Nachbarn sich wieder an der Erforschung
der Kernfusion beteiligen wollen? Lassen Sie uns nicht
diesen Fehler begehen! Bedenken Sie eines: Rot-Grün
bringt durch seine ablehnende Haltung gegenüber der Fu-
sionsforschung nicht zuletzt auch die Spitzenstellung Eu-
ropas in diesem Bereich in Gefahr. Da kürzt eine grüne
Kommissarin in Brüssel offenbar auf Betreiben ihrer
Parteifreunde aus Deutschland den Haushaltsentwurf für
die Fusionsforschung im Zeitraum von 2002 bis 2006 um
rund 88 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro. Das Eu-
ropäische Parlament erhöht diesen Ansatz, dann auf
800 Millionen Euro und die deutsche Forschungsministe-
rin, SPD, drückt den Ansatz wieder auf 750 Millionen
Euro. Das ist nicht nur ein völlig falsches Signal für die
Fusionsenergieforschung, sondern geradezu eine Ent-
scheidung zum Schaden Deutschlands: Die Fusionsfor-
schung ist nämlich einer der wenigen Bereiche, bei denen
Deutschland mit einem Rücklauf von 40 Prozent Netto-
empfänger ist.
Doch wie geht es jetzt weiter? Der nächste Schritt in
der Forschung für einen Fusionsreaktor soll die physika-
lische Machbarkeit eines energieproduzierenden Plasmas
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223986
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beweisen. Dazu soll die Großversuchsanlage ITER-FEAT
als gemeinsames Unternehmen der Europäischen Union,
Russlands, Japans und Kanadas gebaut werden. Es geht
im Moment also konkret um die Frage des Standorts und
der Finanzierung. Eines ist klar: Wer den Standort ge-
winnt, muss einen höheren finanziellen Anteil aufbringen.
Im Gegenzug dazu hat er aber auch den größeren Nutzen
von den Forschungsergebnissen. Es ist deshalb für mich
völlig unverständlich, weshalb die Bundesregierung die
Bewerbungen aus Europa so zögerlich unterstützt.
Für die Fusionsforschung und für ITER sprechen auch
die deutlichen Hinweise, dass sich die USA, die sich 1997
aus dem Projekt zurückgezogen haben, wieder an ITER
beteiligen wollen. Die USA haben in den vergangenen
vier Jahren eine Neuausrichtung der Fusionsforschung
mit Konzentration auf die Trägheitsfusion verfolgt und
sich daher von ITER zurückgezogen. Das neuerliche In-
teresse der USA an ITER zeigt deutlich, dass dieses Pro-
jekt auch in den Augen unserer amerikanischen Nachbarn
das erfolgversprechendste Projekt für die Produktion
elektrischen Stroms durch Kernfusion ist.
Nach jetziger Planung soll das Nachfolgeprojekt von
ITER der Demonstrationsreaktor DEMO werden. Diese
Großversuchsanlage soll die technische Machbarkeit ei-
nes Fusionsreaktors beweisen.
In jüngster Zeit sieht es sogar so aus, als könnte der bis-
herige Zeitplan bis zur Stromerzeugung durch Kernfusion
unterboten werden. Nach einer von der Gruppe um den
britischen Forscher Dr. David King initiierten Diskussion
des Fast Track soll DEMO schon 2030 Strom mittels
Kernfusion produzieren können. Möglich wäre dies,
wenn in der ersten Phase, das heißt bei ITER, zusätzliche
Mittel bereitgestellt würden, um die Entwicklung so weit
voranzutreiben, dass in der zweiten Phase eine Anlagen-
generation übersprungen werden kann und DEMO und
der kommerzielle Prototypreaktor zusammengefasst wer-
den können. So könnte die Machbarkeit eines Fusions-
kraftwerks früher als ursprünglich angenommen demons-
triert werden.
Angesichts der großen Dringlichkeit für die Entwick-
lung von neuen umweltfreundlichen und risikoarmen
Möglichkeiten der Energieerzeugung muss die Forschung
zur Kernfusion verstärkt und nicht zurückgefahren wer-
den, wie dies Rot-Grün gegenwärtig tut. Dass wir dabei
auf die Ängste der Bevölkerung Rücksicht nehmen, ist
klar. Verringerung von Umweltbelastung und Vermeidung
von Risiken haben hohen Stellenwert.
Ich fordere die Bundesregierung daher noch einmal
ganz entschieden auf: die Fusionsforschung in Deutsch-
land und Europa mit dem Ziel zu verstärken, Energie mit-
tels Kernfusion noch vor Mitte des 21. Jahrhunderts ge-
winnen zu können, die Akzeptanz für diese neue
Technologie auch in Deutschland durch Information zu
fördern und den Anstoß für eine breit angelegte Diskus-
sion zu geben sowie sich nachhaltig dafür einzusetzen,
dass der internationale Fusionsreaktor ITER in Europa er-
richtet wird.
Wir haben gegenwärtig eine einmalige Chance, die
richtigen Weichen für die Energieversorgung der Zukunft
zu stellen. Ich appelliere daher an die Kollegen aus der
Koalition, an unsere Kinder und Enkel zu denken und ge-
meinsam mit uns für eine verstärkte Förderung der Fusi-
onsforschung einzutreten.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
80 Milliarden Euro ausgeben oder nicht ausgeben, das ist
hier die Frage. Wer sich für die Kernfusion einsetzt, muss
diese Zahl im Kopf haben. 80 Milliarden Euro sind die ge-
schätzten Kosten, die für eine Technologie, die uns viel-
leicht in 50 Jahren Energie liefern kann, noch aufzubrin-
gen sind. Zweifel an diesem Zeitraum von 50 Jahren sind
erlaubt, denn auch vor 40 Jahren hieß es, dass die Fusion
in 50 Jahren zur Verfügung stehe. Inzwischen sind Dut-
zende Milliarden Euro in die Fusion geflossen. Der Ef-
fekt: Keine einzige Kilowattstunde Strom wurde erzeugt
und in den nächsten Jahrzehnten wird auch keine erzeugt
werden, so geben es selbst die Fusionsforscher zu.
Aus meiner Sicht gibt es keinen Forschungszweig, der
einerseits so ergebnislos und perspektivlos ist und ande-
rerseits so viel öffentliches Geld verbraucht. Dabei gibt es
kaum einen Forschungszweig, der so wichtig ist wie die
Energieforschung.
Schnelle Ergebnisse sind gefragt, da Treibhauseffekt,
zu Ende gehende Ressourcen und in der Folge zuneh-
mende Ölkriege oder radioaktive Bedrohungen eine
schnelle und vollständige Abkehr vom atomaren und fos-
silen Energiezeitalter erforderlich machen. Wir können
nicht darauf warten, bis in 50 Jahren die Fusion vielleicht
einen zweifelhaften Beitrag liefert. Die letzten Jahrzehnte
mit der Vernachlässigung der erneuerbaren Energien soll-
ten uns Mahnung genug sein.
Etwa 80 Prozent aller Energieforschungsmittel der
OECD wurden in den letzten 50 Jahren in die Kernspal-
tung und Kernfusion gesteckt. Mit dem äußerst mageren
Ergebnis, dass nur 5 Prozent des heutigen Weltenergiebe-
darfs mit Nuklearenergie gedeckt wird. Wäre dieses Geld
in die erneuerbaren Energien gesteckt worden, dann sähe
die Welt heute anders aus. Das Klimaproblem wäre weit-
gehend gelöst, Kriege um Öl müsste es nicht mehr geben,
die Versorgungssicherheit wäre in hohem Maße gegeben,
billige Energie stünde vielfach zur Verfügung.
Das letzte Jahrzehnt hat den Beweis erbracht: Erneuer-
bare Energien lassen sich wesentlich schneller zu großen
Marktteilnehmern machen, wenn die Unterstützung
stimmt. So wird die Windkraft in diesem Jahr, etwa elf
Jahre nach der Markteinführung, circa doppelt so viel
Strom erzeugen, wie die Atomenergie in Deutschland im
elften Jahr nach der Inbetriebnahme des ersten kommer-
ziellen Reaktors. Obwohl die erneuerbaren Energien we-
niger Forschungsmittel bekamen als die Fusionsenergie,
beschäftigen sie heute bereits 120 000 Arbeitsplätze mit
rasch steigender Tendenz.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen auf, dass das
technische Potenzial der erneuerbaren Energien weltweit
ein Vielfaches des heutigen Weltenergiebedarfs beträgt.
Kernfusion ist also völlig überflüssig. Sie wird keinen Bei-
trag liefern, da sie mit den zukünftig wesentlich billigeren
erneuerbaren Energien nicht konkurrieren kann. So liegen
heute bereits die Kosten für 1 Kilowattstunde Windstrom
etwa in der Größenordnung, die die Fusionsforscher für
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23987
(C)
(D)
(A)
(B)
1 Kilowattstunde Fusionsstrom nach dem zehnten Fusi-
onskraftwerk annehmen. Dass diese Berechnungen auf
sehr wackligen Füßen stehen, weiß jeder, da noch nieman-
dem bekannt ist, wie ein Fusionsreaktor aussehen wird.
Windräder dagegen laufen bereits ökonomisch.
Ich frage die Unternehmer in diesem Hohen Hause:
Würden Sie eine Summe im mehrstelligen Milliardenbe-
reich in die Hand nehmen, von der sie wissen, dass Ihnen
die Forscher bereits seit Jahrzehnten verkünden, dass die
Technologie in 50 Jahren soweit sein wird? Ich frage Sie:
Würden Sie große Summen für eine Technologie aufwen-
den, von der man heute nicht einmal weiß, ob sie über-
haupt funktionieren wird? Schließlich sind die Material-
probleme der ersten Wand um das Plasma ungelöst und sie
lassen sich aller Wahrscheinlichkeit auch nicht lösen. Da-
rüber hinaus ist völlig ungelöst, wie das radioaktive Tri-
tium zurückgehalten werden kann.
Wir tragen große Verantwortung in diesem Hause.
Weltweit werden in den nächsten Jahrzehnten 80 Milliar-
den Euro entweder für die Kernfusion oder für die For-
schung, zum Beispiel bei erneuerbaren Energien oder Na-
notechnologie oder Gesundheitsforschung, eingesetzt.
Wir wissen, dass die Ergebnisse der Fusionsforschung
kaum in anderen Bereichen genutzt werden können. Dies
heißt, dass wir Gefahr laufen, in gigantischem Maße Ka-
pital fehlzuinvestieren. Ich appelliere daher an Sie alle,
die Mahnung des Bundestagsbüros für Technikfolgenab-
schätzung ernst zu nehmen und endlich einen wissen-
schaftlich unabhängigen Sachverstand aufzubauen und
bis dahin die weiteren Entscheidungsschritte für die Kern-
fusion, zum Beispiel des ITER, auszusetzen. Ich jeden-
falls will für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
nicht die Verantwortung für 80 Milliarden Euro Fehlpla-
nung verantworten und werde mich weiter für eine um-
fangreiche Energieforschung einsetzen, die dem Klima-
schutz, dem Schutz vor Radioaktivität und dem Schutz
vor verschwendeten Steuergeldern Rechnung trägt.
Diejenigen unter Ihnen, die immer vom Standort
Deutschland reden, möchte ich darauf hinweisen, dass
mittlerweile in Deutschland rund 120 000 Arbeitsplätze
von den erneuerbaren Energien abhängen. Diese Arbeits-
plätze stehen im internationalen Wettbewerb, zum Bei-
spiel mit den USA, Dänemark und Japan. Diejenigen wer-
den sich durchsetzen, die die besten Produkte zu den
günstigsten Preisen anbieten können. Hierüber entschei-
den zu einem Großteil die Erfolge bei der Forschung. Wir
können das Geld entweder in einen Markt investieren, der
bereits heute rund 6 Milliarden Euro alleine in Deutsch-
land umfasst, oder wir können die Mittel für die Kernfu-
sion ausgeben und vermutlich nie wieder sehen.
Denken Sie daran: Es macht nur dann Sinn, die Milli-
arden für den nächsten Forschungsreaktor auszugeben,
wenn Sie dazu bereit sind, auch den Weg der 80 Milliar-
den Euro insgesamt zu gehen. Und denken Sie auch da-
ran, dass Ihre Expertisen bislang fast nur von denen er-
stellt wurden, die dieses Geld haben wollen. Ein
Fusionsforscher, der von der Politik gefragt wird, ob denn
seine Forschungen notwendig seien, wird nie zugeben,
dass seine Forschungen überflüssig seien oder dass das
Forschungsgeld woanders besser angelegt sei.
Gerade deshalb hat das TAB in seiner Studie ange-
mahnt, endlich unabhängige Beratungskapazitäten aufzu-
bauen. Bisher gibt es fast keine solchen. Die wenigen, wie
die Janusgruppe in Darmstadt, zeigen daher auch häufig
auf die Nachteile, die ungelösten Fragen und die hohen
Kosten, die uns die Fusionsforscher in ihren Papieren
weitgehend verschweigen oder schönreden.
Ulrike Flach (FDP): Unsere Welt ist einem stetigen
Wandel unterworfen und somit verändern sich auch die
Positionen der Industrienationen zu einer umfassenden
Zukunftssicherung ihrer Energieversorgung. Die FDP hat
in den zurückliegenden Jahren diesen Aspekt immer wie-
der betont und vor einer allzu einseitigen Ausrichtungen
der Energieforschung gewarnt.
Heute sichern wir unsere Energieversorgung vor allem
durch das Verbrennen fossiler Energieträger und durch
Kernenergie. Nach und nach kommen die so genannten
regenerativen Energien hinzu, von denen wir aber wissen,
dass sie zur Deckung des Energiebedarf bei weitem nicht
ausreichen.
Einige von den Regenerativen verdanken ihre Existenz
nur hohen garantierten Abnahmepreisen und einem Ener-
giemix, der die Wirtschaft und die Privathaushalte glei-
chermaßen belastet. Dass diese Entwicklung eine unend-
liche Geschichte wird, zeigt uns das jüngste Beispiel
„Photovoltaik“ deutlich.
Doch das halten wir im internationalen Wettbewerb auf
Dauer nicht durch. Wollen wir wirkliche Veränderungen,
dann müssen wir den Mut dazu haben, weit in die Zukunft
zu blicken. Nur so können wir wirklich dem hier so oft vor-
gebrachten und von uns allen verinnerlichten Nachhaltig-
keitsgedanken umsetzen. Wir alle wissen, dass der welt-
weite Primärenergiebedarf bis zum Jahr 2050 um das Zwei-
bis Dreifache ansteigen wird. Auf den Punkt gebracht be-
deutet das: Wir brauchen Elektroenergie, die aus Energien
gewonnen wird, die uns zuverlässig für die nächsten Jahr-
hunderte zur Verfügung stehen. Wir brauchen Energie-
wandlungsprozesse, die unsere Umwelt schonen und die
über eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz verfügen. Was
wir vor allem hier in Deutschland brauchen, ist wieder der
Mut zu Visionen und deren Umsetzung sowie ein schöpfe-
risches Klima für Wissenschaft und Forschung.
Gerade deshalb sprechen wir Liberale uns so eindeutig
für die Fusionsforschung aus. Wir haben das mit unserem
Antrag schon vor zwei Jahren deutlich gemacht. Wir ha-
ben uns für eine Anhörung im Bildungs- und Forschungs-
ausschuss stark gemacht. Wenn wir auf das Ergebnis der
Anhörung blicken, hat sich dieser Weg als richtig erwie-
sen. Die Mehrheit der Sachverständigen bestätigt unsere
Auffassung.
Ich kann mich noch genau an die Ausführungen des
Vertreters des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt,
Energie, Harry Lehmann, erinnern, der Gefährdungspo-
tenziale darstellte, die wissenschaftlich so nicht belegbar
sind. Jetzt liegt uns die Stellungsnahme des Wissen-
schaftsrates zu diesem Institut vor, die unsere Vermutun-
gen bestätigen. „Der Wissenschaftsrat empfiehlt dem Land
– gemeint ist NRW–, das Institut in seiner bisherigen Form
nicht weiter zu fördern“ – so lautet die Empfehlung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223988
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„Gelbe Karte für die Zukunftswerkstatt“ – so machte die
„Süddeutsche Zeitung“ vorgestern ihren Artikel zu diesem
Institut auf.
Dass die FDPmit ihrem Ja zur Fusionsforschung richtig
liegt, bestätigt heute der Wettlauf verschiedener europä-
ischer und nordamerikanischer Länder, aber auch Japans,
um den Standort des internationalen Fusionsforschungsre-
aktors ITER. ITER wurde von europäischen, japanischen,
russischen und US-amerikanischen Fusionsforschern vor-
bereitet. Gern wurde der Rückzug der USA argumentativ
zum Anlass genommen, um einen „Beweis“ gegen die
Machbarkeit von ITER anzutreten. Doch im Mai dieses
Jahres erklärte der US-amerikanische Energieminister
Spencer Abraham auf dem G-8-Wirtschaftsgipfel das Inte-
resse der USA, sich wieder an der ITER-Unternehmung zu
beteiligen.
Die spanischen Christdemokraten haben in ihrem Par-
lament den Antrag gestellt, einen Standort nahe Barcelona
anzubieten.
Daraufhin hat die spanische Forschungsministerin Anna
Birués im April 2002 dem europäischen Forschungskom-
missar Philipe Busquin den Standort Vandellós vorgeschla-
gen.
Auch die Franzosen stehen zu ihrem Standort Cadarache,
wie aus einem Schreiben vom Mai dieses Jahres an Busquin
hervorgeht. Kanada hat sich schon lange beworben. Jetzt
liegt auch noch ein offizielles japanisches Angebot vor.
Darin schlägt Premierminister Koizumi die Stadt Rokkasho
auf der japanischen Hauptinsel Honshu vor.
Und was macht Deutschland? Forschungsministerin
Bulmahn lässt eine Kürzung des europäischen Mittelan-
satzes von 850 Millionen Euro auf 750 Millionen Euro zu,
obwohl die Empfehlungen des europäischen Ministerra-
tes und des europäischen Parlaments anders lauteten. Wir
wissen, welche Rolle Frau Schreyer hier spielte. Auch der
Bundesrat macht in seiner Empfehlung darauf aufmerk-
sam, dass diese Reduzierung der Förderquoten im Bereich
der Fusionsforschung gleichzeitig zu einer zwangsweisen
Verringerung der europäischen Mittel für die beteiligten
deutschen Forschungseinrichtungen führt.
Die FDP-Bundestagsfraktion spricht sich für die Fort-
führung eines reaktororientierten Forschungsprogramms
über die Zwischenschritte ITER – International Ther-
monuclear Experimental Reactor – und DEMO – De-
monstration Fusion Powerplant – aus. Die FDP-Fraktion
nimmt den Bericht des Ausschusses „Technikfolgenab-
schätzung – Monitoring Kernfusion“ zur Kenntnis.
Angela Marquardt (PDS): Der vorliegende TAB-Be-
richt ist, wie Sie wissen, sehr umstritten – vermutlich des-
halb, weil er fast alle Vorbehalte an der Fusionsforschung
teilt, die von Kritikern in den letzten Jahren vorgetragen
wurden, auch von der PDS. So legt er beispielsweise dar,
dass die Fusionsforschung extrem kostenintensiv ist und
in den nächsten 50 Jahren noch mindestens 60 bis 80 Mil-
liarden Euro kosten wird, während es weiterhin völlig
spekulativ ist, ob die Kernfusion jemals geregelt funktio-
nieren wird, und wenn ja, wann. Er bestätigt auch unsere
Kritik bezüglich der Sicherheitsfragen. Sicherheit ist bei
radioaktiven Anlagen eben nie 100 Prozent zu garantie-
ren. Auch wenn ich das Risiko natürlich keinesfalls mit
dem der Kernspaltung vergleichen will. Das tut auch der
Bericht nicht. Die Umweltverträglichkeit ist ebenfalls
nicht völlig unproblematisch, weil radioaktive Abfälle
entstehen und der Umgang mit dem Brennstoff Tritium
sehr problematisch ist. Auch dass waffenfähiges spaltba-
res Material erbrütet werden kann, gibt der Bericht zu be-
denken.
All diese und weitere Bedenken sind für uns Grund ge-
nug, der Kernfusion höchst kritisch gegenüberzustehen
und einen mittelfristigen Ausstieg aus der Forschung an-
zustreben. Für uns sind vor allem drei Argumente aus-
schlaggebend: Es wird, wie gesagt, seit Jahrzehnten ohne
große Fortschritte geforscht und mögliche Ergebnisse
werden erst in 50 Jahren erwartet – wenn überhaupt. In
dieser Zeit muss aber längst eine Energiewende stattge-
funden haben. Das ungeheuer viele Geld, das diese höchst
spekulative Forschung verschlingt, fehlt dringend an an-
derer Stelle. Wir fordern schon lange eine verstärkte For-
schung im Bereich regenerativer Energien.
Das Zweite ist: Die Kernfusion geht von einer zentra-
len Energieproduktion in Großkraftwerken aus. Zu einer
Energiewende gehört jedoch die Abkehr von diesem Prin-
zip. Wir setzen auf eine Dezentralisierung und auf ver-
brauchernahe Produktion. Eine zentrale Energieproduk-
tion eignet sich nicht für Entwicklungsländer, wo die
nötige Infrastruktur zur Verteilung fehlt. Bei jeder Ener-
gieforschung muss jedoch bedacht werden, dass alle Lö-
sungen auch für Entwicklungsländer denkbar sein sollten.
Diese Länder werden künftig den größten Anstieg des
Energieverbrauchs haben. Kernfusion ist auch keines-
wegs – wie es der TAB-Bericht glauben macht – eine
komplementäre Form der Energieversorgung, die regene-
rative Energien ergänzen könnte; denn erneuerbare Ener-
gien werden dezentral produziert und erfordern dement-
sprechend einen Umbau der Energienetze. Kernfusion
und regenerative Energien sind konkurrierende Technolo-
gien, weil sie grundverschiedener Energienetze bedürfen.
Das dritte Argument sind die bereits erwähnten Ent-
sorgungsprobleme und die nicht kalkulierbaren Sicher-
heitsrisiken.
Dies alles bedeutet, dass wir einen Ausstieg aus der
Forschung fordern. Das europäische ITER-Projekt lehnen
wir grundsätzlich ab. Das Wendelstein-7-Projekt in
Greifswald-Lubmin ist noch für mindestens fünf Jahre
voll finanziert. In dieser Zeit sollten die Betreiber Vor-
schläge entwickeln, wie eine schrittweise Umprofilierung
und Neuorientierung des dortigen Max-Planck-Instituts
aussehen könnte; denn eine Beibehaltung des For-
schungsstandortes ist auch in unserem Interesse.
Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei
der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Nach
50 Jahren weltweiter Anstrengungen in der Fusionsfor-
schung sind wir von der Idee einer kommerziellen Nut-
zung der Fusionsenergie immer noch Jahrzehnte entfernt.
Natürlich können wir aus heutiger Sicht nicht die Not-
wendigkeit einer zusätzlichen Energiequelle wie der
Kernfusion langfristig ausschließen, wenn sie technisch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23989
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machbar, ökologisch vertretbar, im Kontext einer über-
greifenden Energiestrategie sinnvoll und wirtschaftlich
nutzbar sein sollte. Dies sind allerdings Fragen, die wir
heute nicht beantworten können. Bei Fusionskraftwerken
sind größte anzunehmende Unfälle, ein GAU, wie sie
etwa bei Kernkraftwerken grundsätzlich nicht wegzudis-
kutieren sind, nicht vorstellbar. Bei der Entsorgung ist es
zumindest eine offene Frage, ob die Verkürzung der La-
gerung radioaktiver Abfälle auf „nur“ einige hundert
Jahre statt einiger tausend Jahre bei Abfällen aus Kern-
kraftwerken wirklich die Probleme schon gelöst hat. Des-
halb macht der Vorschlag der Studie des Büros für Tech-
nikfolgenabschätzung durchaus Sinn, die weiteren
Anstrengungen in der Fusionsforschung mit einer inter-
disziplinär arbeitenden Technikfolgenabschätzung zu be-
gleiten. Und eins sollten wir aus den Erfahrungen mit
staatlich finanzierten Technologieprojekten gelernt ha-
ben: Technologien, die bis zur Markteinführung aus-
schließlich vom Staat finanziert werden, können die
Bedürfnisse des Marktes und die Erwartungen der Ge-
sellschaft bisweilen gründlich verfehlen: Die Geschichte
des Schnellen Brüters ist ein lehrreiches Beispiel. Deshalb
ist eine Bereitschaft der Energieversorgungsunterneh-
men, sich am ITER zu engagieren und sich an der Ent-
wicklung eines Fusionsreaktorprototypen finanziell zu
beteiligen, auch eine Nagelprobe ihrer kommerziellen Er-
wartungen an diese Technologie. Andererseits verlangen
die drängenden Klimaprobleme ein Umsteuern in der
Energiepolitik schon in den nächsten 30 Jahren. Wir ha-
ben nicht 50 oder gar 100 Jahre Zeit. Für ein Umsteuern
in dieser Zeit steht die Fusionsenergie auf jeden Fall nicht
zur Verfügung. Sie kann deshalb aus klimapolitischen
Zielsetzungen keine Priorität haben. Deshalb haben wir
mit Erfolg auf eine angemessene Ausstattung der nicht-
nuklearen Energieforschung im 6. Forschungsrahmenpro-
gramm gedrängt und müssen auch für die nächsten
30 Jahre in Deutschland vorrangig den Einsatz erneuer-
barer Energiequellen, die rationelle Energieverwendung
und Energieeinsparung voranbringen. Die Kernfusion
muss sich in Deutschland wie in Europa stärker der Kon-
kurrenz anderer Energietechnologien stellen.
Die Fusionsforschungseinrichtungen Deutschlands ar-
beiten mit ihren Partnern in der Europäischen Union im
Rahmen von Euratom eng zusammen, auch ihre Arbeit
wird zu einem guten Teil aus Mitteln der EU finanziert.
Deshalb macht aus Sicht der Bundesregierung eine rein
nationale Debatte oder gar Entscheidung über die Per-
spektiven der Kernfusion wenig Sinn.
In der EU sind wir im Prozess der Entscheidung über
das nächste Fusionsexperiment ITER schon ein Stück vo-
rangekommen. Die große Mehrzahl der Mitgliedstaaten
hat sich für eine Beteiligung an ITER ausgesprochen.
Deutschland dringt auf eine Entscheidung über ITER, die
eingebettet wird in eine energiepolitische Abwägung und
Strategie. ITER lässt sich nur im Kontext einer längerfris-
tigen Energiepolitik rechtfertigen, nicht mehr nur aus der
Interessenlage der Grundlagenforschung. Die ungelösten
Fragen auf dem Weg zu einem Fusionsreaktor sind nicht
mehr Grundfragen der Physik. Es geht entscheidend um die
Verfügbarkeit von Werkstoffen, die eine bis zu 100-fach
stärkere Neutronenstrahlung in einem für die kommerzi-
elle Anwendung notwendigen Zeitraum verkraften, als es
heute verfügbare Werkstoffe vermögen, es geht um den
mühsamen Weg vom Forschungsexperiment zu einem Re-
aktor. Die Erfahrungen in der Kerntechnik geben gute Hin-
weise auf die dabei zu lösenden Fragen, etwa im so ge-
nannten Scaling Up-Prozess. Die Fusions-Community
hatte sich bis letztes Jahr auf die Perspektive, es würden
weitere 50 Jahre bis zum Einsatz des ersten kommerziel-
len Fusionsreaktors vergehen, eingerichtet. Fürwahr ein
bequemes Ruhekissen. Hier sind Gott sei Dank neben
Deutschland auch andere EU-Mitgliedstaaten, vor allem
Großbritannien, unruhig geworden. Der Bericht der King-
Kommission „fusion fast track“, die auf Initiative des For-
schungsministerrates zustande kam, zeigt erstmals einen
Weg auf, die 50 Jahre um bis zu 20 Jahre abzukürzen,
wenn schon in den nächsten 10 Jahren die Frage geeigne-
ter Materialien zum Ziel geeigneter Forschungsanstren-
gungen gemacht werden. Diese Bundesregierung hat von
Anfang an auf das heute ungelöste Materialproblem hin-
gewiesen. Heute liegen Bewerbungen aus Frankreich und
Kanada für einen ITER-Standort auf dem Tisch, Japan und
Spanien haben einen Standortvorschlag angekündigt.
Deutschland bewirbt sich wegen anderer Prioritäten nicht
um den Standort für das Fusionsexperiment ITER. Wir
bleiben damit in der Kontinuität der Haltung der Vorgän-
gerregierung. Die FDP, die dieses in ihrem Antrag nun for-
dert, hatte interessanterweise vor 1998 an dieser Haltung
nichts auszusetzen.
Deutschland wird sich in den weiteren Gesprächen
dafür einsetzen, dass die Entscheidungen über ITER im
Kontext einer sinnvollen Energiestrategie getroffen wer-
den und die Finanzierung des Projekts in weltweiter Ar-
beitsteilung vor einer endgültigen Entscheidung geklärt
ist. Wir bestehen auch auf einer weiteren Förderung für
die Fertigstellung und den Betrieb des Fusionsexperi-
ments WENDELSTEIN in Greifswald. Denn viele Ex-
perten sind sich darin einig, dass bei einer Entscheidung
über das Design eines Fusionsreaktors in 20 Jahren aus
heutiger Sicht offen ist, ob das Design auf dem Tokamak-
Konzept von ITER oder dem Stellerator-Konzept von
WENDELSTEIN aufbauen wird.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu der Entschließung:
Unternehmer im Netzwerk – für eine Kultur der
Selbstständigkeit (Tagungsordnungspunkt 13)
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht für mehr
Selbstständigkeit und für kleine und mittlere Unterneh-
men. Eine neue Kultur der Selbstständigkeit hat sich ent-
wickelt und unserem Land einen Modernisierungsschub
gegeben. Daran hat die Überbewertung neuer Technologie-
unternehmen von Medien und Börse in der Phase des Hype
und die derzeitige Unterbewertung nichts ändern können.
Die Zahl der Unternehmensgründungen in Deutschland
hat kontinuierlich zugenommen – im Jahr 2001 hatten wir
7 000 Unternehmen mehr als im Jahr 1998.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223990
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Auf diesem Weg wollen wir weitergehen und die Rah-
menbedingungen kontinuierlich verbessern.
Wir haben den Haushalt auf einen Konsolidierungs-
pfad gebracht, die kapitalgedeckte Säule bei der Rente
aufgebaut und eine Steuerreform, die den Mittelstand ent-
lastet, verabschiedet.
Wir konnten den Trend bei den Lohnnebenkosten um-
drehen: sie waren von 32,4 Prozent 1980 auf 42,1 Prozent
angestiegen. Heute liegen sie bei 41,2 Prozent. Ohne die
Ökosteuerreform wären sie 2 Prozent höher. Der arbeits-
intensiv produzierende Mittelstand und moderne Dienst-
leister profitieren in besonderer Weise davon.
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir einen
weltweit beachteten Boom bei Sonnen- und Windenergie
ausgelöst. Viele neue Unternehmen sind entstanden.
Die Wirtschaftsweisen haben es uns bestätigt: Mit un-
serer Steuerpolitik haben wir den Mittelstand deutlich ent-
lastet. Bereits im Jahr 2001 wurde der Mittelstand um
netto 7 Milliarden Euro entlastet. Im Jahr 2005 wird die
letzte Stufe der Steuerreform greifen, die Entlastung des
Mittelstandes wird dann gegenüber 1998 15 Milliarden
Euro betragen. Wir haben damit die Voraussetzung für die
Verbesserung der Eigenkapitalsituation der mittelständi-
schen Personengesellschaften geschaffen.
Aber vieles ist noch zu tun. Die Wissensgesellschaft
braucht selbstständige, unternehmerisch denkende Men-
schen – das starre Oben und Unten ist von gestern. Gefragt
ist die Fähigkeit, in Netzwerken und Teams zu arbeiten.
Neue Wertschöpfung, neue Unternehmen und neue Arbeit
entstehen dezentral: bei Gründerinnen und Gründern bei
kleinen und schnell wachsenden Unternehmen. Wir wol-
len die Menschen dabei unterstützen, sich fit zu machen
und ihren Weg zu gehen. Hierfür werden wir hemmende
Bürokratie abbauen und selektiv Initialförderung bereit-
stellen. Unser Leitbild ist der aktivierende Staat.
Deshalb werden wir weiter kontinuierlich mehr Geld
für Bildung bereitstellen, die Qualität der Bildungsein-
richtungen durch Vergrößerung ihrer Autonomie und ver-
stärkte Wettbewerbselemente in der Bildungsfinanzie-
rung steigern.
Die Angebote der Schulen und Hochschulen zur Vor-
bereitung auf die Selbstständigkeit wollen wir ausbauen
und für die Übernahme mittelständischer Unternehmen
durch junge Leute wollen wir verstärkt werben. Wir ver-
bessern die Rahmenbedingungen für die Verbreitung
neuer Technologien durch Investitionen in Forschung und
Technologie.
Wir wollen eine Kultur der zweiten Chance schaffen
und mit der Grundsicherung ein System der sozialen Si-
cherung aufbauen, das allen offen steht. Die Flexibilität an
den Arbeitsmärkten wollen wir erhöhen – und zugleich
die Menschen und die Unternehmen dabei unterstützen,
die Chancen dieser Flexibilität wahrzunehmen.
Wir werden den lebenswichtigen Zugang mittelständi-
scher Unternehmen zu Krediten und Beteiligungskapital
verbessern. Dazu werden wir neue Instrumente bei den
Förderbanken des Bundes einführen, damit es für die Ban-
ken wieder attraktiver wird, Klein- und Kleinstkredite zu
vergeben. Einen lebendigen Beteiligungs- und Risiko-
kapitalmarkt wollen wir durch die Schaffung von mehr
Transparenz und Vertrauen auf den Kapitalmärkten und
durch attraktive steuerliche Rahmenbedingungen ge-
währleisten.
Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Mich reizt es,
auf viele Wahlkampfaussagen meiner Vorredner einzuge-
hen, doch ich möchte in der Sache diskutieren und gehe
deshalb gleich auf den Entschliessungsantrag ein.
In ihrem Antrag „Unternehmer im Netzwerk – für eine
Kultur der Selbstständigkeit“ fordern die Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition die Reform der Lehrpläne in
Schulen und Universitäten sowie eine besondere und in-
tensive Förderung der Unternehmensform „Franchising“.
Außerdem plädieren sie für eine Stärkung des Unterneh-
mensbewusstseins. Ihre Ideen sollen zu mehr Selbststän-
digkeit in Deutschland führen.
Ich fürchte, die Opposition hat ein wenig den An-
schluss verloren. Weder hat sie den Bericht der Bundes-
regierung zur Politik für den Mittelstand angeschaut, noch
die Homepage des Wirtschaftsministeriums angeklickt.
Wenn Sie es nicht selber können, dann zeigen Ihre Mitar-
beiter Ihnen sicher gerne, wie man ins Internet kommt. Im
Übrigen: Da sind die Schulen, deren Lehrpläne sie ändern
wollen, schon viel weiter als der eine oder andere hier im
Raum.
In dem Bericht können Sie nachlesen, dass sich in
Deutschland bereits ein Stimmungswandel zugunsten der
unternehmerischen Selbstständigkeit vollzogen hat. Nach
einer aktuellen EU-Umfrage können sich 20 Prozent der
16- bis 29-Jährigen in Deutschland vorstellen, sich selbst-
ständig zu machen. Diesen Aufwärtstrend bestätigt der
neue Vorstandssprecher der Deutschen Ausgleichsbank,
Peter Fleischer. Er sagte vor kurzem in einem Interview,
dass sich die Gründerzahlen vor allem in Ostdeutschland
stabilisieren. Und das freut mich als Politikerin aus dem
Osten natürlich besonders.
Die Entwicklung eines Unternehmergeistes bzw. Un-
ternehmerbewusstseins fängt schon in der Schule an, das
haben Sie in ihrem Antrag richtig erkannt. Deshalb unter-
stützt unser Wirtschaftsminister Müller in zwölf Bundes-
ländern das Projekt „Junior“, bei dem Schulklassen real
handelnde Miniunternehmen gründen. Die DtA hat einen
hervorragenden Schulordner mit praxisnahem Unterrichts-
material zum Thema Selbstständigkeit erstellt.
Nicht nur in Schulen, auch in Hochschulen und Uni-
versitäten sorgen wir dafür, dass Studenten zur Selbst-
ständigkeit motiviert und darauf vorbereitet werden. Wir
haben dazu 42 Existenzgründerlehrstühle ins Leben geru-
fen. Sie ermöglichen interessierten Studentinnen und Stu-
denten, ihre unternehmerischen Fähigkeiten an den Fa-
kultäten zu entwickeln und auszubauen. Ich könnte das
jetzt hier fortführen, aber dann reicht meine Zeit nicht aus.
Im Übrigen: Kollege Börnsen – ich nenne ihn, weil sein
Name als erster in der Liste der Antragseinreicher steht –
muss als langjähriger Lehrer für Wirtschaft und Politik am
Besten wissen, dass der Bund nur einige Pilotprojekte an
Schulen und Hochschulen initiieren und unterstützen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23991
(C)
(D)
(A)
(B)
kann, da die Gestaltung der Lehrpläne in die Länderkom-
petenz fällt. Er setzt sich in dem Antrag sehr für das Fran-
chising ein. Er hat in seiner Rede am 31. Januar sogar ein
Jobwunder prophezeit wenn, – ich zitiere – „man sich am
Zauberwort Franchising orientierte“. Nun soll man mit
Prophezeiungen vorsichtig umgehen und das würde ich in
diesem Fall auch empfehlen.
Franchising ist eine Kooperationsform von Unterneh-
men unter vielen. Innerhalb des Bereichs Franchising gibt
es wiederum etliche 100 Franchisesysteme.
Die Facetten sind hier fließend. Vorteilhaft für den Fran-
chisenehmer ist, dass er das Know-how und die Erfahrung
des Gebers übernehmen kann sowie dessen erprobte Pro-
dukte oder Dienstleistungen. Manche Franchisesysteme
binden den Nehmer sehr ein, was die unternehmerische
Freiheit einschränkt. Wenn die ganze Produktpalette vor-
geschrieben wird, der Auftritt des Unternehmens diktiert
und die Preise vollkommen vom Geber festgelegt werden,
kann man wohl kaum noch von einer Kultur der Selbst-
ständigkeit sprechen. Darüber sagt er gar nichts in seinem
Antrag.
Ich will nicht behaupten, Franchising wäre keine gute
und erfolgversprechende Sache; ich finde es aber fahrlässig,
diese Unternehmensform als Allheilmittel anzubieten.
Da diese Form der Selbstständigkeit von uns und unserer
Regierung als eine – ich möchte unterstreichen: als eine –
der Möglichkeiten, sich selbstständig zu beschäftigen, un-
terstützt wird, hat die Bundesregierung einen Leitfaden für
Unternehmen herausgegeben, der über Kooperationen in-
formiert und Hilfestellung gibt. Auf der Homepage des
Wirtschaftsministeriums gibt es einen eigenen Link zum
Thema Franchising, der Informationen und jede Menge
Kontakte anbietet. Man kann also wirklich nicht behaupten,
dass wir das Thema vernachlässigt hätten.
Dass Unternehmen das Angebot der Bundesregierung
in Anspruch nehmen, zeigen zum Beispiel zwei Unter-
nehmen aus meinem Wahlkreis Chemnitz. Sie sind am
Montag auf dem Innovationstag der AiF für ihre Koope-
rationskonzepte geehrt worden. Es handelt sich aber nicht
um Franchise in diesem Fall, sondern um Netzwerkma-
nagement im Rahmen von NEMO: „Netzwerkmanage-
ment Ost.“
Die beiden Unternehmen werden in den nächsten drei
bis vier Jahren von der Bundesregierung mit bis zu
300 000 Euro unterstützt, um ein Netzwerk aufzubauen
und zu etablieren. In einem Fall handelt es sich um eine
Gruppe von sieben Unternehmen im Bereich Maschinen-
bau. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Einkauf, Be-
darfserfassung, Schulungs- und Ausbildungsmaßnahmen,
Marktanalyse und Technologieentwicklung wird aufge-
baut oder intensiviert.
Diese Unternehmen haben erstens erkannt, dass in ei-
ner internationalisierten Wirtschaft der Zusammenschluss
von kleinen Unternehmen von enormer Bedeutung ist, um
am Markt zu bestehen. Zweitens haben sie analysiert, dass
ein zu geringer Prozentsatz ihrer Zulieferungen aus dem
Umland kommen, dass aber das Potenzial in unserer Re-
gion vorhanden ist. Daran werden sie mit der finanziellen
Unterstützung, die sie von der Regierung erhalten wer-
den, arbeiten.
Die drei Förderbereiche Innovation, Forschungsko-
operation und Technologische Beratung bieten dem Mit-
telstand viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Zahlrei-
che Programme stehen zur Verfügung. Ich darf an dieser
Stelle noch einmal auf den Mittelstandsbericht verweisen.
Im Rahmen der Förderung von Existenzgründungen wer-
den auch Franchiseunternehmer gefördert, wenn sie einen
gewissen Grad an Selbstständigkeit nachweisen. Doch
Sonderprogramme für Franchise halte ich für den falschen
Weg.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): „Die
zehn besten Newcomer“ titelte das Wirtschaftsmagazin
„Impulse“, als es Ende 2001 seine Bestenliste der Fran-
chisesysteme veröffentlichte. Die Neugründungen der
letzten drei Jahren hatte man kritisch unter die Lupe ge-
nommen, um potenziellen Existenzgründern eine Ent-
scheidungshilfe zu geben.
Den Topplatz belegte das Textilpflegesystem „ZWO
24“. Textilreinigung innerhalb von zwei Stunden und das
rund um die Uhr, 24 Stunden lang, lautet die als innovativ
eingestufte Geschäftsidee. In acht Filialen in fünf deut-
schen Städten wurde das System auf Herz und Nieren ge-
prüft. Eine Chipkarte ermöglicht den Eintritt in den Ab-
holbereich. Ein Speicherband befördert die richtigen
Artikel zur Ausgabe. Ein Reinigungssystem – so einfach
wie ein Geldautomat. Besonders positiv wurden das ei-
gene Patent und die ausführliche Schulung der Franchise-
nehmer bewertet. Das Finanzierungskonzept sei durch-
dacht und wurde von Banken gelobt. Das Ziel bis 2006:
130 bis 150 Filialen deutschlandweit.
Beste Bedingungen für eine Erfolgsstory – meint man.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Bei der Filialgründung
des Gewinners in Potsdam, nur 30 km hier vom Reichs-
tag entfernt, gab es die typischen Barrieren für Existenz-
gründer: Bestens geeignete Räume waren in der Innen-
stadt angemietet, Mitarbeiter ausgewählt, Fördermittel
durch die öffentlichen Banken zugesagt. Doch die Ge-
schäftsbanken vor Ort lehnten in vorauseilendem Gehor-
sam zur Basel-II-Vereinbarung die Finanzierung ab. Die
platte Begründung: Potsdam sei kein Platz zum Investie-
ren. Geschäftsidee, Ertragserwartung und Expansions-
chancen spielten dabei keine Rolle.
So geht es derzeit Tausenden von Existenzgründern.
Die Banken finanzieren praktisch keine Existenzgrün-
dungen mehr. Gründer in Franchisesystemen werden da-
bei von den Banken wegen ihres vergleichsweise gerin-
gen Risikos sogar noch sehr wohlwollend behandelt,
bestätigt die Deutsche Ausgleichsbank auf Nachfrage.
Doch deren Slogan „Wir fördern Zukunft“ sieht in der
Praxis oft anders aus.
500 000 zusätzliche Arbeitsplätze könnten nach Exper-
tenansicht durch gestützte Existenzgründungen in
Deutschland geschaffen werden, wenn – ja: wenn – die
Rahmenbedingungen stimmen.
Doch die Bundesregierung hat wenig Interesse an dem
Gründerkonzept Franchising. Unsere Große Anfrage vom
April 2001 wurde von ihr erst nach über sechs Monaten
beantwortet. Die erste Debatte dazu fand erst weitere fünf
Monate später statt und heute, sieben Monate nach unse-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223992
(C)
(D)
(A)
(B)
rem Entschließungsantrag findet die Abschlussdebatte
statt. Tausende mögliche neue Arbeitsplätze wurden so
auf die lange Bank geschoben. Das ist unverantwortlich!
Die Beschlussempfehlung der rot-grünen Mehrheit für
die heutige Abstimmung lautet: Ablehnung des Antrages
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Eine Begründung
dazu fehlt. Pflicht des Bundeswirtschaftsministers Müller
wäre es gewesen, sich persönlich für das Thema einzuset-
zen. Er hat die Richtlinienkompetenz in seinem Ministe-
rium. Er hat nicht gehandelt.
Anerkennenswert dagegen ist die Initiative der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Margareta Wolf, die sich
mit dem Gründerkonzept Franchising und dieser beson-
deren Unternehmensform auseinandergesetzt hat. Erst
jetzt wird eine Studie zur Bewertung von Franchisesyste-
men im Hinblick auf die Beschäftigungssituation in
Deutschland in Auftrag gegeben. Wir von der Union mei-
nen: viel zu spät, auch wenn diese Maßnahme ein Teil un-
seres Antrages ist.
Die derzeitigen wirtschaftlichen Fakten sprechen eine
klare und traurige Sprache. Sie verdeutlichen die politi-
sche Versäumnisse in der Mittelstandspolitik dieser Bun-
desregierung: Die Ertragslage des deutschen Mittelstan-
des ist so schlecht wie nie zuvor. Nur 3 Prozent des
Umsatzes werden als Gewinn erwirtschaftet! Ein Drittel
aller mittelständischen Unternehmen erzielen keinen Ge-
winn mehr! Über die Hälfte der kleineren Mittelständler
arbeiten ohne Eigenkapital. Die Investitionsbereitschaft
geht besorgniserregend zurück. Damit ist die anerken-
nenswerte Ausbildungsbereitschaft von Handwerk, Han-
del und Gewerbe ebenso gefährdet wie dessen Funktion
als gesellschaftlicher Stabilisator.
Die 3,5 Millionen mittelständischen Unternehmen in
Deutschland beschäftigen 70 Prozent aller Arbeitnehmer,
80 Prozent aller Auszubildenden und schaffen 50 Prozent
aller Wertschöpfung. Die augenblickliche Politik hat viele
entmutigt; Steuern steigen, Abgaben steigen, bürokrati-
sche Auflagen steigen. Hohe Lohnnebenkosten
werden zu Jobkillern. Das ist ein Entmutigungs-, kein
Förderprogramm. Verschärfte Mitbestimmung und das
Teilzeitarbeitgesetz werden als Diktat empfunden. Neue
Umweltkriterien führen zu mehr Reglementierung, zu
mehr Bürokratie. Es kommen derzeit keine wirklich
neuen Impulse aus Berlin. Wir registrieren: eine Wirt-
schaftspolitik ohne Fantasie, ohne konkrete Power!
Dabei könnte die Schaffung richtiger Rahmenbedin-
gungen zu einem neuen Jobwunder beitragen; Franchi-
sing heißt das Stich-, wenn nicht sogar Zauberwort.
500 000 neue Arbeitsplätze innerhalb von fünf Jahren
könnten dadurch nach Expertenansicht entstehen. Fran-
chising ist eine in Deutschland im Vergleich zu anderen
Industriestaaten völlig unterentwickelte Wirtschaftsform.
850 Systeme gibt es in Deutschland, 3 000 in Japan und
5 000 in den Vereinigten Staaten. Dabei kauft der Fran-
chisenehmer beim Franchisegeber ein fertiges Betriebs-
konzept, profitiert von dessen Werbung und Know-how,
agiert jedoch weitgehend wie ein selbstständiger Unter-
nehmer. Als wirkliche Partnerschaft verstanden, kommt
es zu einer hocheffizienten Arbeitsteilung zwischen der
Systemzentrale und dem Unternehmer vor Ort. Die oft
langjährige Anlaufphase einer Unternehmensneugrün-
dung verkürzt sich deutlich. Sie liegt bei manchen Syste-
men fast bei null.
Gründerpleiten werden auf ein Minimum reduziert.
34 000 Jungexistenz-Pleiten allein 2001 in unserem Land
vergeuden nicht nur Steuergelder und Investitionskapital,
sondern zerstören auch Biografien. Verglichen mit den
herkömmlichen Betriebsgündungen ist die begleitete Exis-
tenzgründung im Franchising erfolgreicher. 350000 Men-
schen arbeiten heute in Deutschland in Franchiseketten
von Photo Porst bis hin zu den Fröhlich-Musikschulen; in
rund 850 Franchisesystemen in allen Branchen, Dienstleis-
tungs- und Industriebereichen.
Meine Heimatstadt Flensburg ist Sitz von bekannten
und angesehenen Systemzentralen wie Beate Uhse und
TEXfit und in Schleswig-Holstein gibt es weitere wie
MobilCom, Blume2000 und das Dach- und Fassaden-
begrünungssystem Optima aus Tornesch. Aber rund 2 000
solcher Unternehmensnetzwerke hätten nach Ansicht von
Fachleuten Platz in Deutschland, wenn endlich gehandelt
würde.
Doch statt dieses Entwicklungspotenzial zu nutzen,
baute die Bundesregierung neue Hürden bei der Schaf-
fung von Arbeitsplätzen auf: beim Kündigungsschutz, der
Steuerreform, der Scheinselbstständigkeit oder bei den
325 Euro-Jobs. Hier blickt die Bundesregierung zum
Ende ihrer Regierungszeit auf eine Politik der verpassten
Chancen zurück. In den USA ist Franchising ein Instru-
ment aktiver Arbeitsmarktpolitik. Blei uns nicht! Dabei
schafft ein Existenzgründer in Deutschland im Durch-
schnitt drei Arbeitsplätze, Franchisenehmer schaffen im
Durchschnitt sogar zehn. Viele eröffnen nach einiger Zeit
einen oder mehrere weitere Betriebe. Doch nimmt ein
Franchisesystem bei der Suche nach potenziellen Exis-
tenzgründern Kontakt zum Arbeitsamt auf, erhält es oft
eine Abfuhr „Wir vermitteln keine Arbeitslosen in die
Selbstständigkeit, diese zahlen nicht in die Arbeitslosen-
versicherung ein“, lautet dann die lapidare Absage, so
Aussagen aus der Branche.
Das ist dumm! Gerade beim Abbau der Arbeitslosig-
keit sind innovative Ideen gefragt. Bei der Vermittlung in
die Selbstständigkeit wird eine Kettenreaktion ausgelöst,
es entstehen weitere Arbeitsplätze. Franchisesysteme be-
dienen zwei Kundenkreise: den Verbraucher und Nutzer
ihrer Produkte und Dienstleistungen einerseits und poten-
zielle Existenzgründer andererseits.
Die Netzwerkwirtschaft wartet darauf, Rechtssicher-
heit zu erhalten. Sie bewegt sich in mehreren Bereichen
auf ungeklärten Grenzlinien: In der Praxis ist oft nicht
klar, ob die Tätigkeit eines Franchisenehmers von den Ge-
richten als selbstständige Tätigkeit akzeptiert wird, ob die
EU-Gruppenfreistellungs-Verordnung greift und das je-
weilige Franchisesystem vom Kartellverbot freigestellt ist
und wie weit die Aufklärungspflichten des Franchisege-
bers reichen. Folge ist: Das Landgericht in München be-
stätigt die Wirksamkeit eines Franchisevertrages, das
Oberlandesgericht in Hamm erklärt denselben Vertrag für
sittenwidrig. Hierdurch werden Geld, Arbeitsplätze und
Existenzen vernichtet; zum Schaden für unsere gesamte
Volkswirtschaft. Die Reform des Schuldrechts bot hier
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23993
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Chancen für eine Klarstellung. Geschehen ist nichts, hier
hat die Bundesregierung eine weitere Chance vertan.
Die Risiken dieser Wirtschaftsform dürfen vom Ge-
setzgeber nicht übersehen werden. Unzureichend quali-
fizierte Menschen können in eine Existenzgründung
gedrängt werden, eine zu hohe Lizenzgebühr kann frus-
trieren und nicht fördern. Schwarzen Schafen ist das
Handwerk zu legen. Franchisegeber und Franchiseneh-
mer sind Partner und sitzen im selben Boot. Zur Galeere
darf dieses aber nicht werden.
In den Vereinigten Staaten zum Beispiel – dem Ur-
sprungsland der Netzwerkwirtschaft – gelten harte Re-
geln, aber auch Rechtssicherheit. In 30 Jahren ist Erfah-
rung gewachsen. 8 bis 10 Millionen Menschen gibt diese
Wirtschaftsform dort aktive Wirtschaftsbeteiligung.
In den USAmüssen alle Franchisesysteme angemeldet,
zertifiziert und in ein öffentliches Register aufgenommen
sein. Diese Regelung schafft Schutz vor Missbrauch und
wirkt wie eine Vermittlungsbörse.
Eine solche Lösung ließe sich ohne Reglementierung
der Branche durch die Einführung eines freiwilligen Prüf-
siegels für Franchisesysteme bei uns erreichen. An der
Vergabe des Zertifikates sind alle Betroffenen zu beteili-
gen. Die Branchenverbände der Franchisegeber und der
Franchisenehmer sollten hierfür einen klaren Auftrag der
Politik erhalten.
Die Finanzierung von Existenzgründungen bedarf
dringender Verbesserung. Banken und Sparkassen ziehen
sich immer mehr aus dieser Aufgabe zurück und die
Basel-II-Vereinbarung legt schon heute praktisch jede
Existenzgründung lahm. Es ist unsinnig, bei jeder Exis-
tenzgründung eines Franchisepartners, bei jeder Filial-
gründung das gesamte Franchisekonzept wieder auf Herz
und Nieren zu prüfen. Das duftet nach Geldschneiderei.
Um diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen, ist politi-
sche Initiative gefragt. Alle, die an der Existenzgründung
und an der Schaffung von Arbeitsplätzen ein Interesse ha-
ben – sei es, um Geld zu sparen oder um welches zu ver-
dienen –, müssen zusammengeführt werden.
Gemeinsam muss ein Deutschland-Fond zur Schaffung
von 500 000 Arbeitsplätzen durch Unternehmensneu-
gründungen initiiert werden. Zu beteiligen sind Banken,
Sparkassen, Fondsgesellschaften, die Bundesanstalt für
Arbeit, das Wirtschaftsministerium und über einen Volks-
Aktien-Fond alle Bürger unseres Landes. Eine prima Idee,
wie sie jetzt Dieter Fröhlich, der Präsident des Deutschen
Franchise Verbandes vorgestellt hat.
Neben den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedin-
gungen wird eine Unternehmerkultur entscheidend durch
das Unternehmerbewusstsein geprägt. Doch hier bestehen
bei uns Defizite im Bildungs- und Ausbildungssystem.
Das Fach Wirtschaft muss Schul-Pflichtfach sein. Unter-
nehmer vor Ort müssen regelmäßig in die Schulen einge-
laden werden, aus ihrem Alltag berichten, von ihren
Ideen, Chancen und Risiken. Abgesehen davon müssen
wir weg von einer Neidkultur, hin zu einer Unternehmer-
kultur. Der risikobereite Leistungsstarke verdient Aner-
kennung. Dieser Respekt sollte ganz besonders Franchi-
seunternehmen gelten, denn sie fungieren auch als Schule
für Unternehmer. Hier lernt mancher erst das Handwerks-
zeug für eine verantwortliche Unternehmensführung.
Hier findet Eigenverantwortung in der Praxis statt. Hier
kommt es zur Qualifizierung zukünftiger Unternehmer.
Daraus kann und sollte sich ein neues Berufsbild erge-
ben, das eines Franchisemanagers. Er könnte für neue
Ideen und deren Umsetzung sorgen. Er könnte zur Schaf-
fung und zur Sicherung der Systemzentralen in Deutsch-
land beitragen. Ein kleines Beispiel soll das verdeutli-
chen: Vor einigen Jahren erhielt ein findiger Ingenieur aus
Deutschland ein Patent für ein Gehweg-Reinigungssys-
tem. Doch als Techniker fehlte ihm das kaufmännische
Know-how für die geschäftliche Verwertung. Etablierte
Unternehmen hatten kein Interesse an dem Patent. So fand
er einen Franchisemanager in den Vereinigten Staaten.
Dieser setzte die Erfindung in ein Geschäftskonzept um.
Heute sitzt die Systemzentrale in den USA und die ersten
potenziellen Lizenznehmer aus Deutschland haben ihr In-
teresse angemeldet. Systemzentralen von Coca Cola oder
McDonalds erhalten von vielen deutschen Vertragspart-
nern Lizenzgebühren, doch die Steuern dafür werden in
Atlanta und in Illinois bezahlt. Das muss nicht sein!
Die wenigen Beispiele verdeutlichen: Kluges politi-
sches Handeln ist gefordert, will man die Chance bis zu
500 000 neue Arbeitsplätze in den kommenden fünf Jah-
ren zu schaffen, nicht verpassen. Die Erfahrungen und
Ideen beispielhafter Pioniere in Sachen Franchising wie
die der Unternehmensberatung Wingral und Partner aus
Eckernförde und der ADVIS-Wirtschaftskommunikation
aus Monheim verdienen Unterstützung.
Aus dieser Einschätzung halten wir als Union an unse-
ren fünf wirtschaftspolitischen Empfehlungen fest:
Erstens. Wir benötigen dringend eine fundierte Studie
zu den Entwicklungschancen des Franchising in Deutsch-
land.
Zweitens. Wir halten die Schaffung eines Zertifizie-
rungssystems für Franchisesysteme auf der Basis der
Freiwilligkeit für erforderlich.
Drittens. Wir plädieren für die Schaffung klarer recht-
licher Rahmenbedingungen, insbesondere zu den Auf-
klärungspflichten des Franchisegebers.
Viertens. Wir halten die Sicherstellung der Qualifizie-
rung zukünftiger Unternehmer als Franchisenehmer so-
wie von Franchisemanagern als Franchisegeber für rich-
tig und wir müssen
fünftens zu einer einfacheren und unbürokratischen
Existenzgründungsfinanzierung ebenso wie zur Förde-
rung der Gründung von Franchisesystemen kommen.
Damit hätten diese Netzwerksysteme gute Chancen, zu
einer Jobmaschine zu werden. 500 000 neue Arbeitsplätze
sind machbar.
Gudrun Kopp (FDP): Den Mittelstand, das viel ge-
priesene Rückgrat der deutschen Wirtschaft, plagen derzeit
größte Sorgen. Die hohe Steuer-, Abgaben- und Kostenlast
sowie eine Zunahme von Bürokratie und Regulierung
strangulieren einen großen Teil der 3,3 Millionen mittel-
ständischen Unternehmen und Freiberufler.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223994
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Kein Wunder, dass sich die niedrige Selbstständigen-
quote in Deutschland von gerade einmal 10 Prozent im in-
ternatinalen Vergleich völlig negativ abhebt. Letzte Daten
aus 2001 belegen, dass gerade kleine und mittlere Unter-
nehmen mit bis zu fünf Beschäftigten am schnellsten von
Insolvenzen bedroht sind. 56 Prozent dieser KMU in
Westdeutschland und über 43 Prozent in Ostdeutschland
waren im Jahr 2000 von Insolvenz betroffen.
Welche Maßnahmen hält die FDP für erforderlich, um
die Selbstständigenkultur in Deutschland voranzubrin-
gen? Senkung der Steuer- und Abgabenlast, verbunden
mit einer Vereinfachung des Steuersystems; steuerliche
Anreize zum Aufbau von Eigenkapital; Erweiterung der
Schulungs- und Weiterbildungsangebote zur sorgfältigen
Vorbereitung auf die Selbstständigkeit; eine Konzentra-
tion und Bündelung von nur wenigen, übersichtlichen
Förderprogrammen auf Bund-Länder-Ebene und Entlas-
tung der Unternehmen von Bürokratiekosten, die gerade
kleinen Firmen die Luft zum Atmen und zur innovativen
Gestaltung ihrer Unternehmenspolitik nehmen.
Es ist bezeichnend, dass der Staat den Unternehmen
Aufgaben abverlangt, die die Firmen kostenlos erbringen
müssen. Als Beispiel sei hier die Erstellung von diversen
Statistiken genannt. Solcherlei „Frondienste“ belaufen
sich inzwischen auf einen Umfang von circa 30 Milliar-
den Euro.
Rolf Kutzmutz (PDS): Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der CDU/CSU, Sie fordern uns in Ihrem Ent-
schließungsantrag zu Feststellung auf, dass die Bundes-
regierung beim Thema „Unternehmer im Netzwerk-Kultur
der Selbstständigkeit“ lediglich auf Angaben eines Ver-
bandes zurückgreifen könne.
Ich möchte einmal den Spieß umdrehen: Die zugrunde
liegende Große Anfrage Ihrer Fraktion war offenkundig
ebenso eine Auftragsarbeit des Deutschen Franchise-Ver-
bandes. Ich habe keineswegs generell etwas dagegen,
Lobbyisten im Parlament Gehör zu verschaffen. Ich wun-
dere mich aber über die penetrante Form in diesem Falle.
Denn Franchising ist zwar eine, aber keineswegs „die“
Netzwerk-Form von Wirtschaftsaktivitäten. Sie selbst ha-
ben sich – wie wir – an anderer Stelle mit Vehemenz für
regionale oder arbeitsteilige Netzwerke selbstständiger
Unternehmen eingesetzt. Ich erinnere nur an das Engage-
ment für die Förderung von Netzwerkmanagement Ost –
bekannter als NEMO. Oder an Förderkulissen wie Inno-
regio, Innonet oder industrielle Gemeinschaftsforschung.
Solche aus unserer Sicht zukunftsträchtige Formen von
Netzwerken ignorieren Sie nun völlig.
Gewiss kann Franchising ein Einstieg in Selbstständig-
keit sein. Aber – je nach konkreter Ausgestaltung der Ver-
träge, die man nicht alle über einen Kamm scheren soll –
kann es durchaus eine für die Betroffenen hoch riskante
Form der Scheinselbstständigkeit darstellen. Jener Schein-
selbständigkeit, der aus arbeitsmarkt- wie sozialpoli-
tischen Gründen zu Recht der Boden entzogen werden
sollte.
Dass Sie ausgerechnet Franchising, wo es bekannter-
maßen nicht nur Knebelverträge gibt, als Keule gegen alle
Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit
nutzen, das lässt tief blicken. Offensichtlich geht es Ihnen
weniger um einen Aufschwung der Existenzgründer, son-
dern vielmehr der Profite der Franchise-Geber, also der
zumeist großen Unternehmen und insbesondere der
„schwarzen Schafe“ unter denen.
Sie beantragen darüber hinaus eine umfassende Studie
zum Franchising. Die ist unseres Wissens mittlerweile be-
reits in Auftrag gegeben. Auch die PDS ist auf das Ergeb-
nis der international vergleichenden Untersuchung zu den
Beschäftigungsperspektiven bei solchen Systemen ge-
spannt. Möglicherweise lassen sich daraus tatsächlich ei-
nige politische Handlungsempfehlungen ableiten. Aber
eine einseitige Orientierung auf diese Form, ihre Adelung
zur Basis der gesamten Selbstständigen-Kultur wird es
mit uns gewiss nicht geben.
Ihre Forderung nach Einbeziehung der „Kultur der
Selbstständigkeit“ in Lehrpläne von Schule, Berufsbil-
dung, Hochschule wird dagegen schon weitgehend prak-
tiziert. Ich verweise nur auf „Gründerlehrstühle“ an Uni-
versitäten, Unternehmenspraktika in der Sekundarstufe
und dergleichen. Sie hat also weder Neuigkeitswert noch
gibt es aus unserer Sicht noch weiter gehenden Hand-
lungsbedarf. Aus all diesen Gründen kann die PDS diesen
Entschließungsantrag nur ablehnen.
Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatsekretär beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Ich gehe davon
aus, dass wir in der grundsätzlichen Zielrichtung überein-
stimmen: Um die Dynamik des unternehmerischen Han-
delns zu erhöhen, benötigen wir eine neue Kultur der
Selbstständigkeit. Meine Damen und Herren von der Op-
position, Sie werden anerkennen müssen, dass hier die
Bundesregierung in den vergangen dreieinhalb Jahren ei-
nige Erfolge vorzuweisen hat.
Erstens. Wir machen jetzt Jugendliche schon in den
Schulen und Universitäten mit unternehmerischen The-
men vertraut. Sie dagegen untergraben mit Ihren Vor-
schlägen den Föderalismus in Deutschland. Es steht uns
laut Verfassung nicht zu, auf die Lehrpläne der Länder
Einfluss zu nehmen, wie in Ihrem Entschließungsantrag
gefordert.
Die vom BMWi gestartete Initiative zur Errichtung von
Existenzgründerlehrstühlen hat zur Entstehung von
42 Existenzgründerlehrstühlen geführt. Auf diese Weise
wird den Studierenden bereits während ihres Studiums
das Rüstzeug für eine spätere Selbstständigkeit mitgege-
ben.
Wir haben die Initiative „wvwv.gruendungskontakte.
net“ gestartet. Dies ist ein virtueller Marktplatz zwischen
Wirtschaft und Hochschulen. Wissensträger an Hoch-
schulen können hier als potenzielle Existenzgründer ihre
Ideen, Erfindungen und Projekte der Wirtschaft vorstel-
len.
Im Rahmen des Projekts JUNIOR lernen Schülerin-
nen und Schüler ab der 9. Klasse durch die Gründung
von Miniunternehmen die Praxis in der Wirtschaft ken-
nen. Das Projekt läuft mittlerweile schon in zwölf Bun-
desländern. Dass wir mit unserer Politik Erfolg haben
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23995
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beweisen folgende Zahlen: Nach einer EU-Umfrage un-
ter 16- bis 29-Jährigen hat jeder fünfte Jugendliche in
Deutschland den Wunsch, sich selbstständig zu machen.
Eine andere Umfrage unter Studierenden an europä-
ischen Spitzenuniversitäten belegt, dass in Deutschland
16 Prozent der Absolventen nach dem Studium ein eige-
nes Unternehmen gründen möchten und sich rund
10 Prozent vorstellen können, in einem Start-up-Unter-
nehmen zu arbeiten. Damit liegt Deutschland, was den
Wunsch nach Selbstständigkeit angeht, an vierter Stelle
in Europa. Hier wollen wir natürlich noch weiterkom-
men!
Zweitens. Der wachsende Wettbewerbsdruck und die
zunehmende Dynamik der technologischen Entwick-
lung erfordern vom Mittelstand immer neue Wege,
seine Leistungsfähigkeit unter anderem durch Koopera-
tionen und Netzwerke zu stärken. Den Nutzen haben
mittlerweile viele kleine und mittlere Unternehmen er-
kannt.
Angesichts der Vielfalt möglicher Kooperationsfor-
men setzt die Bundesregierung an sehr unterschiedlichen
Stellen des Wirtschaftsprozesses an. Wir wollen einerseits
die Entstehung und andererseits die Nutzung vorhandener
Netzwerke wie Franchising durch Existenzgründer för-
dern. Ein Schwerpunkt der Aktivitäten liegt auf der För-
derung von Netzwerken, die insbesondere Neugründun-
gen und jungen Unternehmen Hilfestellung leisten.
Hierzu zählen Schulungen, Informations- und Beratungs-
leistungen für Gründerinnen und Gründer durch Indus-
trie- und Handelskammern, die Deutsche Ausgleichsbank
sowie die Euro Info Centres.
Weiter fördert die Bundesregierung innovative Unter-
nehmensgründungen aus Hochschulen und Forschungs-
einrichtungen durch die Unterstützung regionaler Netz-
werke im Rahmen des EXIST-Programms und die Vergabe
von Mitteln aus dem Fonds zur Erleichterung von Exis-
tenzgründungen aus Forschungseinrichtungen.
Alle diese Maßnahmen dienen dazu, die Kultur der
Selbstständigkeit in Deutschland weiter zu stärken, indem
insbesondere Informations- und Know-how-Defizite bei
Gründerinnen und Gründern abgebaut werden.
Die Bundesregierung unterstützt kleine und mittlere
Unternehmen aber auch durch umfangreiche Netzwerk-
hilfen im Technologie- und Forschungsbereich. Eine zu-
nehmende Rolle spielen dabei Forschungskooperationen
und innovative Netzwerke, in die kleine und mittlere Un-
ternehmen und auch Forschungseinrichtungen ihre Ideen
und Kompetenzen einbringen.
Durch die Erhöhung der Haushaltsansätze konnten wir
neue Initiativen wie PRO INNO, die Förderung von inno-
vativen Netzwerken, InnoNet, und das Initiativprogramm
„Zukunftstechnologien für kleine und mittlere Unterneh-
men“ starten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, hören
Sie doch endlich auf, immer wieder zu behaupten, das Ge-
setz zur Förderung von Selbstständigkeit verhindere
Selbstständigkeit!. Das ist falsch! Mit den vorgenomme-
nen Klarstellungen und Änderungen sowie der Ein-
führung eines Voranfrageverfahrens zur Statusklärung
sind die entstandenen Anlaufschwierigkeiten und Unsi-
cherheiten beseitigt worden.
Mein Fazit: Die Bundesregierung trägt durch ihre Maß-
nahmen maßgeblich zur Dynamisierung des Gründungs-
geschehens und zu einer Kultur der Selbstständigkeit bei.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung und der Ent-
schließungsanträge: Gesamtwaldbericht
(Tagesordnungspunkt 14)
Heidemarie Wright (SPD): Zum Gesamtwaldbericht,
vorgelegt im September 2001, haben die Koalitionsfrak-
tionen, ebenso die Union, im Januar 2002 Entschließungs-
anträge eingebracht, die zusammen mit dem Gesamtwald-
bericht im März im federführenden Ausschuss beraten
wurden.
Für uns von den Koalitionsfraktionen waren die letzten
Monate durchaus stark vom Thema Wald geprägt, stehen
wir doch in der Vorbereitung des Nachfolgegipfels von
Rio, vor Rio + 10, vor dem Weltgipfel für nachhaltige Ent-
wicklung in Johannesburg. Es wäre gut, wenn Johannes-
burg zum Synonym für einen „Waldgipfel“ würde.
Den Forstpolitikern hier muss man nicht erklären, dass
der Begriff der Nachhaltigkeit ein Begriff aus der Forst-
wirtschaft ist. Es ist auch wahr: In der Forstwirtschaft hat
man sich der Nachhaltigkeit verpflichtet. Sie wurde aber
nicht durchgängig praktiziert.
Auch in Deutschland musste zum Beispiel durch
Kriegsschulden Wald in flächendeckender Weise abge-
holzt werden. Aber auch kurzsichtiges Profitdenken hat
immer wieder zu falscher Forstwirtschaft geführt. Mono-
kulturen boten schädlichen Umwelteinflüssen, ob Stürmen
oder Schädlingen, Raum und es kam zu großen Waldschä-
den. Die ungebremste Mobilität und energetische Nutzung
fossiler Brennstoffe wie Erdöl oder Erdgas führten zu ho-
hen Umweltbelastungen, zu apokalyptischen Zuständen in
Wäldern und zur Angst um das Waldsterben.
Man hat sich besonnen. Das Waldsterben konnte ge-
bremst werden. Hoch motivierte und hoch verantwortli-
che Forstleute haben in weiten Teilen unseres Landes eine
gute Forstwirtschaft begründet und ich bin sehr zuver-
sichtlich, was die Zukunft betrifft.
Deshalb will ich es wiederholt zum Ausdruck bringen:
Deutsche Forstwirtschaft kann eine Vorbildfunktion in
Europa und auf internationaler Ebene übernehmen.
Ich will auch zum wiederholten Male sagen, dass ich
es schade finde, dass die deutsche Forstwirtschaft in ihrer
Verbandsstruktur diese Situation in Bezug auf die Forst-
zertifizierung nicht erkannt und den internationalen Zer-
tifizierungsprozess mitgestaltet hat.
Wie auch immer, es gibt sie, die Zertifizierung. Es gibt
FSC – mit hohen Anforderungen und international be-
gründet. Es gibt PEFC – europäisch, länderweise verord-
net und durchaus bemüht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200223996
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Ich hoffe, dass die Zertifizierung insgesamt der Fort-
entwicklung der nachhaltigen Waldpolitik dient und dass
die Nachhaltigkeit der Maßstab in der Forstpolitik ist.
Nicht selten habe ich aber das Gefühl, dass man den Be-
teiligten Nachhaltigkeit erst buchstabieren muss. Der
Dreiklang von Ökonomie, Ökologie und Sozialem wird
zu oft höchst unterschiedlich gewichtet. Es ist wahr, dass
nicht kooperationsfähige Verbände sich als Bremser und
Verhinderer einer über die Ökonomie hinausreichenden
Nachhaltigkeit aufmanteln und gesellschaftliche Mitspra-
che als etwas Unanständiges ansehen.
Aber es ist eine Tatsache, dass wir nicht erst seit Rio
eine über die deutschen Forsten hinausreichende Verant-
wortung haben. Es ist auch eine Tatsache, dass wir diese
Verantwortung gerade in der rot-grünen Regierung in be-
sonderem Maße annehmen.
Es waren immer gerade auch die deutschen Delegatio-
nen, die bei den internationalen Umweltkongressen, zu-
letzt bei der Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag, die
Vorreiterrolle für eine weit reichende und verantwortliche
Politik übernommen haben. Wir wissen auch alle: Dies ist
bitter notwendig. Denn die uns prägende Einsicht der ge-
genseitigen Mitverantwortung ist weiß Gott nicht überall
stark ausgeprägt. Es ist unsere Mitverantwortung, die
letzten Urwälder der Welt zu schützen und zwar mit Di-
plomatie, mit Druck, mit Geld.
Die Tatsache, dass jährlich viele Millionen Hektar
Wald zerstört werden, muss mehr bewirken als Bedauern
und unverbindliche Beschlüsse.
Das ITTO-Ziel – Internationale Tropenholzorganisa-
tion –, nur noch Tropenholz aus nachhaltig bewirtschafte-
ten Wäldern zu exportieren, wurde bisher nicht erreicht.
Eine der Voraussetzungen hierfür ist auch die Zertifizie-
rung und Kennzeichnung.
Unser Ziel muss weiter sein, in Johannesburg ein
Waldprotokoll zur Biodiversitätskonvention zu erreichen,
um dadurch so rasch wie möglich einen global wirksamen
Schutz der Wälder, insbesondere der Urwälder, zu bewir-
ken.
Waldpolitik ist mehr als Forst- und Umweltpolitik. Es
ist die Politik für die Erhaltung des Gleichgewichts unse-
rer Erde. Deshalb betone ich nochmals meinen Wunsch,
dass der Weltgipfel in Johannesburg als „Waldgipfel“ für
eine internationale Waldpolitik Wirkung erzielt.
Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU):Der
Gesamtwaldbericht befasst sich mit den tropischen Wäl-
dern, den borealen Wäldern, den temperierten Wäldern und
den Wäldern in Deutschland. Natürlich sind Zustand und
Entwicklung zum Teil besorgniserregend.
Ich möchte heute aber nicht über die weltweite Lage
der Forstwirtschaft sprechen, sondern über die Wälder in
Deutschland und deren Lage reden. Dieser Bericht ist von
einem Ministerium erstellt worden, das erstmalig nicht
mehr das Wort „Forsten“ in seiner Dienstbeschreibung
trägt.
Über die Lage und Entwicklung der Forst- und
Holzwirtschaft 2001 aus dem Agrarbericht 2001folgende
Zitate: „rund 36 Prozent der ausgewerteten Betriebe „er-
zielen“ kein positives Betriebsergebnis“, „Geringere Er-
löse wurden auch im forstlichen Betriebsteil erzielt“, „Der
speziell für den forstlichen Betriebsteil fiktiv, das heißt
unter Einbeziehung der kalkulatorisch hergeleiteten Kos-
tenpositionen, errechnete Reinertrag ... hat sich im
WJ 1999/2000 erheblich verschlechtert. Mit rund – 6 DM/
Hektar HB ist er wieder leicht negativ. Im dargestellten
Reinertrag sind bereits Fördermittel in Form von Zu-
schüssen und Zulagen bereits mit eingerechnet.“
Bei der Vorschau auf 2000 wird formuliert: „Es ist da-
mit zu rechnen, dass sich die Ertragslage der Forstbetriebe
im FW 2000 ... im Durchschnitt etwa verschlechtert.“
Daher hat auch zu Recht der Deutsche Forstwirtschafts-
rat, der Zusammenschluss aller Besitzarten, das heißt
auch 47 Prozent Privatwald und Treuhandwald, 34 Pro-
zent Staatswald, und 19 Prozent Körperschaftswald, am
28. Mai 2002 beschlossen:
Erstens. Eine weitere Verschlechterung der wirtschaft-
lichen Rahmenbedingungen der Forstbetriebe, die aus den
beständig steigenden gesellschaftlichen Anforderungen
an den Wald resultiert, ist aufzuhalten und auszugleichen.
Zweitens. Die positiven Effekte der Wälder und Holz-
verwendung zur Eindämmung der Klimaveränderung
(Senken- und Substitutionseffekte) müssen intensiver un-
tersucht, stärker berücksichtigt und der Öffentlichkeit in-
tensiver vermittelt werden.
Drittens. Die Forstwirtschaft ist als unverzichtbarer
Partner für die nachhaltige Entwicklung zu berücksichti-
gen. Übrigens habe ich bis heute nicht verstanden, warum
der Wirtschaftszweig, der seit 200 Jahren nachhaltig wirt-
schaftet, nicht im „Rat für nachhaltige Entwicklung“ zur
Mitarbeit gebeten wurde.
Viertens. Die Verwendung von Holz aus nachhaltiger
Waldwirtschaft ist zu fördern.
Im Bundesnaturschutz ist eine große Chance dadurch
vertan worden, dass der Vertragsnaturschutz nicht vorran-
gig eingeräumt wurde, denn der Wald mit seinen vielfäl-
tigen Schutzfunktionen setzt eine vertrauensvolle Koope-
ration zwischen Waldbesitzern und Waldinteressen und
Naturschutzbelangen voraus. Nur im Zusammenwirken
lassen sich auch schwierige Fragen lösen.
Dazu gehört auch, dass die Frage der Ausgleichs- und
Entschädigungsregelung immer noch nicht geklärt ist. Da
die FFH-Richtlinie eine Kofinanzierung zwischen der EU
und dem Mitgliedsland vorsieht, sind sowohl ein nationa-
ler als auch ein europäischer Finanzierungstitel zu schaffen.
Es muss daher auch geklärt werden, bevor eine endgültige
Auswahl der Gebiete über die so genannten Biographi-
schen Seminare stattfinden, wie und womit die mit der
Ausweisung verbundenen Einschränkungen finanziert
werden.
Erstmalig beschäftigt sich der Waldbericht mit Zertifi-
zierungssystemen. Hier lassen sich mit Ideologie und ein-
seitiger Parteinahme für ein System sowohl der Fachmi-
nisterin Frau Künast als auch des Umweltministers Trittin
das Problem nicht lösen.
Statt das Engagement der Waldbauern in Deutschland
zu loben, setzt zum Beispiel der Umweltminister einseitig
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 23997
(C)
(D)
(A)
(B)
auf ein Label zur Zertifizierung von Holzprodukten. Da-
mit verkannte er die Leistung Hunderttausender privater
Forstbetriebe und auch tausender Kommunen und auch
die große Mehrheit der Landesforsten, die seit Jahrhun-
derten ihre Wälder nachhaltig bewirtschaften.
In Deutschland sind inzwischen rund 5,7 Millionen
Hektar – das sind 53 Prozent der gesamten Waldfläche
nach PEFC – das Paneuropäische Wald Zertifizierungssys-
tem – zertifiziert worden. Das von den beiden Ministern
favorisierte System FSC zertifiziert in Deutschland rund
300 000 Hektar, das sind rund 3 Prozent.
Auch die meisten Bundesländer – von Bayern über Ba-
den-Württemberg, über Niedersachsen bis nach Mecklen-
burg-Vorpommern – lassen ihre Forsten vom PEFC zerti-
fizieren.
Warum PEFC?
Erstens. PEFC garantiert, dass der Eigentümer ein an-
gemessenes Mitspracherecht bei der Gestaltung der Stan-
dards besitzt.
Zweitens. PEFC hat durch den kosteneffizienteren re-
gionalen Ansatz erhebliche Vorteile. Angesichts der ange-
spannten wirtschaftlichen Lage der deutschen Forstwirt-
schaft sind die höheren Zertifizierungskosten des FSC
nicht zumutbar.
Drittens. PEFC ist maßgeschneidert für die kleinstruk-
turierten Eigentums- und Betriebsverhältnisse in Europa.
Es ist schwer zu vermitteln, dass Holz aus unseren Wäl-
dern, die seit Generationen gewissenhaft und nachhaltig
bewirtschaftet werden, und Holz aus tropischen Schnell-
wuchsplantagen mit FSC-Siegel „in einen Topf gewor-
fen“ werden.
Viertens. PEFC hat Monopole verhindert. Umsetzung
des Entschließungsantrages würde Monopolisierung
durch staatliche Intervention bedeuten. Wettbewerb eröff-
net den Waldbesitzern Handlungsoptionen und gibt bei-
den Zertifizierungssystemen Verbesserungsimpulse.
So bewertet in einer wissenschaftlichen Studie von
Professor Thoroe zur Gleichwertigkeit des PEFC-Ansat-
zes im Vergleich von PEFC und FSC.
Auch die Bundesregierung begrüßt auf Seite 30 des
Gesamtwaldberichtes die Annäherung der beiden Sys-
teme. Sie bezieht sich dann aber auf eine einseitige Studie
von FERN, in denen unter anderem Fälle aus Frankreich,
der Taiga, Robin Wood und Greenpeace angesprochen
werden. Wahrscheinlich haben hier unterschiedliche Re-
ferenten der Ministerien unterschiedliche Meinungen im
Waldbericht untergebracht.
In der Vergangenheit hat es der Bundesregierung gut ge-
tan, ihre neutrale und vermittelnde Rolle beizubehalten und
die Entscheidung der Forstwirtschaft in seiner Gänze zu
überlassen. Es können doch nicht nach jedem Regierungs-
wechsel die Zertifizierungssysteme geändert werden.
Die Realität der Entscheidungen zu den Zertifizierun-
gen haben auch die Waldbesitzer selbst geschaffen, ich
wiederhole: 53 Prozent zu 3 Prozent der Waldfläche.
Zum SPD-Antrag zwei Bemerkungen: Ich halte es für
nicht begründet, die Bundesforsten künftig nach FSC zu
zertifizieren – zumal die meisten Landesforsten nach
PEFC zertifiziert worden sind.
Es spricht nichts dafür, in der Bundesstadt Bonn dem
auch weltweit sehr viel kleineren Zertifizierungssystem
FSC eine Liegenschaft für die Ansiedlung eines interna-
tionalen Büros – etwa noch kostenlos? – zur Verfügung zu
stellen.
Der forstpolitische Rahmen in der Bundespolitik –
muss, wenn er erfolgreich sein will, erstens, ideologiefrei
sei, zweitens, die Waldbesitzer mitnehmen, denn der
größte Anteil des Waldes befindet sich mit einer Fläche
von wenigen Hektaren in privater Hand.
Drittens. Die Bewirtschaftungsauflagen müssen die
Akzeptanz der Waldbauern finden.
Viertens. Ein gegen den Willen des Waldbesitzes auf-
gebauter Naturschutz wird auf Dauer kontraproduktiv
sein.
Fünftens. Wir müssen der Bevölkerung unseres Landes
verständlich machen, dass der gepflegte und gern be-
suchte Wald über Generationen unterhalten und nur für
Generationen erhalten werden kann, wenn diese Leistung
auch finanziell von der Allgemeinheit mitgetragen wird.
Sechstens. Die Schutz- und Erhaltungsfunktion des
Waldes kann nur erhalten werden, wenn die Nutzfunktion
die Mittel zum Erhalt der anderen Funktionen gibt.
Siebtens. Der Wald ist nicht nur viel bedichtet und be-
sungen worden, er ist auch mit dem nachgelagerten Be-
reich ein wichtiger Wirtschaftsbereich. Allein über
800 000 Menschen finden hier ihre Arbeit.
Achtens. Der Wald ist die grüne Lunge Deutschlands.
Die Klimaschutzfunktion in der ganzen Welt und damit
auch in Deutschland ist nicht hoch genug zu bewerten.
„Der Wald gehört für Mensch und Umwelt zu den bedeu-
tendsten Naturressourcen der Welt“, so heißt es im Ge-
samtwaldbericht und daher ist er in seinen Funktionen
Nutz, Schutz und Erholung zu erhalten und über zukünf-
tige Generationen zu bewahren.
Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Die
weltweite Zerstörung der Wälder schreitet in er-
schreckendem Ausmaß fort. Allein in den letzten 10 Jah-
ren wurden durchschnittlich rund 9 Millionen Hektar
Wald pro Jahr, vor allem in den Tropen, abgeholzt. Aber
auch in Teilen der gemäßigten und der borealen Zonen,
beispielsweise in Russland und Nordamerika, stehen
Kahlschläge und Abholzungen auf der Tagesordnung. Im
Amazonasgebiet und in Indonesien werden bis zu 80 Pro-
zent aller Bäume illegal abgeholzt.
Wiederum 80 Prozent der Urwälder sind heute bereits
zerstört. Nur 20 Prozent der noch existierenden befinden
sich in zusammenhängenden Gebieten. Alle zwei Sekun-
den verschwindet eine fußballfeldgroße Fläche Urwald;
bezogen allein auf Indonesien entspricht dies 2,5 Fuß-
ballfeldern pro Minute.
Die Ursachen sind bekannt: Sichtbare Ursachen sind
die Ausweitung von Verkehrswegen, Zersiedlung und
Agrarflächen. Dahinter stehen die Strukturschwächen der
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Entwicklungs- und Schwellenländer, fehlende Einsicht
der größten Waldstaaten bis hin zu direkter und indirekter
staatlicher Unterstützung oder gar Korruption. Die welt-
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen tun ihr Übriges.
Zwar gelangt nur ein geringer Teil des Tropenholzes
nach Deutschland, das heißt weniger als 2 Prozent der
weltweiten Importmengen. Dies kann und darf aber für
uns kein Grund sein, uns zurückzulehnen.
UNEP-Exekutivdirektor Klaus Töpfer bringt es auf
den Punkt: „Für Firmen ist es billiger, einen Wald abzu-
holzen als ihn umweltverträglich zu bewirtschaften.“ Der
wahre Wert der Waldes muss sich deshalb im Holzpreis
spiegeln.
Es ist klar, dass wir keinen Zaun um die Wälder ziehen
können und wollen. Holz ist ein guter, ein wertvoller Roh-
stoff. Wir möchten die Möglichkeiten, die im Holz
stecken, noch stärker nutzen. Mit der Einleitung der Ener-
giewende und der verstärkten energetischem Nutzung von
Holz ist hier ein Anfang gemacht. Bauen mit Holz ist ein
zweiter Bereich, der – im wahrsten Sinne des Wortes –
noch ausbaufähig ist.
Es muss gelingen, Schutz und Nutzung der Wälder, so
wie es die deutsche Forstwirtschaft zu großen Teilen be-
reits leistet, auch weltweit unter einen Hut zu bringen.
Was ist zu tun? Zunächst müssen wir den letzten ver-
bliebenen Urwäldern bestmöglichen Schutz bieten. Nicht
jeder Wald darf genutzt werden. Das gilt in Mitteleuropa
so wie in anderen Regionen dieser Erde.
Als Nächstes müssen wir endlich dazu kommen, den
Handel mit illegal geschlagenem Holz wirksam zu
bekämpfen. Schutzgebiete sind einzurichten und fachge-
recht zu betreuen. Wälder, deren Bewirtschaftung vertret-
bar erscheint, dürfen nur nachhaltig genutzt werden. Dies
erfordert in vielen Staaten den Aufbau einer dauerhaft
funktionsfähigen und verlässlichen Verwaltung sowie in-
ternationale Vereinbarungen unter anderem über allseits
anerkannte Umwelt- und Sozialstandards.
Gerade weil gesetzliche Regelungen und internatio-
nale Vereinbarungen nur sehr schwer und langfristig zu
erreichen sind, setzen wir, wie im Agrar- und Lebensmit-
telbereich, auf die Macht des Verbrauchers. Die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher sind mündig genug zu ent-
scheiden, in welchem Maße sie zum Erhalt der Wälder auf
dieser Welt beitragen wollen. Unsere Aufgabe ist es, für
die nötige Transparenz und die nötigen Rahmenbedin-
gungen auf dem Markt zu sorgen. Deshalb will ich auf das
Thema Zertifizierung näher eingehen:
In den letzten Monaten ist viel über das richtige Zerti-
fizierungssystem gestritten worden. Wir haben klar Posi-
tion bezogen für die anspruchsvolle, glaubwürdige, von
den Verbrauchern akzeptierte Zertifizierung nach Krite-
rien des Forest Stewardship Council, FSC.
Im Vergleich zu anderen Zertifizierungssystemen liegt
der Vorteil des FSC in seinem internationalen Ansatz und
der weltweiten Vergleichbarkeit – womit es das einzige
System ist, das auch dem Tropenwaldschutz dient –; wei-
terhin in seiner Unabhängigkeit, den Verpflichtungen und
dem Kontrollsystem. Und letztlich beweist auch der
Markt, dass FSC die größte Akzeptanz bei den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern genießt. Nur der Ansatz von
FSC vereinbart die Anforderungen von Ökologie und
Wirtschaft mit den sozialen Anforderungen an die Forst-
wirtschaft. Ich freue mich daher über die vom BMVEL
unterstützte, erfolgreiche Ansiedlung des internationalen
FSC-Büros nach Bonn.
Wie die Erfahrung der letzten Tage erneut gezeigt hat,
stehen wir in Sachen Verbraucheraufklärung und Pro-
dukttransparenz erst am Anfang. Ähnlich den Anstren-
gungen für das Biosiegel in der Landwirtschaft benötigen
die Verbraucher verstärkt Informationen über eine glaub-
würdige Zertifizierung von Holzprodukten.
Ich bin darüber hinaus der Meinung, und so haben wir
es in unserem Entschließungsantrag auch verankert, dass
die Bundesforsten zukünftig nach FSC zertifiziert werden
sollen. Dies erachte ich als eine wichtige Signalwirkung
für Europa und auch für die internationale Ebene. Viele
behaupten, der auf dem Ersten Deutschen Waldgipfel ver-
einbarte „Gesellschaftliche Vertrag“ würde die Zertifizie-
rung der Bundesforsten nach FSC ausschließen. Doch
was bedeutet der „Gesellschaftliche Vertrag“ wirklich? Er
ist eine Vereinbarung zum ausgleichenden Umgang der
Zertifizierungssysteme als solcher und der diese Systeme
jeweils vertretenden Verbände miteinander – eine Selbst-
verständlichkeit also. Der Vertrag bindet keinen Waldei-
gentümer in seiner Entscheidung für ein bestimmtes Zer-
tifizierungssystem, den Staat so wenig wie Private. Wir
wollen dem Tropenwaldschutz allen Rückhalt geben.
Dies verlangt nach einem Zertifizierungssystem unter an-
derem größtmöglicher Internationalität und Partizipation
sowie wirksamster Kontrolle – auch für die Bundesfors-
ten, denen hier die angesprochene Vorbildfunktion zu-
kommt.
Das Prinzip der Nachhaltigkeit wurde von der deut-
schen Forstwirtschaft erarbeitet und ist auf dem besten
Wege, sich zum Exportschlager zu entwickeln. Allerdings
darf die Forstwirtschaft nicht auf alten, unbestreitbaren Er-
folgen verharren. Auch ist unsere Form der Waldbewirt-
schaftung nicht ohne weiteres auf andere Regionen zu
übertragen. Vielmehr muss sie auch den neuen ökologi-
schen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wer-
den und sich mit ihren Produkten deutlicher als in der Ver-
gangenheit den Verbrauchern und ihren Fragen zuwenden.
Diesen Weg wollen wir gehen und unterstützen.
Ulrich Heinrich (FDP): Der Gesamtwaldbericht der
Bundesregierung gibt ein verzerrtes und pauschales Bild
des Waldzustandes wieder. Dies wird besonders deutlich
in den widersprüchlichen Anträgen von der CDU/CSU ei-
nerseits und der Koalitionsfraktionen andererseits. Heißt
es bei den einen, dass sich der Zustand des Waldes stabi-
lisiert hat, sagen die anderen, dass verschiedene Standorte
sich bereits an der Grenze ihrer Belastbarkeit befinden.
Dies beweist, was Wissenschaftler schon seit längerer
Zeit bemängeln: Die Methoden zur Waldzustandserhe-
bung entsprechen nicht den neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnissen. Sie wurden seit Jahren nicht weiterent-
wickelt und angepasst. Allein die Feststellung der Belau-
bung bzw. Benadelung reicht eben nicht aus.
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Die FDP fordert daher, endlich die forstliche Umwelt-
kontrolle auf das Level II auszudehnen. Dazu gehören die
Parameter phänologischer Daten, Untersuchungen von
Waldboden und -vegetation, des Bodenwassers-, und der
Witterung. Es ist unabdingbar, dass der 15 Jahre alte Bo-
denzustandsbericht wiederholt wird. Nur so kann ein dif-
ferenzierter Waldzustandsbericht entstehen. Erst dadurch
können wirksame und auf die unterschiedlichen Verhält-
nisse abgestimmte Maßnahmen ergriffen werden.
Eins ist jedoch völlig klar: Nur ein nachhaltig bewirt-
schafteter Wald, der von Waldbesitzern und Waldpflegern
gehegt und gepflegt wird, kann die vielfältigen Funktio-
nen für die Gesellschaft erfüllen. Deshalb muss das Prin-
zip der nachhaltigen Nutzung, welches in der forstwirt-
schaftlichen Literatur bereits vor mehr als 200 Jahren das
erste Mal schriftlich fixiert wurde, weiterhin der bindende
Leitgedanke bleiben. Dazu müssen in besonderer Weise
die Belange der rund 1 Million privaten Waldbesitzer und
mittelständischen Unternehmen in der Holzwirtschaft
berücksichtigt werden. Die FDP fordert aus diesem Grund
die Verbesserung der Rahmenbedingungen für diesen
Wirtschaftszweig. Besonders die Belastungen, die von
der rot-grünen Bundesregierung den Waldbesitzern im
Naturschutz abverlangt werden, müssen auf ein erträgli-
ches Maß zurückgeschraubt werden. Die massiven Ei-
gentumsbeschränkungen, die hier vorgenommen worden
sind, gehen weit über die Sozialpflichtigkeit des Eigen-
tums hinaus.
Die FDP setzt sich seit Jahren für die breite Etablierung
des Rohstoffes Holz als Roh-, Bau- und Energiestoff ein.
Die Verwendung dieses nachwachsenden Rohstoffes
kann fossile Rohstoffe ersetzen und breite innovative Ein-
satzmöglichkeiten eröffnen. Dies vermindert die C02-Pro-blematik, entlastet die Abfallwirtschaft, verbessert die Er-
tragslage der Forstwirtschaft und fördert die notwendige
Waldpflege. Ein wichtiges forstpolitisches Instrument für
die verstärkte Schaffung naturnaher Wälder ist die Zerti-
fizierupg von Forstbetrieben. Diese muss jedoch frei von
jeglicher staatlicher Einflußnahme bleiben.
Die FDP ist der Auffassung, dass wir eine klare und
verständliche, zwischen Bund und Ländern abgestimmte
Forstpolitik brauchen, die im Sinne der Agenda 21 ökolo-
gische, ökonomische und soziale Aspekte berücksichtigt
und allen Bürgern zugute kommt.
Eva Bulling-Schröter (PDS): Ich möchte mich in der
kurzen Redezeit auf einen aktuellen internationalen
Aspekt beschränken.
Über die Tatsache, dass die deutsche WestLB ihr
900-Millionen-US-Dollar-Engagement als federführende
Bank für die Finanzierung einer Erdölleitung durch den
Dschungel im Oriente Ecuadors nicht aufgeben will, habe
ich schon vor drei Wochen gesprochen. Sie erinnern sich:
Die Trasse und der durch sie ausgelöste Ölboom in den
letzten Amazonaswäldern Ecuadors wird zu irreparablen
Umweltschäden in einzigartigen Ökosystemen führen.
Betroffen sind zudem die Lebensräume vieler indigener
Völker.
Schon die alte Leitung, die zum Teil in das Projekt in-
tegriert werden soll, hat ihre Spuren hinterlassen: Bei rund
40 Unfällen traten insgesamt 70 Millionen Liter Öl aus.
Und die neue Leitung wird sechs aktive Vulkane und
94 seismische Bruchstellen überwinden müssen – was da
zu erwarten ist, kann man sich denken.
Umweltschützer warnen weiterhin vor den Zerstörun-
gen, die die Leitung im ecuadorianischen Amazonas-Ge-
biet anrichten könnte. Die alte und die neue Pipeline sollen
insgesamt bis zu 920 000 Barrel täglich durch den Dschun-
gel transportieren. Solche Fördermengen machen Produk-
tionssteigerungen nötig, die wiederum neue Bohrstellen,
Straßen, Auffangstationen und Ölseen nach sich ziehen.
Somit werden in die ohnehin geschundene Amazonasre-
gion immer mehr Schneisen geschlagen, die die zusam-
menhängenden Waldbestände auseinanderreißen.
In solchen Fällen wird nicht selten argumentiert: Ja,
sicherlich gibt es Umweltauswirkungen, aber mit den Ein-
nahmen aus dem Ölgeschäft könnten ja Entwicklungs-
programme, Bildung und Gesundheitswesen finanziert
werden. Seit letzter Woche wissen wir es besser: Der In-
ternationale Währungsfonds macht die Zustimmung für
ein weiteres Darlehen zur Förderung der umstrittenen
Leitung von der Bereitschaft Ecuadors abhängig, die
künftigen Exporterlöse ausschließlich für den Schulden-
dienst auszugeben. Die Regierung in Quito soll deshalb
ein Gesetz aus dem letzten Monat modifizieren, das
10 Prozent der Einnahmen für Gesundheits- und Bil-
dungsprojekte vorsieht.
Nicht einmal zehn Prozent für die eigene Entwicklung
des armen Landes – das ist ein Skandal! So sieht IWF- und
Weltherrschaftspolitik aus. Weltweit die Ressourcenaus-
plünderung und Umweltzerstörung zugunsten der Indus-
trieländer organisieren und mit der Schuldenschraube
nationale Entwicklung verhindern.
Wenn die WestLB an diesem Projekt trotzdem weiter-
hin hängt, dann macht sich die öffentlich-rechtliche Bank-
gruppe schuldig. Schuldig macht sich, genauer gesagt, die
rot-grüne Landsregierung in NRW, denn das Bundesland
hält mit 43,2 Prozent den größten Anteil an der WestLB.
Nicht zu vergessen: Auch verschiedene Sparkassen- und
Giroverbände des Landes sitzen mit im Boot. Sie haben
die anderen Anteile gezeichnet.
Ich erwarte von SPD und Grünen, dass sie hier im Bun-
destag bei solchen Debatten nicht nur Prosa sprechen,
sondern sich vor Ort konkret verhalten. Und das kann in
diesem Fall nur heißen: keine Kredite für diese Pipeline!
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:Die Bundesregierung wirkt sowohl inter-
national wie auch national an der Gestaltung der waldpo-
litischen Rahmenbedingungen aktiv mit.
In der Ministererklärung des Waldforums der Verein-
ten Nationen – UNFF – vom März dieses Jahres ver-
pflichten sich die für Wald verantwortlichen Minister, die
weltweit laufende Waldzerstörung zu stoppen. Mit der
Verabschiedung eines erweiterten Arbeitsprogramms zur
biologischen Vielfalt in Wäldern im April dieses Jahres
hat auch das Übereinkommen zur biologischen Vielfalt
– CBD – dazu beigetragen, dass ein weiterer Schritt zur
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200224000
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Walderhaltung getan wurde. Es kommt nun in allen Be-
reichen auf eine effektive Umsetzung an. Welches sind die
konkreten Maßnahmen der Bundesregierung? Das betrifft
insbesondere die Unterstützung des VN-Waldforums
– unter anderem 100 000 Euro pro Jahr aus dem Agrar-
haushalt für das UNFF-Sekretariat. Entsprechende Pro-
jekte der EZ – 130 000 Euro pro Jahr – werden finanziert
sowie zusätzliche Mittel für bilaterale FAO-Fonds bereit-
gestellt. Uns kommt es dabei besonders darauf an, den Zu-
sammenhang zwischen Ernährungssicherung und Wald-
zerstörung deutlich zu machen. Es werden konkrete
Initiativen zur Walderhaltung anlässlich des anstehenden
Johannesburg-Gipfels ergriffen, allen voran eine neue
Waldinitiative für das Kongobecken in Afrika als eines der
größten, aber auch gefährdetsten Waldgebiete der Erde.
Auch Konsumentenländer müssen Verantwortung
übernehmen. Wir setzen uns daher für Folgendes ein:
Erstens für Maßnahmen gegen den Handel und die Ein-
fuhr illegal eingeschlagener Hölzer; Das betrifft in
Deutschland die Einfuhrkontrollen – soweit dies wegen
der Nachweisbarkeit möglich ist – sowie die freiwillige
Selbstverpflichtung der Holzimporteure. International
geht es um effektivere Forstkontrollen vor Ort sowie For-
schungs- und Entwicklungsvorhaben zum chemischen
und genetischen „fingerprint“ für Hölzer.
Zweitens. Wir setzen uns auch für internationale Zerti-
fizierungsansätze nachhaltiger Waldbewirtschaftung – die
Förderung der Ansiedlung des FSC in Bonn – ein. Dazu
zählt auch die Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung
von Erzeugnissen aus nachhaltiges Produktion.
Drittens. Wir setzten uns ebenfalls für ökologische und
soziale Standards in der Agrarproduktion bei der WTO
ein, damit der Wald nicht geschädigt wird, zum Beispiel
der Erzeugung von Soja, Palmöl, Kaffee etc.
Viertens. Schließlich geht es um die Bewusstseinsbil-
dung in der Bevölkerung – Stichwort: Stärkung des Ver-
braucherschutzes.
Welches sind die Schwerpunkte in der nationalen
Forstpolitik? In Zusammenarbeit mit den Ländern fördern
wir verstärkt die naturnahe Waldbewirtschaftung, zum
Beispiel in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Bei der künftigen
Ausrichtung der Gemeinschaftsaufgabe und im Zuge der
Halbzeitbewertung der Agenda 2000 werden wir weitere
konkrete Vorschläge vorlegen. Auch mit der Novelle des
Bundesnaturschutzgesetzes haben wir dieses Ziel natur-
schutzrechtlich verankert. Allerdings darf die Leistungs-
fähigkeit der forstwirtschaftlichen Betriebe dadurch nicht
gefährdet werden. Auch in Zukunft brauchen wir unseren
wertvollen heimischen Rohstoff Holz.
Die Luftreinhaltepolitik wird konsequent fortgesetzt.
Um Dialog und Zusammenarbeit mit den gesellschaftli-
chen Gruppen zu fördern, bieten wir mit dem „Nationalen
Forstprogramm für Deutschland“ eine moderne Plattform
nach internationalen Vorgaben. Mit diesem Dialogforum
sind wir Vorreiter in Europa auf diesem Gebiet.
Schließlich haben wir das Thema Wälder auch in der
Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie verankert, um die
Beziehungen zu anderen Politikbereichen zu stärken.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts:
Den Tourismus im ländlichen Raum nachhaltig
stärken (Tagesordnungspunkt 15)
Annette Faße (SPD): Wir wollen die Entwicklung der
ländlichen Räume unterstützen, indem wir den Landtou-
rismus und den Urlaub auf dem Bauernhof fördern. Wir
halten das für wichtig, ja für absolut notwendig, weil der
Bauernhof- und Landtourismus Arbeitsplätze und Ein-
kommen in- und außerhalb der Landwirtschaft sichert und
schafft.
Besonders in Zeiten des Strukturwandels in der Agrar-
landschaft und vor dem Hintergrund der Nitrofen- und
BSE-Krise ist dieses zusätzliche Einkommen für viele
Landwirte notwendig. Auf der anderen Seite hilft der
Bauernhoftourismus, ein Stück des verloren gegangenen
Vertrauens des Verbrauchers in die Landwirtschaft zu-
rückzugewinnen. Kindern wird die Erzeugung von Le-
bensmitteln nahe gebracht, der Umgang mit der Natur er-
möglicht.
Seit 1986 zeigt diese Sparte einen anhaltend positiven
Trend. Die Zahl der Übernachtungen ist in den letzten
zehn Jahren im Landtourismus von 12 auf 27 Millionen
gestiegen. Im Jahr 1999 wurden mit dem Bauernhof- und
Landurlaub 972 Millionen DM erwirtschaftet. Hier ruht
ein großes Potenzial, das wir mobilisieren können und
wollen. Damit können wir der drohenden Landflucht in
strukturschwachen Räumen entgegenwirken und intakte
bäuerliche Landwirtschaft als Grundlage attraktiver Er-
holungslandschaften stärken. Wir sehen dies als Teil
unserer Neuausrichtung in der Agrarpolitik, in der die Er-
haltung von Natur und Landschaft einen höheren Stellen-
wert bekommt.
Was können wir konkret tun, um dem Tourismus auf
dem Land eine Chance zu geben? „Urlaub auf dem Bau-
ernhof“ wird vom Bundesministerium für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft und im Rahmen
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruk-
tur und des Küstenschutzes“ gefördert. Jährlich werden
rund 260 Millionen DM Bundes- und Landesmittel unter
anderem für Maßnahmen der Infrastrukturverbesserung,
des Erhalts ortsprägender Bausubstanz und für Umnut-
zungsinvestitionen eingesetzt. Damit sollen letztendlich
die Dörfer touristisch attraktiver werden. Wir wollen, dass
hierfür weiterhin ausreichende finanzielle Mittel zur Ver-
fügung gestellt werden.
Wir wissen aus dem Tourismuspolitischen Bericht 2000,
dass das Interesse an dieser Urlaubsform größer ist als die
derzeitige Nachfrage. Die Ursache hierfür liegt zum einen
an einem fehlenden einheitlichen Marketingauftritt der
Anbieter von Landurlaub und zum anderen an nicht vor-
handenen speziell zugeschnittenen Angeboten. Wir sind
daher überzeugt, dass ein Beitritt der Anbieter von Land-
urlaub zur Umweltdachmarke „Viabono – Reisen natür-
lich genießen“ ihr Marketing verbessern würde. Studien
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über das Verbraucherverhalten und die Verbrauchererwar-
tungen in Bezug auf Tourismus im ländlichen Raum sol-
len als Grundlage für die Entwicklung neuer touristischer
Angebote dienen. Diese Angebote sollen zielgruppenspe-
zifisch sein, zum Beispiel spezielle Angebote für Kinder
und Jugendliche, für Menschen mit Behinderung oder für
Urlaub auf Biohöfen. Wir empfehlen auch, in Modellpro-
jekten die Zusammenführung von Internetangeboten für
diese Urlaubsform zu starten.
Grundlage hierfür muss allerdings zunächst eine um-
fassende und aussagekräftige Datengrundlage sein. Sie er-
möglicht es den Anbietern, Entwicklungen und Trends zu
erkennen, ihr Angebot auf die Nachfrage auszurichten und
gezielt auf die Wünsche der Touristen zu reagieren. Bisher
fehlt eine einheitliche Datenerfassung. Wir fordern daher,
dass die Daten der Übernachtungen im Rahmen des Ur-
laubs auf dem Bauernhof detailliert und so vollständig wie
möglich erfasst werden.
In den Bereich der Werbeaktivitäten fällt auch die Prü-
fung eines bundesweit einheitlichen Werbe- und Hinweis-
schildes für den Bauernhof- und Landtourismus. Nur so
können Touristen die – oft abseits gelegenen – „Heuho-
tels“, „Hofcafes“ und „Bed & Box“-Angebote überhaupt
finden. Außerdem wollen wir die Direktvermarktung von
regionalen Produkten unterstützen und den Produzenten
neben dem Verkauf auf den Hofstellen und Wochenmärk-
ten weitere Absatzmöglichkeiten eröffnen.
Wir haben zu unserem Antrag noch einen Änderungs-
antrag betreffend die Umnutzung leer stehender landwirt-
schaftlicher Gebäude eingebracht. Wir wollen, dass in Ge-
sprächen mit den Ländern dafür gesorgt wird, dass über die
Möglichkeiten der bauplanungsrechtlichen Zulassung von
„Ferien auf dem Bauernhof“ umfassend informiert wird.
Ferienwohnungen auf dem Bauernhof können bereits als
mitgezogene Nutzungen im Rahmen der Privilegierungen
für landwirtschaftliche Gebäude nach § 35 Abs. 1 Nr. 1
BauGB eingerichtet werden. Ihre Zahl ist nicht begrenzt,
sondern abhängig von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung
im Verhältnis zur Hauptnutzung; die mitgezogene Nut-
zung muss von untergeordneter Bedeutung sein. Je um-
fangreicher der landwirtschaftliche Betrieb, desto mehr
nicht landwirtschaftliche Nutzungen sind möglich. Für Fe-
rienwohnungen muss aber sichergestellt werden, dass
diese nicht in einen Dauerwohnsitz umgenutzt werden.
Eine entsprechende Gesetzesänderung, wie sie der Oppo-
sitionsantrag vorsieht, halten wir nach einer bereits vorge-
nommen Prüfung nicht mehr für notwendig.
Wir wollen im Rahmen eines zweijährigen bundeswei-
ten Wettbewerbs „fahrradfreundlich in Stadt und Land“ die
Potenziale des Fahrradtourismus im ländlichen Raum
durch Schaffung attraktiver Radverkehrsnetze weiter ent-
wickeln, dazu haben wir bereits einen Antrag „Fahr Rad –
für ein fahrradfreundliches Deutschland“ eingebracht. In-
dem wir über die Gremien des länderübergreifenden In-
landsmarketings die Zusammenarbeit von Tourismus-
verbänden, Bauernverbänden und Naturschutzverbänden
verbessern, können wir den Tourismus im ländlichen
Raum nachhaltig stärken.
„Urlaub auf dem Bauernhof“ und „Landurlaub“ bilden
bereits jetzt ein wichtiges Segment im Deutschlandtouris-
mus. Unsere ländlichen Räume haben die Möglichkeit,
sich mit ihrer Vielfalt darzustellen. Kulturtourismus
gehört unter anderem genauso dazu wie Wassertourismus,
wie unsere Naturschutzparke, wie Reiterurlaub, regionale
Küche und die Vielzahl der Feste. Vielfalt der Landschaft
genießen – dies kann man in Deutschland beim Urlaub in
ländlichen Räumen. Unsere ländlichen Räume sind le-
benswert für Gastgeber und für große und kleine Gäste.
Birgit Roth (Speyer) (SPD): Unser Verständnis von
Tourismus hat sich in den letzten Jahren grundlegend
geändert. Die Tourismusbranche ist in Deutschland kon-
tinuierlich und nachhaltig zu einem bedeutenden Wirt-
schaftsfaktor geworden. Der Anteil von mittlerweile rund
8 Prozent am Bruttoinlandsprodukt zeigt, welches Poten-
zial in diesem modernen Handels- und Dienstleistungsbe-
reich noch schlummert.
Die Zahl der Beschäftigten beläuft sich mittlerweile
bundesweit auf circa 2,8 Millionen Personen. Gestatten
Sie mir als Pfälzerin ein Beispiel aus meiner Heimat:
Keine andere Branche in Rheinland-Pfalz schafft mehr
Arbeitsplätze als der Dienstleistungssektor Tourismus mit
circa 120 000 Stellen – insbesondere im ländlichen Raum.
Die mittelständisch geprägten Betriebe sind sich ihrer
Verantwortung in der Ausbildung junger Menschen be-
wusst, die Zahl der Ausbildungsverhältnisse summiert
sich bundesweit auf circa 110 000 Stellen.
Der Tourismus gewinnt damit gerade für den länd-
lichen Raum sichtbar an Bedeutung: als Einkommenser-
gänzung und -alternative für die Landwirtschaft; als
Beschäftigungsfaktor; als kulturelle und soziale Kompo-
nente zum Erhalt der dörflichen Strukturen.
Umgekehrt ist der Erhalt unserer Kulturlandschaften
und eines traditionsbewussten Landlebens eine ganz
wichtige Voraussetzung für die touristische Attraktivität
Deutschlands. 27 Millionen Übernachtungen durch
Urlaub auf dem Bauernhof – das ist ein beachtlicher Wirt-
schaftsfaktor. Der Landtourismus umfasst jedoch noch
mehr. Rund 12 Prozent der amtlich registrierten Gäste-
übernachtungen in Deutschland entfielen im Jahr 2000
auf kleine Gemeinden bis 2 000 Einwohner. Nimmt man
die Gemeinden bis 5 000 Einwohner hinzu, waren es fast
30 Prozent der Übernachtungen. Und dabei sind die für
diesen Bereich typischen Übernachtungen in nicht ge-
werblichen Privatzimmern und Ferienwohnungen noch
gar nicht mitgezählt. Die kleinen Gemeinden haben im Jahr
2000 nach den Großstädten – mit mehr als 100 000 Ein-
wohnern – mit Plus 6,3 Prozent den größten Übernach-
tungszuwachs erzielt. Das plus aus dem Ausland betrug
sogar 10,3 Prozent.
Diese Daten waren für uns Grund genug, uns verstärkt
um den Tourismus im ländlichen Raum zu kümmern. Wir
fördern den Tourismus im ländlichen Raum im umfassen-
den Sinn. So profitieren die Anbieter von „Urlaub auf dem
Lande“ von der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung
der Agrarstruktur ebenso wie von der Gemeinschaftsauf-
gabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
tur: Betriebliche Investitionen für Freizeit und Erholung
in gewerblichen Nebenbetrieben der Landwirtschaft kön-
nen jetzt bis zu 25 Betten – statt bisher 15 – gefördert wer-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200224002
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den, das heißt Landurlaub und Direktvermarktung bilden
vielerorts eine nützliche Partnerschaft.
Als stellvertretende Sprecherin möchte ich für all die
Aktionen, Fördermaßnahmen und Projekte stellvertretend
auf das „Jahr des Tourismus 2001“ verweisen. Das Akti-
onsjahr war ein großer Erfolg für den Deutschlandtouris-
mus. Es wurde auf Initiative des Tourismusausschusses
des Deutschen Bundestages ausgerufen und durch das
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ge-
meinsam mit den Ländern sowie den Verbänden und Tou-
rismusunternehmen entwickelt und realisiert. Im Mittel-
punkt stand dabei eine medien- und kundenwirksame
Imagekampagne für Deutschland als Reise- und Urlaubs-
land, mit dem Ziel die Faszination des eigenen Landes als
Urlaubsdestination in den Vordergrund zu stellen. Mit
dem „Jahr des Tourismus“ und einem Tourismusförder-
programm haben wir dem Deutschlandtourismus neue
Impulse verliehen.
Mit Modellprojekten zum Qualitätsmanagement im
Tourismus und zur gemeinsamen Vermarktungsplattform
für Nationalparke haben wir Akzente gesetzt. Wir haben
die Haushaltsmittel der DZT – Deutsche Zentrale für Tou-
rismus – jedes Jahr weiter angehoben – von seinerzeit
36,7 Millionen DM – 18,8 Millionen Euro – 1998 auf nun-
mehr 22,5 Millionen Euro. Das entspricht einer Steige-
rung von 20 Prozent in 4 Jahren. Wir haben eine Umwelt-
dachmarke im Tourismus, Viabono, etabliert und dem
Entwurf einer Nachhaltigkeitsstrategie eine konkrete Per-
spektive gegeben. Unter dem Motto „Lust auf Natur“ wird
diese gerade im Jahr des Ökotourismus noch verstärkt.
So besteht zum Beispiel eine enge Kooperation mit der
Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft und der Bundes-
arbeitsgemeinschaft Urlaub auf dem Lande: Seit 1998
werden Urlaubsangebote gemeinsam vermarktet; seit
1999 auch über die DZT-Website im Internet unter dem
Schwerpunkt „Natur und Landschaft“. In Verbindung
zum Internationalen „Jahr des Ökotourismus“ gestaltete
die DZT eine Angebotsbroschüre unter dem Motto „Lust
auf Natur“.
Die Direktvermarktung wurde im Jahr 2000 mit rund
11 Millionen DM gefördert, unter anderem wurde ein
Internetportal www.gutes-vom-Bauernhof.de eröffnet.
Tourismus auf dem Lande ist ein Zukunftsmarkt, der Mo-
dernität verlangt. Das betrifft insbesondere die Nutzung
der elektronischen Medien. Ein Drittel der Anfragen kom-
men heute bereits über das Internet.
Seit der durch die letzte Bundesregierung verursachten
Kurortkrise gibt es Bemühungen um neue Entwicklungs-
perspektiven für die Kurorte und Heilbäder. „Wellness“
heißt das Zauberwort, mit dem neue Kundenkreise auch
für den ländlichen Raum gewonnen werden sollen. Ein
„Praxisleitfaden Wellness“, den das BMWi fördert, soll
den Anbietern dazu Handreichungen liefern und Hilfe zur
Selbsthilfe leisten. An dieser Stelle möchte ich unseren
Wirtschaftsminister Dr. Werner Müller erwähnen, der sich
außerordentlich für die Tourismusbranche eingesetzt hat,
nicht zuletzt bei der geplanten Abschaffung der Trink-
geldbesteuerung.
Die Stärkung der Tourismusentwicklung im ländlichen
Raum braucht Kreativität und vernetztes Denken über
Verwaltungs- und Ressortgrenzen hinaus. Mit unserem
Antrag wollen wir diesen Weg fortsetzen, im Sinne einer
nachhaltigen Tourismuspolitik.
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Unter den Fraktio-
nen des Deutschen Bundestages herrscht große Überein-
stimmung, dass der Tourismus im ländlichen Raum der
Stärkung bedarf: Einerseits weil wir bislang aus diesem
Spektrum des touristischen Angebots in Deutschland
noch zu wenig machen, andererseits aber auch deswegen,
weil der Tourismus für die landwirtschaftlichen Betriebe
in Deutschland eine zusätzliche Einkommensquelle dar-
stellen kann, die es zu nutzen gilt. Wenn uns dennoch
heute kein gemeinsamer Antrag zur Beratung vorliegt,
was ich bedaure, dann hat dies einen einzigen Grund.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie sind nicht
bereit – auch nicht in der überarbeiteten Version Ihres An-
trags –, den Tatsachen in der deutschen Landwirtschaft ins
Auge zu sehen. Man kann doch, wenn man sich darüber
unterhalten will, dass Landwirte vermehrt in den Touris-
mus einsteigen sollen, nicht die gegenwärtige wirtschaft-
liche Situation der Landwirte völlig ausblenden. Sie sagen
in Ihrem Antrag etwas zur Direktvermarktung; das ist
okay. Aber Sie müssen doch ein Wort darüber verlieren,
aus welchen Quellen der Landwirt heute in erster Linie
sein Einkommen erzielen soll. Direktvermarktung ist ge-
nauso wenig bei jedem Landwirt möglich, wie jeder
Landwirt in der Lage wäre, ein Einkommen aus der Er-
zeugung erneuerbarer Energien zu erzielen. Das sind zu-
sätzliche Möglichkeiten.
Woher soll aber derjenige, der aus der landwirtschaft-
lichen Produktion per se keinen oder zu wenig Profit
zieht, dann die finanziellen Möglichkeiten schöpfen, um
die notwendigen Investitionen im Tourismus zu tätigen?
Oder wollen sie überschuldeten oder Betrieben mit gerin-
gen Eigenkapitaldecken – und das dürfte gerade in der
Landwirtschaft für die meisten Höfe zutreffen – tatsäch-
lich zumuten, dass sie ihre touristischen Investitionen zu
100 Prozent fremdfinanzieren? Dazu findet sich in ihrem
Antrag kein Wort. Dafür enthält er die Forderung, den
Bauernhof und Landtourismus als eigenständigen
Schwerpunkt in den Agrarbericht aufzunehmen. Das aber
ist für die Weiterentwicklung von Urlaub auf dem Bau-
ernhof so bedeutend, wie wenn in China ein Sack Reis
umfällt.
Die erste Forderung Ihres Katalogs, der ansonsten eine
ganze Reihe begrüßenswerter Ansätze enthält, muss in
den Ohren vieler Landwirte fast schon zynisch klingen.
Die Bundesregierung soll die ländlichen Räume, so heißt
es da wörtlich, „auch weiterhin durch die Bereitstellung
ausreichender finanzieller Mittel“ fördern. Ich lade Sie
herzlich ein: Sehen sie sich anhand der Betriebsspiegel
eines kleineren oder mittleren Betriebs im Hochschwarz-
wald mal schwarz auf weiß an, was ihre „ausreichenden
finanziellen Mittel“ dort angerichtet haben! Und wenn sie
dann hingehen und dem gleichen Landwirt empfehlen, er
möge doch in den Tourismus investieren, dann wird die-
ser Landwirt das Gespräch vermutlich rasch beenden –
wenn er nicht zu drastischeren Maßnahmen greift.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 24003
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Sie müssen sich zum Thema „zweite Säule der Agrar-
politik“ einmal ein Konzept einfallen lassen, das die
Landwirte für das entschädigt, was sie landschaftspflege-
risch und damit auch als Voraussetzung für die touristi-
sche Vermarktung unserer Urlaubsregionen tun. Dann
können wir uns anschließend auch über die Weiterent-
wicklung des Tourismus im ländlichen Raum, über Ur-
laub auf dem Bauernhof und Landurlaub unterhalten.
Aber nur so herum wird ein Schuh daraus. Politik beginnt
mit der Wahrnehmung der Realitäten. Und Ihr Antrag geht
leider an den Realitäten vorbei. Deswegen wird ihn die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ablehnen.
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Urlaub auf dem Bauern-
hof ist ein weiterer Baustein bei den vielfältigen Angebo-
ten des Tourismusstandortes Deutschland. Für viele Land-
wirte ist dieses touristische Angebot eine wichtige
zusätzliche Einkommensquelle.
Der Koalitionsantrag, über den wir heute abstimmen,
greift jedoch viel zu kurz. Es wurde die Chance vertan,
eine grundsätzliche Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Landwirtschaft vorzunehmen. Entspre-
chende CDU/CSU-Forderungen hat die Regierungskoali-
tion abgewiesen. Hier wird immer wieder vergessen, dass
es ohne Bauern und intakte bäuerliche Betriebe auch
keine Grundlage gibt, Urlaub auf dem Bauernhof über-
haupt anbieten zu können. Eine stärkere Förderung von
Urlaub auf dem Bauerhof brauchen wir aber auch deshalb,
um der drohenden Landflucht in strukturschwachen Räu-
men entgegenzuwirken und eine intakte bäuerliche Land-
wirtschaft als Grundlage attraktiver Erholungslandschaf-
ten insbesondere für unsere Städter zu erhalten.
Den nun vorliegenden Antrag hat Rot-Grün immer
wieder geändert, ohne dass eine klare Linie sichtbar wird.
Dort, wo man wirklich etwas für den Urlaub auf dem Bau-
ernhof hätte tun können, ist viel zu wenig geschehen. Nur
von politischer Rhetorik können aber die Landwirte nicht
leben.
Es ist keine Förderung des Tourismus in unseren länd-
lichen Regionen, wenn die Regierungskoalition die
CDU/CSU-Forderung ablehnt, die Gemeinschaftsauf-
gabe Agrarstruktur und Küstenschutz wieder auf die ein-
zelbetriebliche Investitionsförderung und Marktstruktur-
verbesserung zu konzentrieren sowie gezielt Investitionen
in die touristische Infrastruktur im ländlichen Raum zu
unterstützen. Eine derartige Politik unterstreicht ein wei-
teres Mal die Mittelstands- und Bauernfeindlichkeit der
Regierungskoalition.
Nicht nachvollziehbar ist auch die Zurückweisung un-
seres Vorschlages, einen bundesweiten Wettbewerb „Ur-
laub auf dem Bauernhof“ durchzuführen. Dabei hätten
beispielhafte Ideen aus dem gesamten Bundesgebiet zu-
sammengetragen und das öffentliche Bewusstsein für die-
ses besonders familienfreundliche Segment des Deutsch-
landtourismus erhöht werden können.
Auch ein weiteres Detail rot-grüner Tourismuspolitik
verdient noch Erwähnung: Warum wurde eigentlich nicht
die diesjährige Grüne Woche im Internationalen Jahr des
Ökotourismus genutzt, um für Urlaub auf dem Bauernhof
die Werbetrommel zu rühren? Nun ist das nächste Jahr
vorgesehen. Hat man hier geschlafen oder soll alles sys-
tematisch verschleppt und verzögert werden? CDU und
CSU haben ab dem 22. September 2002 viel nachzuholen.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen fehlen Mut, Fantasie
und Gestaltungskraft. Stattdessen werden Lippenbekennt-
nisse abgegeben, die der Branche kaum helfen. Deshalb
wird sich die Union weiterhin dafür einsetzen, dass die
Rahmenbedingungen für Urlaub auf dem Bauernhof in
Deutschland auch wirklich nachhaltig verbessert werden.
Nur so lässt sich das riesige Potenzial auf diesem touristi-
schen Gebiet voll entwickeln. Schließlich wollen nach
jüngsten Umfragen 12 Prozent der Deutschen Urlaub auf
dem Bauernhof machen. Zurzeit sind dies aber leider nur
4 Prozent.
Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dank
kürzlich veröffentlichter Zahlen des Statistischen Bun-
desamtes können wir schwarz auf weiß nachvollziehen,
wo deutsche Touristen besonders gern urlauben. Und
siehe da: Die ländlichen Regionen sind es, zu denen sich
deutsche Touristen stärker hingezogen fühlen – und damit
stärker als in so manche Großstadt, denen ich damit kei-
nesfalls ihre Anziehungskraft absprechen möchte. Doch
bleiben wir bei der Vorliebe der Deutschen für den ländli-
chen Raum, den wir mit einem individuellen Antrag
berücksichtigen, stärken und noch mehr Aufmerksamkeit
verschaffen:
Das Potenzial in diesem Bereich – dessen sind wir uns
sicher – ist noch nicht ausgeschöpft. Die in diesem Be-
reich ohnehin schon beeindruckenden Übernachtungs-
zahlen – 27 Millionen waren es im Jahr 2001 – werden
dank des rot-grünen Antrags noch nicht das Ende einer
mehr als erfreulichen Entwicklung sein. Durch den Land-
tourismus in Deutschland wird mittlerweile bereits ein
Volumen von 1 Milliarde Euro umgesetzt. Daran lässt sich
gut ablesen, wie viel deutschen Urlaubern Natur und Ruhe
bedeutet.
Wenn wir in unserem Antrag herausstellen, dass dem
Landtourismus durch den fortschreitenden Strukturwan-
del in der Landwirtschaft, bedingt unter anderem durch
die BSE-Krise, eine besonders große Bedeutung zu-
kommt, so ist Ihnen wie mir klar, dass dieser Passus in
diesen Tagen, da die Landwirtschaft durch eine neue
schwere Krise erschüttert wird, eine traurige Aktualität er-
langt hat. Umso mehr müsste aber auch den Kolleginnen
und Kollegen der oppositionellen Fraktionen, denen nach
eigener und oft wiederholter Aussage so viel an diesem
Tourismussegment gelegen ist, klar sein, dass der Wirt-
schaftsfaktor Landtourismus zur Sicherung der Landwirt-
schaft beiträgt, dass er ein wichtiges Standbein im ländli-
chen Raum ist und – das ist besonders hervorzuheben –
dass er hervorragend dazu geeignet ist, das von den Ver-
brauchern der landwirtschaftlichen Produktion entgegen-
gebrachte Vertrauen zu bestätigen. Die Zustimmung zu ei-
nem solchen Antrag sollte der Opposition leicht fallen.
Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Denn immer
wenn den emphatisch vorgetragenen Worten der geehrten
CDU/CSU-Kollegen Taten folgen sollen, bleiben sie aus.
Trotz der enormen Aufklärungsfunktion, die der Land-
tourismus leistet, lässt sich für den Touristen – sprich den
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Verbraucher – bei weitem nicht jeder Schritt nachvollzie-
hen, den die aufwendige landwirtschaftliche Tätigkeit
tagtäglich mit sich bringt.
Rot-grüne Politik ist unumstritten im Sinne einer Land-
wirtschaft, die gesunde Nahrung produziert und demzu-
folge ebenso im Sinne des ländlichen Raums. Im Mittel-
punkt der rot-grünen Arbeit steht aber auch und vor allem
der Verbraucher, hier der Tourist, der mit Vorliebe Qua-
litätsprodukte der Region verspeist – möglichst noch als
regionaltypisches Rezept – und auch gern erwirbt.
Die CDU/CSU hingegen lehnt im Bundesrat mal eben
ein Gesetz ab, das den Verbrauchern eine Auskunfts-
pflicht von Behörden über Inhaltsstoffe und Herstellungs-
arten von Produkten vorschreibt. Sie verweigern einem
Gesetz ihre Zustimmung, das jedem Verbraucher bei
Behörden das Recht auf freien Zugang zu Informationen
über Lebensmittel garantiert. Das zeigt, was Verbraucher,
die ja auch Touristen sind, von der Politik der CDU/CSU
und der FDP zu erwarten hätten: Verschleierung, Desin-
formation und „mit dem Klüngel“ weiter so.
Aber es gibt unter Rot-Grün Erfreuliches: Erst gestern
konnten wir aus prominenter Quelle – nämlich vom Deut-
schen Tourismusverband, dem DTV – erfahren, dass der
Tourismus in Deutschland im Aufwind ist. Der nunmehr
100 Jahre zählende DTV gab erst Anfang dieser Woche
bekannt, – dass die Deutschen im Zusammenhang mit Fe-
rien und Reisen vergangenes Jahr noch einmal 2 Milliar-
den Euro mehr ausgaben als im ohnehin schon sehr ge-
winnbringenden Jahr 2000.
Am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern lässt sich gut
aufzeigen, wie richtig der Antrag zum Landtourismus ist,
wie richtig es ist, beispielsweise den Beitritt der Anbieter
zur Umweltdachmarke Viabono, zu fördern. Der Osten
unseres schönen Deutschlands boomt, mehr noch als die
alten Länder. Mecklenburg-Vorpommern ist unbestritten
ein Bundesland, bei dem einem Tourist nicht in erster Li-
nie berühmte Städte in den Sinn kommen – wobei ich ei-
nen Besuch im schönen Schwerin, in Wismar, Rostock,
Stralsund, Greifswald oder Putbus jedem nur ans Herz le-
gen kann.
An einem Land wie Mecklenburg-Vorpommern, deren
Wirtschaftsstruktur zu großen Teilen auf die Landwirtschaft
und Fischerei ausgerichtet war und ist und somit eine uralte
Kulturlandschaft schuf, lässt sich gut aufzeigen, wie Natur
und Landwirtschaft für touristische Zwecke genutzt werden
können. Es sind die faszinierenden Landschaften mit Hü-
geln, Seen, Wäldern, Flüssen, die Meeresküsten, die lnseln
wie Hiddensee, Poel, Usedom und Rügen mit herrlicher
Vielfalt an Natur und kulturellen Traditionen, die jedes Jahr
mehr Touristen anziehen. Mecklenburg-Vorpommern ver-
zeichnet seit einiger Zeit hohe Zuwächse, im vergangenen
Jahr ein beachtliches Plus von 8,3 Prozent. Bei den
beliebtesten Reisezielen der Deutschen liegt Mecklenburg-
Vorpommern unter den Top-Ten, nach Ländern wie bei-
spielsweise – Sie werden es kaum glauben können – Spa-
nien, Italien und Österreich. Charakteristisch für
Mecklenburg-Vorpommern ist hügeliges Flachland. Drei
der zwölf deutschen Nationalparke befinden sich in diesem
Bundesland. Naturparks und Biosphärenreservate und 400
Naturschutz- und Landschaftsschutzgebiete kommen hinzu.
Wir brauchen hier das Hand-in-Hand-Gehen von Na-
turschutz und Landwirtschaft. Die Großschutzgebiete
bieten beides, Schutz durch Nutzung und Schutz vor Nut-
zung. Wer einmal von Besucherbeobachtungstürmen aus
die Kranichrast vor Rügen erlebt hat, wird Verständnis
dafür entwickeln, dass die Lebensräume des Kranichs
strengen Schutzes bedürfen. Wenn wir die Menschen
durch Naturerlebnisse begeistern und ihnen gesunde bäu-
erliche Landnutzung nahe bringen, werden sie finden,
was sie suchen.
Das alles verdeutlicht, dass der vorliegende Antrag ein
Beispiel dafür ist, wie wichtig es in der Politik ist, auf-
merksam auf das eigene Land zu schauen, aktuelle The-
men aufzugreifen, anzupacken und Ideen in konkrete
Maßnahmen – siehe unseren vorliegenden Antrag – um-
zusetzen.
Ernst Burgbacher (FDP): Unter den Tourismuspoli-
tikern herrscht ein Grundkonsens in Bezug auf die Be-
deutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus. Hierzu gehört
selbstverständlich auch der bedeutende Teilbereich Ur-
laub auf dem Bauernhof bzw. Landtourismus. Der Antrag
von SPD und Grünen „Den Tourismus im ländlichen
Raum nachhaltig stärken“ ist kaum kontrovers, dafür al-
lerdings auch wenig aussagekräftig.
Angesichts eines sich rasant vollziehenden Struktur-
wandels in der Landwirtschaft ist es wichtig, zusätzliche
Einnahmequellen zu erschließen. Die deutschen Land-
wirte haben nicht nur mit den Folgen von BSE und MKS
zu kämpfen, sondern auch der von Rot-Grün als Königs-
weg dargestellte Bereich der Ökolandwirtschaft ist durch
den jüngsten Nitrofen-Skandal arg in Mitleidenschaft ge-
zogen worden. Es zeigt sich, wie fahrlässig und irre-
führend die Hoffnungen und Erwartungen waren, die ins-
besondere SPD und Grüne bei den Verbrauchern geweckt
haben, beim ökologischen Landbau handele es sich um
eine heile Welt. Denn schwarze Schafe gibt es natürlich
auch im ökologischen Landbau. Deshalb kann der Nitro-
fen-Skandal im ökologischen Landbau nicht wirklich
überraschen. Spätestens mit den aktuellen Ereignissen ist
diese Seifenblase geplatzt. Wichtig ist jetzt, dass jegliche
Gefährdung für die Verbraucher ausgeschlossen wird.
Rot-Grün steht für eine ideologische und verfehlte Ag-
rar- und Verbraucherpolitik. Die FDP hat demgegenüber
ihr liberales Agrarkonzept vorgelegt. Mit unserem Kon-
zept einer produktunabhängigen Kulturlandschaftsprämie
soll der unternehmerische Landwirt in den Mittelpunkt
gerückt und aus der staatlichen Umklammerung befreit
werden. Landwirte sollen am Markt ihre Einkommen er-
wirtschaften. Deshalb müssen unternehmerische
Freiräume geschaffen und bürokratische Mengenbegren-
zungen abgeschafft werden. Im Gegensatz zur so genann-
ten Agrarwende setzt die FDP auf klare Grundsätze und
einfache Regeln als Instrumente der Agrarpolitik. Wir tre-
ten für verlässliche Rahmenbedingungen und Planungssi-
cherheit ein. Liberale setzen auf die Selbstverantwortung
der Wirtschaft und nicht vorrangig auf staatliches Ord-
nungsrecht.
Zurück zum Landtourismus: Die FDP sieht Möglich-
keiten zur Steigerung der Übernachtungszahlen vorrangig
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durch Maßnahmen wie den Ausbau der Nutzung der
neuen Medien unter dem Motto „Bauernbett im Internet“.
Gerade für Stadtmenschen, die im Internet ihr Urlaubsziel
suchen und buchen, ist der Landtourismus eine interes-
sante Alternative, um in der Natur abzuschalten. Voraus-
setzung hierfür ist allerdings, dass die Angebote über-
haupt im Internet zu finden sind. Dazu müssen weitere
gemeinsame Anstrengungen der Deutschen Zentrale für
Tourismus mit der Deutschen Landwirtschafts-Gesell-
schaft, der Bundesarbeitsgemeinschaft „Urlaub auf dem
Bauernhof“ und der Reiseindustrie kommen, um durch
Marketingmaßnahmen die vorhandenen Potenziale weiter
auszubauen.
In den Zielen und der grundsätzlichen Unterstützung
für den Tourismus im ländlichen Raum besteht Überein-
stimmung zwischen den Fraktionen. Viele der im Antrag
von SPD und Grünen genannten Maßnahmen sind zu be-
grüßen. Das geht von der Direktvermarktung regionaler
Produkte über die Verbesserung des Inlandmarketings bis
zur Neuordnung der Genehmigung von Hinweis- und
Werbeschildern. Auch eine praxisnähere Ausgestaltung
gesetzlicher Regelungen vor allem im Bereich des Bau-
und Genehmigungsrechtes ist hier hilfreich.
Zu Punkt 13 des vorliegenden Antrags, in dem es um
§ 35 BauGb geht: Es ist nicht möglich, durch einen An-
trag Gerichte oder Verwaltung im Sinne einer bestimmten
Auslegung des Bundesbaugesetzes zu binden. Wenn man
eine andere Auslegung des Gesetzes erreichen will, muss
man das Gesetz entsprechend ändern. Zu bedauern ist,
dass der Gedanke aufgegeben wurde, durch die vorge-
schlagenen Änderungen des § 35 BauGB die Umnut-
zungsmöglichkeiten in bestehenden landwirtschaftlichen
Gebäuden im Hinblick auf eine bessere Nutzung zu er-
weitern.
Wenn SPD und Grüne tatsächlich die Rahmenbedin-
gungen für den Urlaub auf dem Bauernhof und den Land-
urlaub verbessern wollen, hätten sie ihre Mehrheiten im
Deutschen Bundestag längst nutzen können. Allerdings
bleibt der Antrag von SPD und Grünen in vielen Punkten
allzu sehr im Unverbindlichen. Die Vielzahl an Prüfauf-
trägen und Absichtserklärungen im Forderungskatalog
der Koalitionsfraktionen unterstreicht das eindeutig. Der
Antrag der Regierungsfraktionen ist Augenwischerei, der
nicht zufällig in einer der letzten Plenarsitzungen dieser
Legislaturperiode beraten wird. Da aber einige richtige
tourismuspolitische Ziele formuliert sind, wird die FDP-
Bundestagsfraktion ihn nicht ablehnen, sondern sich bei
der Abstimmung enthalten.
Rosel Neuhäuser (PDS): Seit über einem Jahr be-
schäftigt sich der Ausschuss für Tourismus mit der Ent-
wicklung des Landtourismus. Sehr schnell erkannten wir,
dass sofortige Lösungen nicht zu realisieren sind. Der
ländliche Tourismus soll, da er eng mit der Entwicklung
der jeweiligen Region verknüpft ist, sehr realitätsbezo-
gen, auf der Basis regionaler Analysen und Tourismus-
konzepte als Teil integrierter regionaler Entwicklungs-
konzepte, entwickelt werden.
Unser Mitwirken betraf besonders die qualitative
Weiterentwicklung der politisch-rechtlichen und wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen auf der einen Seite und
die Unterstützung von unverwechselbaren ländlichen
Tourismuskonzepten einer Region auf der anderen Seite.
Diese Entwicklung im ländlichen Raum mit zu steuern
und zu begleiten machte deutlich, dass die Landwirtschaft
das wirtschaftliche Rückgrat im ländlichen Raum bildet.
Dienstleistungen, vor allem im Tourismus und im Hand-
werk, werden zunehmend an Bedeutung gewinnen. Ein
wichtiger Anspruch muss dabei sein, dass sich die ländli-
chen Räume vor allem aus ihren eigenen Potenzialen
heraus als eigenständige Lebens- und Wirtschaftsräume
entwickeln. Dazu gehört neben umfangreichen Arbeits-
platzangeboten auch ein attraktives Sozial- und Kulturle-
ben.
Um in diesem Sinne die ländlichen Räume in ihren
Funktionen als Wirtschafts-, Natur- und Sozialraum zu
entwickeln, bedarf es zahlreicher Förderung und Unter-
stützung. Uns ist bekannt, dass ländliche bzw. bäuerliche
Urlaubsformen ein nicht zu unterschätzender Baustein
zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume in
Deutschland sind.
Wie in den Ausschussberatungen schon mehrfach von
mir angesprochen, sind eine Menge Forderungen aufge-
griffen worden, welche die Situation des Tourismus im
ländlichen Baum verbessern helfen. Aber in den Auffor-
derungen an die Bundesregierung bleibt einiges nach wie
vor unverbindlich bzw. wird ausgespart.
Ich möchte daher nochmals mit aller Deutlichkeit auf
die Felder aufmerksam machen, die aus meiner und der
Sicht meiner Fraktion nach wie vor einer Lösung bedür-
fen: Erstens. Ressortgrenzen sind Investitionshemmnisse
und müssen abgebaut werden. Wir fordern hierzu seit Jah-
ren, über eine interkommunale Vernetzung nachzuden-
ken, um die immer knapper werdenden Mittel effizienter
einzusetzen.
Zweitens. Es bestehen unzureichende komplexe Bera-
tungsangebote. Landwirte, die als zweites Standbein oder
gar zum Haupterwerb Dienstleistungen im Freizeitbe-
reich, im Bereich Erholung oder im Bereich Bewirtung
aufbauen möchten, brauchen Beratungsleistungen, die
von der betriebswirtschaftlichen Beratung über Gebäu-
deumnutzung, Baugenehmigungsrecht, Denkmalschutz
bis zu Versicherungs-, Steuer- und Erbrechtsfragen rei-
chen.
Das kann in aller Regel weder von der Agrarberatung
noch von der hauswirtschaftlichen Beratung geleistet
werden. Da das Konzept in hohem Maße über Erfolg oder
Misserfolg entscheidet, ist die Sicherung einer komplexen
und kostengünstigen Beratung notwendig.
Drittens. Es bestehen rechtliche Barrieren und Büro-
kratie bei der Umnutzung von Gebäuden. Hierzu liegt
eine ausführliche Stellungnahme der Bundesarbeitsge-
meinschaft für Urlaub auf dem Bauernhof und Landtou-
rismus vor, die meine volle Unterstützung findet.
Ich erwarte, dass in Umsetzung des Programms zur
Stärkung des Tourismus im ländlichen Raum die noch
nicht geklärten Fragen eine Beachtung finden und im In-
teresse der Betroffenen einer Lösung zugeführt werden.
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Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlungen:
– Sammelübersicht 393 zu Petitionen
– Sammelübersicht 394 zu Petitionen
(Tagesordnungspunkt 16a und b)
Erika Lotz (SPD): Entstanden sind diese Lücken und
Ungerechtigkeiten in der Verantwortung der Regierung
Kohl. Damit werden die Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichtes exakt umgesetzt, dass im April 1999 er-
klärt hatte, dass wesentliche Regelungen der Rentenüber-
leitung mit dem Grundgesetz nichtig vereinbar sind. Zum
Teil hat das BVG sie sogar für nichtig erklärt. Die so ge-
nannte „Systemscheidung“ – das bedeutet die grundsätz-
liche Überführung der Ansprüche aus Sonder- und
Zusatzversorgungssystemen der DDR in das bundesdeut-
sche Rentenrecht – wird dabei nicht berührt. Diese Sys-
tementscheidung hat das Bundesverfassungsgericht sogar
ausdrücklich bestätigt.
Insbesondere für ehemalige Beschäftigte der Deut-
schen Reichsbahn und der Deutschen Post in der DDR er-
geben sich wesentliche Verbesserungen durch das Gesetz.
Sie hatten erst zum 1. Januar 1974 die Möglichkeit, der
Freiweilligen Zusatzrentenversicherung – FZR – beizu-
treten, die zum 1. März 1971 in der DDR eingeführt
wurde. Deshalb werden die Beschäftigungszeiten vom
1. März 1971 bis zum 31. Dezember 1973 bei der Ren-
tenberechnung so gestellt, als ob die Beschäftigten
Beiträge zur FZR entrichtet hätten. Für diejenigen Ver-
sicherten, die am 31. Dezember 1973 bereits zehn Jahre
bei der Deutschen Reichsbahn oder der Deutschen Post
beschäftigt waren und damit bereits einen Zusatzversor-
gungsanspruch nach den jeweiligen Versorgungsordnun-
gen erreicht hatten, wird sogar in dem Zeitraum bis zum
30. Juni 1990 ein Arbeitsverdienst bis zu 1 250 Mark mo-
natlich bei der Rentenberechnung berücksichtigt, ohne
dass Beiträge zur FZR entrichtet sein müssen.
Diese Mindestdauer von zehn Jahren ununterbroche-
nem Beschäftigungsverhältnis am 1. Januar 1974 ergibt
sich aus den Regelungen in den Versorgungsordnungen
der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post. Die
von vielen Petenten problematisierten Zeiten der Berufs-
ausbildung, eines Studiums oder des Wehrdienstes waren
danach auf eine entsprechende Beschäftigungszeit anzu-
rechnen. Sie ist erreicht, wenn vom 1. Januar 1964 bis
1. Januar 1974 eine solche Beschäftigung ohne Unterbre-
chung ausgeübt worden ist. Das ergibt sich aus den Ein-
tragungen im Sozialversicherungsausweis und im Zwei-
fel aus einer Dienstzeitbescheinigung des jeweiligen
Arbeitgebers oder dessen Rechtsnachfolgers.
Diese Regelung haben wir so gestaltet, weil es von 1956
bis 1973 besondere betriebliche Alterssicherungssysteme
gab, die zum 1. Januar 1974 in die Sozialversicherung der
DDR überführt worden sind. Für langjährig Beschäftigte
hat es sich zwischen 1971 und 1973 einfach nicht gelohnt,
der FZR beizutreten, weil sie damit ihre Rentenanwart-
schaften nicht hätten steigern können. Deshalb haben wir
den Zeitraum, für den die Verbesserungen gelten sollen,
großzügig bemessen – bis zum 30. Juni 1990.
Die Höchstgrenze von 1 250 Mark ergibt sich daraus,
dass die Höchstversorgung für langjährig bei der Deut-
schen Reichsbahn oder bei der Deutschen Post Beschäf-
tigte auf 800 Mark monatlich begrenzt war. Bei einer
Rückrechnung entspricht dies einem monatlichen Tarif-
lohn von 1 250 Mark.
Allerdings haben wir nicht die Regelungen der bereits
1974 geschlossenen betrieblichen Altersvorsorgesysteme
der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post un-
eingeschränkt in das Rentenrecht des SGB VI übertragen.
Schließlich mussten wir nicht nur die Grundsätze der
Rentenüberleitung beachten, das heißt, nur die Arbeits-
verdienste rentenwirksam zu machen, für die tatsächlich
Beiträge gezahlt worden sind. Wir mussten außerdem
auch berücksichtigen, welche sozialversicherungsrechtli-
chen Bedingungen andere Beschäftigtengruppen in der
ehemaligen DDR hatten. Sie konnten eine höhere Alters-
sicherung meist ausschließlich über eine Beitragszahlung
an die FZR erlangen. Das gilt beispielsweise für Perso-
nen, die 1973 Berufsanfänger waren und deshalb nicht
zehn zusammenhängende Beschäftigungsjahre nachwei-
sen konnten.
Bei der rentenrechtlichen Behandlung ehemaliger Be-
schäftigter des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes
für Nationale Sicherheit – MfS/AfNS – haben sich die Ko-
alitionsfraktionen an die zwingenden Vorgaben des Bun-
desverfassungsgerichtes gehalten. Die Karlsruher Richter
hatten die Begrenzung des berücksichtigungsfähigen Ein-
kommens ehemaliger MfS-/AfNS-Mitarbeiter auf 70 Pro-
zent des Durchschnittseinkommens für unzulässig erklärt
und eine Berücksichtigung mindestens in Höhe des Durch-
schnittseinkommens gefordert. Nachdem das Bundesver-
fassungsgericht bereits mit seinen Entscheidungen die not-
wendige verfassungsrechtliche Klärung in einem äußerst
kontrovers diskutierten Bereich der deutschen Einigung
vorgenommen hat, haben wir durch dieses Gesetz die
Rechtssicherheit wiederhergestellt.
Zu der von zahlreichen Betroffenen geforderten Auf-
hebung der Entgeltbegrenzung bei Überschreiten der Ge-
haltsstufe eines Hauptabteilungsleiters im zentralen
Staatsapparat – die sogenannte E3-Regelung – bleibt es
zunächst beim geltenden Recht. Dazu steht noch eine Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts aus. Erst wenn
diese Entscheidung gefallen ist, können wir – nach den
entsprechenden Beratungen – auch dazu eine abschlie-
ßende Regelung vorlegen.
Mit dem zweiten AAÜG-Änderungsgesetz haben wir
die Vorgaben aus allen relevanten Urteilen erfüllt. Das war
zum einen das bereits erwähnte Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 28. April 1999 und das Urteil des Bun-
dessozialgerichts vom 3. und 4. August 1999. Sie sind eins
zu eins umgesetzt worden. Deshalb gibt es heute auch kei-
nen Grund mehr, weitere Änderungen vorzunehmen.
Matthäus Strebl (CDU/CSU): Wir behandeln heute
die Sammelübersichten 393 und 394 zu Petitionen, bei de-
nen es um die Eisenbahner- und Postrenten geht. Die
Sammelübersichten beinhalten rund 4 700 Petitionen mit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 24007
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rund 80 000 Unterschriften, die die Bemessungsgrund-
lage in der gesetzlichen Rentenversicherung betreffen.
Hauptkritikpunkt dieser Petitionen ist die Überführung
der Rentenansprüche der ehemaligen Beschäftigten der
Deutschen Post sowie der Deutschen Reichsbahn der
DDR in die gesetzliche Rentenversicherung. Die Petenten
fordern, die Urteile des Bundessozialgerichts zu diesen
Ansprüchen umzusetzen.
Auch wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat-
ten kritisiert, dass eine befriedigende interessen- und
sachgerechte Regelung der von den Beschäftigten der
ehemaligen Deutschen Reichsbahn der DDR erworbenen
Ansprüche und Anwartschaften aus dem System der Al-
tersversorgung Deutsche Reichsbahn gefehlt hatte. In un-
serem Antrag „Einheitliches Versorgungsrecht für die Ei-
senbahner herstellen“ (Bundestagsdrucksache 14/2522)
haben wir auf die ungleiche Rechtslage hingewiesen und
eine Umsetzung der im Urteil des Bundessozialgerichts
vom 10. November 1998 getroffenen Feststellungen ge-
fordert. Leider wurde unser Antrag mit Koalitionsmehr-
heit erst vom Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und
später vom Bundestag abgelehnt.
Zwischenzeitlich hatte die Bundesregierung ihren Ge-
setzentwurf zum „2. Gesetz zur Änderung und Ergänzung
des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
(2. AAÜGÄndG)“ eingebracht. Nach Anrufung des Ver-
mittlungsausschusses haben Bundestag und Bundesrat am
22. Juni 2001 dem Gesetzentwurf des 2. Gesetzes zur Än-
derung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwart-
schaftsüberführungsgesetzes zugestimmt. Das Gesetz
wurde am 2. August 2001 verkündet.
Während dieses Gesetzgebungsverfahrens haben sich
bei den Petenten verschiedene Befürchtungen und Anlie-
gen deutlich gemacht, unter anderem folgende:
Sie könnten durch das Gesetz von den Verbesserungen
ausgeschlossen sein, da sie die Voraussetzung eines unun-
terbrochenen Beschäftigungsverhältnisses von zehn Jah-
ren am 1. Januar 1974 möglicherweise nicht erfüllten. Es
sollten auch Petenten in die Regelungen des 2. Gesetzes
zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und An-
wartschaftsüberführungsgesetzes einbezogen werden, die
unabhängig vom Stichtag 1. Januar 1974 zehn Jahre bei
der Deutschen Reichsbahn oder der Deutschen Post be-
schäftigt gewesen sind und nicht bzw. erst nach 1974 der
Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) beigetreten
seien. Die Einführung einer „neuen fiktiven Beitragsbe-
messungsgrenze von 1 250 DM“ (circa 639 Euro) wurde
kritisiert. Der besondere, erhöhte Steigerungssatz von
1,5 Prozent sollte im Gesetz berücksichtigt werden.
Die PDS bemängelte in zwei Anträgen (14/9158 und
14/9159), dass durch die mangelnde Berücksichtigung
der Versorgungsansprüche der ehemaligen Reichsbahner
und Postler in der gesetzlichen Rente der Bundesrepublik
Deutschland eine gravierende Ungleichbehandlung in der
Alterssicherung zu vergleichbaren Berufsgruppen bei der
Deutschen Bahn und der Deutschen Post entstanden
seien. Sie fordert, für die Gewährung der Versorgungsan-
sprüche der ehemaligen Beschäftigten der Deutschen
Reichsbahn und der Deutschen Post eine gesetzliche Ver-
sorgungsregel zu schaffen. Basis dafür seien die entspre-
chenden Versorgungsordnungen des Beitrittsgebietes. Mit
der Überweisung der Petitionen als Material an die Bun-
desregierung solle dieser die Möglichkeit gegeben wer-
den, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten
und vorzulegen.
Die Anträge der PDS sind abzulehnen. Die Petitions-
verfahren sind abzuschließen, weil den Anliegen teilweise
entsprochen worden ist. Mit der Neufassung des § 256 a
Abs. 2 SGB VI durch das 2. Gesetz zur Änderung und
Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber-
führungsgesetzes konnten rechtliche Klarstellungen vor-
genommen werden, die die meisten Hauptanliegen der
Petenten berücksichtigen.
Auch für Beschäftigungszeiten bei der Deutschen
Reichsbahn und bei der Deutschen Post soll bei der Ren-
tenberechnung grundsätzlich nur der erzielte Arbeitsver-
dienst, für den tatsächlich Beiträge gezahlt worden sind,
in die Ermittlung der Entgeltpunkte eingehen.
Die Entscheidungen verweisen jedoch auf eine Ähn-
lichkeit der „Alten Versorgungen“ der Deutschen Reichs-
bahn und der Deutschen Post mit den Zusatz- und Son-
derversorgungssystemen, insoweit die Rente in Bestand
und Wert nicht von den Beiträgen zur FZR abhängig war.
Nach Auffassung des Gerichts war die „Alte Versor-
gung“ ab 1. Januar 1974 als Teil der Anwartschaft auf eine
Sozialversicherungsrente ausgestaltet.
Aufgrund dieser rechtlichen Wertung bestimmt das
Gesetz, dass bei der Ermittlung der Entgeltpunkte für die
Rentenberechnung für Beschäftigungszeiten in diesen
beiden Bereichen vom 1. März 1971 bis 31. Dezember
1973 generell das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt ohne
Beachtung der Beitragszahlung zur Freiwilligen Zusatz-
rentenversicherung angerechnet werden soll.
Für Versicherte, die am 1. Januar 1974 bereits zehn
Jahre ununterbrochen bei der Deutschen Reichsbahn oder
der Deutschen Post beschäftigt gewesen sind, soll im Zeit-
raum vom 1. Januar 1974 bis 30. Juni 1990 bei der Ren-
tenberechnung ein Arbeitsverdienst bis zu 1 250 DM
(circa 639 Euro) monatlich ohne Beachtung der Beitrags-
zahlung zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung an-
rechnungsfähig sein.
Eine teilweise geforderte Gleichstellung der Beschäf-
tigten der Deutschen Reichsbahn mit denen der Deutschen
Bahn durch Einbeziehung von Ansprüchen in die Zusatz-
versorgung der Bahnversicherungsanstalt Abteilung B ist
nicht möglich, da deren Satzung dies nicht zulässt.
Eine tarifvertraglich vereinbarte betriebliche Alters-
versorgung ist in den neuen Bundesländern erst mit Wir-
kung ab 1. Januar 1997 eingeführt worden.
Zur Frage einer Zusatzversorgung für Mitarbeiter der
Deutschen Post ist darauf hinzuweisen, dass die Ent-
scheidung, ob und wie eine solche gewährt werden soll,
den Tarifvertragsparteien obliegt.
Mit Urteil vom 10. November 1998 hat das Bundesso-
zialgericht entschieden, dass bei der Frage der Anerken-
nung von Ansprüchen und Anwartschaften aus dem Sys-
tem der betrieblichen Altersversorgungen Deutsche
Reichsbahn und Deutsche Post das geltende Recht keine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200224008
(C)
(D)
(A)
(B)
Anspruchsgrundlage für eine Eisenbahnversorgung zu-
sätzlich zu der Rente nach dem SGB VI ist. Solche seien
durch eine Anwartschaft bzw. einen Anspruch auf eine
SGB-VI-Rente ersetzt worden.
Eine Ausdehnung der für rentennahe Jahrgänge ge-
schaffenen Besitzstands- und Vertrauensschutzregelung für
den Anspruch auf einen erhöhten Steigerungssatz von 1,5
Prozent auf weitere Jahrgänge ist mit den Grundsätzen des
lohn- und beitragsbezogenen Rentenrechts der Bundesre-
publik nicht vereinbar. Danach richtet sich die Höhe der
Rentenleistung nach dem durch Beiträge versicherten Ar-
beitsentgelt und Arbeitseinkommen. Die Festsetzung von
Stichtagen ist stets mit persönlichen Härten verbunden,
aber unvermeidbar, womit der Vertrauensschutzregelung in
Art. 2 § 35 Rentenüberleitungsgesetz Genüge getan ist.
Die Behandlung des Ausfüllbetrages (§ 315 a SGB VI)
im Rahmen der jährlichen Rentenanpassung ist gerecht-
fertigt, denn eine dauerhafte Festschreibung oder auch nur
eine zeitliche Ausdehnung dieser Beiträge wäre ange-
sichts der zu erwartenden niedrigen Anpassungssätze der
nächsten Jahre den heutigen und künftigen Rentnern, ge-
rade auch in den alten Bundesländern, nicht zu vermitteln.
Soweit es um die Frage eines vom 2. Gesetz zur Ände-
rung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschafts-
überführungsgesetzes geforderten zehnjährigen ununter-
brochenen Beschäftigungsverhältnisses geht, kann auf die
Urteile des Bundessozialgerichts verwiesen werden.
Demnach kann das Wort „Beschäftigungsverhältnis“ aus-
gelegt werden anhand anderer Begriffe wie zum Beispiel
„mindestens zehnjährige ununterbrochene Dienstzeit“,
„ununterbrochene Beschäftigung“ oder „ununterbrochene
Tätigkeit“. Auf diese Zeit sind auch Zeiten der Berufsaus-
bildung, eines Studiums oder des Wehrdienstes anzurech-
nen, wenn vom 1. Januar 1964 bis zum 31. Dezember
1973 eine solche Beschäftigung ohne Unterbrechung aus-
geübt worden ist. Diese gesetzlich geforderte Mindestzeit
folgt aus den Versorgungsverordnungen von 1973. Ab
dem 1. Januar 1974 war die „Alte Versorgung“ nach Auf-
fassung des Bundessozialgerichts als Teil der Anwart-
schaft auf eine Sozialversicherungsrente ausgestaltet.
Die Begrenzung des anrechnungsfähigen Arbeitsver-
dienstes auf höchstens 1 250 DM (circa 639 Euro) ergibt
sich daraus, dass die Höchstversorgung nach den alten
Versorgungsverordnungen auf 800 DM (circa 409 Euro)
monatlich begrenzt war. Bei einer Rückrechnung ent-
spricht dies einem monatlichen Tariflohn von 1 250 DM
(639 Euro), der nach den alten Regelungen Grundlage für
die Berechnung der betrieblichen Altersversorgung war.
Die alten Versorgungsordnungen der Deutschen
Reichsbahn und der Deutschen Post sind den Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen der DDR nicht vergleichbar,
da ab 1974 eine neue Anwartschaft darin nicht mehr be-
gründet werden konnte und das Sicherungsniveau auch
auf den Tariflohn von 1973 ohne Dynamisierung begrenzt
war, während die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme
als Alterssicherung regelmäßig einen bestimmten Vom-
hundertsatz des letzten Verdienstes vor Eintritt des Versor-
gungsfalls sicherten. Eine Rechtsänderung zur Berück-
sichtigung von Arbeitsverdiensten oberhalb von 1 250 DM
(639 Euro) kann daher nicht in Aussicht gestellt werden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zwar dem
Anliegen auf Überführung von Ansprüchen und Anwart-
schaften aus dem System der betrieblichen Altersversor-
gungen Deutsche Reichsbahn und Deutsche Post auf
Berücksichtigung des besonderen erhöhten Steigerungs-
satzes von 1,5 Prozent sowie auf Verzicht auf den Stich-
tag 1. Januar 1974 für die zehnjährige Mindestzeit und auf
die Arbeitsverdienstgrenze von 1 250 DM (639 Euro)
nicht entsprochen werden konnte. Andererseits sind viele
Bedenken und Forderungen der Petenten berücksichtigt
worden, so unter anderem auf Berücksichtigung von
Arbeitsverdiensten oberhalb von monatlich 600 DM
(circa 307 Euro), und zwar auch ohne Zahlung zur Frei-
willigen Zusatzrentenversicherung, sowie auf großzügige
Auslegung des Begriffs „Beschäftigungsverhältnis“ bei
der zehnjährigen Mindestzeit. Der sozialen Gerechtigkeit
ist damit Genüge getan worden. Daran haben auch wir
von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion keinen Zweifel
mehr.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die PDS vertritt die Ansicht der Petenten, dass die
Wiedergewährung des Versorgungsanteils aus den Syste-
men der Altersversorgung der Deutschen Reichsbahn und
der Deutschen Post trotz Verabschiedung des zweiten Ge-
setzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetzes nach wie vor unge-
klärt sei. Darin wird von den Petenten und der PDS eine
gravierende Ungleichbehandlung dieser Berufsgruppe in
der Alterssicherung gesehen und eine entsprechende Ge-
setzesänderung gefordert. Warum wir an dieser Stelle eine
Gesetzesänderung nicht für nötig erachten, möchte ich
kurz erläutern.
Das Bundessozialgericht hat sich mit diesem Thema be-
reits 1998 befasst und in seinem Urteil vom 10. November
auch zu der Frage Stellung genommen, in welcher Höhe
die von ehemaligen Beschäftigten der Deutschen Reichs-
bahn und der Deutschen Post der DDR erzielten Arbeits-
verdienste bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen
sind. Im Ergebnis hat es die derzeitige Praxis der Renten-
versicherungsträger für rechtswidrig erklärt, die darin be-
stand, die berücksichtigungsfähigen Pflichtbeitragszeiten
vom 1. März 1971 bis 30. Juni 1990 nur auf Grundlage von
Arbeitsentgelten von monatlich 600 DM zu ermitteln. Auf
Grundlage dieses Urteils haben wir durch das 2. AAÜG-
ÄndG mit der Neufassung des § 256 aAbs. 2 SGB VI recht-
liche Klarstellungen über die Anrechnung des Arbeits-
einkommens oberhalb von 600 DM vorgenommen. Auch
für Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Reichsbahn
und bei der Deutschen Post soll bei der Rentenberechnung
grundsätzlich nur der erzielte Arbeitsverdienst, für den
tatsächlich Beiträge gezahlt worden sind, in die Ermittlung
der Entgeltpunkte eingehen.
Weil das Bundessozialgericht die Auffassung vertritt,
das die „alte Versorgung“ erst ab Januar 1974 als Teil der
Anwartschaft auf eine Sozialrente ausgestaltet war, hat
demzufolge auch der Gesetzgeber differenziert. Bei der
Ermittlung der Entgeltpunkte für die Berechnung von Be-
schäftigungszeiten von März 1971 bis Dezember 1973
soll generell das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt ohne
Beachtung der Beitragszahlung zur FZR angerechnet
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 24009
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werden. Für Versicherte, die am 1. Januar 1974 bereits
zehn Jahre ununterbrochen bei Post oder Bahn beschäftigt
gewesen sind, soll im Zeitraum vom 1. Januar 1974 bis
30. Juni 1990 bei der Rentenberechnung ein Arbeitsver-
dienst bis zu 1 250 DM monatlich ohne Beachtung der
Beitragszahlungen zur FZR anrechnungsfähig sein.
Bei der Gesetzesentstehung sind die das Problem auf-
greifenden Petitionen, die bei Beginn des Gesetzgebungs-
verfahrens schon vorlagen, in die Ausschussberatungen
des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung einbezo-
gen worden. Der Petitionsausschuss hat in seiner Zustän-
digkeit diesen Ausschuss auch insoweit gemäß § 109 der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages um Stel-
lungnahme gebeten. Aufgrund der Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses haben dann Bundestag und
Bundesrat dem Gesetzentwurf zugestimmt.
Der besonders erhöhte Steigerungsbetrag von 1,5 Pro-
zent ist 1974 im Zusammenhang mit der Überführung der
betrieblichen Alterssicherungssysteme für Beschäftigte
der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post in die
allgemeine Sozialversicherung, speziell in das Renten-
recht der ehemaligen DDR, eingeführt worden. Die Rege-
lungen sahen für Beschäftigungszeiten bei der Reichsbahn
oder der Post bei der Berechnung der Rente aus der Sozi-
alpflichtversicherung einen besonderen Steigerungssatz
von 1,5 Prozent vor, wenn eine mindestens zehnjährige un-
unterbrochene Beschäftigung nachgewiesen wurde. Bei
der Überführung des Rentenrechts der DDR musste sich
der Gesetzgeber gegen die Übernahme entscheiden, weil
die höheren Steigerungssätze für die Berechnung von Ren-
ten, für die keine Beiträge gezahlt worden waren, mit den
Grundsätzen des lohn- und beitragsbezogenen Renten-
rechts der Bundesrepublik nicht vereinbar waren und sind.
Meine Fraktion sieht keinen Anlass, das Gesetzgebungs-
verfahren zum 2. AAÜG-ÄnG erneut zu eröffnen, weil
sich der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des Gesetzes
streng an die Vorgaben des Bundessozialgerichts gehalten
hat.
Dr. Irmgard Schwaetzer (FDP): Das zweite Ände-
rungsgesetz des AAÜG durch die Bundesregierung im
vergangenen Mai 2001 haben wir abgelehnt. Der Gesetz-
entwurf hielt sich zwar einerseits eng an die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts,
konnte aber andererseits den berechtigten Wünschen man-
cher Betroffenen nicht genügen. Die FDP-Bundestags-
fraktion, die hierzu in bewährter Übung Gespräche mit den
unterschiedlichen Gruppen der Anspruchsberechtigten ge-
führt hatte, hatte den vorliegenden Regierungsentwurf
sorgfältig geprüft und kam zu einer insgesamt ablehnen-
den Einschätzung.
Aber, darauf haben wir bereits im Gesetzgebungsver-
fahren hingewiesen, die Gesetzesänderung führte immer-
hin zu einer relativen Besserstellung der für die Beschäf-
tigungszeiten bei der Deutschen Reichsbahn oder bei der
Deutschen Post berücksichtigungsfähigen Arbeitsver-
dienste – und zwar auch dann, wenn keine Beiträge zur
Freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt worden
sind. Wir begrüßen dies im Grundsatz und stimmen der
Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zu.
Ich darf darauf hinweisen, dass sich bereits in der ver-
gangenen 13. Wahlperiode die FDP-Bundestagsfraktion
intensiv mit diesem Thema auseinander gesetzt hat. Wir
haben über die Forderung nach einer Höherbewertung der
Rente und der Anerkennung einer betrieblichen Zusatz-
versorgung zahlreiche Gespräche geführt, unter anderem
mit dem Bundesarbeitsministerium und der Gewerkschaft
der Eisenbahner Deutschlands. Insbesondere haben wir
darauf verwiesen, dass es auch andere Lösungen für diese
Frage hätte geben können. Denkbar wäre etwa gewesen,
das Anliegen der Eisenbahner und Postler in Tarifverträ-
gen zu berücksichtigen oder Ansprüche gegenüber dem
Bundeseisenbahnvermögen geltend zu machen.
Erlauben Sie mir noch eine grundsätzliche Bemer-
kung: Die FDP hat zu diesem wichtigen Thema Rente in
den neuen Bundesländern insgesamt in dieser 14. Legis-
laturperiode mehrere parlamentarische Anträge einge-
bracht. In diesen – insbesondere für das mittlere medizi-
nische Personal, den Bereich der Hochschule und der
kommunalen Wahlbeamten – haben wir nicht nur für eine
auf die Zukunft gerichtete Verbesserung, sondern zu-
gleich und insbesondere auf eine Nachbesserung für die
Betroffenen geworben. Alle unsere parlamentarischen
Initiativen wurden von der rot-grünen Regierungskoali-
tion abgelehnt. Wir werden dieses Thema auch in der
kommenden Legislaturperiode sorgfältig und sensibel be-
handeln.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Weltweite Märkte für
Meerestechnik erschließen (Zusatztagesord-
nungspunkt 16)
Dr. Margrit Wetzel (SPD): Über Schiffbau diskutie-
ren wir in schöner Regelmäßigkeit und – zum Glück für
die betroffene Industrie – im Allgemeinen auch fraktions-
übergreifend in großer Einigkeit. Im Vergleich dazu be-
handeln wir die nicht schiffbauliche Meerestechnik gera-
dezu stiefmütterlich. Und das ist falsch! Denn das
weltweite Marktpotenzial der Meerestechnik wurde für
das Jahr 2000 auf mehr als 150 Milliarden Euro geschätzt
und ist damit ein dem Schiffbau absolut vergleichbarer
bedeutsamer Wirtschaftsfaktor mit erheblichem Wachs-
tumspotenzial. Dass uns das viel zu wenig bewusst ist,
mag daran liegen, dass sich in dieser Branche keine Rie-
sen, sondern Zwerge tummeln: Es sind vor allem kleine
und mittlere deutsche Unternehmen, die zum Teil außer-
ordentlich kreativ tätig sind. Ihr erzielter Jahresumsatz lag
in 2000 etwa bei 3 Milliarden Euro und machte damit nur
2 Prozent des weltweiten Umsatzes aus. Das technolo-
gische Potenzial dieser kleinen deutschen Unternehmen
fordert aber geradezu die weltweite Markterschließung
heraus und deshalb sollten wir sehr gezielt und markt-
orientiert tätig werden. Wie sollen die „Kleinen“ groß
werden, wenn sie hier bei uns nur einen winzigen Markt
im Verhältnis zu den Weltmärkten haben?
Das im Jahr 2000 aufgelegte Forschungsprogramm
„Schifffahrt und Meerestechnik für das 21. Jahrhundert“
des BMBF zielt mit der Förderung bestimmter meeres-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 200224010
(C)
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technischer Technologiebereiche bereits genau in diese
Richtung. Wir wollen jetzt gern erreichen, dass dieser An-
satz ressortübergreifend, wettbewerbsorientiert und an-
wendernah ausgebaut wird. Schwerpunkt soll dabei die
Kooperation kleiner und mittlerer Unternehmen sowie
deren gezielte Unterstützung durch staatliche Einrichtun-
gen und Institutionen sein. Wir dürfen weder die
verlockenden Marktpotenziale noch die weitere Entwick-
lung der Lösung von Umweltproblemen verschlafen. Ein
einziger Blick auf die Weltkarte genügt auch dem Laien,
zu erkennen, welch eine Vielfalt von Küsten, Festland-
sockeln und Meeresböden sich dem deutschen Know-
how darbieten könnte. Eine verlockende, eine faszinie-
rende Perspektive.
Wir alle wissen, dass die Nutzung erneuerbarer Ener-
gien über Offshore Windparks auf gutem Wege ist. Wir
wissen aber auch, dass noch erhebliche Entwicklungsar-
beit und gezielte Begleitforschung erforderlich ist, um die
Windparks im Meer sicher, naturverträglich und kosten-
günstig bauen zu können. Auch für die Instandhaltung, für
den umweltverträglichen Rückbau und die Entsorgung
von Offshoreanlagen eröffnen sich große weltweite
Marktpotenziale. In den nächsten Jahren sind weltweit
zum Beispiel etwa 8 000 Öl- und Gasbohrplattformen zu
entsorgen.
Wissenschaft, Behörden, Forschungszentren und zahl-
reiche Unternehmen der Industrie verfügen über höchste
Kompetenz im Bereich der Hydrographie. Das neue UN-
Seerecht fordert die aktive Vermessung der exklusiven
Wirtschaftszonen als Grundlage der nachhaltigen Nutzung
maritimer Ressourcen. Gerade in vielen Ländern mit ho-
hem Küstenanteil ist die entsprechende Technologie nicht
verfügbar. Staatliche Unterstützungen, die keineswegs im-
mer geldunterlegt sein müssen, sondern auch politisch-di-
plomatischer Art sein sollten, können die Erschließung die-
ser Märkte deutlich erleichtern. Insbesondere bieten sich
politische und wirtschaftliche Kooperation mit Schwellen-
und Entwicklungsländern an, die durch bilaterale staatliche
Abkommen zur Förderung technisch-wissenschaftlicher
und industrieller Kooperation mit ausländischen Partnern
gesichert werden könnten. Die Unterstützung der entspre-
chenden Ausbildung in den Ländern mit langen Küsten
wäre Hilfe für den Aufbau landeseigener Kapazitäten in
Verbindung mit der Weiterentwicklung unserer techni-
schen und wissenschaftlichen Vorsprünge und der Markt-
sicherung für deutsche Unternehmen.
Das Monitoring maritimer Klima- und Umweltverän-
derungen zum Beispiel erfordert den Aufbau weltweiter
Messnetze, die sowohl die Beobachtung globaler Klima-
veränderungen als auch die Entwicklung und Herstellung
meerestechnischer Geräte und Dienstleistungen umfas-
sen. Bei umweltschonenden Kreislaufanlagen für die Auf-
zucht von Seefischen kann Deutschland international eine
führende Stellung im Bereich der Aquakultur einnehmen.
Die Überfischung der Meere macht die Aquakultur zu ei-
ner ganz neuen Herausforderung. Helfen wir doch, diese
Chancen für kleine Unternehmen nutzbar zu machen!
Oder nehmen wir die Gewinnung von Öl durch Off-
shoreanlagen: Ölunfälle und Verschmutzungen durch den
Transport werden nie vollständig zu verhindern sein.
Deutsches Know-how und deutsche Technik können bei
der Ölunfallbekämpfung, der Sanierung der verschmutz-
ten Gewässer und Küsten und bei der Entsorgungschad-
stoff belasteter Anlagen auch international verantwor-
tungsvoll eingesetzt werden. Auch das breite Spektrum
der Unterwassertechnik und der Polartechnik, der Kom-
munikationstechnik, der maritimen Informations- und
Leittechnik eröffnen weltweit neue wirtschaftliche Per-
spektiven, die es zu nutzen gilt.
Was können wir also zusätzlich zu dem, was bereits
über die Forschungsprogramme initiiert ist, noch tun, um
die Markterschließung durch Innovationen und Produkt-
entwicklung in der Meerestechnik zu verbessern? Kom-
petenzen bündeln, strategische Allianzen aus kleinen Un-
ternehmen und staatlichen Stellen bilden, sicher. Aber wir
sollten den KMU auch den Zugang zu Fördermitteln und
politischer Unterstützung erleichtern. Kriterien bei der
Bewertung von Förderanträgen könnten zum Beispiel der
Beitrag zur Nachhaltigkeit, zur Innovation, zur Produkt-
entwicklung aber auch zur internationalen Vermarktbar-
keit sein. Antragsverfahren im Forschungsbereich könn-
ten durch gute Koordination effektiver werden. Das
würde automatisch die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Meerestechnik am Weltmarkt fördern. Die deut-
schen Unternehmen in diesem Bereich sind meistens zu
klein, die nötige Kooperation und Vernetzung allein leis-
ten zu können. Außerdem brauchen sie meerestechnische
Daten und das Wissen staatlicher Einrichtungen: Die
Frage ist also, ob dieses Wissen den Unternehmen zu an-
nehmbaren organisatorischen und finanziellen Bedingun-
gen verfügbar gemacht werden kann. Ich meine, wir soll-
ten dafür sorgen, dass das Wissen und die Kompetenzen
in unserem Land dazu eingesetzt werden, diese Märkte
mit Zukunft zu erschließen.
Bei internationalen Projekten sind uns unsere europä-
ischen Nachbarn teilweise deutlich voraus: Staatliche
Einrichtungen wirken in Public Private Partnership mit
der privaten Wirtschaft erfolgreich zusammen. Wir haben
offenbar einen Nachholbedarf insbesondere in der Nut-
zung bestehender staatlicher Kontakte für die Märkte im
Ausland. Es muss noch nicht einmal viel kosten, den
KMU in diesem Bereich zu helfen. Wir müssen nur krea-
tiv, offen und flexibel unsere politischen und diplomati-
schen Möglichkeiten einsetzen. Wir müssen den man-
gelnden Organisations- und Vernetzungsgrad der KMU
ausgleichen; denn das können sie allein einfach nicht leis-
ten. Und: Es ist doch schön, gebraucht zu werden. Die Un-
ternehmen im Bereich der Meerestechnik brauchen uns.
Enttäuschen wir sie also nicht. Deshalb bitte ich um die
wohlwollende Prüfung, Beratung und Zustimmung des
ganzen Hauses zu unserem Antrag.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):Der An-
trag der Regierungskoalition ist auf den ersten Blick an-
erkennenswert. Er enthält hehre Ziele für die weltweite
Zukunft der Meerestechnik. Darin teilen wir die Auffas-
sung der Antragsteller.
Auf den zweiten Blick jedoch handelt es sich hier um
eine offensichtliche Alibi-Initiative. Alle Maßnahmen
sollen dem Diktat der Klima- und Umweltschutzziele un-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 239. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Juni 2002 24011
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terliegen. Keine Grundlagenforschung soll möglich sein,
keine Neuentwicklung von Meerestechnologien. So steht
es im vorletzten Absatz dieses Antrages.
Vermutlich haben die Grünen den Roten hier in die
Suppe gespuckt. Aber ganz ernsthaft: Für Showanträge ist
die Thematik nicht geeignet. Deutschlands maritime
Wirtschaft braucht Zukunft, aber nicht mit einem Flagg-
schiff ohne Schraube.
Die Meerestechnik bietet weltweit große Zukunfts-
chancen. Das Marktvolumen der Offshoreindustrie wird
weltweit auf mehr als 80 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.
Der Anteil Deutschlands daran in Höhe von rund 1 Milliarde
Euro entspricht dabei keineswegs dem technischen Poten-
zial. Weltweit gibt es etwa 8000 Öl- und Gasplattformen,
die im Verlaufe der nächsten Jahrzehnte entsorgt werden
müssen. Allein in der Nordsee sind es 700 Plattformen, für
deren Beseitigung oder Umnutzung mit einem zweistelli-
gen Milliardenbetrag gerechnet wird.
Für den Bau von Offshorewindparks rechnen Experten
mit einem Investitionsvolumen von circa 25 Milliarden
Euro über die nächsten 20 Jahre allein in den deutschen
Seegebieten. Nicht eingerechnet ist hierbei der Bedarf an
Forschungsaktivitäten, insbesondere zur Weiterentwick-
lung der Anlagentechnik, eingeschlossen Gründung, Netz-
anbindung und Montage sowie der begleitenden ökologi-
schen Untersuchungen.
Unter den Einschätzungen der globalen Erwärmung
und des Klimaschutzes wird das Aufgabenfeld des „Inte-
grierten Küstenzonen-Managements“ eine neue Bedeu-
tung gewinnen. Das hat Auswirkungen auf Forschung und
Entwicklung. Hier gehe es um die Integration der Nut-
zungs- und Schutzansprüche im Küstenraum, unterstrich
auch der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister
Dr. Bernd Rohwer gestern auf einer Fachtagung der Ge-
sellschaft für maritime Technik. Dies gilt auch deshalb,
weil zu den traditionellen Nutzungen wie Tourismus, Ha-
fenwirtschaft und Fischerei neue wirtschaftliche Chancen
und Herausforderungen hinzukommen. Die Anforderun-
gen an Ozeanüberwachungssysteme werden dementspre-
chend beständig steigen. Sowohl in der wissenschaftli-
chen Forschung als auch in den einzelnen Regionen gibt
es hierzu bereits vielversprechende Aktivitäten.
Natürlich hat auch die traditionelle maritime Wirt-
schaft für Deutschland, besonders für Norddeutschland,
eine große Bedeutung. Der klassische Schiffbau hat sich
inzwischen zu einem hoch innovativen Industriesektor
entwickelt, der mit seinen Spezialschiffen einen weltwei-
ten Markt anspricht und einen Anteil von deutlich über
20 Prozent am Gesamtumsatz deutscher Werften hat.
Vier Beispiele, um das Innovationspotenzial der Werf-
ten zu verdeutlichen: Die Flensburger Schiffbaugesell-
schaft produziert mit ihren hoch innovativen Ro-Ro- und
Ro-Pax-Fähren global nachgefragte „schwimmende
Landstraßen“.
Weltweit die einzigen mit Brennstoffzellen betriebe-
nen U-Boote werden bei HDW in Kiel hergestellt.
Mit dem „Forschungsschiff der Zukunft“ entwickelt
die Lindenau-Werft, ebenfalls in Kiel, derzeit ein modu-
lar und damit flexibel konstruiertes Forschungsschiff, das
es in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat.
Die Kvaerner-Werft in Rostock lieferte 2001 mit der
Offshorebohrplattform „Stena Don“ seit Jahren wieder
die erste Bohrplattform aus Deutschland ab, ein Koloss
mit 32 700 Tonnen Wasserverdrängung.
Ein Umsatzpotenzial ähnlicher Größenordnung wird
auch von der Schiffbauzulieferindustrie erbracht. Mit einer
breiten Palette innovativer Produkte vom Schiffsantrieb
bis hin zu den modernsten Navigations- und Positionie-
rungssystemen entfallen auf diese Zulieferindustrie bis zu
70 Prozent der Wertschöpfung eines Schiffsneubaus. Glo-
balisierung und Wachstum des Welthandels finden ihren
deutlichen Niederschlag im Wachstum von Schifffahrt und
Hafenumschlag. Davon profitieren auch die Häfen in
Deutschland. Neue Technologien für Ausrüstung, Um-
schlag und Entsorgung erschließen zusätzliche Wachs-
tumspotenziale.
Ein weiterer Bereich der Meerestechnik mit hohen
Wachstumschancen ist die maritime Aquakultur, Blaue
Biotechnologie, „nachhaltige Produktionstechnik“ oder
auch Marikultur genannt. Bei 11,8 Prozent lag die jährli-
che durchschnittliche Wachstumsrate in den letzten
15 Jahren. Auf verschiedenen Gebieten der Biotechnolo-
gie vollzieht sich zur Zeit eine rasante Entwicklung, die
neue Chancen für Wirtschaft und Wissenschaft eröffnet.
Dazu gehört auch, dass sich die moderne Biotechnologie
immer mehr mit nachwachsenden Rohstoffen und Mine-
ralstoffgewinnung aus dem Meer befasst, zum Beispiel für
die medizinische Nutzung. Die Gewinnung von Nah-
rungsmitteln aus dem Meer beschränkt sich nicht mehr auf
die Fischwirtschaft: Aquakultur und maritime Bioressour-
cen bieten anspruchsvolle Zukunftsaufgaben und müssen
Antworten liefern auf den weltweiten Rückgang der Fisch-
bestände, auf die Umwelt-, Hygiene- und Qualitäts-
probleme sowie die sich aus dem intensiven „fish- und
shrimp-farming“ ergebenden sozialen Konfliktpotenziale.
Derzeit werden weltweit über 150 Fischarten, etwa
40 verschiedene Schalentiere und mehr als 70 Muschel-
bzw. Weichtierarten neben zahlreichen Algen, Wasser-
pflanzen, Fröschen, Schildkröten und Krokodilen in Aqua-
kultur erzeugt. Der Weltmarkt für Fisch sowie Krusten-
und Schalentieren belief sich 1999 nach FAO-Statistiken
auf insgesamt knapp 126 Millionen Jahrestonnen. Davon
entfielen circa 33 Millionen Tonnen auf die Aquakultur,
fast 30 Prozent der maritimen Nahrungsmittelproduktion.
In diesen Zahlen ist die immer wichtiger werdende Auf-
zucht von Pflanzen/Algen noch nicht enthalten. Die ge-
samte Aquakulturproduktion hat sich in den Jahren 1990
bis 1999 um 150 Prozent erhöht; die Produktion ist heute
mehr als zweieinhalbmal so groß wie vor zehn Jahren. Die
Zahlen zeigen eindrucksvoll das wirtschaftliche und tech-
nologische Potenzial der Aquakultur.
Die asiatischen Länder, insbesondere Thailand, Indo-
nesien, Bangladesch, China und Indien, verfügen zusam-
men über mehr als 1 Million Hektar Zuchtteiche allein für
Krabben. Ein zweites Zentrum mit etwa 200 000 Hektar
befindet sich an der Westküste Amerikas, überwiegend in
Ecuador. Verbraucherländer sind die USA, Europa und Ja-
pan. Der jährliche Pro-Kopf-Konsum liegt in diesen Län-
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dern zwischen 1,2 und 3 Kilogramm. Das sind etwa
20 Prozent des Welthandels mit Meerestieren.
Zur Deckung des weiter wachsenden Bedarfs werden
in Zukunft verstärkt künstliche marine Ökosysteme, zum
Beispiel Kreislaufanlagen für die marine Aquakultur, zum
Einsatz kommen müssen, denn die EU plant ganz aktuell
radikale Fangquotenbegrenzungen, zum Teil mit gravie-
renden Auswirkungen auf die Fischereiwirtschaft. Diese
Lücke kann nur durch Aqua- und Marikulturanlagen aus-
gefüllt werden; es zeichnet sich ein weltweites Marktpo-
tenzial ab.
Ähnlich hohe Entwicklungspotenziale weltweit liegen
in der Hydrographie, der marinen Umweltschutztechnik
und als Grundlage, um die Offshoretechnik überhaupt
nutzen zu können, der Unterwassertechnik, wie Seekabel,
Öl- und Gaspipelines und die dazugehörige Logistik.
Der Grundlagenforschung dürfen nicht von vornherein
Scheuklappen aufgesetzt werden, auch nicht, wenn sie im
schicken Gewand von Klima- und Umweltschutz daher-
kommen. So schneiden wir deutschen Unternehmen gleich
zu Beginn der Entwicklung die Chancen ab, überlassen
den schnell wachsenden Weltmarkt anderen Ländern und
verhindern die Schaffung neuer, hochwertiger Arbeits-
plätze. Grundlagenforschung muss möglich sein, sonst
wandern unsere klügsten Köpfe weiter ins Ausland ab.
Unsere Forderungen an die Bundesregierung lauten:
erstens den Technologietransfer zwischen Wissen-
schaft und Wirtschaft im Bereich Meerestechnik mit Sys-
tem auszubauen;
zweitens Erweiterung der Forschungsförderung
sowohl für die Grundlagenforschung als auch für anwen-
dungsbezogene Projekte sowie die Vereinfachung der Be-
willigungsverfahren von Forschungs- und Entwicklungs-
anträgen;
drittens politische Unterstützung für die Installation
von Pilotanlagen;
viertens Unterstützung der kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen der Meeresforschungstechnik bei der
Bündelung und internationalen Vermarktung ihrer Pro-
dukte und Systeme;
fünftens Förderung der Teilnahme deutscher Firmen an
den Programmen internationaler Organisationen – insbe-
sondere bei internationalen Umweltprojekten – wie Welt-
bank, UNO und UNIDO durch zielgerichtete Information
potenzieller deutscher Teilnehmer;
sechstens Erstellung eines Gesamtkonzepts zum
Thema Ausbau der Meerestechnologie unter Berücksich-
tigung von Umwelt-, Klimaschutz- und Finanzierungsbe-
dingungen.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deutschland hat eine große Tradition im Schiffsbau und
in der Meerestechnik. Viele Arbeitsplätze sind direkt oder
indirekt mit der Meerestechnik verbunden. Der Rückgang
der Werftenindustrie muss aufgefangen werden durch
neue innovative Techniken. Daraus ergeben sich neue
Chancen für den riesigen Weltmarkt. Das Marktpotenzial
liegt weltweit über 150 Milliarden Euro.
Mit dem bereits im Jahr 2000 aufgelegten Forschungs-
programm „Schifffahrt und Meerestechnik für das 21.
Jahrhundert“ hat die Bundesregierung bereits erfolgreich
diese Herausforderung angenommen. Der vorliegende rot-
grüne Antrag baut auf diesem Forschungsprogramm auf
und will weitere Akzente setzen.
Vor allem die Umweltfreundlichkeit muss weiter in
den Mittelpunkt rücken: So gilt es, die bisherigen Mee-
restechnologien umweltfreundlicher zu gestalten. Die
Verschmutzung zum Beispiel bei der Ölgewinnung ist auf
null zu reduzieren. Die Energieversorgung der Meeres-
technikanlagen soll verstärkt auf erneuerbare Energien
umgestellt werden. Schmieröle aus Pflanzenölen, Wind-
kraft, Biomasse und Solarenergie zur Stromversorgung
reduzieren die Gefahr auslaufender Betriebsmittel und
den Schadstoffausstoß auf null. Die alltägliche Ver-
schmutzung mit Ölen wird dann der Vergangenheit an-
gehören.
Auch muss das Problem der giftigen Anstriche gelöst
werden. Hier hat es in der jüngsten Zeit mithilfe der Na-
notechnologie wichtige Fortschritte gegeben. Wir müssen
diesen Weg schnell weiter gehen.
Aquakulturen für die Produktion von Seefischen soll-
ten möglichst umweltfreundlich sein. Sie dienen dann
nicht nur dem Umweltschutz, sondern auch der Gesund-
heit der Verbraucher. Zudem ist das breite Spektrum der
Unterwassertechnik – zum Beispiel in der Kommunikati-
onstechnologie – auf den Schutz der Meerestiere auszu-
richten. Dabei geht es auch um Lärmschutz; denn Unter-
wasserlärm steht im Verdacht, die Wale zu schädigen.
Die Meerestechnik bekommt eine völlig neue Chance.
Diese Chance heißt erneuerbare Energien. Konkret han-
delt es sich um die Windenergie und die Meeresenergien
wie Meeresströmungskraftwerke, Wellenkraftwerke und
Gezeitenkraftwerke. Alleine in Deutschland sollen bis
2020 off-shore 25 000 MW an Windkraftanlagen instal-
liert werden. Dies ist eine große Chance für den Klima-
schutz und eine große Chance für die Werften.
Sehr vielversprechend sind auch die Anstrengungen
zur Nutzung der Meeresströmungen und der Wellenkraft.
Die ersten Pilotprojekte sind in Schottland, England und
Japan bereits im Entstehen. Auch die Gezeitenenergie hat
gute Chancen. Wir wollen die deutsche Industrie auch für
diese Energietechnologien der Zukunft fit machen.
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen die Meerestechnik
in vielen Bereichen. Aber wir verschweigen die Problem-
felder nicht. Angesichts der Klimagefahren wollen wir
keine Staatsmittel für die Exploration von fossilen Roh-
stoffen ausgeben. Diese Forschungsmittel müssen stattdes-
sen für klimaneutrale Technologien ausgegeben werden.
Besonders gefährlich wäre die Erschließung der Me-
thanhydrate. Die Schätzungen über deren Vorkommen ge-
hen weit auseinander. Wir halten es für sinnvoll, für die
Klimaforschung mehr über deren Vorkommen zu erfahren.
Für den Fall, dass diese Methanhydrate wirklich in großen
Mengen vorkommen, gehen wir aber ein unverantwortli-
ches Risiko ein, wenn wir diese Methanhydrate fördern;
denn das beim Verbrennen freigesetzte Kohlendioxid heizt
das Treibhaus Erde an. Lassen wir die Methanhydrate auf
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dem Meeresboden! Die Energie, die wir brauchen, geben
uns die Meere über Wind und Wellen, Meeresströmungen
und Gezeitenkraft. Wir müssen nur zugreifen. Es wäre
töricht, das Weltklima zu riskieren, indem wir auf einen
Rohstoff zurückgreifen, den wir nicht brauchen.
In dem heute zur Debatte stehenden gemeinsamen An-
trag von Rot-Grün sind die neuen Chancen der Meerestech-
niken gut herausgestellt. Damit werden dem Umweltschutz
und der deutschen Meerestechnik-Industrie gemeinsam
neue große Perspektiven eröffnet.
Ulrike Flach (FDP): Es ist schon ein starkes Stück,
wenn die Grünen unter dem Deckmantel einer Markter-
schließung für die Meerestechnik handstreichartig der
deutschen Meeresforschung einen Maulkorb anlegen
wollen, so geschehen in dem jüngsten Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem schönen Titel „Welt-
weite Märkte für Meerestechnik erschließen“. Wir müs-
sen uns heute mit diesem Antrag in der Debatte befassen,
da wir das den GRÜNEN nun wirklich nicht mehr durch-
gehen lassen können.
Sie wollen offensichtlich in Wahlkampfzeiten die
grüne Klientel bedienen. Mir ist aber wiederum sehr deut-
lich geworden, was die Grünen unter Fortschritt und Zu-
kunft sowie unter Wissenschaft und Forschung verstehen.
Doch die Forschung ist kein geeignetes Werkzeug um
Ideologien durchzusetzen. Ihre alten Kampfparolen sind
abgestumpft. Ich hätte mich heute auch nicht zu Wort ge-
meldet, wenn der ansonsten gute Antrag nicht eine so
deutliche Bruchstelle enthalten würde.
Aber jetzt zur wissenschaftlichen Betrachtung der Pro-
blematik. An fast allen Kontinentalrändern der Weltmeere
und unter Permafrostböden sind Gashydrate anzutreffen.
Heutige Schätzungen, gehen davon aus, dass die in den
Kontinentalrändern der Weltmeere und in den Permafrost-
regionen in Form von Gashydraten gespeicherte Menge
an Kohlenstoff die in Kohle-, Erdöl- und Erdgaslagerstät-
ten gespeicherte Menge um das Doppelte übersteigt. Ins-
gesamt dürften in den Gashydratvorkommen 10 000 Gi-
gatonnen Kohlenstoff gebunden sein. Im Vergleich hierzu
enthalten die bisher abgebauten und die bekannten Brenn-
stofflagerstätten etwa 5 000 Gigatonnen Kohlenstoff.
Eine kommerzielle Nutzung dieses riesigen Gaspoten-
zials liegt jedoch noch in weiter Ferne, da wir erst am Be-
ginn einer intensiven Grundlagenforschung stehen. Die
Entscheidung ob diese Reserven überhaupt zur Energie-
gewinnung genutzt werden, haben künftige Generationen
zu treffen.
Jedoch ist die Erforschung der Gashydratgenese, der
Gashydratvorkommen und der künftigen Nutzung der
Gashydrate nicht nur für die Sicherung von Energiere-
serven für künftige Generationen von außerordentlicher
Bedeutung, sondern gerade auch für das komplexe Ver-
ständnis des Geosystems Erde und des Weltklimas.
Industrienationen wie die USA, Japan, Russland und
Deutschland haben bereits strategische Forschungsini-
tiativen gestartet. Auch rohstoffarme Länder wie Indien
erforschen intensiv die Gashydratvorkommen an ihren
Kontinentalrändern.
Deutschland hat die bedeutende Rolle der Gashydrate
im Kohlenstoffkreislauf für die Stabilität des Meeresbo-
dens und vor allem für die Klimaentwicklung erkannt und
einen speziellen Förderschwerpunkt mit dem Titel „Gas-
hydrate im Geosystem“ eingerichtet. Derzeit werden Ver-
bundprojekte mit einem Finanzvolumen von rund 15 Mil-
lionen Euro gefördert.
Deutschland sieht in seinem Forschungsansatz nicht
nur den ökonomischen Aspekt der Gashydratforschung,
sondern öffnet auch den Blick für die Wechselwirkungen
zwischen Gashydratvorkommen und Umwelt.
Es ist bekannt, dass Methan als Treibhausgas wirksam
ist und somit Methankonzentrationen in der Atmosphäre
klimarelevant sind. Untersuchungen von Bremer Geo-
wissenschaftlern an Bohrkernen aus dem internationalen
„Ocean Drilling Program“ (ODP) im westlichen Nord-
atlantik belegen eine dramatische Erhöhung der Methan-
konzentration in der Atmosphäre und der damit verbun-
denen klimatischen Veränderungen. Es wird vermutet,
dass ein Ansteigen der Methankonzentration in den letzen
Jahrtausenden auf eine Veränderung der Stabilitätsbedin-
gungen der Gashydrate an den Kontinentalrändern und
eine damit verbundene Freisetzung von Methan zurück-
zuführen ist. Ähnliches könnte passieren, wenn die Tem-
peraturen in den Permafrostregionen weiter steigen und
damit zur Destabilisierung des Permafrostes und Freiset-
zung von Gashydraten führen.
Auch marine Georisiken, wie zum Beispiel die Auslö-
sung von Unterwasser-Hangrutschen wird auf zerfallende
Gashydrate zurückgeführt. Insofern verfolgt Deutschland
mit der Gashydratforschung eine Doppelstrategie, die in
der Verantwortung für das Weltklima und der Versorgung
künftiger Generationen mit Energie begründet liegt. Das
entspricht zugleich dem Anliegen einer nachhaltigen Ent-
wicklung.
Insofern möchte ich die Kollegen von der SPD bitten,
den entsprechenden Absatz im Antrag ersatzlos zu strei-
chen. Dann ist gegen den Antrag aus unserer Sicht nichts
einzuwenden.
Wolfgang Bierstedt (PDS): Nachts, wenn alles
schläft, befasst sich das Parlament virtuell mit einem Re-
gierungsantrag zur Markterschließung von Meerestech-
nik. Expansive Wirtschaftsbestrebungen im Schiffbau
werden heimlich still und leise im Dunkeln zu Protokoll
gegeben statt bei Tageslicht offensiv diskutiert.
Grundsätzlich ist die PDS dafür, dass Meerestechnik
ökologisch orientiert erforscht und entwickelt wird, die
zum Schutz der Meere geeignet ist, die keine Meerestech-
nologien zur Exploration oder dem Abbau fossiler Ener-
gieträger unterstützt und die interdisziplinär, anwendungs-
nah und global angelegt ist. Wir unterstützen die
Einschränkung und Unterlassung von Forschungen in
Meeren, die dem Klimaschutz und der Meeresflora und
Fauna abträglich sind.
Die Bundesregierung sieht zur Entwicklung bestimmter
meerestechnischer Technologienbereiche eine Koopera-
tion von KMU mit maßgeblicher Unterstützung durch
staatliche Einrichtungen und Institutionen vor. Solcherart
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Kooperationen gibt es im InnoRegio Projekt „Maritime Al-
lianz“ in Mecklenburg-Vorpommern, welches im Rahmen
des Forschungsprogramms „Schifffahrt und Meerestechnik
für das 21. Jahrhundert“ seit 2000 durchgeführt wird. Die
Zusammenarbeit von mittelständischen Unternehmen,
Kommunen und Banken unter anderem zu maritimen In-
novationen und regenerativen Offshore-Energiesystemen
in Verbundprojekten solcherart offener Netzwerke ist sehr
zu befürworten, da sich sonst diese Firmen und Einrichtun-
gen nie getroffen hätten. Der Erfolg des Gesamtprojektes
hängt leider derzeit von fehlenden Bewilligungsbescheiden
für circa 45 Prozent der Projekte ab. Diese Projekte können
ihre Arbeit erst verspätet beginnen. Die Netzwerksteuerung
benötigt doppelt so viel Mittel wie zunächst eingeplant.
Insgesamt ist die ordentliche Fortschreibung der Strukturen
von InnoRegio für 2003 noch ungeklärt. Hier muss die
Bundesregierung schnell tätig werden.
Die PDS unterstützt generell den Weg zur Energie-
wende – hin zu regenerativen Energien. Statt wie vorgese-
hen fünf solcher Offshore-Anlagen für die Windenergie
sollen nur noch zwei gebaut werden. Doch diese giganti-
schen Vorhaben der Offshore-Windparks können nicht die
einzige Perspektive sein. Die PDS meint, dass Energiever-
sorgung durch regenerative Energien forschungs-, ent-
wicklungs- und umsetzungsseitig in ihrer Vielfalt und in
der Breite für eine Energiewende 2050 angelegt sein muss.
Neben hohen Investitionen zum Anlagenaufbau, neuen
Leitungskapazitäten, Alternativen zur schnellen Abschal-
tung der Kapazitäten vom Netz bei Stürmen und einer Un-
tersetzung durch Grundlaststromkapazitäten besteht bei
Offshore-Windenergieanlagen Forschungsbedarf hinsicht-
lich der Effekte für Pflanzen und Tiere am Meeresgrund,
die durch die Verankerung von Stahlrohren mit drei Me-
tern Durchmesser zum Tragen der Anlagen und die Kabel-
verlegung am Meeresgrund verdrängt werden.
Wir unterstützen die Ansicht, dass keine Entwicklung
von Meerestechnik gefördert werden soll, die fossile
Energieträger ausbeutet. Dazu reicht es aber nicht aus,
kleinlaut einzugestehen, dass Ölunfälle und Verschmut-
zungen durch Offshore-Anlagen für die Erdölausbeutung
nicht ausgeschlossen werden können und die BRD einen
Know-how-Vorsprung für Rückbau und Entsorgung sol-
cher Anlagen hat. Wir erwarten von der Bundesregierung,
dass sie umgehend tätig wird, damit solche Anlagen ge-
schlossen werden. Denn nur ein bisschen ökologisch ist
wie „halbschwanger“.
Obwohl das neue UN-Seerecht die aktive Vermessung
der exklusiven Wirtschaftszonen als Grundlage der nach-
haltigen Nutzung maritimer Ressourcen verlangt, sind je-
doch die Kosten für hydrografische Maßnahmen nicht
den Entwicklungs- und Schwellenländern mit hohem
Küstenanteil aufzubürden. Dies sollten die Industrielän-
der selbst bezahlen und die Bundesregierung kann damit
– wie auch bei einer aktiven Werbung zum Schutz der
Meere in diesen Ländern – mit gutem Beispiel voran-
gehen. Die politische und wirtschaftliche Kooperation mit
Schwellen- und Entwicklungsländern zum Schutz der
Meere muss mit Regierungen und mit einheimischen
NGO (Umweltorganisationen) abgestimmt sein. Sie muss
auf die Nutzung der maritimen Ressourcen zur Sicherung
der Ernährungsgrundlagen in diesen Ländern selbst sowie
auf eine Nichtbewirtschaftung der Küstengewässer und
eine Kontingentierung der Fangquoten vor den Küsten
der Entwicklungsländer durch andere Länder ausgerichtet
sein.
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin