Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
23743
(C)
(D)
(A)
(B)
2) Anlage 131) Anlage 12
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23745
(C)
(D)
(A)
(B)
Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 17.05.2002
Gila DIE GRÜNEN
Bindig, Rudolf SPD 17.05.2002*
Bohl, Friedrich CDU/CSU 17.05.2002
Dr. Eckardt, Peter SPD 17.05.2002
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 17.05.2002
DIE GRÜNEN
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 17.05.2002
Land), Axel E.
Flach, Ulrike FDP 17.05.2002
Frankenhauser, CDU/CSU 17.05.2002
Herbert
Friedrich (Altenburg), SPD 17.05.2002
Peter
Dr. Gerhardt, FDP 17.05.2002
Wolfgang
Gilges, Konrad SPD 17.05.2002
Gleicke, Iris SPD 17.05.2002
Glos, Michael CDU/CSU 17.05.2002
Helling, Detlef CDU/CSU 17.05.2002
Hiksch, Uwe PDS 17.05.2002
Irmer, Ulrich FDP 17.05.2002
Jüttemann, Gerhard PDS 17.05.2002
Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 17.05.2002
Klinkert, Ulrich CDU/CSU 17.05.2002
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 17.05.2002
Dr. Kolb, Heinrich L. FDP 17.05.2002
Kolbow, Walter SPD 17.05.2002
Koschyk, Hartmut CDU/CSU 17.05.2002
Kossendey, Thomas CDU/CSU 17.05.2002
Kuhn, Werner CDU/CSU 17.05.2002
Leidinger, Robert SPD 17.05.2002
Lintner, Eduard CDU/CSU 17.05.2002*
Lippmann, Heidi PDS 17.05.2002
Dr. Lippold CDU/CSU 17.05.2002
(Offenbach), Klaus W.
Dr. Luther, Michael CDU/CSU 17.05.2002
Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ 17.05.2002
DIE GRÜNEN
Michels, Meinolf CDU/CSU 17.05.2002
Neumann (Gotha), SPD 17.05.2002
Gerhard
Nolte, Claudia CDU/CSU 17.05.2002
Ostrowski, Christine PDS 17.05.2002
Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 17.05.2002
Pieper, Cornelia FDP 17.05.2002
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 17.05.2002
Rauber, Helmut CDU/CSU 17.05.2002
Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 17.05.2002
Ronsöhr, CDU/CSU 17.05.2002
Heinrich-Wilhelm
Roos, Gudrun SPD 17.05.2002
Roth (Gießen), Adolf CDU/CSU 17.05.2002
Rühe, Volker CDU/CSU 17.05.2002
Sauer, Thomas SPD 17.05.2002
Scharping, Rudolf SPD 17.05.2002
Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 17.05.2002
Schily, Otto SPD 17.05.2002
Schmidt-Zadel, Regina SPD 17.05.2002
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 17.05.2002
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 17.05.2002
Schröter, Gisela SPD 17.05.2002
Schütze (Berlin), CDU/CSU 17.05.2002
Diethard
Schultz (Everswinkel), SPD 17.05.2002
Reinhard
Seehofer, Horst CDU/CSU 17.05.2002
Siemann, Werner CDU/CSU 17.05.2002
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Tappe, Joachim SPD 17.05.2002
Thiele, Carl-Ludwig FDP 17.05.2002
Voßhoff, Andrea CDU/CSU 17.05.2002
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 17.05.2002
Wilz, Bernd CDU/CSU 17.05.2002
Zierer, Benno CDU/CSU 17.05.2002*
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Grund-
gesetzes (Staatsziel Tierschutz) (Tagesordnungs-
punkt 21 a)
Hubert Deittert (CDU/CSU): Der Schutz der Tiere ist
im Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in unserer
Verfassung bereits verankert (Art. 20 a GG). Die Ein-
führung einer gesonderten Staatszielbestimmung Tier-
schutz in das Grundgesetz verbessert den Tierschutz nicht.
Tierschutz ist seit langem ein fester Bestandteil unse-
rer Rechtsordnung. Dem Tier als lebendem und fühlen-
dem Wesen kommt damit schon jetzt richtigerweise eine
hervorgehobene Stellung zu. Die Bundesrepublik
Deutschland gehört in der Europäischen Union zu den
Ländern mit den strengsten tierschutzrechtlichen Bestim-
mungen. Was wir erreicht haben, muss auch in Europa
verwirklicht werden. Dazu sind weitere, praktische Initia-
tiven zur einheitlichen Verbesserung des Tierschutzes in
Europa erforderlich. Probleme und Missstände im Tier-
schutz ergeben sich nicht in erster Linie aus unzureichen-
den rechtlichen Regelungen, sondern aus einer Miss-
achtung des Gesetzes. Verbesserungen für den Tierschutz
werden darum nicht nur durch weitere Rechtsnormen ge-
fördert, sondern durch die praktische Durchsetzung der
bestehenden. Eine programmatische Bestimmung als
Staatsziel kann verantwortliches Handeln der Exekutive
bei der Durchsetzung der rechtlichen Regelungen nicht
ersetzen.
Aus diesen Gründen lehne ich die Einführung einer ge-
sonderten Staatszielbestimmung Tierschutz in das Grund-
gesetz ab.
Renate Diemers (CDU/CSU): Dem Tierschutz haben
sich viele Menschen in unserem Land verschrieben und
tatsächlich gibt es noch viele Bereiche, insbesondere bei
der Nutztierhaltung, in denen Handlungsbedarf angezeigt
ist. Ich stimme der Grundgesetzänderung heute zu, da wir
als Menschen selbstverständlich auch den Tieren als Mit-
geschöpfen gegenüber eine Verpflichtung und Verantwor-
tung haben.
Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass wir bei
dieser Diskussion um Tierschutz die Verhältnismäßigkeit
gegenüber anderen Schutzbedürftigen, insbesondere der
Kinder, wahren sollten. Wir muten unseren Kindern sehr
viel zu; sie sind vielen Gefahren und Verlockungen aus-
gesetzt. Es wäre begrüßenswert, wenn sich all diejenigen,
die sich für den lobenswerten Tierschutz engagieren, mit
der gleichen Intensität auch dem Lebensschutz der Kin-
der, dem Jugendschutz und einer kinder- und familien-
freundlichen Gesellschaft widmen würden.
Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Ich stimme der
Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel im Grundgesetz
nicht zu, weil diese Grundgesetzänderung dem Tierschutz
nicht nutzen wird und rechtspolitisch höchst bedenklich
ist.
Der Schutz unserer Tiere gehört auch zu den Aufgaben
und Zielen des Staates. Der Tierschutz ist mir persönlich
besonders wichtig. Als aktiver und engagierter Tierschüt-
zer weiß ich, dass es viele Defizite auf diesem Gebiet in
unserem Lande gibt. Keines dieser Defizite wird jedoch
durch die Änderung des Grundgesetzes beseitigt. Weder
wird der gesetzliche Schutz der Tiere verbessert noch der
bestehende gesetzliche Schutz der Tiere dadurch besser
durchgesetzt. Im Gegenteil: Ich fürchte, dass ein Staats-
ziel Tierschutz von vielen Befürwortern als Alibi und
Vorwand genutzt wird, um die Durchsetzung eines besse-
ren Tierschutzes in der Praxis zu unterlassen. Die Grund-
gesetzänderung selbst wird jedoch überhaupt nichts be-
wirken. Keines der Vollzugsdefizite wird dadurch
beseitigt.
Ich fürchte, dass ein Staatsziel Tierschutz eine ähnliche
Wirkung haben wird wie das Staatsziel Naturschutz im
Art. 20 a des Grundgesetzes. Seitdem der Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen Staatsziel im Grundgesetz
ist, hat der Natur- und Umweltschutz in Deutschland nicht
etwa einen höheren Stellenwert erhalten, sondern syste-
matisch an Bedeutung verloren.
Ich wende mich gegen die rechts- und verfassungs-
politisch bedenkliche Vermehrung von Staatszielen im
Grundgesetz. Der Gesetzgeber muss selbst im Rahmen
seiner Gesetzgebungskompetenz staatliche Prioritäten
ordnen. Die Exekutive muss den Vollzug der bestehenden
gesetzlichen Regelungen gewährleisten. Dies kann nicht
durch programmatische Staatsziele im Grundgesetz er-
setzt werden. Es ist rechts- und verfassungspolitisch be-
denklich, das Grundgesetz um immer weitere program-
matische Ziele auszuweiten.
Wenn der Gesetzgeber zu der Einsicht kommen würde,
dass der gesetzliche Schutz unserer Tiere unzureichend
ist, so müsste er konkret bestimmen, was der Staat zum
besseren Schutz der Tiere tun soll. Der Schutz unserer
Tiere ist im Übrigen nicht allein durch den Staat zu ge-
währleisten. Es geht letztlich um einen verantwortlichen
Umgang der Menschen mit den Tieren. Mit dem Staats-
ziel Tierschutz wird die Illusion genährt, als ob der Tier-
schutz primär eine Sache des Staates sei. Er ist natürlich
auch eine staatliche Aufgabe, die allerdings nicht durch
eine Grundgesetzänderung erfüllt werden kann.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223746
(C)
(D)
(A)
(B)
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Werner Lensing (CDU/CSU): Als Berichterstatter
für Tierschutz im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung erkläre ich hiermit, dass ich
dem Antrag für eine Verankerung eines Staatsziels Tier-
schutz nicht zustimmen kann.
Begründung
Erstens. Die bis in die 12. Legislaturperiode hineinrei-
chende, tiefgründige Diskussion über eine Staatszielver-
ankerung „Tierschutz“ hat zu einem eindeutigen Ergebnis
geführt: Ein Staatsziel „Tierschutz“ ist für die wirklichen
Probleme wirkungslos, für die Verfassung schädlich und
für die deutsche tierexperimentelle Forschung bedrohlich.
Die eigentlichen unerträglichen Vergehen gegen Tiere
werden mit einer verfassungsmäßigen Verankerung des
Tierschutzes nicht einmal im Ansatz erreicht.
Zweitens. Die leidigen Tiertransporte etwa sind kein
Regelungsgegenstand des nationalen, sondern des euro-
päischen Rechts und werden juristisch durch ein Staats-
ziel Tierschutz keineswegs erreicht. Die vorhersehbare
Enttäuschung vieler Menschen, die durch die Verfas-
sungsänderung auf eine Verbesserung der Realität hoffen,
wird im Endergebnis der Rechtsverbindlichkeit der Ver-
fassung insgesamt schaden. Will der Gesetzgeber gegen
die Missstände bei der Massentierhaltung verschärfte
Maßnahmen ergreifen, muss er dies auf dem einfach ge-
setzlichen Weg tun.
Drittens. Ist also ein verbesserter konkreter Tierschutz
durch eine Staatszielverankerung nicht zu erkennen, so
kommt die Verfassungsänderung doch einem folgen-
reichen Paradigmenwechsel gleich. Dieser verändert die
Gesamtbalance innerhalb der Werteordnung des bisher
ausschließlich auf den Menschen bezogenen Grundgeset-
zes in gefährlicher Weise.
Viertens. Die folgenreichste Wirkung einer Staatsziel-
verankerung Tierschutz liegt jedoch in dem unverhältnis-
mäßigen „Sonderopfer Forschung“. Genau auf diesen
Punkt zielen die eigentlichen Interessen der Staatszielbe-
fürworter – wollen diese doch bewirken, dass Richter über
die Notwendigkeit von Tierversuchen letztverbindlich zu
entscheiden haben. Dabei haben wir in Deutschland im Be-
reich tierexperimenteller Forschung ein exzellentes, sehr
strenges, ja weltweit einmaliges Tierschutzgesetz. In kei-
nem Land der Welt unterliegen Tierversuche einer so engen
und lückenlosen Kontrolle wie in Deutschland. Gerade hier
ist eine Staatszielverankerung überflüssig und in seiner
Folgewirkung kontraproduktiv. Da nunmehr die Rangfolge
zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und dem
Staatsziel Tierschutz stets im Einzelfall festgestellt werden
muss, kommt eine beispiellose und massive juristische
Auseinandersetzung auf deutsche Wissenschaftler zu.
Fünftens. Die Konsequenzen liegen auf der Hand:
Niveau-Absenkung tierexperimenteller Forschung, Be-
hinderung internationaler Zusammenarbeit, Fehlen von
Planungssicherheit bei Forschungsprojekten, Qualifikati-
onsdefizite des wissenschaftlichen Nachwuchses, Verlust
von Arbeitsplätzen durch abgewanderte Forschungs- und
Industriestandorte.
Fazit: Man kann nicht auf der einen Seite innerhalb der
Biotechnologie den Anschluss Deutschlands an die Welt-
spitze fordern, auf der anderen Seite aber groß Hemm-
nisse für die Forschung aufbauen.
Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Als ehemalige Be-
richterstatterin für Tierschutz im Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung in der 12. Le-
gislaturperiode erkläre ich hiermit, dass ich dem Antrag
für eine Verankerung eines Staatsziels Tierschutz nicht
zustimmen kann.
Begründung
Erstens. Die bis in die 12. Legislaturperiode hineinrei-
chende, tiefgründige Diskussion über eine Staatszielver-
ankerung „Tierschutz“ hat zu einem eindeutigen Ergebnis
geführt: Ein Staatsziel „Tierschutz“ ist für die wirklichen
Probleme wirkungslos, für die Verfassung schädlich und
für die deutsche tierexperimentelle Forschung bedrohlich.
Die eigentlichen unerträglichen Vergehen gegen Tiere
werden mit einer verfassungsmäßigen Verankerung des
Tierschutzes nicht einmal im Ansatz erreicht.
Zweitens. Die leidigen Tiertransporte etwa sind kein
Regelungsgegenstand des nationalen, sondern des euro-
päischen Rechts und werden juristisch durch ein Staats-
ziel Tierschutz keineswegs erreicht. Die vorhersehbare
Enttäuschung vieler Menschen, die durch die Verfas-
sungsänderung auf eine Verbesserung der Realität hoffen,
wird im Endergebnis der Rechtsverbindlichkeit der Ver-
fassung insgesamt schaden. Will der Gesetzgeber gegen
die Missstände bei der Massentierhaltung verschärfte
Maßnahmen ergreifen, muss er dies auf dem einfach ge-
setzlichen Weg tun.
Drittens. Ist also ein verbesserter konkreter Tierschutz
durch eine Staatszielverankerung nicht zu erkennen, so
kommt die Verfassungsänderung doch einem folgen-
reichen Paradigmenwechsel gleich. Dieser verändert die
Gesamtbalance innerhalb der Werteordnung des bisher
ausschließlich auf den Menschen bezogenen Grundgeset-
zes in gefährlicher Weise.
Viertens. Die folgenreichste Wirkung einer Staatsziel-
verankerung Tierschutz liegt jedoch in dem unverhältnis-
mäßigen „Sonderopfer Forschung“. Genau auf diesen
Punkt zielen die eigentlichen Interessen der Staatszielbe-
fürworter – wollen diese doch bewirken, dass Richter über
die Notwendigkeit von Tierversuchen letztverbindlich zu
entscheiden haben. Dabei haben wir in Deutschland im Be-
reich tierexperimenteller Forschung ein exzellentes, sehr
strenges, ja weltweit einmaliges Tierschutzgesetz. In kei-
nem Land der Welt unterliegen Tierversuche einer so engen
und lückenlosen Kontrolle wie in Deutschland. Gerade hier
ist eine Staatszielverankerung überflüssig und in seiner
Folgewirkung kontraproduktiv. Da nunmehr die Rangfolge
zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und dem
Staatsziel Tierschutz stets im Einzelfall festgestellt werden
muss, kommt eine beispiellose und massive juristische
Auseinandersetzung auf deutsche Wissenschaftler zu.
Fünftens. Die Konsequenzen liegen auf der Hand:
Niveau-Absenkung tierexperimenteller Forschung, Be-
hinderung internationaler Zusammenarbeit, Fehlen von
Planungssicherheit bei Forschungsprojekten, Qualifika-
tionsdefizite des wissenschaftlichen Nachwuchses,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23747
(C)
(D)
(A)
(B)
Verlust von Arbeitsplätzen durch abgewanderte For-
schungs- und Industriestandorte.
Fazit: Man kann nicht auf der einen Seite innerhalb der
Biotechnologie den Anschluss Deutschlands an die Welt-
spitze fordern, auf der anderen Seite aber große Hemm-
nisse für die Forschung aufbauen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Günter Graf (Friesoythe)
(SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 25 d)
Dem heute zur Beratung anstehenden Gesetz zur Än-
derung des Absatzfondsgesetzes kann ich nicht zustim-
men. Ich unterstütze zwar mit Nachdruck die Neuorien-
tierung der Agrar- und Ernährungspolitik im Sinne einer
zukunftsfähigen und nachhaltigen Lebensmittelerzeu-
gung und die damit verbundene Modifizierung der Auf-
gabenstellung des Absatzfonds.
Meine Ablehnung zu diesem Gesetz wird allein da-
durch begründet, dass ich es für bedenklich halte, nicht an
der Finanzierung des Fonds beteiligte Verbände aus den
Bereichen ökologischer Landbau des Tier- und Umwelt-
schutzes ein Mitspracherecht im Verwaltungsrat ein-
zuräumen, da dies der notwendigen gruppennützigen Ver-
wendung des Beitragsaufkommens widerspricht.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Thomas Dörflinger (CDU/
CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Oktober 2001
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die
Durchführung der Flugverkehrskontrolle durch
die Schweizerische Eidgenossenschaft über deut-
schem Hoheitsgebiet und überAuswirkungen des
Betriebes des Flughafens Zürich auf das Hoheits-
gebiet der Bundesrepublik Deutschland (Gesetz
zu dem deutsch-schweizerischen Vertrag vom
18. Oktober 2001) (Tagesordnungspunkt 27 e)
Ich lehne diesen Entwurf eines Staatsvertrags zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft ab, weil er weder die Interessen der be-
troffenen Bevölkerung im deutschen Südwesten ausrei-
chend berücksichtigt noch mit dem Grundgesetz der Bun-
desrepublik Deutschland vereinbar ist.
Für meine Ablehnung mache ich folgende Gründe gel-
tend:
Erstens. Nachdem nach dem ablehnenden Entscheid in
der Verkehrskommission des schweizerischen National-
rats eine Zustimmung des Vertragspartners mehr als zwei-
felhaft ist, bindet sich die Bundesregierung durch die ein-
seitige Ratifizierung vorab in einer unnötigen Weise.
Sollte die Schweiz den Vertragsentwurf ablehnen, wird
Deutschland gefordert sein, eine einseitige Rechtsverord-
nung zur Klärung der offenen Fragen zu erlassen. Durch
die mit der Verabschiedung des Staatsvertrags auf deut-
scher Seite erfolgende Festlegung auf die dort genannten
Parameter wird eine jetzt noch mögliche restriktivere Fas-
sung der zu erlassenden Rechtsverordnung politisch un-
möglich. Dies verletzt die Interessen der hauptsächlich
betroffenen Bevölkerung in den Landkreisen Waldshut,
Konstanz und Schwarzwald-Baar in schwerwiegendem
Maße.
Zweitens. Es widerspricht der Tragweite des Vertrags-
inhalts, wenn die Dritte Beratung auf ausdrücklichen
Wunsch der Bundesregierung und der Koalitionsfraktio-
nen in verbundener Debatte mit weiteren, mit der Materie
nur mittelbar in Zusammenhang stehenden Tagesord-
nungspunkten vorgenommen wird. Offenbar sind sich
Bundesregierung und Koalitionsfraktionen des mangel-
haften Inhalts des Staatsvertragsentwurfs selbst bewusst,
denn ansonsten hätten sie eine Beratung innerhalb eines
eigenständigen Tagesordnungspunkts ermöglicht.
Drittens. Art. 24 Abs. 1 und Art. 87 d des Grundgeset-
zes der Bundesrepublik Deutschland regeln die Übertra-
gung von Hoheitsrechten und bestimmen eindeutig, dass
eine Übertragung von Hoheitsrechten – und um eine sol-
che handelt es sich bei der Übertragung der Luftverkehrs-
kontrolle – nur an zwischenstaatliche Organisationen
zulässig ist. Die im Staatsvertragsentwurf vorgesehene
Übertragung an die Schweizer Firma „Skyguide“ ist von
den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes
nicht gedeckt und folglich ist der Vertragsentwurf verfas-
sungswidrig.
Viertens. Die im Vertragsentwurf vorgesehenen Rege-
lungen betreffen ausschließlich das Hoheitsgebiet der
Bundesrepublik Deutschland. Wenn nun in Art. 17 des
Vertrags geregelt ist, dass die bilateralen Vereinbarungen
zwischen der EU und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft von dem Vertrag unberührt bleiben, impliziert dies
die Möglichkeit, die für das Hoheitsgebiet der Bundesre-
publik Deutschland vorgenommenen Beschränkungen
mit Verweis auf EU-Recht auszuhebeln, während das Ter-
ritorium der Schweizerischen Eidgenossenschaft hiervon
unberührt bleibt. Die Vehemenz, mit der die Schweiz in
den Vertragsverhandlungen auf dem erwähnten Art. 17
bestand, bestätigt dies.
Fünftens. Die vorgesehenen Beschränkungen hinsicht-
lich der An- und Abflüge auf Zürich-Kloten über deut-
sches Hoheitsgebiet sind insbesondere mit Blick auf die
zahlreichen und recht weit auslegbaren Ausnahmebestim-
mungen nicht dazu geeignet, die Tourismusregionen
Südschwarzwald und Bodenseeregion in ihrer wirt-
schaftspolitisch bedeutsamen Entwicklung vor der Beein-
trächtigung durch den Fluglärm zu schützen.
Sechstens. Der Vertragsentwurf lässt die Tatsache, dass
sich die Warteräume ausschließlich auf deutschem Staats-
gebiet befinden, unwidersprochen. Sonderbar ist in die-
sem Zusammenhang auch, dass das Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bislang
keine Veranlassung sah, gegen den Warteraum EKRIT,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223748
(C)
(D)
(A)
(B)
der sich über einer ganzen Reihe kerntechnischer Anlagen
– Kernkraftwerke Leibstadt und Beznau, Zwischenlager
Würenlingen – befindet, vorzugehen, was im Rahmen der
Vertragsverhandlungen durchaus möglich gewesen wäre.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Verbraucherinformationsge-
setzes (VerbIG)
– Beschlussempfehlung und Bericht:
– Antrag: Verbraucherinformationsgesetz effek-
tiv gestalten
– Entschließungsantrag: zu der Abgabe einer
Erklärung durch die Bundesregierung – Auf
dem Weg in eine verbraucherorientierte
Marktwirtschaft
– Entwurf eines Gesetzes zur Neuorganisation
des gesundheitlichen Verbraucherschutzes
und der Lebensmittelsicherheit
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ab-
satzfondsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 25 a bis d)
Ute Kumpf (SPD): Mit dem Verbraucherinformations-
gesetz gehen wir den Weg „Wissen ist Macht“. Verbrau-
cherschutz stellt sich nicht alleine durch materielle Vorga-
ben und ausreichende Kontrolle dieser Vorgaben her. Die
dritte Säule einer wirkungsvollen Verbraucherschutzpoli-
tik sind Information und der umfassende Anspruch auf
Auskunft für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Um sich am Markt selbstbestimmt als Konsument be-
haupten zu können, benötigen Verbraucherinnen und Ver-
braucher mehr Informationen, mehr Transparenz und
Klarheit über die Art der Produktion, der Inhaltsstoffe und
der möglichen Gefährdungen.
Alle hier im Hause beschwören den mündigen Bürger,
den mündigen Verbraucher, den aufgeklärten Verbrau-
cher. Richtig: Der Staat soll den Bürger nicht gängeln, der
Bürger will den Staat nicht vor der Nase haben, er
wünscht sich ihn an seiner Seite.
Im Gegensatz zur Opposition erfüllen wir den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern diesen Wunsch, tun was
für sie. Sie sind die Schlüsselfiguren für unsere Verbrau-
cherpolitik.
Denn Veränderungen am Markt können sich auf Dauer
nur dann durchsetzen, wenn der Verbraucher informiert
und befähigt wird, seine Macht tatsächlich mit dem Ein-
kaufskorb einzusetzen, und wenn er dies auch rational tut.
Verbraucherpolitik muss auf Aufklärung setzen.
Wird beispielsweise eine Salami von der Lebensmittel-
aufsicht vom Markt genommen, so können Behörden nach
derzeitiger Rechtslage über die Tatsache an sich informie-
ren, aber nicht über den Namen von Produkt oder Herstel-
ler. Auch die Information, welche Firmen regelmäßig ge-
gen das Lebensmittelrecht verstoßen, werden gegenwärtig
unter Verschluss gehalten – „Dienstgeheimnis“.
Ein aufgeklärter Verbraucher ist zunächst mal auf um-
fassende Informationen angewiesen. Ein Verbraucherin-
formationsgesetz muss daher den öffentlichen Zugang zu
staatlichen Prüfergebnissen und Bewertungen sicherstel-
len. Das tun wir. Mit Geheimer Verschlusssache ist dann
Schluss.
Mit dem Gesetz gilt: freier Zugang zu Informationen
über Produkte, die den Behörden vorliegen. Das gilt für
Bund, Länder wie Gemeinden, beispielsweise für die Le-
bensmittelüberwachungs- oder die Veterinäruntersu-
chungsämter.
Freier Zugang heißt, von den Behörden zu erfragen,
welche Informationen vorliegen, zu deren Beschaffenheit
oder zu den Herstellungsbedingungen, ob sie Allergene
enthalten oder welche sonstigen Untersuchungsergeb-
nisse vorliegen.
Freier Zugang zu Informationen heißt auch, die Behör-
den erhalten darüber hinaus das Recht, von sich aus über
bestimmte Sachverhalte, Grenzwerte, Risikostoffe usw.
aktiv zu informieren.
Auch beim Verstoß gegen verbraucherschützende Vor-
schriften werden die Behörden die Namen der Firmen be-
kannt geben können. Damit können schwarze Schafe be-
nannt werden.
Das ist nicht nur im Sinne der Verbraucher; daran
müssten auch die Unternehmen ein Interesse haben, die
sich vorschriftsmäßig verhalten, eine weiße Weste haben
und sich von Machenschaften anderer abgrenzen wollen.
„Wissen ist Macht“, das ist unser Weg, der der SPD.
Die Opposition, allen voran die CDU/CSU, verfährt
dagegen eher nach dem Spontispruch: Wissen ist Macht –
aber nichts wissen macht auch nichts. Denn ihr Ent-
schließungsantrag gaukelt Fortschrittlichkeit vor, ist letzt-
endlich scheinheilig, und bayuwarische Lüftlmalerei. Die
Forderung einen Auskunftsanspruch gegenüber Unter-
nehmen auf EU-einheitlicher Basis zu schaffen, ver-
schiebt die Lösung des Problems auf den Sankt-Nimmer-
leins-Tag. Auf diesen wollen wir nicht warten.
Ein Verbraucherinformationsgesetz, das sich auf Le-
bensmittel und Bedarfsgegenstände beschränkt und die
Unternehmen in der Informationspflicht außen vor lässt,
ist zwar ein kleiner Schritt, ich hätte mir auch einen größe-
ren Sprung gewünscht.
Es ist aber der erste Schritt, er geht in die richtige Rich-
tung und er geht vor allem vorwärts. Sie trippeln mit ihrem
EU- Konzept auf der Stelle, kreiseln um sich selbst, täu-
schen ein Ja vor, das letztendlich ein Nein darstellt, weil
ihre Forderungen nicht realisierbar sind und der Verbrau-
cher mit vielen Versprechungen alleine gelassen wird.
Wir behalten die Unternehmen im Auge, wir entlassen
sie nicht aus ihrer Verantwortung. Sie sind beim ersten
Schritt mit dabei, wenn sie sich durch Selbstverpflichtung
als verbraucherfreundlich beweisen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23749
(C)
(D)
(A)
(B)
Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und ehemaliger Chef-
ökonom der Weltbank, hat schon früh darauf hingewie-
sen, dass informierte Verbraucher wichtige Partner der
Marktwirtschaft sind.
Bei einem Markt für Güter mit Qualitätsmängeln hilft
ihr Wissen, bessere Kaufentscheidungen zu treffen. Sie
sind Vorbilder für andere Verbraucher, tragen durch ihre
Kaufentscheidung zur Qualitätssicherung bei.
Eine vorsorgende Verbraucherpolitik ist ein positiver
Standortfaktor. Wenn die Nachfrageseite gestärkt wird,
der Verbraucher zum Verbündeten wird, dann können
nachteilige Folgen des Wettbewerbs für die nationale
Wirtschaft, für die sozialen, ökologischen und kulturellen
Lebensbedingungen abgewehrt werden.
Auf dieses Ziel hin arbeiten wir. Schritt für Schritt.
Jella Teuchner (SPD): Wir verabschieden heute das
Verbraucherinformationsgesetz. In Zukunft haben die
Kunden nicht mehr die Wahl zwischen Schinken oder kei-
nem Schinken – sie wissen, wer zu viel Wasser in den
Schinken spritzt, und können von Anbietern kaufen, die
fair mit dem Kunden umgehen. Wir geben den Kunden die
Wahlfreiheit und schützen die Anbieter, die weder täu-
schen noch tricksen. Hier ändert sich die Rechtslage, hier
machen wir einen wichtigen Schritt nach vorne.
Als Anfang diesen Jahres Schinkenprodukte auftauch-
ten, die zu viel Wasser enthielten, konnten die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher nicht feststellen, ob in ihrem
Einkaufswagen Schinken oder Wasser liegt. Eine Ge-
sundheitsgefährdung lag nicht vor, Ross und Reiter durf-
ten von den Behörden nicht genannt werden. Die bishe-
rige Rechtslage nimmt hier den Kunden die Wahlfreiheit
und schützt die Anbieter, die täuschen und tricksen. Dies
soll in Zukunft anders werden.
Die Frage, auf die wir heute eine Antwort geben, lau-
tet: Wollen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern
die Informationen geben, die sie für bewusste Kaufent-
scheidungen brauchen? Wir sollten sie alle mit Ja beant-
worten.
Wir sollten aber auch Ja zu dem Vertrauen sagen, dass
wir dadurch in Bezug auf die Sicherheit von Lebensmit-
teln und Bedarfsgegeständen schaffen. Bisher lauten Be-
hörden-Auskünfte doch so: „Wir überwachen diese Pro-
dukte, es gibt keine Gefährdung.“ Mich wundert es nicht,
dass die Medien bei solchen Aussagen über ein Vertu-
schen spekulieren. Oder sind Ihre Zweifel bei einer sol-
chen Antwort ausgeräumt?
In Zukunft werden die Behörden sagen: „Wir haben
diese Produkte überprüft. In Produkt A haben wir diesen
Stoff gefunden. Die betroffenen Waren wurden aus dem
Handel genommen. Andere Produkte des Herstellers sind
nicht betroffen.“ Diese Aussage wird nicht als Geheim-
niskrämerei ausgelegt werden. Sie signalisiert zum einen
Offenheit der Behörde, zum anderen aber auch verant-
wortliches Handeln des Unternehmens.
Das Ziel, das wir alle verfolgen, ist: bewusstes Kauf-
verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher und ver-
antwortliches Handeln der Unternehmen. Wir begrüßen,
dass die Unternehmen in den Diskussionen betont haben,
dass eine offene Informationspolitik auch für sie von
großer Bedeutung ist. Wir nehmen das auch auf: Es ist
jetzt vorgesehen, dass die Unternehmen zunächst selbst
informieren können. Unternehmen, die verantwortlich
handeln, sollen dies auch nach außen darstellen können.
Was wir aber nicht mehr wollen, ist, dass unverant-
wortlich Handelnde geschützt werden. Wie war es denn
beim Schinken? Bis heute wissen die Käufer nicht, wel-
che Firma sich nicht an die Regeln gehalten hat. Ihre ein-
zige Reaktionsmöglichkeit: Sie gehen davon aus, dass je-
der Schinken schlechte Qualität hat. Sollen wir wirklich
zulassen, dass ein klassischer Lemon-Markt entsteht?
Sollen wir wirklich zulassen, dass dadurch Qualität vom
Markt verschwindet? Sicher nicht. Deswegen müssen die
Behörden für Transparenz sorgen – und wir geben ihnen
mit dem Verbraucherinformationsgesetz die Möglichkeit
dazu.
Wir geben den Behörden eine neue Aufgabe, wir ma-
chen ihr Handeln öffentlich. In Zukunft dürfen sie Ross
und Reiter nennen, die Verbraucher können feststellen,
was für Ergebnisse die Behörden vorliegen haben. Dies
gibt auch den Verbraucherverbänden und den Medien
neue Möglichkeiten an die Hand. Das ist kein Placebo-
Gesetz, das ist ein großer Schritt nach vorn.
Versuchen Sie bitte nicht, dieses Gesetz auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag der europäischen Harmonisierung zu
verschieben. Und: Passen sie auf, dass die Reden zur Be-
deutung der Verbraucherinformation nicht reine Lippen-
bekenntnisse bleiben. Wenn ich mir den Antrag der
CDU/CSU anschaue, dann wird eigentlich ein weiter-
gehendes Gesetz gefordert. Gleichzeitig sehe ich aber,
dass in den Beratungen keine Mühen gescheut wurden,
dieses Gesetz zu verhindern. Wenn dann noch in einer
Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus-
gerechnet der bayerische Verbraucherminister zum Kron-
zeugen gemacht wird, dann fragt man sich, ob das an der
katastrophalen Informationspolitik der bayerischen Staats-
regierung im BSE-Test-Skandal oder an nicht erfüllten
Kontrollvorgaben in Bayern liegt.
Mit dem Verbraucherinformationsgesetz können und
müssen Behörden ihr Wissen offen legen. Machen Sie mit
uns diesen Schritt. Sie helfen den Verbrauchern. Und Sie
helfen den verantwortlich handelnden Unternehmen.
Albert Deß (CDU/CSU): Aus Sicht der Verbraucher
und der Bauern beschert uns die Bundesregierung und die
rot-grüne Koalition mit den vorliegenden Gesetzentwür-
fen einen schwarzen Freitag. Auf brutalste Weise wird
hier gegen jeden Sachverstand Ideologie gesetzlich um-
gesetzt. Die Folgen sind mehr Bürokratie, ein Weniger an
Verbraucherschutz und ein Mehr an Wettbewerbsnachtei-
len für die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft.
Bevor ich auf die vorliegenden Gesetzentwürfe ein-
gehe, möchte ich jedoch meine Entrüstung zu der Sensa-
tionsgier mancher grüner Politiker zum Ausdruck brin-
gen. Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass sowohl der
grüne Europapolitiker Graefe zu Baringdorf als auch der
Kreistagsabgeordnete Coldewey ein abgekartetes Spiel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223750
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mit dem WDR getrieben haben, indem sie mit Tiermehl
vermischtes Tierfutter aus ihren Betrieben an die land-
wirtschaftlichen Untersuchungsanstalten in Oldenburg
und Hameln geschickt haben. Angeblich haben sie diese
rechtlich und moralisch fragwürdige Handlung durchge-
führt, um die Analysequalität der Untersuchungsanstalten
zu testen. In Wirklichkeit hatte man wohl gehofft, einen
Riesenskandal loszutreten, um für die grüne Agrarpolitik
Punkte sammeln zu können. Pech für die sensationshung-
rigen Politiker war, dass beide Untersuchungsanstalten
das beigemischte Tiermehl einwandfrei analysieren konn-
ten. Die aufgrund des vorhandenen Tiermehls gesetzlich
vorgeschriebene Beschlagnahmung und Tötung der Tiere
der beiden Betriebe konnte glücklicherweise in letzter
Minute verhindert werden, weil die abgekartete Aktion
aufgedeckt wurde.
Diese den Verbraucher verunsichernde und den Tier-
schutz missachtende Aktion ist ein erneuter Beweis dafür,
wie kaltschnäuzig grüne Politiker bereit sind, Lebensmit-
telskandale für ihre politischen Zwecke zu produzieren.
Es ist gut, dass ihnen die exzellente Arbeit der Landwirt-
schaftlichen Untersuchungs- und Forschungsanstalten ei-
nen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Bäuerliche
Existenzen sind ihnen dabei genauso gleichgültig wie das
Leben von Tieren oder eine weitere Verunsicherung der
Verbraucher. Die Grünen fordere ich auf, sich vom Ver-
halten ihres Europaabgeordneten Graefe zu Baringdorf zu
distanzieren.
Die von Ministerin Künast vorgeschlagene Schaffung
von zwei neuen Behörden im Bereich des Verbraucher-
schutzes wurde im Rahmen der hierzu durchgeführten
Anhörung von den meisten Experten, unter anderem auch
vom Bundesverband der Verbraucherschutzzentralen und
den Gewerkschaften, zu Recht in dieser Form als ineffi-
zient, bürokratisch und organisatorisch in die falsche
Richtung gehend kritisiert. Die institutionelle Trennung
von Risikomanagement und -bewertung bewirke nach
einstimmiger Meinung der Sachverständigen gerade nicht
die Vereinfachung von Kommunikationswegen und Ent-
scheidungsprozessen, sondern schaffe lediglich ein neues,
schwerfälliges System, mit dem im Krisenfall nicht effi-
zient reagiert werden könne.
Man appellierte hingegen dafür, wie bereits von
CDU/CSU seit langem gefordert, nur eine Behörde zu
errichten und unter einem Dach Risikobewertung und
-management, gegebenenfalls getrennt nach Abteilun-
gen, anzusiedeln.
Bestätigt wurde auch die Kritik von CDU/CSU, dass
mit dieser Neuorganisation nicht die gesamte Breite des
Verbraucherschutzes im nachgeordneten Bereich abge-
deckt wird. Aus unserer Sicht muss das neue Amt eine
Sensor- und Aufklärungsfunktion für alle Belange des
Verbraucherschutzes haben.
Als Ohrfeige muss Ministerin Künast die Kritik insbe-
sondere der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie werten, dass mit dieser Neuorganisation Arbeits-
plätze verloren gehen. Besonders negativ werde sich dies
auf die Zulassung von Pflanzenschutz- und Tierarznei-
mittel auswirken. Das ganze Verfahren werde bürokra-
tisch gestreckt und für die Firmen unzumutbar, sodass es
zu Produktionsverlagerungen ins Ausland kommen
werde. Ebenso wie der Bundesrat wiesen auch die Sach-
verständigen eindeutig auf die Zustimmungsbedürftigkeit
und auf weitere Rechtsmängel dieses Gesetzes hin.
Nach dieser Expertenrunde müsste somit auch den Re-
gierungsfraktionen klar geworden sein, dass Ministerin
Künast ihnen mit diesem Gesetzentwurf ein Kuckucksei
ins Netz gelegt hat. Konsequenterweise müsste daher das
unselige Werk sofort von der Bundesregierung zurück-
gezogen werden. Die CDU/CSU wird jedenfall weiterhin
mithilfe unserer Bundesländer mit Nachdruck das In-
Kraft-Treten dieses unzulänglichen Gesetzes zu verhin-
dern versuchen.
Künasts Agrar- und Verbraucherschutzpolitik nimmt
immer mehr die Züge einer Ökodiktatur an. Jetzt sollen
per rot-grünem Gesetz Vertreter des Tier- und Umwelt-
schutzes und der Verbraucherzentralen in den Verwal-
tungsrat des Absatzfonds gesetzt werden. Der Absatz-
fonds, dessen Aufgabe die Werbung für deutsche
Nahrungsmittel im In- und Ausland ist, finanziert sich
vollständig aus den Pflichtabgaben der Erzeuger und Ver-
arbeiter landwirtschaftlicher Produkte. Tierschutz- und
Umweltschutzverbände oder Verbraucherzentralen zah-
len keinen Cent in den Absatzfonds ein.
Es gleicht einer Enteignung, wenn von den Bauern
Gelder abkassiert werden, über die dann andere mit ent-
scheiden. Wenn Tier-, Umwelt- und Verbraucherschützer
im Verwaltungsrat sitzen sollen, dann müssen sie auch
entsprechende Pflichtbeiträge zum Absatzfonds leisten.
Wer in der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft
mitstimmen will, muss schließlich auch vorher Aktien ge-
kauft haben.
Frau Künast, letztendlich kann ich Ihnen nur raten:
Nehmen Sie die Gesetze zurück und überlassen Sie solch
schwierige Aufgaben der neuen unionsgeführten Regie-
rung! Im Gegensatz zu Ihnen werden wir als Regierungs-
verantwortliche den Verbraucherschutz ernst nehmen und
nicht populistisch instrumentalisieren.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Künast,
Ihr Verbraucherinformationsgesetz geht an der Realität
vorbei, an der deutschen wie an der europäischen. Es ent-
spricht nicht dem Informationsbedürfnis der Menschen,
es passt nicht zu den Gegebenheiten in der Wirtschaft und
in den Ländern, und es kann nicht halten, was Sie ver-
sprechen.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Aller-
gene. Sie werben damit, dass die Verbraucher sich durch
dieses Gesetz besser über das Vorhandensein von Aller-
genen in Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen infor-
mieren können sollen. Das ist ein lobenswertes Vorhaben,
denn wir alle wissen, dass die Zahl der Allergiker in
Deutschland stetig zunimmt. Die Kenntnis über einen
Stoff, der eine Allergie auslöst, kann unter Umständen
lebenswichig sein. Man denke an die vielen Fertigprodukte
mit unübersehbar vielen Zutaten oder an Hülsenfrüchte wie
Erdnüsse oder Getreidesorten, wie Weizen, bei denen ge-
ringste Mengen in einem Joghurt oder in einer Suppe aus-
reichen können, um die allergische Reaktion auszulösen.
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(Extrem-Folge: Tod aufgrund Lebensmittel – Anaphyla-
xie) Sie wollen hier den Menschen helfen. Aber was pas-
siert? Schauen Sie sich die Situation in Deutschland doch
einmal an:
Nach Ihrem Gesetz müssen die Menschen sich schrift-
lich an eine Behörde wenden, die Auskunft geben soll
über bei ihr vorliegende Daten. Als Antwort wird der Ver-
braucher erhalten, dass die Behörde leider keine Auskunft
erteilen kann. Warum nicht? Die Frage eines Allergens ist
eine Frage der inhaltlichen Zusammensetzung eines Pro-
dukts, sozusagen des Rezepts, und darüber liegen bei den
Behörden keine Daten vor. Sie selbst haben ja zugegeben,
dass niemand um sein „Coca-Cola-Geheimnis“ fürchten
müsse. Und da die Behörde auch nicht verpflichtet ist,
sich Informationen zu beschaffen, ist der Verbraucher ge-
nauso schlau wie vorher. Ihr Gesetz nutzt ihm nichts!
Überdies ist Ihr Gesetz in weiten Teilen nicht nötig:
Denn EU-weite Kennzeichnungsregelungen stehen be-
vor, die das Informationsbedürfnis der Verbraucher über
Fragen wie Allergene abdecken werden. Diese betreffen
zum einen das Lebensmittelrecht und zum anderen Kos-
metika. Dann werden Anfragen gegenüber Behörden gar
nicht mehr nötig sein. Umfassend EU-Recht umgesetzt
haben Sie dagegen, obwohl erforderlich, nicht (zum Bei-
spiel Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG).
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wie sieht es mit der
Hygiene zum Beispiel in einem Restaurant aus? Das er-
fahren zu wollen, ist ein ebenfalls berechtigtes Interesse.
Auch hier muss der Verbraucher einen Antrag stellen,
schriftlich, der erst einmal bearbeitet werden muss. Es
verstreicht Zeit, bis der Verbraucher die Auskunft erhält –
den ersten Hunger dürfte der Verbraucher jedenfalls mit
der mitgebrachten Stulle gestillt haben, bis die behördli-
che Auskunft erteilt wird. Wäre ein Restaurant dagegen
beispielsweise verpflichtet, Ergebnisse von Kontrollen
auszuhängen, ließe sich diese missliche Situation leicht
bereinigen und Verbraucher und Wirt wären zufrieden!
Wenn der Verbraucher dann aber die behördliche Aus-
kunft erhält, wird er womöglich Pech haben und die Aus-
kunft ist veraltet. Denn wie oft werden Lebensmittelkon-
trollen durchgeführt? Auf einen Lebensmittelkontrolleur
kommen bis zu 1 300 Betriebe, die er in seinem Bereich
kontrollieren muss, und das bei zwei bis vier Kontrollen
pro Tag. Das bedeutet: ein Betrieb kann dann nur alle drei
Jahre kontrolliert werden! Und das wollen Sie den Men-
schen als Information verkaufen, aufgrund derer die Men-
schen ihre Entscheidung fällen sollen!
Frau Ministerin, Ihr Gesetz ist für das, wofür Sie es an-
preisen, schlicht untauglich. Es gaukelt den Menschen et-
was vor, was es nicht halten kann. Das Ergebnis wird sein,
dass die Verbraucher sich mit ihren Fragen doch direkt an
die Unternehmen wenden werden, denn die sind die wirk-
lichen Informationsquellen. Das können die Menschen
aber auch schon heute. Dazu braucht es dieses Gesetz je-
denfalls nicht.
Erstens. Die Union begrüßt alle Vorhaben, die die
Transparenz auf den Märkten stärken und damit die Stel-
lung der Verbraucher. Die Bündelung der Informations-
rechte in einem Verbinformationsgesetz ist dazu auch der
richtige Weg. Die Union fordert aber Regelungen, die we-
der die Wirtschaft noch die Verbraucher überfordern, son-
dern den Menschen auf sachgerechte und verständliche
Weise zu mehr Information verhelfen.
Zweitens. Unverzeihlich ist die Art, wie Sie dieses Ge-
setz auf den Weg gebracht haben: die Eile, mit der Sie die-
ses Gesetz (wie auch das Gesetz zur Neuorganisation der
nachgeordneten Behörden und das Absatzfondsgesetz)
vorantreiben, und die der umfassenden Bedeutung der
Verbraucherinformation und dem „rechtlichen Neuland“,
wie Sie es selbst nennen, vollkommen unangemessen ist
dieses Gestolpere von einem unausgegorenen Referente-
nentwurf zum mangelhaften Gesetzesentwurf bis zu hek-
tisch nachgeschobenen Änderungen vor drei Tagen, durch
die wesentliche Mängel immer noch nicht beseitigt sind;
und dass Sie auch noch die Kommunalen Spitzenver-
bände bei einem Gesetz, das vor allem in den Kommunen
umgesetzt wird, bei der Vorarbeit einfach vergessen ha-
ben.
Das zeigt einmal mehr die Laienhaftigkeit, mit der Sie
Ihr Amt ausüben. Da können Sie von Glück reden, dass
da, wo das eigene Haus wahrscheinlich wieder damit be-
schäftigt war, Akten zwischen den Schreibtischen hin-
und herzutragen, andere für Sie mitdenken!
Drittens. Das Gesetz ist ja im Lauf des Verfahrens zu-
sammengeschrumpelt wie eine austrocknende Pflaume.
Da sind zum Beispiel die Dienstleistungen ganz aus den
Überlegungen herausgenommen worden, nicht nur aus
diesem Gesetz, sondern grundsätzlich! Und dann sind
auch ganze Produktgruppen herausgefallen, über die sich
viele Verbraucher informieren wollen, wie zum Beispiel
die Handys.
Viertens. Die Haftungsfragen: Wenn die Behörden
keine Pflicht haben, Sachverhalte zu ermitteln, sondern
sich auf Vorhandenes beschränken müssen, dann reicht es
für die möglichen Fälle einer behördlichen Fehlinforma-
tion nicht aus, sich auf die Allgemeinen Amtshaftungsre-
gelungen zurückzuziehen. Das passt nicht zusammen!
Fünftens. Es reicht erst recht nicht aus, dass als Vo-
raussetzungen für die behördliche Information schon
vage Vermutungen unterhalb der Gefahrenschwelle die-
nen können. Da passiert es dann wie in Schweden, wo
voreilig wegen angeblich krebserregender Stoffe in Kar-
toffelchips Panik erzeugt wird – und dem vorsorgenden
Gesundheitsschutz hat man damit einen Bärendienst er-
wiesen.
Sechstens. Statt den Kennzeichnungsdschungel zu
durchforsten und die Unternehmen darin zu unterstützen,
ihre eigene Informationsaktivität auszubauen und ver-
brauchergerecht darzustellen, frönen Sie einmal mehr
dem Bürokratismus und der Politik des schönen Scheins.
Aber: Nicht alles, was glänzt, ist auch Gold. Das Gesetz
ist für die Praxis untauglich und geht an den wirklichen
Interessen der Menschen vorbei.
Was aber das Schlimmste ist: Sie werden damit in dem
Thema der Verbraucherinformation in seiner übergreifen-
den Bedeutung nicht gerecht. Es gibt schon jetzt eine Viel-
zahl an Informationsrechten und -pflichten (Zivilrecht,
öffentliches Recht). Es gibt schon jetzt eine ganze Palette
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von Informationsmöglichkeiten: von Zeitschriften über
Fernsehsendungen, Internet bis zur Arbeit der unabhängi-
gen Verbraucherorganisationen. Schon jetzt betreiben Un-
ternehmen eine aktive Informationspolitik, man denke an
Faltblätter an Käsetheken und Hotlines. Und nicht zu ver-
gessen sind die unterschiedlichen Informationsbedürf-
nisse der Menschen und Fähigkeiten, neue Informationen
aufzunehmen. Das alles ignorieren Sie mit der einseitigen
Ausrichtung auf die behördliche Information!
Sie hätten umfassend Verbesserungen in Angriff neh-
men sollen, wie man die verschiedenen Elemente der Ver-
braucherinformation in ihrem Angebot verbessern kann,
zusammen mit Handel und Industrie, und unter Berück-
sichtigung der Leistungsfähigkeit der Länder. Und wie
man die Menschen dazu bewegen und befähigen kann, die
vorhandenen Angebote besser auszunutzen. Diese
Chance haben Sie nicht genutzt!
Frau Künast, Sie sind in der politischen Realitiät noch
nicht angekommen. Sie ignorieren die Wirklichkeit und
Sie blenden die Menschen! Wie man Politik für die Men-
schen macht, für die Verbraucher, wie man die Verbrau-
cher weiterbringt und dies für Wirtschaft verträglich ge-
staltet, das haben Sie immer noch nicht begriffen!
Ich habe Ihr Informationsgesetz einen schlappen Lap-
pen genannt. Ich sage nun: Es ist ein Lappen, mit dem Sie
ein letztes Mal am Image der Grünen in der Regierung zu
polieren versuchen. Aber nicht einmal dazu wird es tau-
gen. Denn die Menschen haben einen klaren Blick, sie las-
sen sich nicht blenden. Sie wissen zwischen Schein und
Sein zu unterscheiden.
Gudrun Kopp (FDP): Das Verbraucherinformations-
gesetz der rot-grünen Bundesregierung ist nicht akzep-
tabel. Es ist unausgewogen und praxisfern. Über die Län-
der und deren Kommunen hinweg werden nicht bezifferte
Mehrkosten verursacht und Gebühren für die Verbraucher
die Folge sein, und zwar für wenig Informationsgewinn.
Ein bürokratisches Antragsverfahren für Auskünfte krönt
dieses überflüssige „Placebo-Gesetz“.
Die FDP setzt dagegen auf eine freiwillige Informati-
onspolitik der Anbieter. Dazu bedarf es einer transparen-
ten „Dreieckskooperation“ zwischen Wirtschaft, Behör-
den und Verbrauchern. Innovative Unternehmen haben
nämlich längst erkannt, dass eine offensive Informations-
politik einen Marktvorteil bedeutet.
Das will die FDP: erstens mehr Verbraucherinforma-
tionen durch den Aufbau einer Datenbank mit Basisinfor-
mationen über Produkte und Dienstleistungen durch Un-
ternehmen auf freiwilliger Basis, zum Beispiel über eine
Kooperation von Firmen auf Verbandsebene oder inner-
halb einer Stiftung, zweitens Präzisierung von Produkt-
kennzeichnungen in einfacher und verständlicher Form,
drittens ausreichende Lebensmittelkontrollen in den Län-
dern sicherstellen, viertens Verständlichkeit und Verbrau-
chertauglichkeit von Gesetzestexten mittels „Gesetzes-
TÜV“ gewährleisten, fünftens das Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb, UWG, wirtschafts- und ver-
braucherbezogen modernisieren und sechstens Verbrau-
cherthemen – wie Rechts- oder Ernährungsfragen – im
Schulunterricht verankern, in der Lehrerausbildung, im
Lehrplan als Basis-Unterrichtsinhalte.
Das Produktsicherheitsgesetz regelt schon heute Ver-
fahren bei sicherheitsrelevanten Produktmängeln. Würden
alle vorhandenen Regelungen und Gesetze zur Produkt-
sicherheit und die vorgenannten freiwilligen Maßnahmen
zunächst zügig und konsequent umgesetzt, wäre die Not-
wendigkeit für ein Verbraucherinformationsgesetz zur
Umsetzung der EU-Richtlinie zumindest fraglich.
Zeit zum Erörtern und Prüfen, welche Maßnahmen da-
rüber hinaus zu treffen sind, besteht noch bis zum Jahr
2004. Sorgfalt muss Vorrang vor Schnelligkeit haben.
Deshalb verlangt die FDPdie Rücknahme des ideologisch
geprägten „Placebo-Gesetzes“.
Die FDP lehnt den Gesetzentwurf zur Neuorganisation
des gesundheitlichen Verbraucherschutzes ab. Bürokra-
tisch aufgebauscht sieht die rot-grüne Bundesregierung
nämlich die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln mit 4
– statt bisher 2 – Behörden vor. Die FDP erwartet ein
Kompetenzwirrwarr mit unklaren Verantwortlichkeiten
und Kostensteigerungen. Der Entwurf der Ministerin
Künast widerspricht dem von-Wedel-Gutachten, das ver-
nünftigerweise eine Bündelung von Aufgaben vorsieht.
Heidemarie Lüth (PDS): Die Gesetzesvorlagen der
Bundesregierung zum Verbraucherschutz wie auch an-
dere aktuelle Projekte erinnern mich an einen Schüler
kurz vor der Versetzung. Andauernde Untätigkeit über ei-
nen langen Zeitraum soll hastig durch kurzfristige Emsig-
keit kompensiert werden. Das führt nie zu guten, sondern
allenfalls zu knapp ausreichenden Ergebnissen. Manch-
mal geht es aber auch ganz daneben.
Der vorgelegte Entwurf eines Verbraucherinforma-
tionsgesetzes fällt deutlich etwa hinter den Entwurf des
Landes Niedersachsen zurück. Informationsrechte muss
es auch gegenüber den Unternehmen geben, die Produkte
und Dienstleistungen anbieten. Das gilt umso mehr, als
wichtige Anbieter von Leistungen der Daseinsvorsorge
privatisiert wurden.
Nicht zu rechtfertigen ist auch die in den Ausschuss-
beratungen aufrechterhaltene Beschränkung auf Lebens-
mittel und Verbrauchsgegenstände. Das greift angesichts
der unüberschaubaren Menge anderer Produkte und
Dienstleistungen zu kurz. Ich nenne nur die Finanzdienst-
leistungen von der Riesterrente bis zum Immobilien-
erwerbermodell und die Pflegeleistungen. Uns gefallen
auch nicht die im Gesetz aufgelisteten vielfältigen Ein-
schränkungen des Informationsanspruchs. Das lädt gera-
dezu zur missbräuchlichen Verweigerung von Informa-
tionen ein.
Allerdings sind wir gespannt, wie das Informations-
recht in der Praxis tatsächlich ausgestaltet wird, wie etwa
ganz konkret Akteneinsicht gewährt wird. Darauf werden
wir ein Auge haben, nicht nur um Mängel zu kritisieren,
sondern auch um positive Erfahrungen verallgemeinern
zu können. Das könnte auch für ein zukünftiges Petitions-
gesetz ganz interessant sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23753
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Die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbrau-
cherschutzes ist eine richtige Maßnahme, soweit es um
die grundlegende Aufgliederung geht. Wir erwarten je-
doch dringend, dass damit verbundene bestimmte Stand-
ortentscheidungen und Zuständigkeitsaufteilungen noch
einmal überprüft werden.
Auf Druck der Verbraucherorganisationen ist die Zu-
sammensetzung des Verwaltungsrates der Absatzfonds
verändert worden. Der Schritt zum Verhältnis 1:23 ist
nicht gerade mutig. Die vorgesehene Veränderung kann
aber bessere Voraussetzungen für die notwendige Kom-
munikation zwischen den unterschiedlichen Interessen
und Sichtweisen schaffen.
Trotz aller Mängel und Unvollständigkeiten gehen die
Gesetzentwürfe doch grundsätzlich in die richtige Rich-
tung. Wir werden ihnen deshalb zustimmen.
Ob der hastige gesetzgeberische Endspurt der Regie-
rungskoalition ausreicht, um das Klassenziel zu errei-
chen, haben die Wählerinnen und Wähler zu entscheiden.
Eines sage ich aber jetzt schon: Im nächsten Schuljahr
– ich meine: in der nächsten Wahlperiode – muss ganz
erheblich nachgebessert werden.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Rot-Grün ist die
erste Bundesregierung, die den Verbraucherschutz auf die
Agenda gesetzt hat, und zwar ganz nach oben. Sonst hätte
das niemand getan!
Die Selbstverständlichkeit unseres Engagements für
die Durchsetzung der Verbraucherrechte ist wesentliches
Kennzeichen unserer Politik. Kein oberflächliches Kri-
sen- und Betroffenheitshopping, sondern grundsätzliche
Aufarbeitung der Konfliktherde und Sicherung der Rechte.
Dabei haben wir große Fortschritte in der Verbraucher-
politik gemacht. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz,
dem Gesetz zur Neuorganisation des gesundheitlichen Ver-
braucherschutzes und dem novellierten Absatzfondsgesetz
stehen heute drei weitere Meilensteine auf der Tagesord-
nung.
Die Verbraucher haben ein gutes Recht zu wissen, was
sie für ihr gutes Geld bekommen. Geben wir den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern, was ihnen zusteht. Ver-
schaffen wir den Verbraucherrechten endlich mehr Gel-
tung.
Die Opposition wirft uns bei jeder passenden und un-
passenden Gelegenheit vor, Deutschland sei das wirt-
schaftliche Schlusslicht in der Europäischen Union. Ge-
ben Sie jetzt Ihre Blockadepolitik auf und machen Sie
ernst mit dem Verbraucherschutz. Unsere Wirtschaft hat
doch nichts zu verbergen! Sie stellt hochwertige Waren
her und das sollen auch alle wissen dürfen. Denn mündige
Verbraucher sind auch kluge Konsumenten. Genau die
sind das Fundament einer zukunftsfesten Wirtschaftsent-
wicklung in unserem Land.
Dabei nehmen wir bewusst eine Vorreiterrolle in Europa
an. Denn wir wollen und werden eben nicht die Letzten
sein. Wir wissen, dass Verbraucherschutz wesentlicher
Bestandteil einer modernen Wirtschaftspolitik ist. Davon
sollen unsere Unternehmen profitieren.
Das sehen übrigens auch die Unternehmer, gerade auch
in der Landwirtschaft. Die setzt sich gegen alle Unkenrufe
ihrer angeblichen Interessenvertreter durch und investiert:
bei Wirtschaftsgebäuden mehr als das Doppelte und auch
verstärkt bei den Programmen Landwirtschaft und Jung-
landwirte. Die Junglandwirte wollen und nehmen sich
ihre Zukunft und ich kann ihnen versichern: Wir sind auf
ihrer Seite. Ihr Vertrauen in diese Bundesregierung ist
richtig.
Denn unser Weg ist der richtige. Das haben nicht nur
vor Monaten schon die Wirtschaftsweisen gesagt, das
wird jetzt Realität – die Daten der Rentenbank sprechen
hier eine eindeutige Sprache.
Für einen zukunftsfesten Wirtschaftsstandort Deutsch-
land steht auch das Verbraucherinformationsgesetz, das
sich in einem ersten Schritt auf all das bezieht, was mit
unserem Körper in Berührung kommt, der elementarste
Bereich für den Verbraucherschutz also. Damit lösen wir
das Versprechen dieser Regierung ein, dass es beim ge-
sundheitlichen Verbraucherschutz keine Kompromisse
geben kann.
Für einen zukunftsfesten Wirtschaftsstandort Deutsch-
land steht auch das Gesetz zur Neuorganisation des ge-
sundheitlichen Verbraucherschutzes. Hier könnte man,
wenn man Ihre Kritik an unserem Gesetzentwurf hört, den
Eindruck gewinnen, Lebens- und Futtermittelskandale
seien in Deutschland kein Thema und wären auch nie ei-
nes gewesen. Ihr politisches Kurzzeitgedächtnis ist außer-
ordentlich bemerkenswert. Erst lassen Sie das Kind in den
Brunnen fallen, schreien dann, wenn Sie nicht mehr in der
politischen Verantwortung sind, nach raschen Konse-
quenzen und wollen, wenn die Entscheidung ansteht, da-
von nichts mehr wissen.
Es waren ja nicht wir, sondern eine unabhängige und
von uns allen geschätzte Gutachterin – im Übrigen aus
Ihren früheren Reihen – nämlich Frau von Wedel –, die
schonungslos die enormen Defizite im gesundheitlichen
Verbraucherschutz aufgedeckt hat, Defizite, die vor allem
die Vorgängerregierung zu verantworten hatte.
Statt den Konsens zu loben, auf dem unsere Gesell-
schaft ihre Lebensgrundlage neu und für alle zufrieden
stellend organisieren und sichern könnte, verirren Sie sich
in Wahlkampfgetöse und politischer Handlungsunfähig-
keit. Kern der von wedelschen Empfehlungen ist es, Risi-
kobewertung und Risikomanagement institutionell zu
trennen. Gerade die Risikobewertung muss politischem
Einfluss entzogen werden. Das haben doch auch Sie im
letzten Jahr noch unterstützt und uns mit entsprechenden
Anfragen überschüttet. Aus gutem Grund, denn Wissen-
schaftler dürfen nicht gezwungen werden, schon bei der
Forschung mit den Problemen der Umsetzung belastet zu
werden.
Lassen Sie mich nur ein Beispiel benennen: Denken
Sie nur an die Probleme der Zusatzstoffe in Babynahrung
oder die Rückstandsmengen von Pflanzenschutzmitteln in
Lebensmitteln, über deren Folgen wir bei unseren Kleins-
ten kaum etwas sagen können. Jetzt endlich haben wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223754
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eine Studie über die wirklichen Verzehrgewohnheiten von
Ein- bis Sechsjährigen auf den Weg gebracht, übrigens die
erste europaweit.
Wir brauchen dringend mehr Forschung, und zwar eine
unabhängige. Ob bei Korruption, Umwelt oder wo auch
immer: Genehmigung und Kontrolle müssen voneinander
getrennt werden.
Verlieren Sie jetzt nicht den Mut vor der eigenen Cou-
rage. Ziehen Sie mit! Machen Sie heute und auch im Bun-
desrat klar, dass Sie es ernst meinen mit dem Verbrau-
cherschutz. Nehmen Sie Ihr eigenes Wahlversprechen
ernst. Stärken Sie den Standort Deutschland. Es kann
doch nicht sein, dass das Recht der Bürgerinnen und Bür-
ger auf Information jetzt verhindert wird und Sie damit
andere Interessen höher schätzen als die der Verbraucher.
Das wäre glatter Wahlbetrug, noch bevor die Wahlen
überhaupt stattgefunden haben. Das müssen Sie den Wäh-
lerinnen und Wählern erklären!
Sie müssten Ihnen auch erklären, warum wir nicht un-
sere Chancen nutzen und Vorreiter in Europa sein sollen.
Schauen Sie sich einmal die Agenda des Verbraucherrates
nächste Woche in Brüssel an. Da kann ich nur sagen: Die
nehmen alles das auf, was wir hier bereits verankern. Nur
die Opposition schnarcht. Und wenn eines in Zeiten der
Globalisierung verboten ist, dann das: auf Kosten der
Bürgerinnen und Bürger zu schnarchen und ihnen ihre
Chancen der Zukunftsgestaltung in einem zukunftsfesten
und damit sicheren Rahmen zu nehmen!
Nicht abwarten, sondern jetzt brauchen die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, braucht die Wirtschaft Klar-
heit über ihre Rechte und Pflichten. Machen Sie mit!
Wir haben Verbraucherschutz versprochen und auf die
Agenda gesetzt. Die drei vorliegenden Gesetzentwürfe
zeigen: Versprochen – gehalten!
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Erschwernis von
Erschließungsmaßnahmen durch Doppelbe-
steuerung verhindern (Tagesordnungspunkt 26)
Horst Schild (SPD): Der vorliegende Antrag nimmt
ein berechtigtes Anliegen der Kommunen und der bau-
willigen Grundstückseigentümer auf. Der Bundesregie-
rung ist der beschriebene Sachverhalt bekannt. Seit ge-
raumer Zeit wird in Abstimmung mit den Ländern eine
Lösung des Problems erörtert.
Tatsächlich kann es zu zusätzlichen Kostenbelastun-
gen von bauwilligen Grundstückseigentümern bei folgen-
der Konstellation kommen:
Die Gemeinde überträgt durch einen öffentlich-recht-
lichen Vertrag nach § 124 BauGB die Erschließung von
Grundstücken auf einen privaten Erschließungsträger.
Der Erschließungsträger ist nicht Eigentümer der zu er-
schließenden Grundstücke. Die Erschließung wird vom
Erschließungsträger im eigenen Namen und für eigene
Rechnung durchgeführt. Gegenüber den bauwilligen
Grundstückseigentümern verpflichtet sich der Er-
schließungsträger durch privatrechtliche Verträge und
rechnet aufgrund dieser Verträge mit den Grundstücks-
eigentümern ab. Umsatzsteuerrechtlich liegt hier eine
sonstige Leistung gegen Entgelt vor. Es entsteht Umsatz-
steuerpflicht. Die Umsatzsteuer hat der bauwillige Grund-
stückseigentümer zu tragen.
Gegenüber der Gemeinde verpflichtet sich der Er-
schließungsträger zur unentgeltlichen Übertragung der
Erschließungsanlagen im Sinne von § 127 BauGB. Die
unentgeltliche Übertragung auf die Gemeinde ist umsatz-
steuerlich eine Werklieferung, die ebenfalls steuerpflich-
tig ist. Regelmäßig belastet der Erschließungsträger den
bauwilligen Grundstückseigentümer zusätzlich mit der
Umsatzsteuer aus dieser unentgeltlichen Wertabgabe,
weil der Erschließungsträger diese Umsatzsteuer nicht als
Vorsteuer abziehen kann. Er wälzt sie deshalb als Kosten-
faktor auf den bauwilligen Grundstückseigentümer ab.
In der Gesamtschau kommt es folglich zur umsatz-
steuerlichen „Doppelbesteuerung“.
Umsatzsteuerrechtlich liegt jedoch streng genommen
keine Doppelbesteuerung vor. Es handelt sich nämlich um
zwei verschiedene Besteuerungstatbestände anlässlich
der Erschließungsmaßnahme. Beide Verpflichtungen des
Erschließungsträgers werden nach dem BMF-Schreiben
vom 4. Dezember 2000 und in Übereinstimmung mit der
6. EG-Mehrwertsteuerrichtlinie zu Recht der Umsatz-
steuer unterworfen. Im Ergebnis kommt es jedoch zu ei-
ner zusätzlichen Kostenbelastung des bauwilligen Grund-
stückeigentümers, da dieser die gesamte Umsatzsteuer
aus dem Leistungskreis wirtschaftlich zu tragen hat.
Vor diesem Hintergrund sind in der Praxis zivilrecht-
liche Konstruktionen entwickelt worden, die nicht mehr
zur zusätzlichen Kostenbelastung des Bauwilligen führen
sollen. Ein Beispiel dafür ist die als Doppelverpflich-
tungsmodell bezeichneten Vertragskonstruktion. Dabei
werden die bauwilligen Grundstückseigentümer in den
Erschließungsvertrag mit der Gemeinde als Vertragspart-
ner einbezogen. Der Erschließungsträger verpflichtet sich
gegenüber der Gemeinde zur Erstellung und Übertragung
der Erschließungsanlagen – Verpflichtung I. Daneben
verpflichten sich die Grundstückseigentümer gegenüber
der Gemeinde zur Übernahme der durch die Erschließung
entstehenden Kosten – Verpflichtung II. Die Gemeinde
tritt diesen Zahlungsanspruch an den Erschließungsträger
ab. Bei der Wahl dieser Vertragskonstruktion ist die Zah-
lung des Grundstückseigentümers umsatzsteuerlich „Ent-
gelt von dritter Seite“ für den zwischen Erschließungsträ-
ger und Gemeinde durchgeführten Leistungsaustausch
und damit nicht umsatzsteuerpflichtig.
Die Grundstückseigentümer erhalten vom Erschlie-
ßungsträger keine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis
und sind infolgedessen, sofern sie unternehmerisch tätig
sind, auch nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Mit
Umsatzsteuer wird nur der Leistungsaustausch zwischen
Erschließungsträger und Gemeinde belegt. Die Umsatz-
steuer wird auf den Bauwilligen abgewälzt, der diese
wirtschaftlich zu tragen hat. Jedoch hat er beim
Doppelverpflichtungsmodell nur noch die einmalige
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23755
(C)
(D)
(A)
(B)
Umsatzsteuerbelastung zu tragen. Voraussetzung dafür
ist die Überarbeitung des erwähnten BMF-Schreibens
vom Dezember 2000.
Derzeit befindet sich ein neues BMF-Schreiben in Ab-
stimmung mit den Länderfinanzministerien. Es akzeptiert
die von der Praxis erarbeiteten Modelle zur Vermeidung
einer zusätzlichen Kostenbelastung. Mit der Veröffent-
lichung des neuen BMF-Schreibens wird in Kürze ge-
rechnet. Damit wird sich die Problematik der umsatz-
steuerlichen Doppelbelastung erledigen.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):Wir beraten heute über den Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU, Erschließungsmaßnahmen von einer
vermeintlich doppelten Umsatzsteuerbelastung zu be-
freien.
Wir sind uns alle einig: Die Novelle des Baugesetzbu-
ches von 1997 und die Einfügung des § 124 Baugesetzbuch
hatten das Ziel, die Kommunen von den Kosten der Er-
schließung von Bauland zu entlasten. Dieses Ziel wurde
auch erreicht. Gemeinden können sich jetzt zur Erfüllung
ihrer Aufgabe nicht mehr nur einer privaten Erschließungs-
gesellschaft als Erfüllungsgehilfen bedienen, sondern auch
die Erschließungsaufgabe durch öffentlich-rechtlichen Ver-
trag auf einen Erschließungsträger übertragen. Der Er-
schließungsträger führt die Erschließungsmaßnahmen
dann im eigenen Namen und auf eigene Rechnung durch,
sodass der Gemeinde keine Erschließungskosten entstehen.
Die Baulanderschließung kann also seit der Gesetzesände-
rung viel flexibler erfolgen als vorher.
Nun erhebt die Fraktion der CDU/CSU in ihrem Antrag
den Vorwurf, die Baulanderschließung werde trotzdem
dadurch erschwert, dass Erschließungsträger, die auf-
grund der Ausgestaltung des Vertrages mit der Gemeinde
nicht Eigentümer des zu erschließenden Grundstückes
werden, einer Doppelbesteuerung unterliegen.
Zunächst einmal trifft der Vorwurf der Doppelbesteue-
rung rechtlich nicht zu. Von einer Doppelbesteuerung
könnten Sie nur reden, wenn derselbe Sachverhalt Grund-
lage für eine zweifache Steuerpflicht wäre. Dies ist hier
aber nicht der Fall. Ein Erschließungsträger, der nicht Ei-
gentümer des zu erschließenden Grundstückes ist, er-
bringt einmal durch die Durchführung der Erschließungs-
maßnahmen eine werkvertragliche Leistung, die er mit
den Bauwilligen abrechnet und die der Umsatzsteuer-
pflicht unterfällt. Daneben überträgt er die öffentlichen
Erschließungsanlagen in der Regel unentgeltlich auf die
Gemeinde. Auch dieser Vorgang ist umsatzsteuerpflich-
tig. Es handelt sich dabei aber um eine zweite Leistungs-
beziehung zwischen Erschließungsträger und Gemeinde,
sodass keine Doppelbesteuerung besteht, sondern eine je-
weils einfache Besteuerung von unterschiedlichen Rechts-
verhältnissen.
Die unentgeltliche Übertragung der Erschließungsan-
lage kann auch nicht, wie es die Antragsteller offensicht-
lich fordern, von der Umsatzsteuerpflicht ausgenommen
werden. Die Pflicht zur Besteuerung auch unentgeltlicher
Wertabgaben folgt aus der 6. EG-Richtlinie. Der § 3
Abs. 1 b Satz 1 Nr. 3 Umsatzsteuergesetz, aus dem sich
die Steuerpflicht nach nationalem Recht ergibt, ist ledig-
lich wortgetreu umgesetztes Europarecht. Ich nehme
nicht an, dass die CDU/CSU-Fraktion zur Änderung der
Steuergesetze aus der EU austreten will.
Die Bundesregierung hat einen gangbareren Weg ge-
wählt, um mögliche Zusatzbelastungen von Erschlie-
ßungsträgern durch das Umsatzsteuerrecht auszuschlie-
ßen: Durch eine andere Vertragsgestaltung soll eine
zweifache Leistungsbeziehung im Rahmen der Erschlie-
ßungsmaßnahme vermieden werden. Die Verträge sollen
so ausgestaltet werden, dass nur noch eine Leistungsbe-
ziehung und damit auch nur noch ein steuerpflichtiger
Sachverhalt besteht. Über eine solche Neuregelung führt
das Bundesministerium der Finanzen derzeit Verhandlun-
gen mit den Ländern, die kurz vor dem Abschluss stehen.
Durch ein neues Schreiben des Bundesministeriums für
Finanzen an die Obersten Finanzbehörden der Länder, das
das Schreiben vom 4. Dezember 2000 ersetzen soll, wird
diese Neugestaltung dann zum Regelfall werden.
Die Notwendigkeit, einen Beschluss des Deutschen
Bundestages zur Steuerbelastung bei Erschließungsmaß-
nahmen herbeizuführen, sehe ich daher nicht.
Gerhard Schüßler (FDP):Der Antrag der Union ent-
hält ein weiteres Beispiel dafür, dass das Steuerrecht häu-
fig wirtschaftliches Handeln behindert. Im Baurecht und
Kommunalrecht wurden Vereinfachungs- und Einspar-
maßnahmen bei der Erschließung von Bauland getroffen.
Durch eine doppelte Mehrwertsteuerzahlung werden
diese Maßnahmen konterkariert. Ein Steuerrechtler mag
das für gut befinden, ebenso der Finanzbeamte. Der Bau-
herr oder der Kämmerer der Gemeinde können nur mit
dem Kopf schütteln.
Grundlage für die doppelte Mehrwertsteuerbelastung
bei der Erschließung von Bauland ist zwar das Umsatz-
steuergesetz. Die Belastung wird allerdings konkret aus-
gelöst erst durch ein so genanntes BMF-Schreiben. Diese
Schreiben des Bundesfinanzministeriums – abgestimmt
mit den Landesfinanzministerien – waren in letzter Zeit
häufig Anlass für Streitigkeiten. Der Rechtscharakter die-
ser Schreiben ist mehr als fragwürdig. Finanzbeamte aus
Bund und Ländern einigen sich darüber, wie das Gesetz
ausgelegt werden soll. Das mag in vielen Fällen nützlich
sein; in manchen Fällen geht diese Auslegung am Willen
des Gesetzgebers vorbei und führt gelegentlich sogar zu
massiven Steuererhöhungen wie bei der Neufassung der
AfA-Tabellen.
Hier kann etwas nicht stimmen. Es darf nicht sein, dass
die Exekutive am Parlament vorbei Entscheidungen trifft,
die für die Bürger mit massiven finanziellen Belastungen
verbunden sind. Diese Entscheidungen müssen der Poli-
tik vorbehalten bleiben. Ich meine, hier liegt ein Fehler im
System, mit dem wir uns gründlicher befassen müssen.
Die Flut von BMF-Schreiben ist übrigens auch Aus-
fluss und Bestandteil unseres viel zu komplizierten Steu-
errechts. Die FDP hat hier Flagge gezeigt: Bereits unsere
Steuergesetze müssen vereinfacht werden. Gibt es hier
klare Regelungen, dann werden viele komplizierte Ver-
waltungsanweisungen überflüssig. Bei dieser Verein-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223756
(C)
(D)
(A)
(B)
fachung, die wir in der nächsten Legislaturperiode ange-
hen, ist auch die Exekutive gefragt. Gesetzgeber und Ver-
waltung müssen dafür sorgen, dass so ärgerliche Fälle wie
im Antrag der Union beschrieben, nicht mehr vorkommen.
Dr. Barbara Höll (PDS): Die CDU fordert in ihrem
Antrag, die „Erschwernis von Erschließungsmaßnahmen
durch Doppelbesteuerung zu verhindern“. Dies soll dazu
dienen, dass das Ziel der Novellierung des Baugesetzbu-
ches von 1997 – beschleunigte Mobilisierung von Bau-
land und Kostensenkung bei der Baulanderschließung –
auch tatsächlich umgesetzt wird. Nach dem Stand der ak-
tuellen Sachlage zeugt ihr Antrag von einem wahrlich lai-
enhaften Verständnis der Umsatzbesteuerung und ist
überflüssig. Warum?
Ein Grundstück wird erschlossen, Besitzer ist ein pri-
vater Grundstückseigner. Ein Teil der oder die gesamten
erschlossenen Anlagen sollen nach Fertigstellung unent-
geltlich zur öffentlichen Nutzung an die Gemeinde über-
tragen werden. Ein Erschließungsunternehmen wird mit
den Maßnahmen zur Erschließung des Grundstücks be-
auftragt. Das Erschließungsunternehmen führt einerseits
für die Erbringung der Erschließungsleistungen gegen-
über dem Grundstückseigner Umsatzsteuer ab. Im Ge-
genzug ist es zum Vorsteuerabzug berechtigt. Dies ist ein
völlig alltäglicher Vorgang. Werden Erschließungsanla-
gen unentgeltlich an die Gemeinde übertragen, so muss
der Erschließungsträger auch für diese Lieferung Um-
satzsteuer bezahlen und ist auch in diesem Falle zum
vollen Vorsteuerabzug berechtigt.
Wo liegt hier nun die Doppelbesteuerung? Aus Sicht
der CDU/CSU scheinbar darin, dass für die Lieferung von
Erschließungsanlagen an den Grundstückseigner und an
die Gemeinde jeweils Umsatzsteuer abgeführt werden
muss. Sie haben dabei aber völlig aus den Augen verloren,
dass es sich um zwei verschiedene, voneinander unabhän-
gige Leistungsbeziehungen handelt. Einmal die zwischen
dem Grundstückseigner und dem Erschließungsträger und
zum Zweiten die Beziehung zwischen Gemeinde und
Grundstückseigner. Genauso gut könnten Sie bei der Her-
stellung eines beliebigen Produkts von einer Doppel-,
wenn nicht gleich Mehrfachbesteuerung sprechen. Auch
hier wird im Verlauf der Produktionskette ein und das-
selbe mehrfach mit Umsatzsteuer belastet. Trotzdem
würde niemand auf die Idee kommen, eine etwaige Dop-
pelbesteuerung anzuprangern. Die Forderung ihres Antra-
ges, die Doppelbesteuerung von Erschließungsmaßnah-
men auszuschließen, ist also völlig überflüssig, denn es
gibt sie nicht. Damit entspricht der Antrag nicht einmal
dem Niveau eines Grundkurses Steuerlehre.
Wenn man sich aber mit der Materie eingehender
beschäftigt, ahnt man, wo Ihr Problem in Bezug auf Er-
schließungsmaßnahmen liegen könnte: Durch die ge-
nannte Novelle des Baugesetzbuches wurde den Gemein-
den die Möglichkeit eingeräumt, Erschließungsaufgaben
durch Dritte – eben die Erschließungsunternehmen –
durchführen zu lassen. Dies sollte den Gemeinden vor al-
lem Kostenersparnis bringen. Dadurch existierte bis zum
Jahr 2000 das Modell der unentgeltlichen Wertüberlas-
sung von Erschließungsanlagen und damit das der
Umsatzbesteuerung überhaupt nicht. Aktuell müssen Er-
schließungsunternehmen für die Wertüberlassung Um-
satzsteuer abführen. Allerdings können sie diese – im Un-
terschied zu anderen Unternehmen – nicht auf die
Gemeinden überwälzen, sie entsteht als Kostenfaktor.
Nun mag dies die Kosten der Erschließungsmaßnah-
men erhöhen. Das ist zweifelsohne ein Problem und ein-
gehend zu prüfen. Allerdings übersehen Sie von der CDU
dabei, dass die Steuerbarkeit von unentgeltlichen Wert-
überlassungen lediglich die nationale Umsetzung der
6. EU-Umsatzsteuerrichtlinie ist. Dementsprechend müsste
die Bundesregierung vielmehr aufgefordert werden, sich
auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass für unent-
geltliche Wertüberlassungen keine Umsatzsteuer abzu-
führen ist.
Allerdings reagieren die Betroffenen schneller: Derzeit
werden in den Gemeinden neue Konstruktionen geschaf-
fen, die die Umsatzbesteuerung verhindern sollen. Diese
werden nach Aussagen des Finanzministeriums derzeit
überprüft. Ich denke, wir sollten hier die Ergebnisse ab-
warten, bevor vorschnell falsche Forderungen gestellt
werden. Insofern ist der Antrag derzeit überflüssig.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung
einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsge-
sellschaft zur Finanzierung von Bundesver-
kehrswegen (Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
rungsgesellschaftsgesetz – VIFGG)
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes
und straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
(FstrPrivFinÄndG)
– Entwurf eines Fünften Gesetzes zurÄnderung
des Bundesfernstraßengesetzes (5. StrÄndG)
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßen-
verkehrsrechtlicher Vorschriften (StVRÄndG)
– Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
18. Oktober 2001 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft über die Durchführung
der Flugverkehrskontrolle durch die Schwei-
zerische Eidgenossenschaft über deutschem
Hoheitsgebiet und überAuswirkungen des Be-
triebes des Flughafens Zürich auf das Ho-
heitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland
(Gesetz zu dem deutsch-schweizerischen Ver-
trag vom 18. Oktober 2001)
– Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des
Marktzugangs im Luftverkehr
– Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Regionalisierungsgesetzes
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23757
(C)
(D)
(A)
(B)
– Antrag: Finanzierungssicherheit für den Bun-
desfernstraßenbau über das Jahr 2002 hinaus
– Antrag: Fairen Wettbewerb im Luftverkehr
bewahren – Sicherheit erhöhen
– Antrag: Anti-Stau-Programm für Europas
Luftverkehr
(Tagesordnungspunkt 27 und Zusatztagesord-
nungspunkte 21 und 22)
Dr. Winfried Wolf (PDS): Der erste und wichtigere
Themenblock bei diesem Tagesordnungspunkt betrifft die
Gesetzentwürfe der Bundesregierung für ein Verkehrs-
infrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz und für ein
Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz. Die FDP hat
dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Wir lehnen beide Gesetzesentwürfe und den FDP-Ent-
schließungsantrag ab. Die Ablehnung resultiert aus unse-
rer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der kon-
kreten Ausformung der LKW-Maut und gegenüber der
Privatisierung im Verkehrswegebau, insbesondere im Be-
reich des Baus von Straßen. Richtigerweise muss festge-
stellt werden, dass die beiden genannten Gesetzesentwürfe
„nur“ gesetzgeberische Folgemaßnahmen der zuvor be-
reits gefassten und von uns abgelehnten Bundestagsbe-
schlüsse sind.
Im Fall des erstgenannten Gesetzesentwurfs verweise
ich daher vorab nur kursorisch darauf, dass die gewisser-
maßen im Hintergrund des Gesetzentwurfes stehende
LKW-Maut die ursprüngliche Intention einer solchen Be-
mautung zum Nullsummenspiel werden ließ, teilweise so-
gar zu einer umgekehrten Wirkung als der erwünschten
führt. Da die Maut nur für Autobahnen gelten wird und da
sie auf LKWüber 12 Tonnen beschränkt ist, wird es zu der
zweifachen Verlagerung vom Straßengüterverkehr kom-
men: zum einen auf andere Fernstraßen (nicht BABs),
zum anderen auf kleinere LKW. Beides ist umweltpoli-
tisch und hinsichtlich der Belastungen für die Menschen
vor Ort abzulehnen. Darüber hinaus hat die LKW-Maut,
wie sie bisher geplant ist, keinerlei verlagernde Wirkung
auf die Schiene und auf die Wasserwege. Das war immer-
hin ihre ursprüngliche offizielle Intention. Für das bun-
desdeutsche Gewerbe ist sogar im Gespräch, dass es zu ei-
ner „Kostenneutralität“ kommen soll.
Die mit dem Gesetzesentwurf einzurichtende Gesell-
schaft ist darüber hinaus aus immanenten Gründen abzu-
lehnen. Die entsprechenden Gründe dafür wurden auf der
Anhörung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen offenkundig. Unter anderem schließen wir
uns hier der Kritik des Bundesrechnungshofs und der
Sachverständigen von BUND und VCD an. Die Mittel aus
der LKW-Maut sollen auch nach den Vorstellungen der
Bundesregierung wieder zu einem erheblichen Teil dem
Straßenausbau, zum Beispiel dem Anti-Stau-Programm
zufließen. Dies ist absolut kontraproduktiv; die Schweiz
geht hier einen entschieden anderen, mehr umweltfreund-
lichen Weg. Die FDP sattelt hier mit ihrem Entschlie-
ßungsantrag noch eins drauf, weswegen wir diesen mit
besonderer Leidenschaft ablehnen müssen.
Der zweitgenannte Gesetzesentwurf zur Fernstraßen-
baufinanzierung stellt ebenfalls „nur“ die Anpassung an
Praxiserfordernisse dar, die aus den vorangegangenen ge-
setzgeberischen Maßnahmen resultieren. Nichtsdestotrotz
müssen wir ihn ablehnen. Mit dem Gesetzesentwurf wird
erneut eine den Straßenbau begünstigende und diesen for-
cierende gesetzgeberische Grundlage geschaffen. Wir
verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass mit der
Privatfinanzierung im Straßenbau erstens die Kosten für
den Straßenbau steigen, zweitens spätere Haushalte be-
lastet werden und drittens Fakten geschaffen werden, die
eine umweltverträgliche Verkehrssteuerung enorm er-
schweren werden. Weil diese kommenden Straßenbau-
projekte finanziert werden, wird es erforderlich sein, die
Rendite für die privaten Straßenbetreiber zu sichern. Das
heißt, das Verkehrsaufkommen muß hoch bleiben. Verla-
gerungen, die wir aus den bekannten Gründen wünschen,
werden damit strukturell zunehmend unmöglich gemacht.
Im Übrigen wird hier wieder ein „ball paradox“ gege-
ben. Es war erfreulicherweise die geschätzte Kollegin
Blank, die in dieser Woche im Verkehrsausschuss darauf
verwies, dass mit diesem Gesetzesentwurf „die Beteili-
gung des Parlaments durch Rechtsverordnung ausge-
schlossen“ werde. Interessanterweise handelt es sich bei
dem Gesetzentwurf um die Änderung eines Gesetzes aus
dem Jahr 1994, das bereits erste Schritte in Richtung der
privaten Straßenbaufinanzierung machte. Damals waren
es SPD und Grüne, die diese Förderung der Privatfinan-
zierung ablehnten, und zwar mit ziemlich ähnlichen und
auch im Nachhinein richtigen Argumenten, mit denen wir
dies heute tun. Dieser scheinbar paradoxe Vorgang lässt
sich aufklären, wenn man den enormen Einfluss der
Straßenbau- und Autolobby in Rechnung stellt, der auf je-
der Regierung und jeder Exekutive lastet, gleich welche
Parteien diese stellen.
Dem „Ersten Gesetz zur Änderung des Regionalisie-
rungsgesetzes“ werden wir zustimmen. Es bringt teil-
weise Verbesserungen mit sich; zumindest werden die rü-
den Androhungen des Finanzministers, wonach die
Regionalisierungsgelder gekürzt werden sollen, nicht rea-
lisiert. Der FDP-Antrag bringt erfreulicherweise das auf
den Punkt, was dazu ergänzend gesagt werden muss, ins-
besondere auch hinsichtlich § 7 dieses Gesetzes, also die
Forderung, dass diese Regionalisierungsmittel eindeutig
und zwingend zweckgebunden für den Schienenperso-
nennahverkehr eingesetzt werden müssen. Wenn wir auch
dem Punkt 2 des FDP-Antrags zustimmen, wonach es
eine Wettbewerbsklausel geben soll, dann aufgrund der
konkreten Praxis von der Bahn AG. Die konkret mit den
Bundesländern hier teilweise vereinbarten Langzeitver-
träge sind aus Sicht der Länderinteressen, der Interessen
der Fahrgäste und des Interesses an einer Verkehrswende
nicht zufrieden stellend.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung des
Marktzuganges im Luftverkehr, den die Bundesregierung
hier zur Abstimmung stellt, lehnen wir ab. Dieser Antrag
reflektiert erneut die völlig kontraproduktive Orientie-
rung der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Mit diesem Gesetzes-
entwurf wird die Liberalisierung im Luftverkehr weiter
befördert. Preisdumping und Billigflugangebote werden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223758
(C)
(D)
(A)
(B)
zunehmen. Die Steigerungen des Flugverkehrs werden
damit aufrechterhalten. Wir verweisen hier auf drei Dinge:
Erstens. Der Flugverkehr als die die Umwelt am stärks-
ten belastende Verkehrsart weist seit vielen Jahren die mit
Abstand höchsten Wachstumsraten auf. Damit findet eine
kontinuierliche Verkehrsverlagerung in die Luft statt.
Zweitens. Es kommt zu einer kontinuierlichen Ver-
schlechterung im Preisniveau zuungunsten des Schienen-
verkehrs oder zu einer deutlichen Verbilligung der Ticket-
Kosten im Flugverkehr. Damit wird die umgekehrte
Verkehrswende immens gefördert.
Drittens. Die Steigerungsraten im Flugverkehr betref-
fen durchaus auch den Binnenflugverkehr. Dieser stieg im
Zeitraum 1991 bis 2001 um rund 50 Prozent. Die durch-
schnittliche Entfernung je Binnenflug betrug Ende der
1990er-Jahre 470 Kilometer. Damit liegen diese Kurz-
streckenflüge in ihrer großen Mehrzahl in einem Bereich,
der ideal wäre für eine Verlagerung auf die Schiene. Doch
eine solche Verlagerung gab es nicht und wird es mit sol-
chen kontraproduktiven gesetzgeberischen Maßnahmen
nicht geben. Tatsächlich ist der Schienenpersonenfernver-
kehr seit 1994 sogar leicht rückläufig, sogar die durch-
schnittliche je Fahrt in diesem Segment zurückgelegte
Reiseweite ging zurück. All das sind Parameter, die die-
sen verkehrten Verkehr, die diese umgekehrte Verkehrs-
wende, für die SPD und Bündnis 90/Die Grünen verant-
wortlich zeichnen, belegen.
Wenn wir im Übrigen dem Gesetzentwurf für den
deutsch-schweizerischen Vertrag zustimmen, dann aus
dem schlichten Grund, dass wir uns solche umwelt-
freundlichen Bestimmungen im Flugverkehr überall wün-
schen. Man übertrage doch bitte das, was hier für den Be-
reich Hochrhein/Schwarzwald vereinbart werden soll, auf
Frankfurt/Main oder auf den FJS-Airport in München:
Halbierung der Flugbewegungen, Nachtflugverbot, am
Wochenende kaum Flüge usw. Dass der vorgeschlagene
Vertrag mit der Schweiz in diesem Sinne heuchlerisch und
einseitig ist, habe ich bereits bei der ersten Lesung des-
selben erklärt. Im Übrigen sei darauf verwiesen, dass der
Verkehrsausschuss des schweizerischen Parlaments den
Vertrag ablehnte und eine endgültige Entscheidung in der
Schweiz erst für Herbst oder Ende 2002 zu erwarten ist.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Opferrechte stärken und verbessern
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Jugendgerichtsgesetzes
(Tagesordnungspunkt 28 a und b)
Erika Simm (SPD): Lassen Sie mich mit einer po-
sitiven Feststellung beginnen: Ich finde es erfreulich, dass
sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages im
Grundsatz darin einig sind und es in den letzten Jahren
auch waren, dass die Rechte des Opfers im Strafverfahren
gestärkt werden und die Hilfen für Opfer von Straftaten
verbessert werden müssen. Diesbezügliche Rechtsän-
derungen sind in der Vergangenheit vielfach gemeinsam
verabschiedet worden, wie zum Beispiel in jüngster Zeit
das Gesetz zur Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs
in der Strafprozessordnung vom 20. Dezember 1999.
Vor diesem Hintergrund befremdet es, dass die FDP in
der Begründung zu ihrem Antrag der Bundesregierung
unterstellt, sie wolle den Kurs zur Verbesserung des Op-
ferschutzes nicht entschieden genug weiterverfolgen. Nur
zur Erinnerung: Das eben genannte Gesetz zum TOA ba-
sierte auf einer Gesetzesinitiative eben dieser Bundes-
regierung.
Der heute gleichfalls zur Beratung anstehende Gesetz-
entwurf der CDU/CSU hat als Prämisse zur Vorausset-
zung, dass im Jugendstrafverfahren der Opferschutz-
gedanke nur unzureichend verwirklicht sei und will dem
durch die Zulassung der Nebenklage – insoweit überein-
stimmend mit dem FDP-Antrag – und des Adhäsionsver-
fahrens abhelfen. Ich lasse mal dahingestellt, ob die Be-
hauptung, dem Opferschutz sei im jugendgerichtlichen
Verfahren zu wenig Rechnung getragen, so stimmt. Ge-
gen die schlichte Übernahme der Nebenklage und des
Adhäsionsverfahrens in das Verfahren gegen Jugendliche
wende ich mich aber mit Nachdruck. Die formalisierte
Beteiligung des Verletzten als Nebenkläger im Verfahren
gegen Jugendliche in jedem Stadium des Verfahrens, zum
Beispiel auch noch nach ergangenem Urteil zur Einlegung
von Rechtsmitteln, widerspricht in meinen Augen der er-
zieherischen Zielsetzung und Ausgestaltung des Jugend-
strafverfahrens.
Ich bin gerne bereit, mich an Überlegungen zu beteili-
gen, wie der Opferschutz auch im Jugendstrafverfahren
gestärkt werden kann und denke, dass das durchaus wün-
schenswert und möglich ist, ohne dass die Nebenklage zu-
gelassen werden muss. Allerdings meine ich, wir täten gut
daran, ehe wir Schnellschüsse abgeben, die Vorschläge
der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Ju-
gendgerichtshilfen“ abzuwarten, die mit finanzieller Un-
terstützung des BMJ eine JGG-Reformkommission ein-
gesetzt hat. Diese Kommission soll einen etwaigen
Reformbedarf auch unter dem Aspekt des Opferschutzes
prüfen. Die Deutsche Vereinigung wird ihre Vorschläge
rechtzeitig zum Deutschen Juristentag im September vor-
legen, wo ja die Reform des Jugendstrafrechts ebenfalls
Thema sein wird.
Ich verstehe nicht, warum Sie, liebe Kollegen von der
FDP und der CDU/CSU, jetzt so ungeduldig sind und die
Ergebnisse der Beratungen der DVJJ-Kommission und
des Deutschen Juristentages nicht abwarten können.
Was die Zulassung des Adhäsionsverfahrens im Ver-
fahren gegen Jugendliche betrifft, so bleibt mir auch nach
gründlicher Lektüre der Begründung des Gesetzentwurfs
unerfindlich, warum Sie meinen, dass dieses Verfahren,
das aus vielerlei Gründen im Erwachsenenstrafverfahren
nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat, von Kommen-
tatoren als Fremdkörper im Strafprozess, ja als „Totge-
burt“ bezeichnet wird, nun plötzlich im Jugendstraf-
verfahren effektiv sein soll, um dem Verletzten zum
Schadenersatz zu verhelfen. Gerade das JGG bietet da
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23759
(C)
(D)
(A)
(B)
wirksame Möglichkeiten über Weisungen und Auflagen
an.
Was die übrigen im Antrag der FDP enthaltenen For-
derungen angeht, so halte ich deren zum Teil völlige Un-
substantiiertheit schon für bemerkenswert. Da werden
zum Beispiel zum Adhäsionsverfahren pauschal Ände-
rungen verlangt, „sodass dieses weit häufiger angewandt
wird“, ohne dass die Antragssteller auch nur andeuten,
worin diese Änderungen denn bestehen könnten. Anlass,
sich dazu Gedanken zu machen, hätte ja wohl angesichts
der bekannten systematischen Verfehltheit dieses kontra-
diktorisch angelegten Verfahrens im Strafprozess bestan-
den.
Andere dieser Forderungen wiederum gehen offen-
sichtlich von falschen tatsächlichen Gegebenheiten aus,
wie zum Beispiel die nach „einer klarstellenden Ände-
rung beim Täter-Opfer-Ausgleich“, damit dieser in der
Praxis häufiger genutzt wird. Dabei wird ignoriert, dass
seit der schon erwähnten Verankerung des TOA in der
Strafprozessordnung die Zahl der Fälle, wo der TOA an-
gewandt wurde, ständig steigt und gegenwärtig ein Bedarf
für zusätzliche gesetzliche Regelungen nicht ersichtlich
ist. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung, die Vor-
schriften über Verfall und Einziehung neu zu fassen, „da-
mit künftig effektiv von ihnen Gebrauch gemacht werden
kann“. Auch hier nehmen die Antragsteller nicht zur
Kenntnis, dass in den letzten Jahren zunehmend erfolg-
reich illegal erlangte Vermögensvorteile abgeschöpft wur-
den und sich der Wert der sichergestellten Vermögens-
werte im Jahr 2000 auf die Rekordhöhe 1 Milliarde DM
belief! Angesichts dieser Erfolge ist auch hier gegenwär-
tig ein gesetzgeberischer Bedarf nicht erkennbar.
Auch bezüglich der Rechte aus dem Opferentschädi-
gungsgesetz wird bereits durch Merkblätter und Bro-
schüren breit aufgeklärt. Nach meiner Information sind
in den Ländern die Polizeibeamten durch entsprechende
Dienstanweisungen auch gehalten, Opfer von Straftaten
diesbezüglich aufzuklären. Für die geforderte Veranke-
rung einer gesetzlichen Aufklärungspflicht sehe ich des-
wegen keine Notwendigkeit.
Erstaunlich allerdings finde ich die Forderung nach
einer Verbesserung der Leistungen aus dem Opferent-
schädigungsgesetz, dergestalt, dass künftig sowohl das
Opfer als auch dessen nahe Angehörige einen Anspruch
auf Beratung und psychologische Betreuung zur Bewälti-
gung der psychischen Folgen und zur Wiedereingliede-
rung in das Berufsleben haben sollen. Solche Leistungen
werden schon jetzt nach dem Bundesversorgungsgesetz,
auf das das Opferentschädigungsgesetz verweist, gefähr-
det. Der geforderten Änderung des Opferentschädigungs-
gesetzes bedarf es deswegen ebenfalls nicht.
Auch wenn ich der Meinung bin, dass der Antrag der
FDP und der Gesetzentwurf der CDU/CSU ihrem Inhalt
nach wenig geeignet sind, zu einer Verbesserung des Op-
ferschutzes beizutragen, so liegt mir doch daran, festzu-
stellen, dass es auf diesem Gebiet noch einiges zu tun gibt
und dass wir selbstverständlich bereit sind, mit Ihnen zur
weiteren Stärkung der Situation von Verbrechensopfern
zusammenzuarbeiten.
Sabine Jünger (PDS): Für die PDS ist die stärkere
Berücksichtigung der Belange von Opfern Kernstück ei-
ner modernen Strafrechtspolitik. Wenn man ein Strafver-
fahren verfolgt, erscheint es gelegentlich durchaus so, als
würden sich die Strafgerichte intensiv um die Täter küm-
mern und weniger um die Anliegen der Opfer. Durch das
OEG hat sich hier zwar in den letzten Jahren einiges ver-
bessert, dennoch spielen Opfer im Strafrecht noch immer
eine untergeordnete Rolle. Der Verletzte darf durch den
Prozess nicht noch einmal zum Opfer gemacht werden.
Auch seine Rechte müssen im Verfahren nicht nur ge-
wahrt, sondern angemessen berücksichtigt werden. Durch
die vorgeschlagenen Änderungen kann es zu einer deut-
lichen Verbesserung der Stellung von Opfern kommen.
Das Opfer eines Verbrechens könnte stärker als Verfah-
renssubjekt agieren und würde auch als solches wahrge-
nommen werden.
Doch lassen Sie mich zu den Vorschlägen im Einzelnen
kommen: Erstens. Es ist eine langjährige Forderung
– nicht nur des Weißen Ringes – das Opfer ihre Opferrolle
nicht ein zweites Mal vor Gericht durchmachen müssen.
Ihnen verschiedene Prozesse zu ersparen und die Mög-
lichkeit der Wiedergutmachung innerhalb des Strafver-
fahrens zu stärken, sind erstrebenswerte Ziele. Bisher
liegt es im Ermessen des Strafrichters, die Durchführung
des Adhäsionsverfahrens jederzeit abzulehnen. Rechts-
mittel hiergegen gibt es nicht. Dies führt bislang dazu,
dass Wiedergutmachung im Rahmen des Strafverfahrens
nur sehr selten stattfindet. Es ist aus Sicht der Opfer
sicherlich schwer verständlich, warum so selten Wieder-
gutmachung im Rahmen des Adhäsionsverfahrens ge-
währt wird. Deshalb ist eine Stärkung des Adhäsionsver-
fahrens geboten. Wir sollten in diesem Zusammenhang
aus meiner Sicht darüber nachdenken, ob nicht der Vor-
rang der Schadenswiedergutmachung vor anderen Aufla-
gen wie auch vor der Vollstreckung einer Geldstrafe deut-
licher und zwingender ausgestaltet werden kann. Es gibt
hier zwar gesetzliche Möglichkeiten, zum Beispiel den
Täter-Opfer-Ausgleich, aber auch diese finden so gut wie
nie statt. Wenn hier die Möglichkeit besteht, Opfern früh-
zeitig und ohne weitere Belastung des Justizapparates,
Genugtuung zu verschaffen, müssen unseres Erachtens
fiskalische Aspekte zurückstehen.
Zweitens. Im Verfahren gegen Jugendliche ist auf-
grund der aktuellen Gesetzeslage im § 80,3 JGG keine
Nebenklage möglich. Das Opfer kann sich lediglich der
Hilfe eines Zeugenbeistandes mit erheblich einge-
schränkten Rechten bedienen. Die Nebenklage im Ju-
gendverfahren ist bisher nicht zulässig, weil der Erzie-
hungsgedanke im Vordergrund des Jugendverfahrens
stehen soll. Das findet unsere Unterstützung. Und den-
noch: Dies darf nicht zu einem Versagen des Opfer-
schutzes führen. Aus unserer Sicht ist die Beteiligung ei-
nes Opferanwaltes, also der Zulassung der Nebenklage,
ein wichtiges Opferschutzinstrument. Durch die Ein-
führung des Opferanwaltes hat der Gesetzgeber zu Recht
die besondere Schutzwürdigkeit von Opfern anerkannt.
Es kann nicht dem Gedanken des Jugendverfahrens ent-
sprechen, dass dieser Opferschutz dann versagt, wenn ein
Täter bei der Tatbegehung Jugendlicher war.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223760
(C)
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(B)
Drittens. In das OEG soll eine Vorschrift aufgenom-
men werden, die Strafgerichte, Staatsanwaltschaften und
Polizei verpflichtet, Opfer auf das Opferentschädigungs-
gesetz aufmerksam zu machen. Außerdem soll ermöglicht
werden, dass auch nahe Angehörige einen Anspruch auf
Beratung und Betreuung eingeräumt wird, um die psychi-
schen Folgen einer Straftat zu bewältigen. Diese vorge-
schlagenen Ergänzungen des Opferentschädigungsgeset-
zes finden ebenfalls die Zustimmung meiner Fraktion.
Lassen Sie uns zügig und gemeinsam in den Ausschüs-
sen beraten. Es wäre schade, wenn diese vernünftigen For-
derungen der Diskontinuität anheim fallen würden.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Entwürfe:
– Zweites Gesetz zur Änderung des Gentech-
nikgesetzes
– ... Gesetz zurÄnderung des Gentechnikgesetzes
(Zusatztagesordnungspunkt 23)
Detlef Parr (FDP): Das Gentechnikgesetz hat zehn
Jahre lang zur wachsenden Akzeptanz der neuen Techno-
logie in unserer Bevölkerung beigetragen. Wir sind uns
mittlerweile einig: Die Bio-Medizin wird nach der IT-
Branche riesige Zukunftschancen eröffnen und erhebli-
ches Wachstum erfahren. Diese Entwicklung kann aber
nur dann eintreten, wenn auch in Deutschland die Rah-
menbedingungen so gesetzt werden, dass sie Kräfte ent-
fesseln, statt sie zu strangulieren.
Die vorliegende Novellierung des Gentechnikgesetzes
erfüllt diese Voraussetzungen leider nicht. Wir nutzen die
Gelegenheit nicht, um wesentliche für den internationalen
und europäischen Wettbewerb entscheidende Verfah-
renserleichterungen einzuführen. Als Umsetzung der EU-
Richtlinie hatte die Bundesregierung zunächst wenigstens
die Anzeige – anstatt der Anmeldung – bei weiteren Ar-
beiten der Sicherheitsstufe – geringes Risiko – vorgese-
hen. Doch nun wird per Änderungsantrag von SPD und
Grünen auch hier ein Anmeldeverfahren vorgesehen. Die
Gleichstellung von Forschung und Produktion – wie sie
die Richtlinie vorsieht – wird auf diese Weise nicht um-
gesetzt.
Die Bringschuld der Unternehmen gegenüber Behör-
den wird an allen erdenklichen Stellen erweitert. Dort al-
lerdings, wo die Behörden eine Bringschuld haben, soll
diese eingeschränkt werden. Die Genehmigungspflicht
für S-2-Überwachungslaboratorien wird abgeschafft. Der
Zeitverlust, der durch lange Anmeldungs- und Zulas-
sungsverfahren verursacht wird, soll nun dadurch umgan-
gen werden, dass es eine Genehmigungspflicht für S-2-
Überwachungslaboratorien nicht mehr geben soll.
Die Gentechnik-Sicherheitsverordnung wird in zehn
Fällen verschärft. In der Begründung heißt es, dass bereits
heute geltende und verpflichtende Sicherheitsmaßnah-
men aus dem Technischen Regelwerk – TRBA; Tech-
nische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe – in die
GenTSV überführt werden sollen. Eine Verordnung ist je-
doch wesentlich unflexibler, wenn es darum geht, Sicher-
heitsmaßnahmen an den aktuellen Stand von Wissen-
schaft und Technik anzupassen.
Das Arbeitsschutzgesetz wird verschärft. „Den Be-
schäftigten gemäß § 2 Abs.2 ArbSchG stehen Schüler,
Studenten und sonstige Personen, die gentechnische Ar-
beiten durchführen; gleich.“ Es steht zu befürchten, dass
Schüler und Studenten Beschäftigten – mit den entspre-
chenden Auflagen – gleichgestellt werden, selbst wenn sie
sich nur für einen Tag zu Demonstrationszwecken in Ver-
suchslaboren aufhalten. Dies erschwert sowohl die Ver-
mittlung von Grundkenntnissen der Gentechnik als auch
die Gewinnung von praktischen Erfahrungen.
Der Katalog der Ordnungswidrigkeiten wird ausge-
dehnt, wodurch das Misstrauen, das SPD und Grüne ge-
genüber der Gentechnik hegen, klar zum Ausdruck
kommt. Das betrifft insbesondere eine Nichtanmeldung
von „wesentlichen Änderungen der Beschaffenheit der
Anlage“. Gleichzeitig unterlässt man es, den Begriff der
„wesentlichen Änderung“ klar zu definierten, sodass hier
eine erhebliche Rechtsunsicherheit besteht. Die Folge da-
von ist, dass aus Gründen der „Prävention“ – im Sinne
von Verhinderung von Bußgeldern) bei jeder Änderung
mit den Behörden kommuniziert werden muss. In der
Konsequenz wird die Arbeit in Unternehmen und Lan-
desbehörden unter den sich anschließenden Diskussio-
nen, was „wesentliche Änderungen“ – ob dies zum Bei-
spiel Sicherheitswerkbänke oder Ähnliches sind! –
umfassen, gelähmt.
Die FDP-Fraktion huldigt keineswegs bedingungslo-
sem Fortschrittsglauben. Bei Berücksichtigung aller Be-
denken für die Zukunft unseres Landes ist eines von be-
sonderer Bedeutung: Wir müssen den Erkenntnissen der
Naturwissenschaft und der Technik mehr Vertrauen ent-
gegenbringen. Chancen und Risiken der Bio-Technolo-
gien müssen angemessen abgewogen werden – sachlich
und ohne einseitige Vorverurteilungen. Nur so können wir
die Zukunft verantwortungsvoll gestalten. Unter diesen
Gesichtspunkten, die der Antrag der Union auch zum
Ausdruck bringt, stimmen wir diesem zu und müssen den
Gesetzentwurf leider ablehnen.
Helmut Heiderich (CDU/CSU): CDU/CSU haben
schon 1990 ein umfassendes Regelwerk zur Gentechnik
geschaffen, dessen Grundsätze sich bis zum heutigen Tag
bewährt haben. Ja, mehr noch – die wesentlichen Elemente
wurden von der Europäischen Union als gesamteuropäi-
sches Recht übernommen und mit der Richtlinie 1998/81
verbindlich für alle Mitgliedstaaten verabschiedet.
Mehr als bedauerlich ist, dass die rot-grüne Bundes-
regierung dreieinhalb Jahre gebraucht hat, um diesen
europäischen Fortschritt mit den nationalen Regeln abzu-
gleichen. Wie in einem Tollhaus kommt es einem aber
vor, wenn nach so langer „Funkstille“ genau am Abend
vor der abschließenden Ausschussberatung sage und
schreibe 101 Seiten Änderungsanträge durch die Regie-
rungskoalition vorgelegt werden. Solches Vorgehen ist
eine Brüskierung parlamentarischer Arbeit. Und es macht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23761
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erneut deutlich, was Rot-Grün von einer ernsthaften fach-
lichen Auseinandersetzung im parlamentarischen Verfah-
ren hält.
Doch zurück zu den Grundstrukturen des Gentechnik-
rechts. Grundprinzip eins: CDU/CSU haben alle gentech-
nischen Verfahren in vier Sicherheitsstufen eingeteilt: von
Stufe 1 – harmlose Arbeiten – bis Stufe 4 – gefährdend für
Mensch und Umwelt. Die rot-grüne Bundesregierung
selbst hat jetzt in ihrem Zweiten Bericht über Erfahrungen
mit dem Gentechnikgesetz festgestellt, dass in allen Jah-
ren seit 1990 in allen Sicherheitsstufen kein einziger Pro-
blemfall bei gentechnischen Forschungen und Produk-
tionsverfahren aufgetreten ist. Es lohnt sich im Übrigen,
den zweiten Gentechnikbericht intensiver zu lesen. Er be-
zeugt von Anfang bis Ende positive Erkenntnisse zu die-
ser Zukunftstechnologie.
Grundprinzip zwei: Schritt für Schritt und konkret fall-
bezogen haben Forscher, Anwender und Behörden die
Entwicklung, die Fortschritte dieser Technologie zu beur-
teilen. Dies schafft Angemessenheit, dies schafft Passge-
nauigkeit, dies schafft Zuverlässigkeit und Grundlage für
Vertrauen. So wurden auch alle Bedenken, die von ver-
schiedenen Kritikern immer wieder bis hin zur Panik-
mache vorgebracht wurden und werden, voll und ganz
entkräftet. Gentechnik nach diesen Grundsätzen ist sicher,
ist verantwortbar und enthält als Zukunftstechnologie
viele Hoffnungen für die Menschheit.
Grundprinzip drei: strikte Wissenschaftsorientierung
für Genehmigung und Kontrolle gentechnischer Verfah-
ren und Anwendungen. Wie in internationalen Vertrags-
werken zugesichert, dürfen Entscheidungen auf dieser
Ebene weder vom Druck gesellschaftlicher Gruppen noch
von einer ideologischen Orientierung zuständiger Minis-
terien abhängig sein. Dieses Prinzip ist von Rot-Grün in
den vergangenen Jahren leider mehrfach durchbrochen
worden.
Grundprinzip vier: Offenheit und Transparenz aller
Verfahrensschritte von der Entwicklung im Labor bis zum
Kauf entsprechender Produkte aus dem Regal. Allerdings
verpflichtet solche Offenheit auch zum Schutz der Anbie-
ter vor zerstörungswütigen Gegnern und zur ernsthaften
Verfolgung solcher Straftaten, wie gerade erst im März
diesen Jahres die Vernichtung eines Versuchsfeldes in
Brandenburg mit gentechnisch verbessertem Raps zeigt,
welches im Rahmen des Forschungsprogrammes der
Bundesregierung „Sicherheit und Monitoring“ ange-
pflanzt wurde.
CDU/CSU haben unter diesen Gesichtspunkten von
Anfang an sehr vorsichtig, sehr umfassend und weit vor-
ausschauend gehandelt. Inzwischen zeigt die positive Er-
fahrung eines guten Jahrzehnts mehr als deutlich, dass an
vielen Stellen die strengen Verfahren gelockert, die hohen
Barrieren reduziert und das umfangreiche Verfahren be-
schleunigt werden kann. Dies ist in der Richtlinie 98/81
der Europäischen Union erkannt und umgesetzt worden.
Die Verfahren der präventiven Kontrolle wie auch der
behördlichen Überwachung wurden von der EU tenden-
ziell vereinfacht und die Abwicklung für die antragstel-
lenden Forschungseinrichtungen bzw. Unternehmen be-
schleunigt.
Immer wieder stellt auch die Bundesregierung in offi-
ziellen Erklärungen die Biotechnologie als Leittechnik
des neuen Jahrhunderts heraus. In ihrem heute ebenfalls
zu diskutierenden Erfahrungsbericht bezeichnet sie Gen-
technik als Innovationsmotor. Auch EU-weit sind die Er-
fahrungen langjährig positiv. Völlig im Gegensatz zu die-
sen richtigen Erkenntnissen gehen die Bundesregierung
und die rot-grüne Koalition mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf wieder deutlich einen Schritt rückwärts. Sie
erhöhen die bürokratischen Anforderungen, sie verlän-
gern die Wartefristen, sie komplizieren das Gentechnikre-
gelwerk im Verhältnis zur Vorlage der EU.
Welch fröhliche Urständ Sankt Bürokratius feiert, las-
sen Sie mich an der neuen Vorschrift zu Art. 3, Nr. 18,
Buchstabe b darstellen. Zitat: „Für die Beschäftigten sind
Bereiche einzurichten, in denen sie ohne Beeinträchti-
gung ihrer Gesundheit durch gentechnisch veränderte Or-
ganismen essen, trinken, rauchen, schnupfen oder sich
schminken können.“ Dabei bleibt auch noch offen, ob die
Beeinträchtigung der Gesundheit durch das Trinken, Rau-
chen und Schnupfen entsteht oder durch sozusagen kör-
perliche Verfolgung wild gewordener Gene, wie Green-
peace das so gern zur plakativen Verunsicherung darstellt.
Besonders unerträglich sind solche Verschärfungen ge-
genüber der EU für die Sicherheitsstufe 1. Arbeiten, For-
schungen in dieser Stufe sind per Definition ausdrücklich
als harmlos eingestuft. Deshalb ist es vollständig ausrei-
chend für die Kontrollbehörden, wenn bei neuen, fortge-
setzten oder erweiterten Arbeiten eine Anzeige der ge-
planten Aktivitäten bei der Behörde abgegeben wird.
Gerade im Hinblick auf Forschungseinrichtungen der
Universitäten, auf die dringende Notwendigkeit, solche
Standardverfahren der Gentechnik auch in die schulische
Ausbildung verstärkt einzubeziehen, müssen längst obso-
let gewordene, unnötige und überflüssige bürokratische
Hürden beseitigt werden. Wir können als verantwortliche
Politiker nicht über zu wenig Interesse an den Naturwis-
senschaften in unseren Schulen klagen, gleichzeitig die
Beschäftigung mit modernen Methoden der Naturwissen-
schaft aber wie den Eintritt in einen Hochsicherheitstrakt
behandeln. Solche Vorgaben lösen negative Rückwirkun-
gen aus und dürfen deshalb nicht gesetzlich festgeschrie-
ben werden.
Positiv ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des
Bundesrates zu beurteilen, bei der Einstufung nach S 1
nicht nur die eingesetzten Organismen zu beurteilen, son-
dern auch die entsprechenden rekombinanten Proteine in
die Überprüfung einzubeziehen. Damit wird die Beurtei-
lung als „harmlos“ noch weiter abgesichert und lässt da-
mit bürokratische Regulierungen für S 1 noch entbehr-
licher werden.
Die in unserem Entschließungsantrag geforderte amt-
liche Methodensammlung soll geschaffen werden, um
eine bundeseinheitlich gleiche Bewertung eingereichter
Anträge zu ermöglichen. Diese Neuerung darf allerdings
nicht zu zusätzlichen Kosten für die Betriebe und For-
schungseinrichtungen führen.
Insgesamt wird die Vorlage der Bundesregierung we-
der ihren eigenen Erkenntnissen noch dem Fortschritts-
verhalten der Europäischen Union gerecht. Sie erhöht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223762
(C)
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bürokratische Hürden, statt zu deregulieren. Sie erschwert
die breite Anwendung der Gentechnik auch dort, wo es
eindeutig um harmlose Arbeiten geht. Sie verschlechtert
die deutschen Chancen, in der Strategieplanung für Bio-
wissenschaften der Europäischen Union an der Spitze
mitzumarschieren.
Die Änderungen sind nicht getragen von der Verant-
wortung um Sicherheit, sondern von ideologisch motivier-
ter Ablehnung. So fördert man nicht neue Arbeitsplätze
und neue Technologien, sondern Vorbehalte in der Bevöl-
kerung und überflüssige Beschäftigung in der Bürokratie.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Novellierung des Gentechnikgesetzes GenTG zeigt erneut,
dass einzig und allein die rot-grüne Koalition eine verant-
wortliche und abwägende Gentechnikpolitik betreibt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Antrag vorgelegt,
der deutlich macht, dass sie am liebsten alle Sicherheits-
standards schleifen würde, wenn es denn ginge. Auf Auf-
zeichnungspflichten und Haftungsregelungen soll ver-
zichtet werden. Gentechnisch veränderte Pflanzen und
Tiere, die bisher ungefährlich erschienen, sollen aus dem
Geltungsbereich des Gentechnikgesetzes entlassen wer-
den. Zur Aufzeichnung der Arbeiten mit gentechnisch
veränderten Organismen sollen die einfachen Labor-
bücher genügen. Jeder, der mal im Labor gearbeitet hat,
weiß, was das bedeutet.
Wenn es nach der FDP ginge, würde sowieso das ge-
samte Gentechnikrecht hemmungslos liberalisiert.
Wir haben es dagegen geschafft, eine Gesetzesnovelle
vorzulegen, die erhebliche Verfahrensvereinfachungen
und Verfahrensbeschleunigungen vornimmt, allerdings
nur dort, wo das möglich und verantwortbar ist. Das ent-
lastet Anwender und Behörden gleichermaßen und kommt
Forschung und Wirtschaft zugute. Gleichzeitig haben wir
die hohen Sicherheitsstandards des deutschen Gentechnik-
rechts für Arbeiten im Labor erhalten. Es ist unser Ziel, al-
les zu tun, um die optimale Sicherheit unter Vorsorgege-
sichtspunkten sicherzustellen. Das schützt Mensch und
Natur und es hilft gleichzeitig Wissenschaft, Forschung
und Industrie, die auf verlässliche Rahmenbedingungen
und gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen sind.
Wir konnten im Gesetzgebungsverfahren wichtige
Verbesserungen durchsetzen, die Vorsorge und Sicherheit
stärken und die Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten der
zuständigen Länderbehörden verbessern:
Erstens. Im Rahmen der Verordnungsermächtigung, die
es aufgrund der EU-Verordnung ermöglicht, „ungefähr-
liche“ gentechnisch veränderte Mikroorganismen von den
Genehmigungsverfahren auszunehmen, haben wir eine
Mitteilungspflicht und ein Kataster für alle gentechnischen
Arbeiten verankert. Damit ist es möglich, dass die Behör-
den einen Überblick behalten, an welchen Stellen mit gen-
technisch veränderten Organismen geforscht wird. So ist
eine Rückverfolgbarkeit gewährleistet und auch eventuell
Haftungsansprüche können verfolgt werden.
Zweitens. Bei den weiteren Arbeiten in der Sicher-
heitsstufe 2 gilt weiterhin das bewährte Anmeldeverfah-
ren, ein Anzeigeverfahren wird nicht eingeführt.
Drittens. Der Vorsorgepassus in der Gentechniksicher-
heitsverordnung bleibt entgegen dem ursprünglichen Ent-
wurf des BMG erhalten.
Viertens. Die Definition der Sicherheitsstufe 1, nach
der „kein Risiko“ vorliegen darf, bleibt wie gehabt und
wird nicht geändert.
Fazit: Eine gelungene Gesetzesnovelle, die hohe Si-
cherheitsstandards und Entbürokratisierung miteinander
verbindet.
Kersten Naumann (PDS): Zum Gentechnikgesetz
gibt es wenig neue Erkenntnisse. Die PDS bleibt dabei,
dass sie den neuen Regelungen mit einer vorgesehenen
weitgehenden Deregulierung nicht zustimmen kann.
Kritikpunkte sind nach wie vor Fragen der Deckungs-
vorsorge, der Umgang mit der Selbstklonierung und der
Herabsetzung von Anforderungen bezüglich Anzeige,
Anmeldung und Genehmigung vor allem in den unteren
Sicherheitsstufen S 1 und S 2. Mit der Kürzung der Ent-
scheidungsfristen bzw. Prüfungsfrist von 30 Tagen für
gentechnische Arbeiten in Sicherheitsstufe 1 setzen sich
Behörden zudem selbst unter Zeitdruck. Intervenierung
wird unmöglich.
Bei der Umsetzung der Systemrichtlinie stellt sich die
Frage, warum die Bundesregierung unbedingt einen eige-
nen Gesetzentwurf einbringen muss, der in Teilen weit
über die Anforderungen aus der Systemrichtlinie hinaus-
geht. Trotz der bereits verstrichenen Frist und wegen des
anhängigen Klageverfahrens sollte nicht schnell ein Ini-
tiativrecht darüber hinweg täuschen, dass hier in einigen
Punkten versucht wird, den Unternehmen weit entgegen-
zukommen, dass damit aber ein Sicherheitsverständnis an
den Tag gelegt wird, das einem Vorsorgeprinzip nicht ge-
recht wird.
Die Begründung, weil es bisher keine ernst zu neh-
menden Probleme mit Freisetzungen von Mikroorganis-
men aus Labors und Produktionsanlagen gab, die eine Ge-
fährdung für die Bevölkerung oder Umwelt dargestellt
hätten, kann nicht akzeptiert werden. Es gibt in vielen
Wirtschaftsbereichen – und das nicht nur im Agrar- und
Lebensmittelsektor – genügend Beispiele dafür, dass erst
das Kind in den Brunnen fallen muss, bevor politisch ge-
handelt wird. Vorschriften zu Genehmigungen und zum
Umgang mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen
zu vereinfachen, nur um sie zu beschleunigen, kann nicht
der richtige Weg sein. Obwohl es bisher keine Probleme
mit der Verfahrensweise auch bezüglich gewerblicher An-
lagen gab, sollen hier gerade bei der Industrie bürokrati-
sche Wege abgebaut werden. Für einen Außenstehenden
stellt sich ohnehin die Frage, ob Salmonellen oder Eiter-
erreger als harmlos eingestuft werden können.
Beim Initiativrecht, wie es in Ihrer Begründung steht,
stehen vor allem arbeitsökonomische aber auch sachliche
Gründe im Vordergrund. Hinsichtlich der Problematik der
Abfallbeseitigung werden die rechtlichen Bedenken aber
erst im Zusammenhang mit einer späteren umfassenden
Änderung der Gentechnik-Sicherheitsverordnung gelöst
werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23763
(C)
(D)
(A)
(B)
Ausdrücklich möchte ich noch einmal darauf verwei-
sen, dass alle gentechnisch veränderten Mikroorganismen
oder in Zusammenhang mit der Technologie Gentechnik
genutzten Mikroorganismen in das Gentechnikgesetz ver-
ankert werden müssen. Bezüglich der Einbeziehung von
TSE-auslösenden Agens als Mikroorganismus scheint
sich die Bundesregierung bezüglich Rechtssicherheit
nicht ganz sicher zu sein, ob die Biostoff-Verordnung und
das Infektionsschutzgesetz ausreichen. Eine erneute
Überprüfung ist zumindest angekündigt.
Zu begrüßen ist, dass die von der Bundesregierung erst
vorgesehene gleichzeitige Umsetzung der neuen EU-Frei-
setzungs-Richtlinie zurückgezogen worden ist. Hier ist
nicht nur der Diskurs grüne Gentechnik beendet, auch auf
europäischer Ebene bleibt abzuwarten, ob sich das De-
facto-Moratorium der sechs EU-Länder nicht noch erwei-
tert. Die deutsche Bundesregierung hätte hier auch als Si-
gnal an die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie
Bürgerinnen und Bürger diesen Schritt gehen können und
bereits vor zwei Jahren – so wie die Grünen es forderten –
sich am Moratorium beteiligen können.
Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Gesundheit: „Die positiven
Möglichkeiten der Gentechnik verantwortungsvoll wei-
terentwickeln“, das ist das Ziel der Bundesregierung. Das
bedeutet auf der einen Seite, den Schutzgedanken des Ge-
setzes durch das Vorsorgeprinzip zu stärken und damit
Mensch und Umwelt vor möglichen Risiken und Gefah-
ren der Gentechnik wirkungsvoll zu schützen. Es bedeu-
tet aber auch, dort zu deregulieren, wo es notwendig und
verantwortbar ist.
Dieser Zielsetzung trägt die Novellierung des Gen-
technikrechts Rechnung. Deshalb gibt es Vereinfachun-
gen für die Betreiber gentechnischer Anlagen in den nied-
rigen Sicherheitsstufen ohne oder mit nur geringem
Risiko. Gleichzeitig wird die präventive Kontrolle dort
gestärkt, wo mit gefährlichen Organismen umgegangen
wird, also in den höheren Sicherheitsstufen.
Das deutsche Gentechnikrecht beruht im Wesentlichen
auf europäischem Gemeinschaftsrecht. Mit dem Zweiten
Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes setzen wir
eine Änderungsrichtlinie der EU – Richtlinie 98/81/EG –
um. Sie regelt den Umgang mit gentechnisch veränderten
Mikroorganismen in geschlossenen Systemen, zum Bei-
spiel in Laboratorien oder Produktionsanlagen.
Dabei ist die im deutschen Gentechnikrecht verankerte
Unterteilung von vier Sicherheitsstufen bei gentechni-
schen Arbeiten von der Änderungsrichtlinie der EU weit-
gehend übernommen worden. Neben den Regelungen
zum Sicherheitsniveau enthält die Änderungsrichtlinie
auch Vorschriften zur Deregulierung.
Der Entwurf der Bundesregierung wurde intensiv mit
den Beteiligten erörtert. Dazu gehörten die Bundesländer,
deren Behörden für Genehmigung und Überwachung zu-
ständig sind, Wissenschaft, Industrie, Umweltorganisatio-
nen, Arbeitsschützer und viele andere mehr. Am Ende der
Diskussion steht nun ein ausgewogener und solider Vor-
schlag zur Änderung des deutschen Gentechnikrechts.
Ich möchte kurz die wichtigsten Eckpunkte nennen:
Eine Verordnungsermächtigung eröffnet die Möglichkeit,
zukünftig gentechnisch veränderte Mikroorganismen, die
sich als besonders sicher erwiesen haben, aus dem Gel-
tungsbereich des Gesetzes ganz oder teilweise zu entlas-
sen.
Die nicht sachgerechte Differenzierung zwischen
Arbeiten zu Forschungszwecken und gewerblichen Zwe-
cken wird abgeschafft.
Die Verwaltungsverfahren für gentechnische Arbeiten
mit keinem oder geringem Risiko werden vereinfacht.
Die präventive Kontrolle für gentechnische Arbeiten
mit höherem Risiko wird gestärkt. Gesetz und Verord-
nungen, insbesondere die Gentechnik-Sicherheitsverord-
nung, werden an neue Entwicklungen im Bereich des Ar-
beitsschutzes angepasst.
Die Zentrale Kommission für die Biologische Sicher-
heit, ZKBS, wird um den Bereich des Verbraucher-
schutzes erweitert.
Mit diesem Konzept steht der Entwurf der Bundesre-
gierung in Übereinstimmung mit den Feststellungen des
Erfahrungsberichts. Der Erfahrungsbericht kommt zu
dem Gesamtergebnis, dass die Gentechnik in Deutschland
sicher gehandhabt wird. Das bewirken die bei uns beste-
henden Regelungen, ihr kompetenter Vollzug und die
langjährige Erfahrung im Umgang mit dieser Technolo-
gie.
Damit auch der nächste Erfahrungsbericht zu einem
möglichst positiven Ergebnis gelangen kann, musste sorg-
fältig geprüft werden, welche der vom EU-Recht eröffne-
ten Möglichkeiten der Verfahrenserleichterungen unter
Vorsorgegesichtspunkten in nationales Recht übernom-
men werden können. Diese Grundeinschätzung teilen wir
auch mit den Bundesländern unter der Federführung des
Landes Bayern.
Die Bundesregierung ist den Ländern in zahlreichen
und zum Teil durchaus wesentlichen Punkten entgegen-
gekommen. Andererseits hat der Bundesrat wichtige
Punkte unseres Vorschlags aufgenommen. In der Summe
wird also die weitere verantwortungsvolle, sichere Nut-
zung und Entwicklung einer wichtigen Technologie er-
möglicht. Dadurch wird Deutschland weiterhin ein siche-
rer Standort für Forschung und Nutzung in der modernen
Biotechnologie sein, in dem das vorhandene Potenzial
dieser Technologie ausgeschöpft werden kann.
Ich bin davon überzeugt, dieser Ansatz ist richtiger, als
ungeprüft den vom EU-Recht eröffneten Deregulierungs-
spielraum bis zum Letzten auszureizen, wie das der Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU beinhaltet. Denn die
Chancen, die diese Technologie bietet, können nur ge-
nutzt werden, wenn auch in der Bevölkerung die notwen-
dige Akzeptanz besteht. Diese Akzeptanz ist eng ver-
knüpft mit Sicherheit.
Ich möchte Sie daher bitten, dem von der Bundesre-
gierung vorgelegten Entwurf mit den vorliegenden Ände-
rungsanträgen zuzustimmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223764
(C)
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Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts,
zu Transparenz und Publizität (Transparenz-
und Publizitätsgesetz) (Tagesordnungspunkt 32)
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Mit dem vorlie-
genden Entwurf des Transparenz- und PublizitätsG wer-
den einige der Empfehlungen der Regierungskommission
„Corporate Governance“ umgesetzt. Im Wesentlichen
sind dies aktien- und bilanzrechtliche Veränderungen.
Die Kommission hat im Sommer vergangenen Jahres
einen Bericht und am 26. Februar 2002 einen „Corporate
Governance-Codex“ vorgelegt. Er enthält insbesondere
Vorschläge zu Verhaltensstandards und Offenlegungspflich-
ten für börsennotierte Unternehmen, beispielsweise ein in-
tensiveres Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichts-
rat, eine verbesserte Information des Aufsichtsrates und eine
Verbesserung der Diskussionskultur im Aufsichtsrat.
Ein Novum für Deutschland ist die Einführung einer so
genannten „Entsprechendserklärung“. Mit ihr, weil im
TransPuG verankert, gelingt der Brückenschlag zu jenen
Teilen des Kodex, die empfehlenden Charakter haben.
Jährlich haben sich zukünftig börsennotierte Gesellschaf-
ten zu erklären, dass sie den Verhaltensempfehlungen der
Kodex-Kommission zur Unternehmensleitung und -über-
wachung entsprochen haben oder aber die Abweichung
davon darlegen. Diese Erklärung soll nicht irgendwo still
hinterlegt werden, sondern, so will es das Gesetz, ist den
Aktionären dauerhaft zugänglich zu machen. Auch der
Kodex ist öffentlich. – Es ist im elektronischen Bundes-
anzeiger bekannt zu machen.
Das TransPuG greift zahlreiche Anregungen der Kom-
mission auf und gibt dort, wo es zwingend erforderlich ist,
den rechtlichen Rahmen und die Sicherheit für eine ange-
messene Weiterentwicklung des deutschen Aktien- und Bi-
lanzrechtes. Kodex und Gesetz sind ein gut ausbalanciertes
Instrument von freiwilliger aber verbindlicher Selbstver-
pflichtung der Unternehmen einerseits und mehr Informa-
tion für Anleger und solche, die es werden möchten, zum
anderen. Wir setzen darauf, dass diese Feinabstimmung zu
einer vorteilhaften Entwicklung beiträgt. Und nur dort, wo
die Kraft des Gesetzes zwingend wirksam werden muss,
haben wir Regelungen im TransPuG getroffen.
Lassen sie mich nun auf einige wesentliche Verbesse-
rungen eingehen.
Erstens. Die Nutzung elektronischer Medien ist ange-
messen etabliert. Durch die Einführung eines elektroni-
schen Bundesanzeigers, durch den Wegfall von ver-
schriftlichtem Informationsfluss dort, wo er durch
Internet-Nutzung ersetzt werden kann, geben wir einer
angemessenen Modernisierung Raum. Wir, und das heißt
in diesem Fall das ganze Haus, legen aber auch Wert da-
rauf, dass dem „Virtuellen“ Grenzen gesetzt werden müs-
sen. So haben wir übereinstimmend festgestellt, dass Auf-
sichtsratssitzungen, insbesondere Bilanzsitzungen, nicht
als „Video-Konferenz“ abgehalten werden sollten.
Die Formulierung im vorliegenden Entwurf hebt des-
halb zu Recht darauf ab, dass „die Satzung in bestimmten
Fällen vorsehen kann, dass die Teilnahme von Mitglie-
dern des Aufsichtsrates im Wege der Ton- und Bildüber-
tragung erfolgen darf.“ Um hier mehr Klarheit zu schaf-
fen, weist der Rechtsausschuss darauf hin, „dass die
Einführung neuer Kommunikationsmedien auch bei Auf-
sichtsratssitzungen zwar grundsätzlich zu begrüßen ist,
dass das gesetzliche Modell der Aufsichtsratsssitzung
aber nach wie vor die Präsenzsitzung ist. Dies gilt in ganz
besonderem Maße für die Sitzung, die der Bilanzfeststel-
lung dient. Das persönliche Gespräch untereinander, aber
etwa auch mit dem Abschlussprüfer ist wichtig und sollte
der Regelfall bleiben. Eine Überdehnung der Nutzung vir-
tueller Sitzungen wäre schädlich. Der Ausschuss bittet die
Bundesregierung, die weitere Entwicklung zu beobachten
und gegebenenfalls Vorschläge zur Erhaltung mindestens
einer Präsenzsitzung zu machen.“
Zweitens. Die Rechte und Pflichten des einzelnen Auf-
sichtsratsmitgliedes werden gestärkt. Wir haben dazu die
Frage des Umgangs mit „querulatorischen“ Aufsichtsrats-
mitgliedern ausführlich erörtert. In der Praxis taucht die-
ses Problem immer wieder auf. Insofern haben wir über-
legt, ob es sinnvoll und möglich ist, hier in der Frage des
Berichtsverlangens eine qualitative Schwelle zu formu-
lieren. Da jedoch eine „Berichtsanforderung nur aus
wichtigem Grund“ weniger wäre als die geltende Rechts-
lage, hat sich der Rechtsausschuss auch an dieser Stelle
entschieden, zur Verdeutlichung des Gewollten die Aus-
führungen der amtlichen Begründung zu bekräftigen,
„wonach das Recht auf Berichtsanforderung eine imma-
nente Missbrauchsschranke enthält. Es bedarf also keiner
besonderen Erwähnung im Gesetz, dass missbräuchliche,
insbesondere schikanöse oder querulatorische Verlangen
von Vorstand zurückgewiesen werden können. Es obliegt
dann der Rechtsprechung, die Missbrauchskriterien im
Einzelfall zu bestimmen.“
Festzustellen bleibt, dass die Intention dieser den Auf-
sichtsrat betreffenden Regelungen darin besteht, die Ver-
antwortung eines jeden einzelnen Aufsichtsratsmitgliedes
herauszuarbeiten. Entsprechend wird er mit mehr Rechten
ausgestattet. Aber auch seine Pflichten werden ausdrück-
lich formuliert, so in § 116 die nährere Definition und Er-
weiterung des Vertraulichkeitsgebotes.
So weit zum aktienrechtlichen Teil.
Drittens. Das TransPuG enthält in Artikel II eine Reihe
von bilanzrechtlichen Veränderungen. Die in diesem Ent-
wurf gefassten bilanzrechtlichen Veränderungen basieren
auf Vorschlägen des Deutschen Rechnungslegungsstan-
dard-Komitees. Es hat, aus gutem Grund, eine Vielzahl
von Vorschlägen zur Umsetzung empfohlen. Sie orientie-
ren sich alle an dem Ziel, mehr Vergleichbarkeit und Ähn-
lichkeit und damit mehr Anpassung an internationale
Standards der Rechnungslegung zu erreichen.
Nun stellt sich die Frage: Wie sinnhaft sind Detail-
regelungen angesichts eines umfassenden Reformbedarfs
des HGB einerseits und wie sinnvoll ist eine bundesdeut-
sche Neuregelung angesichts einer zu erwartenden euro-
päischen Richtlinie andererseits? In Kenntnis des Gesamt-
reformbedarfs und in der realistischen Einschätzung, dass
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23765
(C)
(D)
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(B)
eine europäische Richtlinie in den nächsten fünf Jahren
nicht zu erwarten ist, sind die hier vorgesehenen Verände-
rungen sinnvoll.
Nicht immer bekommen Gesetzesentwürfe „gute No-
ten“. In diesem Fall liegt jedoch eine sehr positive Ge-
samtbewertung vor, von den Wirtschaftsverbänden wie
auch dem DGB. Die Zeitschrift „Creditreform“ skizziert
in ihrer jüngsten Ausgabe in einer Tabelle „Finanzplatz
Deutschland: Bausteine zur Verbesserung der Attrakti-
vität“ das TransPuG mit zwei Stichworten: Kontrolle un-
ternehmerischer Risiken und Anerkennung Verhaltens-
kodex in Anlehnung an „Codes of Best Practice“.
In der Tat: Ein Baustein zur Verbesserung der Attrakti-
vität des Finanzplatzes Deutschlands ist dieses Vorhaben.
Mit ihm sind jedoch nicht alle von der Kommission for-
mulierten Empfehlungen an den Gesetzgeber umgesetzt.
Es muss und wird weitere „Bausteine geben“. Hierin stim-
men alle Seiten dieses Hauses überein.
Danken möchte ich an dieser Stelle zunächst den Ver-
tretern des Justizministeriums, die dieses Vorhaben in sei-
ner parlamentarischen Phase kompetent und freundlich
begleitet haben. Wir haben es ihnen allerdings auch leicht
gemacht. Damit meine ich insbesondere die Bericht-
erstatter Frau Dr. Tiemann und Herrn Funke, die außer-
ordentlich kollegial und lösungsorientiert zum Gelingen
beigetragen haben.
In Kürze können sich deutsche kapitalmarktorientierte
Unternehmen darauf einstellen, dass sie erstmals für 2002
eine Erklärung abgeben können, dass sie den Empfehlun-
gen des Kodex entsprechen oder aber welche Empfehlun-
gen in ihrem Unternehmen nicht angewendet werden. Es
liegt nunmehr in der Verantwortung der Unternehmen,
aus dem Kodex ein Gütesiegel werden zu lassen.
Ein erster Schritt zu mehr Transparenz und Publizität
und ein erster Schritt zu verbindlicher Selbstregulation ist
damit gemacht. Dies ist ein mutiger Schritt des Gesetz-
gebers, hoffentlich ein erfolgreicher.
Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU): Die CDU/CSU-
Fraktion hat sich lange darüber beraten, ob sie dem vor-
liegenden Gesetzentwurf zustimmen kann. Wir werden
dies nun letztendlich tun, weil das Gesetz die von uns in
der letzten Legislaturperiode, insbesondere mit dem so
genannten KonTraG, eingeleitete Linie fortsetzt und da-
mit einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, wenn
auch nur einen sehr kleinen und nicht sehr mutigen.
Der vorliegende Gesetzesentwurf zeigt wieder einmal
exemplarisch die Arbeitsweise der derzeitigen Bundesre-
gierung auf, die ich mit den Bezeichnungen „Stückwerk“
und „mangelnde Planung in zeitlicher Hinsicht“ beschrei-
ben möchte. Um Unentschlossenheit und zeitliche Verzö-
gerung nicht allzu augenfällig werden zu lassen, werden
dann die Vorhaben dafür umso schneller durch das Ge-
setzgebungsverfahren gepeitscht.
Und so auch hier: Als ein Beispiel sei hier nur die im
vorliegenden Gesetzentwurf geplante Änderung von
§ 317 Abs. 4 HGB erwähnt, der Gegenstand und Umfang
der Abschlussprüfung regelt. Diese Vorschrift war erst vor
kurzem durch das 4. Finanzmarktförderungsgesetz geän-
dert worden, die nun geplante Änderung soll den Kreis der
betroffenen Aktiengesellschaften abermals neu definie-
ren. Einzig die juristischen Verlage dürften sich über die
Arbeitsweise der Bundesregierung freuen; der Gesetzes-
anwender bedankt sich beim Einsortieren der Gesetzes-
nachlieferungen und der Zurkenntnisnahme der Ände-
rung zu der Änderung bei der Bundesregierung und ihrer
unorthodoxen Arbeitsweise jedenfalls nicht.
Diese unorthodoxe Arbeitsweise hat uns im Gesetzge-
bungsverfahren auch ganz überraschend die Einfügung
eines neuen Artikels beschert. In diesem neuen Artikel IV
soll unter anderem ein § 125 a in das Patentgesetz einge-
führt werden, der sich mit der Möglichkeit der Verwen-
dung eines elektronischen Dokuments im Verfahren
vor dem Patentamt, dem Patentgericht und dem Bundes-
gerichtshof befasst. Die Änderungen im Gebrauchs-
mustergesetz, des Halbleiterschutzgesetzes und des
Geschmacksmustergesetzes sollen auf die geplante Ände-
rung des PatentG verweisen. Im Markengesetz wird ein
neuer § 95 a eingeführt, der sich ebenfalls mit dem elek-
tronischen Dokument befasst. Alles Änderungen, die in-
haltlich nicht zu beanstanden sind. Doch die Art und
Weise, wie der neue Artikel IV im TransPub kurz vor der
Verabschiedung auftauchte, zeigt klar, dass bei der der-
zeitigen Bundesregierung von Konzepten nicht gespro-
chen werden kann, denn ansonsten hätte das TransPub
von Anfang an fünf Artikel gehabt.
Genug aber über die Arbeitsweise. Inhaltlich hatten wir
ursprünglich große Bedenken, der vorgesehenen Ände-
rung bilanzrechtlicher Vorschriften zuzustimmen.
Die Ansätze hierzu im TransPubG sind dabei im Ein-
zelnen keineswegs negativ zu bewerten. Die Abschaffung
von Wahlrechten ist unter dem Blickwinkel einer Verein-
heitlichung des Bilanzrechts in Europa an sich durchaus
folgerichtig. Der Druck auf die internationale Anglei-
chung der Rechnungslegungsstandards hat sich zwi-
schenzeitlich erheblich erhöht. Für die europäischen Fi-
nanzmärkte, die international wettbewerbsfähig sein
wollen und müssen, ist es von elementarer Bedeutung,
dass die Vergleichbarkeit der Jahresabschlüsse von Un-
ternehmen im Interesse der Anleger und Emittenten ge-
währleistet ist. Die eingeräumten Wahlrechte beeinträch-
tigen diese Vergleichbarkeit, weil bei unterschiedlicher
Vorgehensweise jeweils die Prüfung des konkreten Aus-
sagegehalts des aufgestellten Unternehmensjahresab-
schlusses erforderlich ist.
In der Gesetzesbegründung wird aber ganz grundsätz-
lich ausgeführt, dass durch die Änderungen den Unter-
nehmen der in den nächsten Jahren bevorstehende Über-
gang zu einem stärker an internationalen Grundsätzen
orientierten Konzernbilanzrecht erleichtert werden solle,
wobei es allerdings nicht zu vermeiden sei, dass einige der
nunmehr vorgeschlagenen Regelungen im Verlauf der
nächsten Jahre nochmals modifiziert werden müssten.
Das TransPub will eine Umorientierung bei einer Vielzahl
von Wahlrechten einleiten, wie sie in der 7. EU-Richtlinie
gewährt werden und vom deutschen Gesetzgeber einge-
führt worden sind, mit der Pflicht zum Einzelabschluss
und für nicht börsennotierte Unternehmen auch zur Rech-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223766
(C)
(D)
(A)
(B)
nungslegung nach internationalen Standards. Auf der eu-
ropäischen Ebene ist derzeit aber vieles noch in Bewe-
gung. Hier sollen sämtliche Bilanz-Richtlinien in eine ge-
meinsame Verordnung zusammengefasst – und inhaltlich
an die IAS, die Internationalen Rechnungslegungsstan-
dards, angepasst werden, denen sie bisher nur teilweise
entsprechen. Darunter könnten sich auch solche Bestim-
mungen befinden, die bisher nationale Wahlrechte betref-
fen. Unter Umständen werden auch bisher bestehende
Wahlrechte vereinheitlicht, um auf diese Weise eine An-
gleichung zu erreichen. Dabei muss eine Angleichung der
Wahlrechte nicht auch gleichzeitig die Abschaffung der
Wahlrechte bedeuten. Im Zuge der Vereinheitlichung
kann durchaus auch die Beibehaltung von bestimmten
Wahlrechten in Erwägung gezogen werden, die dann aber
zwingend in allen nationalen europäischen Rechtsord-
nungen gelten würden. Als Beispiel sei hier § 299 Abs. 1
HGB erwähnt, der die Wahl des Stichtages für die Auf-
stellung eines Konzernabschlusses regelt. Bisher besteht
die Möglichkeit, den Konzernabschluss auf den Stichtag
des Jahresabschlusses des Mutterunternehmens, auf den
hiervon abweichenden Stichtag der Jahresabschlüsse der
bedeutenden oder der Mehrzahl der in den Konzern-
abschluss einbezogenen Unternehmen aufzustellen. Im
vorliegenden Gesetzentwurf soll dieses auf Art. 27 der
RL83/349/EWG beruhende Wahlrecht eingeschränkt und
der Konzernabschluss zwingend auf den Stichtag des Jah-
resabschlusses des Mutterunternehmens aufgestellt wer-
den. Unabhängig davon, dass die Einschränkung des
Wahlrechts gerade bei kleineren oder mittleren Holding-
gesellschaften zu einem erheblich größeren Arbeits- und
Kostenaufwand führen kann, zeigt der Vergleich einiger
europäischer Rechtsordnungen zu diesem Punkt kein ein-
heitliches Bild. So existieren zum Beispiel in Italien,
Frankreich und Österreich gesetzliche Regelungen, die
der derzeitigen deutschen Rechtslage entsprechen; wo-
hingegen die Rechtslage im Vereinigten Königreich und
Spanien der geplanten Rechtslage entspricht. In welcher
Form eine Angleichung erfolgt, dürfte also zum heutigen
Zeitpunkt relativ offen sein.
Es wäre gerade für die Wirtschaft eine sehr negative
Entwicklung, wenn die Regelungen des TransPubGeset-
zes teilweise wieder rückgängig gemacht werden müss-
ten. Rechtssicherheit und Kontinuität, die gerade auf dem
Gebiet der Rechnungslegung von großer Bedeutung sind,
wären so jedenfalls nicht erreichbar. Im Rahmen der ers-
ten Lesung habe ich daher ausgeführt, dass mir eine Ab-
schaffung der Wahlrechte zum derzeitigen Zeitpunkt zu
riskant erscheine. Die Experten versichern uns nun glaub-
haft und übereinstimmend, dass die Regelungen des
TransPubGesetzes genau in die Richtung gingen, wie sie
von der europäischen Entwicklung zu erwarten seien und
wir uns daher auf dem richtigen Weg befänden. Lassen
Sie uns dies gemeinsam hoffen, damit für die bilanzie-
rende Wirtschaft nicht noch größere Unsicherheit erzeugt
wird.
Klar ist aber auch – und darüber sind wir uns alle
einig –, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz, gerade
was das Handelsrecht angeht, nur Stückwerk vollbringen.
Unser Handelsrecht ist seit längerer Zeit kein in sich ge-
schlossenes Konzept mehr. Ist in Deutschland der Einzel-
abschluss traditionell sowohl in das Gesellschaftsrecht als
auch das Steuerrecht eingebunden, so bedarf seine Inter-
nationalisierung einer ganz besonders sorgfältigen Prü-
fung. Denn gerade für kleine und mittlere Unternehmen
würden zusätzliche administrative Belastungen drohen,
wenn diese weit gehende Übereinstimmung von Han-
dels-, und Steuerbilanz aufgegeben werden müsste. Au-
ßerdem erfordert das Vordringen der Grundsätze interna-
tionaler Rechnungslegung eine Auseinandersetzung mit
dem steuerrechtlichen Maßgeblichkeitsgrundsatz, der
heute schon durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse und
dessen Fortbestand tatsächlich gefährdet ist. Schließlich:
In Deutschland hat die Sicherungsfunktion der Kapital-
erhaltung mit Vorsichtsprinzip und Einzelbewertungs-
grundsatz die Bilanzierung entscheidend geprägt. Im
internationalen Bereich unabdingbare Informationsbe-
dürfnisse stellen diese Konzeption zunehmend infrage.
Wir müssen uns also ganz grundsätzlich fragen, ob der
institutionelle Gläubigerschutz durch Kapitalerhaltung
und Ausschüttungsbegrenzung tatsächlich noch die zu-
künftig prägenden Grundsätze unseres Bilanzierungs-
rechts bilden sollen. Hier ist eine umfassende Diskussion
der Kapitalerhaltung nötig. Außerdem muss überlegt wer-
den, ob an der traditionellen Trennung von externem und
internem Rechnungswesen festgehalten werden soll.
Wir brauchen also eine umfassende und in sich stim-
mige Bilanzrechtsreform, die wir in der nächsten Legisla-
turperiode in Angriff nehmen werden und uns dabei hof-
fentlich auf europäische Grundlagen stützen können, die
verlässlicher sind als die heutigen.
Im April dieses Jahres haben die Finanzminister der
15 EU-Mitgliedstaaten im spanischen Oviedo über einem
Fünf-Punkte-Plan beraten, um kriminellen Handlungen
von Unternehmensmanagern, Wirtschaftsprüfern und Fi-
nanzanalysten vorzubeugen. Im Rahmen der Gespräche
kamen die Finanzminister überein, dass alle größeren
Aktiengesellschaften in den Mitgliedstaaten den interna-
tionalen Rechnungslegungsstandard IAS bereits ab 2005,
und nicht erst wie geplant ab 2007, verbindlich anwenden
sollen. Eine Verkürzung der Übergangsfristen bedeutet,
dass sich die betroffenen Unternehmen frühzeitiger über
ihre Verpflichtungen im Klaren sein müssen, damit die
Umstellung effektiv betrieben werden kann. Dies bedeu-
tet, dass der Gesetzgeber möglichst früh die entsprechen-
den Regelungen auf den Weg bringen muss.
Im Übrigen setzt es sich das Gesetz zum Ziel, wie der
Name sagt, Transparenz und Publizität im Unterneh-
mensbereich zu fördern. Es geht dabei auch hier in die
richtige Richtung. Einzelne Vorschriften könnten jedoch
exakter durchdacht und gefasst werden.
So hätte bei der Einführung der Sachdividende – Art. 1
Nr. 3, § 58 AktG-E – auf jeden Fall auch die steuerliche
Bewertung der Sachdividende geklärt werden müssen.
Selbstverständlich ist dies im Aktienrecht nicht möglich
und muss dem Steuerrecht überlassen bleiben. Das war
wegen der Kürze der Zeit nicht möglich. Hier rächt sich
wieder einmal das Durchpeitschen von Gesetzen. Lang
kann der Gesetzgeber hiermit aber nicht warten. Unklar
ist nämlich die Frage des Bewertungsmaßstabs – gege-
benenfalls § 8 oder § 19 a EstG. Gleichzeitig sind der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23767
(C)
(D)
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(B)
Bewertungszeitpunkt – Beschluss über die Ausschüttung
oder Zufluss bei dem Anteilseigner – und die Frage, ob
Kapitalertragsteuer einzubehalten ist, bisher nicht geklärt.
Für die Zukunft wird zu bedenken sein, dass die Be-
steuerung der Sachdividende sowohl bei der ausschütten-
den Kapitalgesellschaft als auch bei deren Anteilseignern
zu einer Doppelbesteuerung von bereits aus versteuertem
Einkommen geschaffenen Werten führt. Ein solches Er-
gebnis wäre rechtlich und wirtschaftlich problematisch.
Hinsichtlich des Art. 1 Nr. 5, § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG-E,
Umfang der so genannten „Follow-up“- Berichterstattung
des Vorstands an den Aufsichtsrat, schließt die Konkreti-
sierung nach dem Vorschlag des Bundesrates eine bisher
im Entwurf existierende Lücke. Allerdings besteht auch
hier noch zukünftiger Handlungsbedarf, um querulatori-
sche Berichterstattungsverlangen auszuschließen, etwa
durch Beschränkung solcher erneuten Berichterstattungs-
verlangen auf Fälle mit wichtigem Grund. Der Bericht des
Rechtsausschusses weist auf dieses Problem hin.
Die Möglichkeit der Teilnahme an Aufsichtsratssitzun-
gen in Form von Telefon- oder Videokonferenzen ist eine
interessante Ergänzung und trägt neuen Möglichkeiten
der Flexibilität Rechnung. Allerdings sollte sie die Aus-
nahme bleiben, um nicht letztlich zum „virtuellen Auf-
sichtsrat“ zu führen. Um dies sicherzustellen, wäre an sich
eine Konkretisierung zu Art. 1 Nr. 8, § 110 Abs. 3 AktG-E,
erforderlich gewesen, der sich mit der Einberufung des
Aufsichtsrats und der Anzahl der Sitzungen beschäftigt.
Immerhin ist die Teilnahme aus der Ferne – wie die Ge-
setzesbegründung ausweist – auch für ganze Sitzungen
vorgesehen. Mindestens also für die Aufsichtsratssitzung,
in der die Bilanz festgestellt wird und auf der die Wirt-
schaftsprüfer berichten und Rede und Antwort stehen,
sollte eine physische Teilnahmepflicht vorgesehen wer-
den. Wenn die Bundesregierung hier erst die zukünftige
Entwicklung abwarten will, bleibt das für uns unbefriedi-
gend. Wir haben uns deshalb nur vorläufig mit einer Er-
wähnung der Problematik und der Feststellung, dass die
physische Teilnahme nach wie vor die Regel bleiben
muss, begnügt.
Zu begrüßen ist die Aufnahme des Vertraulichkeitsge-
bots für Aufsichtsratsmitglieder in § 116, wie sie bisher
ausdrücklich schon für den Vorstand besteht. Hierdurch
wird die besondere Verantwortung eines jeden Aufsichts-
ratsmitglieds betont, die Rolle des Aufsichtsrats insge-
samt gestärkt. Der gleiche Vertraulichkeitsmaßstab für
Vorstand und Aufsichtsrat ist dabei nur folgerichtig – die
Kehrseite der intensivierten Berichtspflicht des Vorstan-
des an den Aufsichtsrat.
Ein Kernstück des Gesetzes bildet der so genannte Cor-
porate-Governance-Codex, § 161 AktG-E. Er soll gerade
das Instrument darstellen, um ein Verhalten nach dem
best-practice-Grundsatz in den Unternehmen zu gewähr-
leisten. Sicher: Auch die Zukunft eines rein nationalen
Corporate-Governance-Codexes ist bereits heute fraglich.
Es bleibt bisher aber ungeklärt, ob es einen europäischen
Corporate-Governance-Codex überhaupt geben wird.
Eine Studie, im Auftrag der Kommission durchgeführt,
riet von der Einführung ab. Allerdings haben Kommission
und Rat weiteren Beratungsbedarf angemeldet. Bei dieser
Sachlage lässt es sich rechtfertigen, auf nationaler Ebene
Initiativen zu unternehmen. Wir sind übereinstimmend
der Meinung, dass der Handlungsbedarf, der hier besteht,
nicht von der bisher schwer überschaubaren europäischen
Entwicklung abhängig gemacht werden darf.
Es ist auch richtig und entspricht dem so wichtigen
Grundsatz der Subsidiarität, die Abfassung und Weiter-
entwicklung des Codexes der Wirtschaft selbst zu über-
lassen und damit den Sachverstand der Wirtschaft zu nut-
zen sowie ihre Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft zu
wecken und einzusetzen. Dabei verbleibt dem Bundesmi-
nisterium der Justiz immer noch die nötige Kontrollmög-
lichkeit, wenn der Codex jeweils von der Sinngebung des
Gesetzes abzuweichen droht. In einem solchen Fall würde
er eben nicht, wie im Gesetz vorgesehen, im Bundesan-
zeiger veröffentlicht und erhielte damit keine Geltungs-
kraft. Eine solche Vorgehensweise ist unter den Aspekten
demokratischer Legitimation verfassungsrechtlich auch
zu vertreten, zumal es sich beim Codex, wie man so schön
sagt, um so genanntes „soft law“ handelt.
Bei der Neufassung des § 321 HGB, der den Inhalt des
Prüfungsberichtes regelt, ist folgendes zu erwähnen: Für
mich und die Fraktion der CDU/CSU ist nicht ersichtlich,
was die Bundesregierung veranlasst haben mag, die durch
das KonTraG eingeführte Negativerklärung in Absatz 3
durch eine Positiverklärung zu ersetzen. Die Regierungs-
kommission Corporate Governance hat in ihrem Ab-
schlussbericht diese Änderung abgelehnt und ausgeführt,
dass sich bisher keine wesentlich neuen Gesichtspunkte
ergeben hätten, welche eine neuerliche Änderung ange-
zeigt erscheinen ließen. Die Gesetzesbegründung
schweigt zu diesem Punkt. Woher die Erleuchtung der
Bundesregierung, entgegen der Ansicht der Experten, ge-
kommen ist, bleibt uns daher verschlossen. Ich kann nur
sagen: „Schade!!!“. Gerne hätte ich von diesen verborge-
nes Quellen des Wissens partizipiert.
Die Neufassung des § 321 Abs. 2 HGB muss gleich-
falls kritisch hinterfragt werden. Nach Ansicht vieler
Sachverständiger wird im Einzelfall schwer zu entschei-
den sein, „welchen Einfluss Änderungen in den Bewer-
tungsgrundlagen einschließlich der Ausübung von Bilan-
zierungs- und Bewertungswahlrechten und der
Ausnutzung von Ermessensspielräumen sowie sachver-
haltsgestaltenden Maßnahmen insgesamt auf die Darstel-
lung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage haben“.
Unklar sei insbesondere, welche sachverhaltsgestalten-
den Maßnahmen eines Unternehmens hier im konkreten
Fall gemeint sind und wo Grenzen gezogen werden
müssen.
An diesen Einzelregelungen wird nochmals deutlich,
dass mit dem vorliegenden Gesetz zwar ein Schritt in die
richtige Richtung getan worden ist, dass es sich aber kei-
neswegs um den großen Wurf handelt und auch in den
Einzelheiten noch sehr verbesserungsbedürftig ist. Je-
mand hat sogar gesagt, es handle sich nur um eine kleine
„Prise“, mit der wir es hier zu tun haben. Alles andere
müsse in der nächsten Legislaturperiode geleistet werden.
Wir sind auch dieser Meinung, denn da wird es bei uns ja
auch gut aufgehoben sein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223768
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(B)
Unter diesen Aspekten stimmen wir dem Gesetz
schließlich zu, denn die Wirtschaft wartet – wie ich meine,
schon viel zu lang – zumindest auf diesen kleinen Schritt,
der dringend erforderlich ist, um die Wettbewerbsfähig-
keit deutscher Unternehmen im internationalen Raum zu
stärken.
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das Transparenz- und Publizitätsgesetz steht in ei-
ner Reihe von Gesetzen, mit denen der Kapitalmarkt ge-
stärkt und Unregelmäßigkeiten am Neuen Markt
verhindert werden sollen. Das Gesetz sorgt für mehr
Transparenz auf den Kapitalmärkten und stellt klare An-
forderungen an die Unternehmenspublizität nach innen
und außen.
Vor allem durch die Präzisierung der Berichtspflichten
des Vorstandes an den Aufsichtsrat stärken wir die Posi-
tion des Aufsichtsrates. Denn der Aufsichtsrat ist nicht
Stillhalte- und Akklamationsorgan des Vorstandes, son-
dern muss die Arbeit des Vorstandes effektiv kontrollie-
ren. Und hierzu braucht er vor allem zeitnahe und umfas-
sende Informationen. Damit greift das Gesetz die
Empfehlungen der Regierungskommission Corporate
Governance auf. Die Regierungskommission und insbe-
sondere ihr Vorsitzender Professor Baums haben uns we-
sentliche Hinweise für die Stärkung der Aktienkultur und
die Reform des Finanzplatzes gegeben. Der geleisteten
Vorarbeit werden wir am besten dadurch gerecht, dass wir
zügig die Empfehlungen der Regierungskommission um-
setzen. Das ist schon mit dem Vierten Finanzmarktförde-
rungsgesetz geschehen, wir führen das mit dem heute zu
verabschiedenden Gesetz fort.
Mit dem Transparenz- und Publizitätsgesetz kommen
wir auch ein gutes Stück voran mit der Anpassung an in-
ternationale Kapitalmarktstandards, ohne dabei die Be-
sonderheiten der deutschen dualen Unternehmensverfas-
sung aufzugeben. Viele große deutsche Unternehmen
weigern sich allerdings bislang hartnäckig, die Vorstands-
bezüge offen zu legen. Einzig Schering geht hier mit
gutem Beispiel voran. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende
von Thyssen, Gerhard Cromme, der ja Vorsitzender der
Kommission zur Erarbeitung des Corporate Governance-
Kodex war, will künftig dafür sorgen, dass die Vorstands-
gehälter einzeln aufgeschlüsselt werden. Das ist mit
Transparenz und guter Corporate Governance gemeint.
Diese Entwicklung wird sich nach und nach durchsetzen,
denn die Unternehmen profitieren von guter Corporate
Governance. So kommt eine aktuelle Umfrage von
KPMG und FAZ-Institut zu dem Schluss, dass für weit
mehr als die Hälfte der befragten börsennotierten Gesell-
schaften der Nutzen guter Corporate Governance die da-
mit verbundenen Kosten übersteigt.
Mit dem Gesetz geben wir einen Rahmen vor, der für
die Unternehmen verbindlich gilt, ohne sie in zu enge
Grenzen zu verweisen. Vielmehr bleibt ihnen ein indivi-
duell ausgestaltbarer Spielraum.
Wir folgen dem Grundsatz, dass der Gesetzgeber nicht
alles zu regeln hat. Politik ist gefordert, die Wirtschaft das
selbstständig regeln zu lassen, wozu sie auch in der Lage
ist. Der Kern unseres Gesetzes entspricht diesem Gedan-
ken: Mit der Erklärung darüber, ob der Corporate Gover-
nance-Kodex eingehalten wird oder nicht, geben die bör-
sennotierten Gesellschaften jährlich den Kapitalmärkten
und damit den Anlegern das entscheidende Signal.
Beispiele anderer Länder zeigen, dass diese Erwartun-
gen an die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktes in die-
sem Gebiet realistisch sind: Der Kapitalmarkt wird Wohl-
verhalten und gute Corporate Governance honorieren und
die, die dagegen verstoßen, abstrafen. Entsprechend
schätzen auch einige Finanzexperten bereits jetzt die Wir-
kung der Regelung „Comply or Explain“ positiv als die
grundlegendste Neuregelung der jüngsten gesetzlichen
Änderungen auf den Finanzmärkten ein.
Deswegen bin ich froh, dass dieses Gesetz heute in ei-
nem absehbar breiten Konsens verabschiedet wird.
Rainer Funke (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion
stimmt dem Gesetzentwurf zum Transparenz- und Publi-
zitätsgesetz zu.
Dieser Gesetzentwurf ist eine Fortentwicklung des
KonTraG und der Bilanzierungsvorschriften des HGB,
die beide in der letzten Legislaturperiode auf den Weg ge-
bracht worden sind. Das Transparenz- und Publizitätsge-
setz ist seinerseits auch nur ein Zwischenstadium, denn
erklärtermaßen sind nur Teile der Empfehlungen der Re-
gierungskommission „Corporate Governanvce“ in die-
sem Gesetz aufgenommen worden. Ein weiterer Teil wird
in der nächsten Legislaturperiode umzusetzen sein.
Ich will ausdrücklich betonen, dass diese scheibchen-
weise Realisierung der Vorschläge der Regierungskom-
mission „Corporate Governance“ nicht kritisiert, sondern
ausdrücklich begrüßt wird. Das Finanzmarktrecht und die
Bilanzierungsvorschriften befinden sich weltweit im Um-
bruch oder zumindest im Fluss. Um auf dem Stand der
Entwicklung zu bleiben, gilt es, das umzusetzen, was
sinnvoll erscheint. Wir müssen, um die Konkurrenzfähig-
keit des Finanzplatzes Deutschland zu erhalten und, wenn
möglich, zu erhöhen, die rechtlichen Rahmenbedingun-
gen für den Finanzmarkt Deutschland und seine Unter-
nehmen up to date bringen.
Die nunmehr gefundenen Regelungen zum Aufsichts-
rat und der Information des Aufsichtsrates werden sicher-
lich dazu beitragen, dass der Aufsichtsrat noch mehr als
bisher Aufsicht ausüben, aber auch Rat erteilen kann. Der
Aufsichtsrat soll kein zweiter Vorstand sein, aber um Auf-
sicht zu üben, bedarf er, wie auch manch kritischer Fall in
der Vergangenheit gezeigt hat, besserer Informationen
durch den Vorstand. Wir begrüßen ausdrücklich die Rege-
lung des § 161 Aktiengesetz, der die Verpflichtung der
börsennotierten Unternehmen zur Abgabe einer Erklärung
vorsieht, ob sie den von der Kodex-Kommission erarbei-
teten Verhaltenskodex beachten oder auch nicht. Dies
trägt auch zur größeren Transparenz und Publizität aller
börsennotierten Unternehmen bei. Auch die Verschärfung
hinsichtlich der Erklärung der Abschlussprüfer in § 312
wird gerade im Lichte der Vorkommnisse an den ameri-
kanischen, aber auch an den deutschen Börsen begrüßt.
Ich will ausdrücklich betonen, dass die Beratungen der
Berichterstatter unter Einbeziehung von Sachverständigen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23769
(C)
(D)
(A)
(B)
und die Beratungen im Rechtsausschuss in fairer Art und
Weise und sachorientiert geführt wurden. Dafür danke ich
den Kollegen, Mitarbeitern des Bundesjustizministeriums
und den Sachverständigen sehr.
Rolf Kutzmutz (PDS): Die Vorgänge am Neuen
Markt, mehr noch um große Konzerne – von Holzmann
über Kirch bis Berliner Bankgesellschaft – gebieten zwin-
gend eine Reform des Aktien- und Bilanzrechts. Die bis-
her übermächtige Position des Vorstands gegenüber dem
Aufsichtsrat muss beschnitten werden. Letzterer muss
seiner Kontrollfunktion nachkommen können, um bei de-
ren Unterlassung auch mit haftbar gemacht werden zu
können. Gleiches gilt für die Wirtschaftsprüfer. Nur so
können wahrheitsgetreue und vergleichbare Rechen-
schaftsberichte, Bilanzen, Testate zustande kommen, die
tatsächlich große wie kleine Kapitalanleger zu Investitio-
nen in Unternehmen anregen, die Beschäftigte nicht so
einfach wie bisher zu Opfern von Kriminellen in Chef-
etagen machen. Das setzt eine umfassende Reform hin zu
einem überschaubaren Bilanzrecht – anstelle des gegen-
wärtigen Dutzend der Bilanzierungsmöglichkeiten –, ge-
setzliche Schritte zur tatsächlichen Unabhängigkeit des
Abschlussprüfers sowie zur transparenten und effizienten
Funktionsweise der Leitungs- und Kontrollgremien von
Unternehmen voraus. Diese Aufgabe ist ob ihrer Kom-
plexität nicht innerhalb weniger Monate zu schaffen.
Die PDS begrüßt daher ausdrücklich den vorgelegten
Entwurf als schnelle Umsetzung einiger unstrittiger und
vergleichsweise unkomplizierter Maßnahmen. Sie kön-
nen aber nur den Beginn eines längeren Weges markieren
– sonst wird man der offenkundigen Probleme niemals
Herr. So bleibt beispielsweise abzuwarten, ob die mit der
HGB-Novelle – Art. 2 Nr. 14 des Gesetzentwurfs – er-
weiterten gesetzlichen Vorgaben für den Inhalt des Prüf-
berichtes tatsächlich ausreichen, um künftig Testate von
unfähigen, gefälligen oder kriminellen Abschlussprüfern
zu verhindern und so die bei Holzmann, Berliner Bank-
gesellschaft etc. in diesem Bereich zutage getretenen De-
fizite zu vermindern.
Ein echter Fortschritt ist für uns das Recht jedes Auf-
sichtsratsmitglieds, Berichte des Vorstands verlangen zu
können. So wird dessen individuelle Verantwortlichkeit
für seine Kontrollaufgabe betont, keiner kann länger ei-
gene Untätigkeit hinter einem „Kollektiv“ verstecken.
Über mögliche Missbräuche dieses Rechts sollen tatsäch-
lich die Gerichte entscheiden – und nicht etwa die Unter-
nehmensvorstände.
Gestärkt wird die Rolle der Aufsichtsräte auch durch
die Festlegung, dass Vorstands-Berichte in der Regel
rechtzeitig und in Textform an die Kontrolleure zu über-
mitteln sind. Damit wird auch die Position der Aktionäre
gegenüber den Aufsichtsräten gestärkt – niemand kann
sich mehr so leicht damit herausreden, etwas überhört zu
haben.
Mit den neuen Rechten wächst naturgemäß auch die
Bedeutung von Verschwiegenheitspflichten – die PDS
legt an dieser Stelle aber Wert darauf, dass die in § 116 Ak-
tiengesetz nun formulierten Pflichten der Kontrolleure
keineswegs größer sind als die mit § 93 schon traditionell
für Vorstände geltenden. Es kann schließlich nicht sein,
dass Aufsichtsräte einen Maulkorb haben, während zur
gleichen Zeit Vorstände ihre Version einer Information in
die Öffentlichkeit hinausposaunen.
Die jetzt erstmals erwähnte elektronische Kommuni-
kation für und über Aufsichtsratssitzungen sowie Ak-
tionärsversammlungen sehen wir ausdrücklich als zusätz-
liches, damit erweitertes Angebot zur Teilhabe, nicht etwa
als Ersatz für persönliche Beteiligung. Demokratisch
nicht unumstritten ist gewiss der neue § 161 Aktiengesetz,
zweifellos ein Kernstück für mehr Transparenz. Es muss
jeder Anschein vermieden werden, die „Regierungskom-
mission Deutscher Corporate Governance Kodex“ sei ein
Quasi-Gesetzgeber, über deren Beschlüsse mit Veröffent-
lichung im Bundesanzeiger automatisch der Bundesadler
geklebt wird. Diese Kommission ist gewiss fachlich kom-
petent – aber ebenso sicher nicht demokratisch legiti-
miert.
Wir legen daher größten Wert darauf, dass der aus-
drückliche Bezug im Gesetz auf das veröffentlichende
Bundesjustizministerium dessen Prüfauftrag beinhaltet,
nur solche Kommissionsempfehlungen zu publizieren,
die sich im vom Parlament geschaffenen Rechtsrahmen
bewegen und nicht etwa selber Recht setzen – so, wie es
auch in den Ausschussberatungen zugesagt wurde.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Corporate Governance heißt: Leitung und Kon-
trolle der großen Unternehmen. Corporate Governance
bleibt ein beherrschendes Thema des Wirtschaftsrechts.
Das liegt gewiss an den sich sehr rasch verändernden
äußeren Bedingungen, an der Internationalisierung der Fi-
nanzmärkte, an der Veränderung des Anlageverhaltens
und der sprunghaften Entwicklung neuer Medien. Man-
che sagen: Auch die Menschen haben sich verändert; man
spricht von Werteverfall, von Gier, von der Bereicherung
zulasten der kleinen Anleger. Man hat viel Unschönes ge-
sehen in der letzten Zeit, aber erst mit sehr langem Ab-
stand wird man besser beurteilen können, ob wir hier
wirklich einen Verlust an Ethos im Wirtschaftsleben zu
beklagen haben – oder ob es nicht um die immer gleichen
menschlichen Verhaltensweisen geht. Jedenfalls ist es die
Aufgabe von Bundesregierung und Gesetzgebung, ge-
genzusteuern, für ein optimales Regelwerk von verant-
wortlicher Unternehmensleitung und effektiver unabhän-
giger Überwachung und Kontrolle, für Transparenz und
Wettbewerb zu sorgen.
Dem dient das Transparenz- und Publizitätsgesetz, das
heute in zweiter und dritter Lesung vom Deutschen Bun-
destag mit breitem Konsens verabschiedet wurde und das
noch im Sommer in Kraft treten wird.
Die Regierungskommission Corporate Governance,
die ich im vergangenen Jahr eingesetzt habe, hatte im letz-
ten Sommer ein ganzes Paket von Vorschlägen zur Ver-
besserung und Modernisierung der rechtlichen Rahmen-
bedingungen für unsere börsennotierten Gesellschaften
vorgelegt. Diese Vorschläge haben allgemein große Be-
achtung und Anerkennung gefunden. Die Wirtschaft war-
tet auf die Umsetzung dieser Vorschläge durch den Ge-
setzgeber, weil sie vernünftig sind, unseren Standort
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223770
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verbessern und neben notwendigen neuen Regeln auch
Modernisierungen und Deregulierungen enthalten. Die
Bundesregierung hat sich deshalb beeilt, umgehend einen
Gesetzentwurf vorzulegen, der die von der Regierung
mitverhandelten und mitgetragenen Empfehlungen der
Kommission in das deutsche Aktienrecht einfügen soll.
Die erste Umsetzungsstufe war die Einsetzung der Re-
gierungskommission Deutscher Corporate Governance
Kodex unter Leitung von Herrn Dr. Cromme. Diese hoch-
rangige und ausgewogen besetzte Kommission hat in kur-
zer Zeit einen Code of Best Practice für die Organe deut-
scher börsennotierter Aktiengesellschaften vorgelegt und
mir am 26. Februar 2002 im Bundesministerium der Jus-
tiz übergeben. Er soll nach dem In-Kraft-Treten des vor-
liegenden Gesetzes im elektronischen Bundesanzeiger
bekannt gemacht werden. Dieser Kodex soll zum einen
nach innen wirken, um Leitung und Kontrolle unserer Ge-
sellschaften deutlich zu verbessern. Er bietet zugleich die
Chance, nach außen zu wirken und unser Corporate Go-
vernance System im Ausland besser darzustellen. Unser
System ist nämlich gut, auch wenn das viele nicht wahr-
haben wollen.
Freilich ist kein System so gut, dass es nicht noch wei-
ter verbesserungsfähig wäre. Mit dem Transparenz- und
Publizitätsgesetz wird eine ganz Reihe wichtiger gesetz-
licher Verbesserungen unseres Corporate Governance
Systems umgesetzt. Auch die großen Wirtschaftsver-
bände haben von einem „Meilenstein“ gesprochen.
Dazu gehört zum einen die Flankierung des Corporate
Governance Kodex der Cromme-Kommission durch eine
so genannte Entsprechenserklärung. Danach müssen alle
börsennotierten Gesellschaften einmal jährlich erklären,
ob sie den Corporate Governance Kodex einhalten oder
nicht, bzw. in welchen Punkten nicht. Mit dieser gesetz-
lichen Erklärungspflicht bekommt der Kodex erst das
Gewicht, das er benötigt, um als der deutsche Kodex all-
gemein Anerkennung zu finden. Es ist wichtig, dass diese
gesetzliche Verankerung des Corporate Governance
Kodex noch in dieser Wahlperiode in Kraft tritt.
Mit dem Entwurf des Transparenz- und Publizitätsge-
setzes setzt die Bundesregierung auch im Bilanzrecht Ak-
zente für eine höhere Kontrolldichte im Verhältnis des
Aufsichtsrats zum Management sowie für einen verbes-
serten Anlegerschutz. Das Recht der Rechnungslegung
und der Abschlussprüfung ist nach spektakulären Fällen
von Bilanzmanipulation besonders in den Blickpunkt der
Öffentlichkeit gerückt.
Der Gesetzentwurf sieht insbesondere eine stärker pro-
blem- und risikoorientierte Schwerpunktsetzung bei der
Abschlussprüfung vor. Indem wir dem Abschlussprüfer
zum Beispiel aufgeben, künftig auch die Auswirkungen
sachverhaltsgestaltender Maßnahmen der Unternehmens-
leitung zu kommentieren, sorgen wir für mehr Transpa-
renz und stärken den Aufsichtsrat in seiner Kontrollfunk-
tion. Darüber hinaus greifen wir Empfehlungen der
Baums-Kommission sowie des deutschen Standardsetters
DRSC vor allem zur Konzernrechnungslegung und zur
Anpassung des deutschen Bilanzrechts an internationale
Entwicklungen auf.
Die jüngste Unternehmenskrise in den Vereinigten
Staaten gemahnt uns, unsere Bemühungen zur Verbesse-
rung unserer Corporate Governance zu verstärken. Mit
dem heutigen Gesetz ist ein weiterer Meilenstein gesetzt,
aber das Ende des Weges noch nicht erreicht. In der nächs-
ten Wahlperiode werden wir im Aktienrecht sowie im Bi-
lanzrecht weitere Reformschritte angehen, hoffentlich ge-
nauso im Konsens wie heute.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes und
anderer versicherungsrechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 33)
Christine Lambrecht (SPD): Heute verabschieden
wir in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Ände-
rung des Pflichtversicherungsgesetzes und anderer versi-
cherungsrechtlicher Vorschriften. Mit diesem Gesetz set-
zen wir in erster Linie die Richtlinie 2000/26/EG des
Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Mai
2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mit-
gliedstaaten über die Kfz-Haftpflichtversicherung und zur
Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG
des Rates (4. Kraftfahrzeug-Haftpflicht-Richtlinie) um.
Das Gesetz trägt somit dazu bei, die Rechtsverhältnisse in
der EU weiter anzugleichen. Es ist ein weiterer Mosaik-
stein zur Bildung einheitlicher Lebensverhältnisse in Eu-
ropa. Das hört sich sehr abstrakt an, bringt aber für viele
Bürgerinnen und Bürger eine konkrete Verbesserung in
einer schwierigen Situation.
Worum geht es in diesem Gesetz? Das Gesetz dient
dem Verbraucherschutz. Im Kern geht es darum, Autofah-
rern, die im Ausland – aber auch im Inland – in einen Ver-
kehrsunfall verwickelt sind, die Möglichkeit der Scha-
densregulierung zu verbessern und zu vereinfachen. Jeder
kennt die Situation: Man freut sich auf den Urlaub, die
schönste Zeit im Jahr. Man setzt sich ins Auto und ab geht
es. Doch schnell kann eine solche Reise durch einen
Autounfall zum Albtraum werden. Das soll nun ab dem
1. Januar 2003 der Vergangenheit angehören.
Wir haben uns nicht darauf beschränkt, die EU-Richt-
linie 1:1 umzusetzen. Wir haben geprüft, ob es sinnvolle
Regelungen gibt, die auch auf im Inland erfolgte Ver-
kehrsunfälle angewendet werden können. Im Interesse
des Verbrauchers und unter dem Gesichtspunkt der
Gleichbehandlung haben wir deshalb zum Teil allgemein
gültige Regelungen getroffen.
Worum geht es im Einzelnen? Vielleicht waren Sie
schon im Ausland in einen Verkehrsunfall verwickelt. Si-
cherlich kennen Sie Freunde oder Bekannte, die das Pech
hatten, im Ausland Unfallopfer zu werden. Bisher war es
doch so, dass es im Gegensatz zu manchen Werbespots für
die Betroffenen eben sehr schwer war, zu ihrem Recht zu
kommen. Oft war es bereits mit großen Schwierigkeiten
verbunden, den Fahrzeughalter oder die Haftpflicht-
versicherung ausfindig zu machen. Deshalb ist jeder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23771
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(B)
EU-Mitgliedstaat ab 2003 verpflichtet, Auskunftsstellen
einzurichten oder anzuerkennen, wo der Geschädigte
sämtliche relevanten Daten in Erfahrung bringen kann.
Da wir der Ansicht sind, dass eine solche Einrichtung
auch bei Inlandsunfällen sinnvoll ist, ist die Regelung all-
gemein gehalten. Somit kann jeder Bürger, der ein be-
rechtigtes Interesse nachweisen kann, die Daten – auch
bei Unfällen in Deutschland – anfordern.
Die Aufgaben der Auskunftsstelle sollen dem von der
Versicherungswirtschaft eingerichteten „Zentralruf der
Autoversicherer“ übertragen werden. Wir sind der An-
sicht, dass auch eine nicht staatliche Stelle die Aufgaben
wahrnehmen kann. Warum soll eine neue Behörde einge-
richtet werden, wenn man auf eine Stelle zurückgreifen
kann, deren qualitativ gute Arbeit seit Jahren bekannt ist?
Oftmals ist es auch schwierig, Kontakt zu den jeweili-
gen Versicherungen aufzunehmen. Hier spielen Sprach-
schwierigkeiten im Ausland eine Rolle. Deshalb werden
die Versicherungen verpflichtet, in jedem Mitgliedstaat
– außer dem des eigenen Sitzes – einen Schadensregulie-
rungsbeauftragten zu benennen, der selbstverständlich
auch die jeweilige Landessprache beherrscht. An den Be-
auftragten kann sich der Geschädigte wenden, der den
Schaden bearbeitet und gegebenenfalls reguliert. Hierbei
hat der Geschädigte die Wahlmöglichkeit, ob er den Be-
auftragten oder die Versicherung direkt zur Regulierung
des Schadens heranzieht. Damit der Geschädigte pro-
blemlos den Beauftragten in Anspruch nehmen kann,
müssen die Versicherer der Auskunftsstelle Namen und An-
schrift des Schadensregulierungsbeauftragten mitteilen.
Oftmals muss der Bürger auch darunter leiden, dass die
Versicherer eine Schadensregulierung sehr zögerlich be-
arbeiten. Das Interesse des Geschädigten ist es aber, dass
die Regulierung zügig erfolgt. Deshalb muss der Schaden
zuküftig grundsätzlich in maximal drei Monaten reguliert
werden. Zumindest muss dem Anspruchsteller substanzi-
iert und schriftlich dargelegt werden, warum keine Regu-
lierung erfolgt. Da die Bestimmung einer Frist sinnvoll
ist, gilt diese Frist zukünftig auch für Inlandsunfälle.
Sollte gleichwohl eine Regulierung oder Stellung-
nahme nicht erfolgen, kann sich der Geschädigte zukünf-
tig an eine Entschädigungsstelle im Wohnsitzstaat wen-
den, die dann den Schaden reguliert. Diese Stelle holt sich
dann das verauslagte Geld bei der Entschädigungsstelle
zurück, die sich im Sitzstaat des Versicherers befindet.
Die Stelle wiederum kann den Versicherer in Regress neh-
men. Darüber hinaus entscheidet die Entschädigungs-
stelle darüber, ob eine Stellungnahme des Versicherers,
den Schaden nicht zu regulieren, begründet genug ist. In
Deutschland sollen diese Aufgaben von dem Verein „Ver-
kehrsopferhilfe“ wahrgenommen werden.
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf
leistet Deutschland seinen Beitrag dazu, dass Geschädigte
zukünftig EU-weit auf eine unkomplizierte und schnelle
Regulierung des Schadens vertrauen dürfen.
Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU): Wer von uns
hatte nicht schon einmal selbst einen Autounfall im Aus-
land oder kennt nicht jemanden, dem dies passiert ist?
Wenn der Autounfall in einem EU-Mitgliedstaat pas-
sierte, dachten wir doch: Wenigstens Glück im Unglück
gehabt. Oder etwa nicht?
Viele befinden sich mit ihrem Auto hauptsächlich zu
Urlaubszwecken im Ausland. Zu der getrübten Erholung
kommt dann oftmals auch der Ärger bei der Schadens-
regulierung hinzu. Der Ärger ist umso größer, wenn der
Unfall in einem EU-Mitgliedstaat passierte und im Nach-
hinein festgestellt werden muss, dass – EU hin oder her –
die Schadensregulierung um keinen Deut einfacher oder
zügiger vonstatten geht, als wenn der Unfall in einem
Nicht-EU-Mitgliedstaat passiert wäre.
Viele Bürgerinnen und Bürger kommen auf diese
Weise mit Europa in hautnahen Kontakt und sammeln in
diesem Zusammenhang europäische Negativerlebnisse,
die das Bild von Europa und der Europäischen Union viel
stärker prägen als die vielen positiven Europaerlebnisse,
die wir tagtäglich sammeln dürfen.
Aus diesem Grund steht die CDU/CSU dem Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsge-
setzes und anderer versicherungsrechtlicher Vorschriften
positiv gegenüber. Das Ziel des Gesetzes ist die Umset-
zung der Richtlinie 2000/46/EG zur Änderung der Richt-
linie 73/239/EWG und 88/357/EWG vom 20. Juli 2000 in
nationales Recht. Lassen sie mich dazu kurz Folgendes
ausführen.
Das vorliegende Gesetz hat wieder einmal gezeigt,
dass heute ein erheblicher Teil unserer Arbeit durch euro-
parechtliche Normen vorgegeben ist. Oft sind die Vorga-
ben sehr detailliert und genau, sodass für den deutschen
Gesetzgeber nur noch wenig Spielraum bleibt. Die Infor-
mation über europäische Gesetzgebungsvorgänge wird
daher für unsere Arbeit zunehmend bedeutender. Für uns
als deutsches Parlament hängt unser Informationsfluss zu
einem erheblichen Teil von der Kooperation mit der je-
weiligen Bundesregierung ab. Gerade hier ist in letzter
Zeit von zahlreichen Verbänden aber Kritik aufgekom-
men, die eine zu geringe personelle Präsenz der Bundes-
regierung bei Verhandlungen in Brüssel beklagten. Wir
nehmen diese Vorwürfe sehr ernst, da dadurch letztend-
lich auch die Arbeit dieses Hauses berührt wird.
Da unsere gesetzgeberische Tätigkeit immer mehr von
europarechtlichen Normen bestimmt wird, gleichzeitig
auch das Europäische Parlament immer mehr an Bedeu-
tung gewinnt, halten wir es für sinnvoll, darüber nachzu-
denken, inwieweit wir uns vermehrt und regelmäßig in ei-
nem institutionellen Rahmen mit den Kollegen aus
Straßburg/Brüssel zu einem gemeinsamen Gedankenaus-
tausch treffen sollten.
lm Unterschied zu den bestehenden drei Kraftfahr-
zeughaftpflicht-Richtlinien befasst sich die vierte Kraft-
fahrzeughaftpflicht-Richtlinie mit der Regulierung von
Auslandsunfallschäden. Die Kommission hat zu Recht er-
kannt, dass das System der Grünen-Karte-Büros zwar die
problemlose Regulierung eines Unfallschadens gewähr-
leistet, wenn sich der Unfall im eigenen Land ereignete
und der Unfallbeteiligte aus einem anderen europäischen
Land kommt. Das System der Grünen-Karte-Büros löst
allerdings nicht alle Probleme, wenn sich der Unfall in
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223772
(C)
(D)
(A)
(B)
einem fremden Land ereignete, der Unfallgegner seinen
Wohnsitz und das den Schaden regulierende Versiche-
rungsunternehmen ebenfalls seinen Sitz im Ausland ha-
ben. Fremdes Recht, fremde Sprache und oft auch eine
ungewohnt lange Regulierungspraxis tragen zu den oben
beschriebenen Negativerlebnissen bei.
Mit der Verabschiedung der Richtlinie 2000/46/EG
durch das Europäische Parlament und den Europäischen
Rat sollen die Regelungen zur Abwicklung von Unfall-
schäden im Gebiet der Europäischen Union vereinfacht
und verbraucherfreundlicher ausgestaltet werden.
Obwohl die Richtlinie bereits am 20. Juli 2000 im
Amtsblatt der EG veröffentlicht wurde, hat die Bundes-
regierung die Umsetzungsfrist, die bis zum 20. Juli 2002
geht, fast bis zum letzten Tag verstreichen lassen, bezüg-
lich der Einrichtung von Entschädigungsstellen ist die
Umsetzungsfrist sogar bereits abgelaufen. Die Entschädi-
gungsstellen sollten nämlich bis zum 20. Januar 2002 ge-
schaffen und anerkannt werden. Ich frage mich wirklich,
weshalb sich die Umsetzung dieser Richtlinie verzögern
musste und kann keinerlei Grund hierfür erkennen.
Obwohl wir der Intention der Richtlinie positiv ge-
genüberstehen, so sind wir doch der Meinung, dass die
vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie für die Regu-
lierung von Auslandsunfallschäden ein teilweise recht
komplexes und kompliziertes System entwickelt. Teil-
weise werden auch Regelungen geschaffen, die mitunter
hätten verständlicher gefasst werden können. Ich denke
dabei insbesondere an § 12 b PfIVG, der den gesetzlichen
Forderungsübergang des Schadensersatzanspruchs auf
die nationale bzw. die ausländische Entschädigungsstelle
regelt, soweit dem Geschädigten der Schaden von der
Entschädigungsstelle ersetzt wurde.
Eine wesentliche Neuerung der vierten Kraftfahrzeug-
haftpflicht-Richtlinie ist, die Verpflichtung der Mitglied-
staaten von den bei ihnen zugelassenen Versicherungs-
unternehmen zu verlangen, dass sie in den anderen
Mitgliedstaaten der EU und des Europäischen Wirt-
schaftsraumes Schadensregulierungsbeauftragte bestel-
len und dies nachweisen. Der Geschädigte soll seinen
Schadensersatzanspruch sodann in seinem Wohnsitz-Mit-
gliedstaat gegenüber dem Schadensregulierungsbeauf-
tragten der haftpflichtigen Partei geltend machen, der in
der jeweiligen Landessprache die Versicherung gegen-
über dem Geschädigten vor Ort vertreten kann. Das ma-
terielle Recht oder die gerichtliche Zuständigkeit sollen
davon unberührt bleiben.
Der Arbeitsaufwand der Versicherungsaufsichtsbehör-
den wird sich dadurch in geringem Umfang erhöhen. Für
bestimmte Unternehmen der Versicherungswirtschaft ent-
stehen allerdings Mehrausgaben. Für Versicherungsunter-
nehmen, die bisher schon in allen oder vielen Staaten der
EU oder des Europäischen Wirtschaftsraumes mit Mitar-
beitern und Niederlassungen vertreten waren, dürfte die
Bestellung eines Schadensregulierungsbeauftragten keine
oder kaum zusätzliche Kosten verursachen. Innerhalb die-
ser Unternehmen vollzieht sich lediglich eine Arbeitsver-
lagerung. Bearbeiteten bisher die Mitarbeiter des Versi-
cherungsunternehmens am Wohnsitz der haftpflichtigen
Partei die Schadensregulierung, so werden dies in Zu-
kunft die Mitarbeiter des Versicherungsunternehmens am
Wohnsitz des Geschädigten übernehmen. Für die einzel-
nen Niederlassungen dürften der Umfang der zu bearbei-
tenden Schadensfälle und somit die Kosten gleich blei-
ben. Zusätzliche Kosten entstehen allerdings für die
Versicherungsunternehmen, die bisher nicht in allen be-
treffenden Staaten tätig waren. Kleinere oder mittlere Ver-
sicherungsunternehmen können den Kostendruck min-
dern, indem sie im Rahmen der Finanzierung von
Schadensregulierungsbeauftragten Kooperationen einge-
hen. Es ist zu erwarten, dass Mehrkosten zumindest teil-
weise auf die Versicherungsnehmer umgelegt werden.
Teilweise wird die vereinfachte Schadensregulierung von
Unfällen im europäischen Ausland somit wahrscheinlich
erhöhte Versicherungsprämien zur Folge haben. Wir kön-
nen nur an die Unternehmen appellieren. Erhöhungen
wenn überhaupt dann maßvoll zu gestalten, zumal der
Wettbewerb im europäischen Versicherungsmarkt ja auch
stärker wird.
Die Bearbeitung des geltend gemachten Anspruchs soll
zügig erfolgen. Obwohl in der vierten Kraftfahrzeughaft-
pflicht-Richtlinie die dreimonatige Bearbeitungsfrist nur
für Auslandsunfälle vorgesehen war, soll die Schadens-
regulierungsfrist von drei Monaten auch für reine In-
landsfälle gelten. Diese Ausdehnung des Anwendungs-
bereiches ist zu begrüßen, schafft sie doch für alle
Versicherungsnehmer Erleichterungen. Gleiches gilt für
die Verzinsungspflicht des Anspruchs bei einer zöger-
lichen Bearbeitung.
Nach der vierten Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie
sollen die Mitgliedstaaten Auskunftsstellen einrichten
oder anerkennen, welche den Geschädigten alle zur Re-
gulierung notwendigen Auskünfte erteilen, insbesondere
über den Regulierungsbeauftragten des Versicherungsun-
ternehmens oder über Namen von Halter und Fahrer. Zu
begrüßen ist, dass bei der Einrichtung der Auskunftsstel-
len auf bestehende Strukturen zurückgegriffen wird. Dies
gilt im Übrigen auch für die Einrichtung der Entschädi-
gungsstellen. Der Zentralruf der Autoversicherer, welcher
die Aufgabe der Auskunftsstelle in Deutschland überneh-
men soll, hat bisher schon Anfragen von Geschädigten ge-
sammelt und versucht, den Geschädigten die benötigten
Informationen zu beschaffen. Im Rahmen der Beratungen
im Rechtsausschuss haben wir unter anderem eine Ergän-
zung um eine datenschutzrechtliche Zweckbestimmung
für die Übermittlung von Daten an die im Ausland errich-
teten Auskunftsstellen als notwendig erachtet – genauso
wie die ursprüngliche Regelung die Auskunftsstellen zur
Übermittlung von Daten an die im Ausland errichteten
Auskunftsstellen lediglich berechtigte, aber nicht ver-
pflichtete, wie dies der Wortlaut der Richtlinie vorsieht.
Ein weiterer Baustein bei der Schadensregulierung in-
folge von Auslandsunfällen ist die Schaffung einer natio-
nalen Entschädigungsstelle, welche Schäden regulieren
sollen, die von den Versicherungsunternehmen oder Pri-
vaten nicht ersetzt werden. Ansprüche werden jeweils ge-
gen die Entschädigungsstelle des Mitgliedstaates gerich-
tet, in dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat. Im
Gegenzug findet ein gesetzlicher Forderungsübergang auf
die nationale Entschädigungsstelle statt. Das heißt, diese
wird Inhaber – Gläubiger – des Schadensersatzanspruchs.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23773
(C)
(D)
(A)
(B)
Die nationale Entschädigungsstelle, die dem Geschädig-
ten den entstandenen Schaden ersetzt hat, hat einen Aus-
gleichsanspruch gegen die Entschädigungsstelle des Mit-
gliedstaates, in dem die Versicherung des haftpflichtigen
Halters, der haftpflichtige Halter oder der Fahrer seinen
Sitz/Wohnsitz hat. Bei Gewährung des Ausgleichs findet
ein erneuter gesetzlicher Forderungsübergang statt, dies-
mal auf die ausländische Ausgleichsentschädigungsstelle.
Die ausländische Ausgleichsentschädigungsstelle muss
dann sehen, wer ihr den gezahlten Ausgleich ersetzt.
Der Bundesrat hat im Rahmen der Beratungen darauf
hingewiesen, dass durch den Einleitungssatz des § 3 a
PfIVG – „Macht der Dritte Ansprüche nach § 3 Nr. 1 gel-
tend, gelten darüber hinaus die folgenden Vorschriften:“ –
der Geltungsbereich des ursprünglich in § 3 a Nr. 3 PfIVG
vorgesehenen gesetzlichen Forderungsübergang einge-
schränkt würde. Durch den Einleitungssatz des § 3 a
PfIVG hätte der gesetzliche Forderungsübergang nur für
Ansprüche gegolten, auf die deutsches Recht Anwendung
findet. Nach der Intention der Richtlinie sollte der gesetz-
liche Forderungsübergang jedoch gerade für Ansprüche
gelten, die ausländischem Recht unterliegen. Der Rechts-
ausschuss hat daher beschlossen, die Vorschrift des § 3 a
Nr. 3 zu streichen und durch g 12 b PfIVG zu ersetzen. Der
gesetzliche Forderungsübergang gilt nun sowohl für An-
sprüche, die deutschem Recht als auch für Ansprüche, die
ausländischem Recht unterliegen.
Nach Hinweis durch den Bundesrat wurde in den Be-
ratungen im Rechtsausschuss die Regelung in § 12 b
PfIVG durch den Einschub eines Satzes 2 ergänzt. Dieser
Satz 2 bringt nun klar zum Ausdruck, dass durch den For-
derungsübergang eine Schlechterstellung des Gläubigers
nicht erfolgt. Die Gefahr einer Schlechterstellung hätte
bei einer Teilbefriedigung des Gläubigers bestanden. Gläu-
biger und Dritter wären bei einer Teilleistung, die einen
teilweisen Forderungsübergang zur Folge gehabt hätte,
mit ihren Forderungen gegenüber dem Schuldner in Kon-
kurrenz zueinander getreten. Im Falle der Insolvenz über
das Vermögen des Schuldners kann in diesen Fällen die
Gefahr bestehen, dass der Gläubiger mit seiner Teilforde-
rung nicht mehr befriedigt wird, das heißt, er geht leer aus.
Durch Satz 2 ist nun aber klargestellt, dass in solchen Fäl-
len der Dritte, in unserem Fall die Entschädigungsstelle,
hinter der Teilforderung des Gläubigers, hier des Geschä-
digten, zurücktreten muss.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme angeregt,
die Verjährungsvorschriften des Pflichtversicherungs-
gesetzes an die Verjährungsvorschriften des BGB anzu-
passen, nachdem diese durch das Schuldrechtsmoderni-
sierungsgesetz neu gefasst wurden und die Notwendigkeit
einer differenzierten Ausgestaltung nach Ansicht des
Bundesrates nicht mehr bestünde. Diesem Vorschlag ist
der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirt-
schaft in seiner Stellungnahme entschieden entgegenge-
treten. Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung
ausgeführt, dass zurzeit eine vom Bundesministerium der
Justiz eingesetzte Kommission über die Reform des Ver-
sicherungsvertragsrechts und dabei unter anderem auch
über die Angleichung der Verjährungsvorschriften des
Versicherungsvertragsgesetzes an die Verjährungsvor-
schriften des BGB berät. Den Ergebnissen dieser Diskus-
sion sollte nicht vorgegriffen werden. Im Rahmen der Be-
ratungen im Rechtsausschuss wurden von der Bundesre-
gierung sowohl die Kommission zur Reform des Versi-
cherungsvertragsgesetzes als auch die betroffenen
Verbände zur Angleichung der Verjährungsvorschriften
des Pflichtversicherungsgesetzes angehört. Nach Ansicht
der Experten und der Verbände sollte eine Änderung der
Verjährungsvorschriften besser im Rahmen der anstehen-
den umfassenden Reform des Versicherungsvertrags-
rechts in Angriff genommen werden.
Diesem Ergebnis stimmen auch wir zu. Die Anglei-
chung der Verjährungsvorschriften sollte für den gesam-
ten Bereich des Versicherungsrechts einheitlich erfolgen.
Die CDU/CSU hat sich stets gegen eine übereilte und
konzeptionslose gesetzgeberische Tätigkeit ausgespro-
chen und dies auch in diesem Hause mehrmals zum Aus-
druck gebracht. Den Versicherungsnehmern und Versi-
cherungsunternehmen wäre nicht damit gedient, wenn
voreilig eine Angleichung der Verjährungsvorschriften
des Pflichtversicherungsgesetzes an die des BGB vollzo-
gen würde und nach kurzer Zeit womöglich abermals par-
tielle Änderungen erfolgen müssten. Lassen Sie uns die-
ses Thema in einem anderen Zusammenhang wohl
überlegt diskutieren, damit das Ergebnis stimmt, denn da-
rauf kommt es an.
Alles in allem ist die europäische Richtlinie ein Schritt
in die richtige Richtung. Das Gesetz setzt sie korrekt um
und deshalb stimmen wir ihm zu.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Jährlich ereignen sich über 500 000 Unfälle,
an denen Kraftfahrzeuge aus verschiedenen Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union beteiligt sind. Das derzeitige
Schadensersatzsystem zur Regulierung dieser Unfälle ist
völlig unzureichend. Oftmals sind sprachliche Hürden zu
überwinden und das fremde Rechtssystem ist ungewohnt
und unverständlich. Daraus folgt, dass berechtigte Scha-
densersatzansprüche oft, wenn überhaupt, erst nach Mo-
naten oder Jahren ausgeglichen werden.
Die EU-Kommission hat dem Rechnung getragen und
hat im Mai 2000 die Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-
richtlinie erlassen. Interessant ist übrigens die Geschichte
ihrer Entstehung. Mit dieser Richtlinie hat des Europä-
ische Parlament 1995 zum ersten Mal seine neuen Befug-
nisse ausgenutzt und die Kommission zur Vorlage eines
Vorschlags aufgerufen. Hier hat also nicht, wie so oft, die
europäische Bürokratie reagiert, sondern die Bürgerinnen
und Bürger der Europäischen Union haben über das de-
mokratisch gewählte Parlament auf einen Missstand auf-
merksam gemacht. Ein wichtiger Schritt in einem geleb-
ten Europa.
Die Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht
wird nun durch den vorliegenden Gesetzentwurf geregelt.
Kernstück der Richtlinie ist, dass jeder Kraftfahrzeug-
haftpflichtversicherer, der in einem Mitgliedstaat der EU
zugelassen ist, in jedem anderen Mitgliedstaat einen Be-
auftragten benennt, an den sich der Unfallbeteiligte im
Ausland wenden kann. Dieser hat die aus Unfällen in ei-
nem anderen Land herrührenden Ansprüche zu bearbeiten
und gegebenenfalls zu regulieren. Zusammen mit der Ver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223774
(C)
(D)
(A)
(B)
pflichtung der Mitgliedstaaten, alle zur Regulierung not-
wendigen Daten mitzuteilen, sollte es in Zukunft keine
grundsätzlichen Probleme mit der Ermittlung des Schädi-
gers und seiner Versicherung mehr geben.
Damit ist dieses Gesetz ein wichtiger Schritt zu einem
besseren Verbraucherschutz. Kein Versicherer kann – aus
welchen Gründen auch immer – die Ansprüche des Ge-
schädigten monatelang verschleppen oder die Entschädi-
gungszahlung mit immer neuen Hindernissen verzögern.
Der Schaden ist innerhalb von drei Monaten zu regeln
oder dem Geschädigten sind in schriftlicher Form die
Gründe mitzuteilen, warum die Versicherung nicht regu-
lieren kann.
Zudem ist die Neuregelung auch aktiver Opferschutz.
Für den Fall, dass der ausländische Versicherer nicht in-
nerhalb der vorgesehenen Frist auf den Anspruch einge-
gangen ist oder kein Schadenregulierungsbeauftragter
existiert, wird dem Geschädigten von einer Entschädi-
gungsstelle in seinem Land Entschädigung gewährt. In
Deutschland wird diese Aufgabe von der „Verkehrsopfer-
hilfe“ in Hamburg übernommen, die seit mehr als 35 Jah-
ren Schadenregulierungen bei nicht versicherten bzw. er-
mittelten Fahrzeugen übernimmt.
Ich meine, dieses Gesetz und insbesondere die Drei-
monatsfrist zur Schadenregulierung kann auch ein Vor-
bild für eine umfassende Regelung bei Unfällen im Inland
sein. Das Europäische Parlament hat hierzu schon im Juli
2001 eine Entschließung gefasst. Bleibt zu hoffen, dass
die bürokratischen Mühlen nicht wieder mehr als sieben
Jahre brauchen, um eine verbraucherfreundliche Initiative
in die Tat umzusetzen.
Rainer Funke (FDP): Mit der Verabschiedung des
Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes
wird nun auch im Bereich der Verkehrsunfallschäden in-
nerhalb der Europäischen Union einheitliches Recht ge-
schaffen. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen. Es kann ja in
einem zusammenwachsenden Europa nicht sein, dass der
Unfallschaden eines Reisenden, der mit seinem Fahrzeug
unterwegs ist, in der Bundesrepublik Deutschland unpro-
blematisch reguliert wird, die Regulierung von Schäden
aber, die im europäischen Ausland entstanden sind, für
den Geschädigten auf oftmals erhebliche Schwierigkeiten
stößt.
So kann sich der Bürger in Zukunft zur Regulierung
seines Unfallschadens wahlweise entweder direkt an den
Versicherer oder aber an dessen Schadensregulierungs-
beauftragten, den der Versicherer im jeweiligen Mitglied-
staat zu bestellen hat, wenden. Der in Deutschland schon
lange geltende Direktanspruch des Geschädigten gegen
die Versicherung des Schädigers wird damit nun auch auf
europäischer Ebene eingeführt. Das führt für den Geschä-
digten zu einer wesentlichen Vereinfachung des Verfah-
rens.
Dies und die Regelung, dass die Versicherungs-
unternehmen sowohl in Deutschland als auch den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet werden,
spätestens innerhalb von drei Monaten ein an sie heran-
getragenes Schadensersatzbegehren zu beantworten, ver-
bessert die Situation des Geschädigten erheblich. Damit
diese Frist von den Versicherungen in unproblematischen
Fällen nicht als Schonfrist missbraucht wird, werden die
Versicherer zu einer unverzüglichen Bearbeitung ver-
pflichtet. Da bei Zuwiderhandlung den Versicherungs-
unternehmen die Verzinsung des Ersatzanspruches oder
der Regress der Entschädigungsstelle, die ersatzweise den
Ersatzanspruch des Geschädigten befriedigt, droht, ist da-
von auszugehen, dass eine zügige Abwicklung der Schä-
den erfolgen wird.
Eine weitere Verbesserung stellen in diesem Zusam-
menhang auch die von den Mitgliedstaaten einzurich-
tenden Auskunftsstellen dar, die, ähnlich dem Zentralruf
in der Bundesrepublik Deutschland, dem Geschädigten
alle zur Regulierung seiner Ansprüche notwendigen Da-
ten mitteilen müssen. Allerdings dürfen auch die Nach-
teile dieser Regelung nicht übersehen werden. Es können
nun auch Privatleute den Halter über das Kennzeichen
seines Fahrzeuges ermitteln. Der gläserne Bürger rückt
dadurch wieder ein Stück näher.
Trotz dieses Schönheitsfehlers wird die FDP dem
Gesetzentwurf zustimmen, da die Vorteile deutlich über-
wiegen. Durch die Verbesserung der Regulierung von
Verkehrsunfallschäden, die ein Reisender in einem Mit-
gliedstaat der Europäischen Union erleidet, wird es nun
endlich möglich sein, dass der Geschädigte schnell zu
seinem Recht kommt und nicht mehr auf den Kosten sit-
zen bleibt, weil die Versicherung des ausländischen Un-
fallgegners das Verfahren verschleppt. Es konnten nun-
mehr wirksame Mechanismen in Form von Sanktionen
sowie Regressforderungen entwickelt werden, die dafür
Sorge tragen, dass die entstandenen Schäden zügig aus-
geglichen werden.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Jeder, der einmal einen
Autounfall hatte, weiß um den Ärger der Schadensregu-
lierung. So ärgerlich und manchmal tragisch ein Ver-
kehrsunfall auch ist, besonders ärgerlich ist ein Verkehrs-
unfall im Ausland. Viele, die einmal im Ausland zu
Schaden gekommen sind, wünschten sich in dieser miss-
lichen Situation, dass ihnen der Unfall – wenn schon nicht
vermeidbar – doch besser zu Hause geschehen wäre. Bei-
nahe regelmäßig veröffentlichen Autozeitschriften gerade
in der Urlaubszeit Horrorgeschichten über Autounfälle im
Ausland und die Odysseen ihrer Schadensregulierung.
Der Euro macht das Reisen leichter. Europa wächst zu-
sammen. Doch eben nicht nur harmonisch. Gelegentlich
gibt es auch Zusammenstöße, nicht zuletzt auf europä-
ischen Straßen, die nicht immer einheimische Straßen
sind.
Erklärtes Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes der
Bundesregierung ist es, in Umsetzung europäischer
Richtlinien, Schwierigkeiten nach einem Verkehrsunfall
innerhalb der Europäischen Union zu minimieren, die
Schadensregulierung zu beschleunigen. Dieses Vorhaben
kann im Interesse der Autofahrerinnen und Autofahrer nur
begrüßt werden. Das haben ja bekanntlich bereits sowohl
die Automobilclubs als auch der Gesamtverband der
Deutschen Versicherungswirtschaft getan.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23775
(C)
(D)
(A)
(B)
Die im Gesetzentwurf dazu vorgeschlagenen Maßnah-
menkomplexe, Bestellung von Schadensregulierungsbe-
auftragten, Einrichtung von Auskunftsstellen sowie die
Einrichtung von Entschädigungsstellen, scheinen geeig-
net, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Dass die Versi-
cherungen künftig Schäden aus Verkehrsunfällen inner-
halb einer Frist von drei Monaten zu regeln haben oder
dem Geschädigten schriftlich begründen müssen, warum
dies nicht geschehe, empfinde ich als eine angemessene
Regelung. Ob die vorgesehenen Sanktionen bei Nichtein-
haltung greifen werden, muss sich ebenso zeigen, wie ich
insgesamt auf die tatsächliche Wirksamkeit dieses Geset-
zes gespannt bin.
Auf eigene Erfahrungen möchte sicher jeder von uns
verzichten. Umso wichtiger erscheint mir vielleicht ein
Jahr nach In-Kraft-Treten des Gesetzes ein Bericht darü-
ber, wie verbraucherfreundlich sich diese europäische Ge-
setzgebung in der Praxis wirklich erwiesen hat.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
ministerin der Justiz: Der Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Pflichtversicherungsgesetzes und anderer versi-
cherungsrechtlicher Vorschriften setzt die so genannte
vierte Kraftfahrzeughaftpflichtrichtlinie vom16. Mai 2000
in nationales Recht um.
Diese Richtlinie widmet sich den Schwierigkeiten, mit
denen man nach einem Verkehrsunfall im Ausland kon-
frontiert ist. Die Regulierung eines solchen Verkehrsun-
falls kann sich als sehr unerfreulich herausstellen. Da
kann sich der Geschädigte nach seiner Rückkehr nach
Deutschland mit einer Versicherung auseinandersetzen,
die etwa in Neapel oder auch in Paris sitzt. Er muss seine
Anschreiben in italienischer oder französischer Sprache
verfassen und Telefonate kommen oft nicht in Betracht,
denn wer spricht schon fließend italienisch oder franzö-
sisch, von portugiesisch oder griechisch ganz zu schwei-
gen. Immer wieder wird von Auslandsurlaubern auch die
lange Dauer der Schadenregulierung bei ausländischen
Versicherungen beklagt, die sich im Einzelfall über Jahre
hinweg ziehen kann.
Nachdem im Zuge des Zusammenwachsens der Euro-
päischen Union auch der gewerbliche und der private
Straßenverkehr immer weiter zugenommen hat, war es an
der Zeit, sich dieser Probleme in Form einer gemein-
schaftlichen Regelung anzunehmen.
Die vierte Kraftfahrzeughaftpflichtrichtlinie hat zwar
einen umständlichen Namen, dafür aber – weit wichtiger –
einen verständlichen Regelungsgehalt, der sich auf vier
Maßnahmen beschränkt:
Erstens: Die Mitgliedstaaten müssen Auskunftsstellen
einrichten oder anerkennen, bei denen der Geschädigte
Informationen erhalten kann, die zur Regulierung seiner
Ansprüche erforderlich sind: Kennt etwa der deutsche
Geschädigte lediglich das Kfz-Kennzeichen des Schädi-
gerfahrzeugs, dann wird er zukünftig nach einem Telefo-
nat mit der in Deutschland ansässigen Auskunftsstelle den
Halter und den Versicherer des ausländischen Schädiger-
fahrzeugs erfahren. Und nicht nur das: auch den Namen
und die Anschrift des Schadenregulierungsbeauftragten,
den diese ausländische Versicherung in Deutschland be-
nannt hat.
Bei diesem Schadenregulierungsbeauftragten handelt
es sich um die zweite Maßnahme der Richtlinie, wonach
alle in der Gemeinschaft zugelassenen Versicherungen
verpflichtet werden, in jedem Mitgliedstaat, außer dem
ihres Sitzes, einen Schadenregulierungsbeauftragten zu
benennen. Dieser vertritt die Versicherung gegenüber
dem Geschädigten in der jeweiligen Landessprache vor
Ort. Das ist der entscheidende Vorteil für den deutschen
Geschädigten eines Auslandsunfalls: Er kann jetzt in
Deutschland und in deutscher Sprache den Schaden regu-
lieren.
Zum Dritten sorgt die Richtlinie dafür, dass eine zö-
gerliche Schadenregulierung der Vergangenheit an-
gehören wird: Die Versicherungen haben zukünftig Schä-
den aus Verkehrsunfällen innerhalb einer Frist von drei
Monaten zu regulieren. Halten sie eine Schadensersatz-
forderung des Versicherten für nicht oder für nicht in
vollem Umfang berechtigt; so haben sie innerhalb dieser
Frist dem Geschädigten schriftlich begründet darzulegen,
warum sie nicht oder nicht vollumfänglich regulieren.
Wird diese Frist nicht eingehalten, so greift Maßnahme
Nummer vier: Entschädigungsstellen, die durch die Mit-
gliedstaaten einzurichten oder anzuerkennen sind, regu-
lieren für die zögerliche Versicherung den Schaden; darü-
ber hinaus sollen durch die Leistungen dieser
Entschädigungsstellen in weiteren Fällen Härten für Ge-
schädigte vermieden werden. So zahlt die Entschädi-
gungsstelle auch dann, wenn beispielsweise das Schädi-
gerfahrzeug nicht versichert war.
Diese Vorgaben der Richtlinie setzt der Gesetzentwurf
in nationales Recht um.
Die Aufgaben der Auskunftsstelle wird der Zentralruf
der Autoversicherer übernehmen, eine Einrichtung, die
sich in vergleichbaren, rein nationalen Angelegenheiten
bereits seit Jahrzehnten bewährt hat. An dieser Stelle
danke ich den Verantwortlichen des Zentralrufs, die sich
ohne jedes Zögern bereit erklärt haben, diese Aufgabe zu
übernehmen. Dies bedeutet, dass zur Erledigung öffentli-
cher Aufgaben auf zuverlässige Strukturen der Privatwirt-
schaft zurückgegriffen werden kann.
Gleiches gilt auch für die Anerkennung der Entschädi-
gungsstelle, deren Aufgaben in Deutschland die Ver-
kehrsopferhilfe e.V. erledigen wird. Auch diese Institution
ist dem deutschen Autofahrer seit Jahrzehnten gut be-
kannt. An dieser Stelle ist ebenfalls den Verantwortlichen
für Ihre uneingeschränkte Bereitschaft zur Übernahme öf-
fentlicher Aufgaben zu danken.
In Umsetzung der Richtlinie werden weiterhin die
deutschen Versicherungen verpflichtet, in jedem Mit-
gliedstaat der Europäischen Union einen Schadenregulie-
rungsbeauftragten zu benennen. Die deutschen Versiche-
rer haben bereits bekundet, dass sie dieser Verpflichtung
ohne große Schwierigkeiten werden nachkommen kön-
nen.
Schließlich wurde bei dem Gesetzentwurf auch an die
Umsetzung der Schadenregulierungsfrist gedacht. Diese
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223776
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(D)
(A)
(B)
soll zukünftig auch für reine Inlandsfälle gelten. Dabei
wurde darauf geachtet, dass nicht etwa der unerwünschte
Effekt eintritt, dass Versicherungsunternehmen diese Frist
von drei Monaten auch in jedem Falle ausschöpfen: Dies
würde in unproblematischen Fällen, die bisher in
Deutschland in kürzerer Zeit reguliert wurden, zu einer
Verlängerung der Regulierungsdauer führen. Deshalb
werden die Versicherungen zur unverzüglichen Bearbei-
tung verpflichtet, wobei die absolute Grenze der Bearbei-
tungsdauer bei drei Monaten liegt.
Das Gesetz zur Änderung des Pflichtversicherungsge-
setzes und anderer versicherungsrechtlicher Vorschriften
wird die Schadenregulierung nach einem Unfall im Aus-
land also deutlich erleichtern.
Vielen Dank.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der
Strafprozessordnung
– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der
Zuständigkeit für die Anordnung einer DNA-
Untersuchung bei Spuren (Tagesordnungs-
punkt 35)
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Die genetische
Untersuchung von aufgefundenem Spurenmaterial nach
§ 81 e Abs. 2 StPO hat sich als wertvolles und hilfreiches
Instrument bei der Überführung von Straftätern erwiesen.
Die Unentbehrlichkeit dieser Maßnahme für eine effek-
tive Verbrechensbekämpfung ist unbestritten. Gleichwohl
verlangt die Einzigartigkeit der Analysemethode einen
verantwortlichen Umgang mit den auf diese Weise ge-
wonnenen Erkenntnissen. Der Gesetzgeber hat daher – zu
Recht – die Zulässigkeit einer molekulargenetischen Un-
tersuchung an enge Voraussetzungen geknüpft und die
Anordnung der Untersuchung einem uneingeschränkten
Richtervorbehalt unterworfen. Die Notwendigkeit eines
solchen wurde im Anschluss an eine in der Literatur ver-
tretene Auffassung verschiedentlich bezweifelt und hat
mittlerweile zu einer uneinheitlichen landgerichtlichen
Rechtsprechung geführt.
Bereits in der ersten Lesung des heute zu beratenden
Gesetzentwurfes des Bundesrates am 5. Juli 2001 habe ich
auf die Unverzichtbarkeit der richterlichen Anordnungs-
befugnis für Spurenmaterial, gleich welchen Ursprungs,
hingewiesen. Lassen Sie mich auf die Überlegungen noch
einmal im Einzelnen eingehen.
Jeder Umgang mit personenbezogenen Daten berührt
das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“,
wonach jeder berechtigt ist, grundsätzlich selbst zu ent-
scheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönli-
che Lebenssachverhalte offenbart werden. Eine geneti-
sche Untersuchung erfolgt durch Feststellung des für jede
Person spezifischen DNA-Identifizierungsmusters, wel-
ches für jeden Menschen so individualcharakteristisch ist
wie sein Fingerabdruck. Sie eröffnet den Zugang zu einer
Fülle bisher unbekannter, nicht nachweisbarer, perso-
nenspezifischer Informationen.
Der Einsatz solcher Untersuchungen im Strafverfahren
kann deshalb zu empfindlichen, den Kern der Persönlich-
keit berührenden Eingriffen führen. Dies hat den Gesetz-
geber bereits bei Einführung der DNA-Analyse durch das
StVÄG 1997 dazu veranlasst, die gentechnische Untersu-
chung von Probenmaterial in jedem Fall von einer vorhe-
rigen richterlichen Anordnung abhängig zu machen (Bun-
destagsdrucksache 13/667). Er trug dabei auch den in der
Bevölkerung verbreiteten Ängsten und Vorbehalten ge-
genüber der Gentechnik im Allgemeinen Rechnung.
Hinzu kommt, dass durch die nicht absehbare wissen-
schaftliche Entwicklung in der Gentechnik zunehmend
neue Gefährdungslagen entstehen, die zum Beispiel die
Konferenz der Datenschutzbeauftragten wie folgt konkre-
tisiert hat – ich zitiere –:
Die Gefahr, dass eines nicht allzu fernen Tages die
DNA-Analyse nicht mehr allein zur Identitätsfest-
stellung, sondern darüber hinaus zur Entschlüsse-
lung aller möglichen Erbveranlagungen und Dispo-
sitionen dienen könnte ... ist angesichts des bio- und
gentechnischen Fortschritts nicht völlig von der
Hand zu weisen.
Die Gründe, die den Gesetzgeber dazu bewogen haben,
die Regelung der DNA-Analyse einem umfassenden
Richtervorbehalt zu unterstellen, haben deshalb nichts an
Aktualität verloren.
Daher kann auch dem Bundesratsvorschlag, anonyme
Spuren im Sinne von § 81 e Abs. 2 StPO vom Richtervor-
behalt auszunehmen, nicht zugestimmt werden. Auch hier
muss es bei der alleinigen Anordnungsbefugnis des Rich-
ters verbleiben. Die Ansicht, die in diesen Fällen davon
ausgeht, dass ohne konkrete Tatverdächtige auch kein
Eingriff in subjektive Rechte vorliegen könne, verkennt,
dass das Ziel einer Untersuchung ebendieser Spuren ge-
rade darin besteht, anhand des Ergebnisses einen Ab-
gleich mit schon vorhandenen oder noch zu gewinnenden
DNA-Identifizierungsmustern bekannter Personen vorzu-
nehmen und so die Anonymität des Spurenverursachers
aufzuheben. In vielen Verfahren ist ein konkreter Be-
schuldigter zunächst gar nicht vorhanden und kann erst
auf diese Weise ermittelt werden. Die oben genannte Auf-
fassung würde hierbei den Richtervorbehalt weitgehend
gegenstandslos machen.
Darüber hinaus können von einer Maßnahme nach
§ 81 e Abs. 2 StPO grundsätzlich auch völlig Unschuldige,
deren Proben – aus welchen Gründen auch immer – im
Umfeld einer Straftat aufgefunden werden, betroffen sein.
Dass diese Spuren zunächst keiner bestimmten Person zu-
gewiesen werden können, vermindert selbstverständlich
nicht ihre Schutzbedürftigkeit – im Gegenteil! Gerade der
Umstand, dass der Spurenleger von der Untersuchung sei-
nes Spurenmaterials und der Speicherung seines
DNA-Identifizierungsmusters jedenfalls zunächst keine
Kenntnis hat, spricht für eine Prüfung der Anordnungs-
voraussetzungen durch den Richter. Ohne richterliche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23777
(C)
(D)
(A)
(B)
Anordnung ist im Übrigen auch die notwendige Speiche-
rung der Daten gesetzlich ausgeschlossen.
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Absenkung des
Schutzniveaus durch Verzicht auf den Richtervorbehalt
hätte die falsche Signalwirkung. Kann etwa bei potenziell
Unschuldigen und Unbeteiligten auf die für potenziell
Tatbeteiligte geltenden rechtsstaatlichen Kontrollen ver-
zichtet werden? Das kann nicht richtig sein und würde der
Grundrechtsrelevanz des Eingriffs nicht gerecht. Diese
gebietet es, bereits die Voraussetzung eines späteren Da-
tenabgleichs, das heißt die Untersuchung genetischen
Materials, einheitlich an strenge, kontrollierbare Voraus-
setzungen zu binden. Der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung wird dies durch eine Präzisierung von
§ 81 f Abs. 1 StPO klarstellen.
Wir beraten heute auch den Vorschlag zur Einführung
eines § 100 i StPO, der die Ausdehnung der Überwachung
der Telekommunikation auf Mobiltelefone zum Gegen-
stand hat. Wir begrüßen das Vorhaben der Bundesregie-
rung, die Lücke zu schließen, die sich bei der Strafverfol-
gung durch den zunehmenden Einsatz von Mobiltelefonen
durch Straftäter aufgetan hat. Das geschieht durch den
Einsatz des so genannten „IMSI-Catchers“, mit dessen
Hilfe die erforderlichen Kennungen eines Mobilfunkan-
schlusses sowie der Standort eines Mobiltelefons ermittelt
werden können.
Ronald Pofalla (CDU/CSU): Wieder einmal klaffen
Anspruch und Wirklichkeit bei dieser Bundesregierung
auseinander. Vor allem bei den Themen „innere Sicher-
heit“ und „Kriminalitätsbekämpfung“ wird deutlich, dass
zwar viel davon gesprochen wird, doch dass tatsächlich
noch immer nach den alten Rezepten der 70er-Jahre
geköchelt wird. Das Süppchen, das dabei entsteht, hat den
faden Beigeschmack eines utopistischen Weltbildes.
Noch immer wird der Opferschutz vernachlässigt und
die öffentliche Sicherheit durch übertriebene Großzügig-
keit gegenüber hartgesottenen Wiederholungstätern ge-
fährdet. Der Bundeskanzler ritt zwar auf der medienwirk-
samen Welle der Entrüstung, als er angesichts
entsetzlicher Wiederholungstaten von Sexualverbrechern
ein „Wegschließen, aber für immer!“ forderte, doch pas-
siert ist seitdem gar nichts. Nur halbherzige Maßnahmen
werden ergriffen, um die Möglichkeiten der Ermittlungs-
behörden zur Bekämpfung der Schwer- und Schwerstkri-
minalität zu verbessern.
Ein Beispiel für solch einen halbherzigen Versuch ist
der hier vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Wieder einmal werden hier derartig hohe Hürden bei zwei
sehr wichtigen Maßnahmen der Täterermittlung errichtet,
dass ihre sinnvolle Nutzung gefährdet erscheint.
Zum einen geht es um die Sammlung und Untersu-
chung von anonymen DNA-Spuren am Tatort, zum ande-
ren um die Erfassung des Standortes von tatverdächtigen
Mobiltelefonnutzern mittels des so genannten „IMSI-Cat-
chers“. Für beide Maßnahmen wird im Gesetzentwurf der
Regierung eine komplizierte – und bürokratische – Hin-
dernisbahn errichtet. Begründet werden diese unnötigen
Verkomplizierungen mit dem Schutz der Verdächtigen
aufgrund der Beeinträchtigung der Grundrechte. Hier
wird den Ermittlungsbehörden schlichtweg nicht getraut.
Einige Sozialdemokraten und viele Bündnisgrüne riechen
hier schon den Missbrauch staatlicher Macht.
Doch diese Einstellung geht fehl. Zum einen taugen die
hier zur Debatte stehenden Regelungen so gar nicht, um
mit dem Grundrechtsschutz derer zu argumentieren, die
durch die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnah-
men möglicherweise beeinträchtigt werden. Zum anderen
ist das Missbrauchspotenzial gering.
Sehen wir sie uns doch einmal an: Da ist die DNA-Spur
am Tatort, sagen wir einmal Haare bei einem Opfer einer
schweren Körperverletzung. Die Spuren sind noch keiner
konkreten Person zugeordnet. Nun soll also das Recht des
möglicherweise durch diese Spur in Verdacht geratenen
davor stehen, diese Spur ohne richterlichen Beschluss zu
untersuchen? Das ist doch eher weltfremd. Es wird ein
ganz und gar unnötiger Vollzugsaufwand betrieben, der
unter Umständen aufgrund des damit verbundenen Zeit-
ablaufs dem Täter, in dem von mir gebildeten Fall einem
Gewaltverbrecher, zugute kommt. Das Recht auf infor-
mationelle Selbstbestimmung, welches hier durch die
vorherige Prüfung der Anordnung durch den Richter ge-
wahrt werden soll, erfährt letztlich keine Verbesserung.
Ebenso verhält es sich mit der Regelung zu dem
„IMSI-Catcher“. Wer ist denn das Ziel telefonischer Ab-
hör- und Ortungsmaßnahmen?
In der Regel sind es Schwerkriminelle, zu deren
„harmlosesten“ Verbrechen Menschenhandel, Drogen-
schmuggel und Geldwäsche gehören. Hierfür kompli-
zierte Regelungen zu finden, um dem Datenschutz
Genüge zu leisten, halte ich für falsch. Zudem ist die Or-
tung eines Tatverdächtigen mittels seines Mobiltelefons
ein für die Betroffenen weit geringerer Eingriff in die
Grundrechte als beispielsweise das inhaltliche Abhören
von Telefongesprächen. Auch deshalb schon erscheinen
die Restriktionen des Regierungsgesetzentwurfes, der an
die strikten Regelungen des § 100 a StPO bei Telefonab-
hörmaßnahmen anknüpft, übertrieben.
Beide Instrumente können vielmehr ohne Bedenken
den Ermittlungsbehörden und ohne die Einschränkung
des hierfür nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
notwendigen richterlichen Beschlusses an die Hand gege-
ben werden. Insoweit unterstützt die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion den Gesetzentwurf des Bundestages, der hin-
sichtlich der DNA-Spuren eine einfache, praktikable und
grundgesetzkonforme Lösung darstellt. Hier ist eine ge-
setzliche Klarstellung dahin gehend vorgesehen, dass eine
richterliche Anordnung nicht bei der Untersuchung ver-
dächtiger, am Tatort vorgefundener anonymer DNA-Spu-
ren notwendig ist, sondern erst dann, wenn der Untersu-
chungsgegenstand einem Grundrechtsträger zugeordnet
werden kann.
Was den Einsatz von „IMSI-Catchern“ angeht, ver-
weise ich auf den durch unsere Fraktion vorgelegten An-
trag, in dem ebenfalls eine gestraffte Regelung den Ein-
satz dieser Messtechnik ohne bürokratische Hürden
vorsieht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223778
(C)
(D)
(A)
(B)
Die von der Regierung vorgesehene Anlehnung an den
Straftatenkatalog des § 100 a StPO ist unnötig und wird
daher in dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
abgelehnt.
Noch einmal: Die mögliche Nutzung von Verbin-
dungs- und Standortdaten ist mit einem deutlich geringe-
ren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis verbunden als die
Überwachung und Aufzeichnung des Inhalts der Tele-
kommunikation nach § 100 a StPO.
Eine weitere Verbesserungsnotwendigkeit bei dem Ge-
setzentwurf der Regierung besteht darin, die Standortken-
nung auch dann vornehmen zu können, wenn kein Fern-
gespräch geführt wird. Es besteht kein ersichtlicher
Anlass, insoweit auch die strengen Voraussetzungen des
§ 100 a StPO vorzusehen. Parallelregelungen zugunsten
der Nachrichtendienste in den einschlägigen Gesetzen
kennen diese Einschränkung ebenfalls nicht. Es ist nicht
einzusehen, warum hier zwischen den Befugnisnormen
der Dienste und den Regelungen in der Strafprozessord-
nung ein Unterschied bestehen sollte.
Ich möchte die Kollegen von der Regierungskoalition
auffordern, sich diesen Argumenten nicht zu ver-
schließen. Es ist im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung
nun endgültig Zeit, die ideologischen Scheuklappen ab-
zulegen.
Unsere Bürgerinnen und Bürger haben den bestmögli-
chen Schutz vor Verbrechen verdient, was auch eine kon-
sequente Verbrechensverfolgung beinhaltet. Ich fordere
Sie daher auf, den Bundesratsentwurf und den Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu beschließen, um eine
sinnvolle und effektive Verbrechensbekämpfung und
Strafverfolgung zu ermöglichen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem rot-grünen Gesetzentwurf präzisieren wir in
rechtsstaatlich gebotener Weise die gesetzlichen Bestim-
mungen im Bereich der DNA-Analyse. Wir stellen das
klar, was vom Gesetzgeber ursprünglich auch im DNA-
Identitätsfeststellungsgesetz gewollt war, nämlich dass in
jedem Fall die gentechnische Untersuchung von Proben-
material von einer vorherigen richterlichen Anordnung
abhängig ist. Damit werden vom Gesetzgeber die Gren-
zen gewährleistet, in denen der Einsatz moderner Technik
und naturwissenschaftlicher Neuerungen rechtsstaatlich
unbedenklich sind. Klare Verfahrensregelungen sind hier
vor allem deshalb erforderlich, weil der Einsatz solcher
Untersuchungen im Strafverfahren zu empfindlichen, den
Kern der Persönlichkeit berührenden Eingriffen führt.
Dieser Gesetzentwurf zielt nicht nur auf mehr Rechts-
staatlichkeit ab, sondern auch auf eine effektivere Straf-
verfolgung. Denn mit dem Entwurf wollen wir vermei-
den, dass in den Beständen der beim Bundeskriminalamt
geführten DNA-Analysedatei Lücken entstehen. Diese
Lücken waren ja entstanden, weil sich diverse Land-
gerichte geweigert hatten, die zur Speicherung beim BKA
notwendige richterliche Anordnung zu treffen.
Dem Bundesrat ging es darum, diese gesetzwidrige
Praxis einiger Landgerichte zu legitimieren. Die Koali-
tion hat diesem Ansinnen eine klare Absage erteilt. Auch
DNA-Identifizierungsmuster, die nach § 81 e Abs. 2 StPO
erstellt werden, dienen dazu, die Personalien des Spuren-
verursachers anschließend zu ermitteln. Es handelt sich
damit um hochsensible Daten. Ihre Erstellung bewirkt
auch dann einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht,
wenn der Betroffene noch nicht namentlich bekannt ist.
Die Beibehaltung des Richtervorbehaltes in diesem Be-
reich ist deshalb auch verfassungsrechtlich geboten.
Beim so genannten Imsi-Catchers haben wir nunmehr
mit § 100 i StPO eine rechtliche Grundlage geschaffen,
die klar umrissen ist und ebenfalls eindeutige rechtsstaat-
liche Grenzen setzt.
Es bleibt jetzt zu hoffen, dass wir sehr bald auch beim
§ 100 a StPO, also dem im Vergleich zum Imsi-Catcher
wesentlich schwereren Eingriff, zu einer Reform kom-
men, die das Abhören in Deutschland auf das notwendige
Mindestmaß begrenzt.
Jörg van Essen (FDP): Die FDP unterstützt den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung. Auch wir sind der Mei-
nung, dass es unbedingt einer richterlichen Anordnung
bedarf. So hat sich auch die große Mehrzahl der Sachver-
ständigen in der Anhörung geäußert. Eine gesetzliche
Klarstellung zur Anordnung von DNA-Analysen von
Spuren ist notwendig. Dies zeigt die unterschiedliche
Rechtsprechung der Gerichte. Wir befinden uns hier in ei-
ner rechtlichen Grauzone. Es ist ein Skandal, dass auf-
grund dessen in einigen Bezirken keine Speicherung in
der DNA-Analyse-Datei möglich ist. Dies ist in einem so
grundrechtssensiblen Bereich nicht länger hinnehmbar.
Eine Anordnung durch die Staatsanwaltschaft oder ihre
Hilfsbeamte, so wie es der Gesetzentwurf des Bundesra-
tes vorsieht, lehnen wir ab. Die Möglichkeiten, aus Gen-
material vielfältige höchstpersönliche und intime Er-
kenntnisse über die Persönlichkeit des Täters zu
gewinnen, erweckt beim Bürger Bedenken über drohende
Eingriffe in die eigenen Persönlichkeitsrechte. Für den
Gesetzgeber war in der 13. Wahlperiode daher völlig klar,
dass die Verwendung des genetischen Fingerabdrucks nur
unter engen rechtsstaatlichen Voraussetzungen möglich
ist. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2001
nochmals bestätigt. Der Richtervorbehalt ist eine solche
Sicherungsmaßnahme, die wesentlich dazu beiträgt, dass
dem Bürger die Ängste vor derartigen Genanalysen ge-
nommen werden.
Die Forderung, dass Hilfsbeamte der Staatsanwalt-
schaft eine DNA-Analyse von Spuren anordnen können,
ist völlig inakzeptabel und würde zu Ängsten in der Be-
völkerung führen. Die Behauptung, bei Spurenauswer-
tungen liege ein Grundrechtseingriff nicht vor, da sich die
Spuren vom Spurenverursacher „gelöst“ haben, verkennt,
dass es sich schon bei dem DNA-Identifizierungsmuster
selbst um ein personenbezogenes Datum handelt, das in
aller Regel nur einer Person zuzuordnen ist.
Wir begrüßen auch, dass die Bundesregierung endlich
einen Gesetzentwurf zur Überwachung von Handys vor-
gelegt hat. Es wurde höchste Zeit, dass wir hier klare
rechtstaatliche Verhältnisse bekommen. Der jetzige Zu-
stand, dass gewohnheitsmäßig mit dem rechtfertigenden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23779
(C)
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(B)
Notstand gearbeitet wird, ist unhaltbar. Sowohl die Da-
tenschützer als auch die Strafverfolger und die Netzbe-
treiber haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Si-
tuation unbefriedigend ist. Der Bereich des Mobilfunks
hat sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt.
Deshalb müssen die gesetzlichen Vorschriften dringend
angepasst werden. Gerade wegen der Schwere des Grund-
rechtseingriffs ist eine klare gesetzliche Grundlage drin-
gend geboten.
Ulla Jelpke (PDS):
Die Feststellung, Speicherung und Verwendung des
DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch
Art. 2 des Grundgesetzes verbürgte Recht auf infor-
mationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht
gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbst-
bestimmung folgende Befugnis des Einzelnen,
grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und inner-
halb welcher Grenzen persönliche Lebenssachver-
halte offenbart werden. Diese Verbürgung darf nur in
überwiegendem Interesse der Allgemeinheit und un-
ter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßig-
keit durch Gesetz eingeschränkt werden. Die Ein-
schränkung darf nicht weitergehen, als es zum
Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist.
Das ist ein Zitat aus einem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 15. März letzten Jahres zum Thema
DNA-Speicherung. Es ist offensichtlich erforderlich, auf
diese verfassungsrechtlichen Schranken hinzuweisen,
wenn ich die Debatte über DNA-Analysen hier wieder
höre.
Die CDU/CSU will mit ihrem Antrag ermöglichen,
dass künftig auch ohne gerichtliche Anordnung DNA-
Spuren erfasst und gespeichert werden können. In der An-
hörung, die der Rechtsausschuss zu diesem Thema veran-
staltet hat, ist zu Recht auf die Folgen einer solchen
Änderung hingewiesen worden. Ich zitiere:
Eine ohne richterliche Anordnung erfolgte moleku-
largenetische Untersuchung .... würde in der Praxis
dazu führen, dass unter Umständen in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung einer Vielzahl
von Personen eingegriffen werden würde, ohne dass
dieser Grundrechtseingriff aufgrund einer richter-
lichen Anordnung erfolgt wäre.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ein solcher Umgang mit
Grundrechten ist nicht akzeptabel. Ich sehen auch keinen
Bedarf zu der von der Regierung vorgeschlagenen Ände-
rung. Die Fälle, in denen Gerichte keinen Grund für eine
richterliche Anordnung der Speicherung von DNA-Daten
unbekannter Täter gesehen haben, sind so selten, dass eine
Änderung des Gesetzes nicht erforderlich ist. Auch die
vorgesehene Änderung von § 100 der Strafprozessord-
nung zur Erleichterung des Einsatzes von so genannten
IMSI-Catchern lehnen wir ab. Der Datenschutzbeauf-
tragte des Bundes hat in der schon erwähnten Anhörung
klar gemacht, dass durch die geplanten Einsatzmöglich-
keiten für den IMSI-Catcher zum Beobachten von Ver-
dächtigen, die ein Handy haben, immer auch Unbeteiligte
betroffen sind. Außerdem kann der Einsatz dieses Geräts
zu Störungen in den Netzen der Telekommunikationsun-
ternehmen führen. Das Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie hat deshalb eine Untersuchung in Auf-
trag gegeben, um das Ausmaß solcher Störungen festzu-
stellen. Diese Studie soll Ende Juni vorliegen. Die Regie-
rungsparteien und die CDU/CSU wollen noch nicht
einmal die Ergebnisse dieser Studie abwarten. Die Union
will den Catcher sogar noch weiter einsetzbar machen.
Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.
Selbst der Bundesgrenzschutz, der den Catcher schon
benutzt, hat berichtet, dass dieses Gerät seit 1998, also in
über drei Jahren, nur 34 Mal zum Einsatz gekommen ist.
So unerhört wichtig für die Kriminalitätsbekämpfung,
wie manchmal getan wird, ist der Catcher also offensicht-
lich nicht.
Umso wichtiger ist es, die Grundrechte Unbeteiligter
zu schützen und Studien zu technischen Problemen erst
einmal abzuwarten.
Dr. Eckhart Pick (Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz):Der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung verfolgt das Ziel, Lücken in den Beständen der
beim Bundeskriminalamt geführten DNA-Analyse-Datei
zu vermeiden. Diese Lücken drohen, weil einige wenige
Gerichte die vom Gesetzgeber ausdrücklich und eindeu-
tig gewollte richterliche Anordnung der Untersuchung
auch von Spurenmaterial nicht treffen. Die Gerichte
begründen dies mit dem Fehlen eines aktuellen Eingriffs.
Nach dem Gesetz kann aber nur das Ergebnis einer rich-
terlich angeordneten Analyse in die DNA-Datei einge-
stellt werden.
Die DNA-Analyse hat sich – wie Fälle in jüngster Ver-
gangenheit belegen – als außerordentlich wirkungsvolles
Instrument zur Aufklärung von Straftaten erwiesen. Bund
und Länder sind sich deshalb einig, dass Lücken im
Datenbestand der DNA-Datei und hieraus resultierende
Ermittlungsdefizite in jedem Fall vermieden werden müs-
sen. Der Bundesrat hat beschlossen, diesem Dilemma da-
durch Rechnung zu tragen, dass die Fälle der Untersu-
chung von Spurenmaterial aus dem Richtervorbehalt
herausgenommen und Anordnungen der Untersuchung
durch Staatsanwaltschaften oder ihre Hilfsbeamten zuge-
lassen werden. Dies halte ich aus mehreren Gründen für
den falschen Weg:
Zunächst beanspruchen die Gründe, die den Gesetzge-
ber im Jahre 1997 dazu bewogen haben, die Anordnung
der Untersuchung auch von Spurenmaterial ausschließ-
lich dem Richter vorzubehalten, nach meiner Überzeu-
gung nach wie vor Geltung. Es ging und geht darum, auch
durch klare Verfahrensregelungen die Grenzen zu ge-
währleisten, in denen der Einsatz moderner Technik und
naturwissenschaftlicher Neuerungen rechtsstaatlich un-
bedenklich ist. Immerhin führt der Einsatz solcher Unter-
suchungen im Strafverfahren zu empfindlichen, den Kern
der Persönlichkeit berührenden Eingriffen.
Mich überzeugt die Begründung des Bundesratsbe-
schlusses keinesfalls, in der von „unnötigem Vollzugsauf-
wand“ durch den Richtervorbehalt die Rede ist. Das
DNA-Identifizierungsmuster berührt nämlich auch dann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223780
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das informationelle Selbstbestimmungsrecht in einem
höchst sensiblen Bereich, wenn es noch nicht mit den Per-
sonalien des Spurenverursachers verbunden ist. Die An-
ordnung der molekulargenetischen Untersuchung der
Spur hat doch gerade das Ziel, durch Vergleich mit ande-
ren Identifizierungsmustern die Identität des Spurenver-
ursachers zu ermitteln. Eine rein formale Betrachtungs-
weise, die allein darauf abstellt, dass eine Zuordnung
noch nicht möglich ist, wird der Grundrechtssensibilität
von molekulargenetischen Untersuchungen nicht gerecht.
Auch gebietet es die heute noch nicht absehbare Ent-
wicklung der Gentechnik, Auswirkungen auf das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung durch den Richter-
vorbehalt Rechnung zu tragen.
Aus all diesen Gründen halte ich nach wie vor den von
der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf, der die
Anordnung der DNA-Untersuchung von Spurenmaterial
dem Richter vorbehält, für die richtige Lösung und sehe
mich darin auch durch die Ergebnisse der Sachverständi-
genanhörung vom 24. April 2002 bestätigt.
Die über den Gesetzentwurf der Bundesregierung hin-
ausgehenden Vorschläge des Rechtsausschusses begrüße
ich außerordentlich. Insbesondere der Einsatz des so ge-
nannten IMSI-Catchers, der bislang auf die §§ 100 a ff.,
161 StPO gestützt werden musste, hat sich als notwendig
zur Bekämpfung gerade schwerster Straftaten erwiesen.
Mit Hilfe dieses Geräts kann es den Strafverfolgungs-
behörden gelingen, Lücken bei der Überwachung der Te-
lekommunikation von Straftätern zu schließen, weil von
ihnen genutzte, bislang Staatsanwaltschaft und Polizei je-
doch unbekannte Mobilfunkanschlüsse ermittelt werden
können. Daneben kann der IMSI-Catcher die erfolgreiche
Festnahme von Tätern unterstützten, in dem er den Stand-
ort eines vom Beschuldigten mitgeführten Mobiltelefons
bestimmt. Damit trägt er übrigens auch dazu bei, das Ri-
siko des Zugriffs für die eingesetzten Polizeibeamten zu
vermindern.
Allerdings greift der IMSI-Catcher bei jeder Nutzung,
wenn auch nur geringfügig, in Rechte Dritter ein. So kön-
nen im Einsatzbereich des Geräts Mobiltelefone für meh-
rere Sekunden nicht benutzt werden. Gleichzeitig werden
bei der Suche nach den dem Handy des Straftäters zuzu-
ordnenden Geräte- und Kartennummern auch die entspre-
chenden Daten völlig unverdächtiger Bürger erhoben und
verarbeitet.
Vor diesem Hintergrund erscheint aus Gründen der
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine ausdrückliche
Rechtsgrundlage sachgerecht. Ich bin der Auffassung,
dass der ihnen vorliegende neue § 100 i StPO einen ge-
lungen Ausgleich zwischen den Belangen wirksamer
Strafverfolgung einerseits sowie den Rechten der Bürger
andererseits schafft. In diesem Zusammenhang möchte
ich kurz einige Punkte hervorheben:
Der IMSI-Catcher soll alleine zum Zwecke der Fest-
nahme beziehungsweise Ergreifung eines Straftäters oder
zur Vorbereitung einer Telefonüberwachung eingesetzt
werden dürfen. Diese Zweckbindung ist sachgerecht.
Eine Analyse der bisherigen Einsätzen des IMSI-Catchers
ergibt, dass das Gerät aufgrund seiner technischen Wir-
kungsweise gerade in den bezeichneten Fällen die ge-
wünschten Erfolge erzielen konnte.
Wird der IMSI-Catcher zur Festnahme eines Beschul-
digten eingesetzt, soll die Nutzung des Geräts auf Straf-
taten von erheblicher Bedeutung beschränkt bleiben. So-
weit eine Telefonüberwachung vorbereitet werden soll,
muss Gegenstand der Ermittlungen eine Katalogtat nach
§ 100 a Satz 1 StPO sein.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Verwendung und
Löschung von im Rahmen der Maßnahme aus techni-
schen Gründen unvermeidbar anfallenden personenbezo-
genen Daten unbeteiligter Dritter eine datenschutz-
freundliche Regelung gefunden hat.
Es ist sachgerecht, den Einsatz des IMSI-Catchers auf-
grund der mit ihm verbundenen Eingriffe in Rechte Drit-
ter grundsätzlich unter Richtervorbehalt zu stellen. Eilfäl-
len wird dadurch Rechnung getragen, dass bei Gefahr im
Verzug auch die Staatsanwaltschaft die Maßnahme an-
ordnen darf.
Im Zusammenhang mit der Abschöpfung der Gewinne
aus Straftaten meine ich schließlich, dass die Vollziehung
des Arrestes in bewegliche Sachen ausdrücklich auch der
Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten ermöglicht
werden sollte.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Ökologisch-sozialen
Ausbau der regionalen Infrastruktur mit einer
Verstetigung von Beschäftigung verbinden (Ta-
gesordnungspunkt 36)
Wolfgang Weiermann (SPD): Der vorliegende An-
trag geht davon aus, dass es in den strukturschwachen Re-
gionen Deutschlands, insbesondere aber in den ostdeut-
schen, erhebliche Defizite in der Entwicklung der
Infrastruktur gibt. Diese habe bisher weder in der Folge
des Einsatzes steuerlicher Förderungsmodelle noch der
bekannten Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben dazu
geführt, den westdeutschen Standard zu erreichen. Der
Rückgang der Massenarbeitslosigkeit sei dadurch auch
nicht erreicht worden.
Insbesondere wird die Gemeinschaftsaufgabe zur Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur als unspezi-
fische Förderung von Unternehmen kritisiert. Die ge-
wünschten Effekte seien nicht nachweisbar.
Darüber hinaus sei das finanzpolitische Gleichgewicht
zwischen Bund und Ländern sowie den Ländern und
Kommunen gestört. Insgesamt sei trotz eines erheblichen
Mitteleinsatzes keine nennenswerte Angleichung der
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zwischen den
Regionen eingetreten, und nur ansatzweise habe die Bun-
desregierung in den GA-Rahmenplänen mit der Ein-
führung von Elementen zur Stärkung der Regionalent-
wicklung begonnen, deren Mittel jedoch zugunsten einer
neoliberalen Standortorientierung heruntergefahren.
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Eine derartige fundamentale und unsinnige Kritik an
dem wirksamsten Instrumentarium zur Entwicklung
strukturschwacher Regionen, insbesondere der ostdeut-
schen, die darüber hinaus sogar den Koordinierungs-
mechanismus zwischen dem Bund und den Ländern für
die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstrukturen bewusst verkennt, sollte eigent-
lich selbst in der PDS-Fraktion längst besseren Einsichten
gewichen sein, zumal Ihre Parteikollegen in zwei ost-
deutschen Bundesländern wirtschaftspolitische Verant-
wortung für die Regionalentwicklung tragen.
Wir sollten hier demgegenüber festhalten, dass die Ge-
meinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstrukturen gegenüber den anderen Gemein-
schaftsaufgaben als ein effizientes, regelgebundenes För-
dersystem klare Strukturen des Zusammenwirkens von
Bund und Ländern entwickelt hat. Im Bund -Länder- Pla-
nungsausschuss werden nicht nur die Rahmenpläne erar-
beitet und verabschiedet, sondern auch alle Probleme im
Zusammenwirken von Ländern mit Fördergebieten ver-
nünftig geregelt.
Die Rahmenpläne eröffnen auf diese Weise Möglich-
keiten zur geförderten Entwicklung der wirtschaftsnahen
Infrastruktur, von Qualifizierungsmaßnahmen und den
Einsatz von Beauftragten für die Regionalentwicklung im
Sinne eines Regionalmanagements. Ein unverzichtbares
Ziel der GA ist und bleibt allerdings der so genannte
Primäreffekt, also die Sicherung wettbewerbsfähiger
Arbeitsplätze in der Folge von Investitionen in stabile Un-
ternehmen.
Die PDS folgert aus ihrer unzutreffenden Beurteilung
der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstrukturen, man müsse nun alle Gemein-
schaftsaufgaben zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Infrastruktur“ zusammenfassen,
um damit ein zehnjähriges Investitionsprogramm zur so-
zial – ökologischen Förderung der regionalen Infrastruk-
tur in strukturschwachen Regionen zu begründen.
Hier wird ein abenteuerlicher, planwirtschaftlicher An-
satz verfolgt, der von ebensolchen finanz- und europa-
politischen Vorstellungen begleitet wird. Dies kann nur
abgelehnt werden.
Uns allen, vor allem auch der PDS, sollte demgegen-
über klar sein, dass diese gut organisierte Gemeinschafts-
aufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
strukturen ein unverzichtbarer Ordnungsrahmen für die
Regionalentwicklung ist, der in einem bundeseinheit-
lichen Verfahren die Gleichbehandlung von Regionen si-
chert und einen ungebremsten Subventionswettlauf der
Länder um Ansiedlungen verhindert. Dies ist ein System-
ansatz, der angesichts des eher zunehmenden regionalpo-
litischen Handlungsbedarfs fortentwickelt werden muss.
Auch die kommenden Jahre werden von einem ständi-
gen Strukturwandel begleitet sein. Insbesondere die be-
vorstehende Erweiterung der Europäischen Union wird in
dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung darstel-
len.
Mit dem Instrumentarium der GA ist es möglich, die
raumwirksamen Politikbereiche des Bundes, wie Mittel-
stands-, Forschungs-, Städtebau- und Arbeitsmarktpolitik
projektbezogen zu koordinieren. Die daraus erwachsen-
den Synergieeffekte führen zu Effizienzgewinnen und ei-
ner dauerhaften Entwicklung in den Regionen.
Es kommt angesichts heutigen und künftigen regional-
politischen Handlungsbedarfs darauf an, angesichts der
europäischen Entwicklung Spielräume für eine eigenstän-
dige Regionalpolitik zu erhalten und zu erweitern. Dies
heißt auch, dass sich die Europäische Kommission auf
eine Missbrauchskontrolle im Beihilferecht zurückziehen
sollte.
Erfolgreich gelingen kann dies allerdings nur, wenn die
Ministerpräsidenten der Länder ihre Position hinsichtlich
der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstrukturen zu deren mittelfristiger Ab-
schaffung noch einmal überprüfen, wozu ich nur dringend
raten kann.
Im Kontrast dazu haben erst vor wenigen Tagen, näm-
lich am 6. Mai, die Wirtschaftsminister des Bundes und
der Länder im Planungsausschuss der GAbekräftigt, dass
aus den auch hier genannten Gründen die Gemeinschafts-
aufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
strukturen beibehalten werden sollte.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt auf-
greifen, der auch etwas mit den finanzpolitischen Vorstel-
lungen der PDS zur strukturellen Entwicklung Ost-
deutschlands im vorliegenden Antrag zu tun hat.
Insbesondere die Antragsteller, die Damen und Herren
von der Opposition insgesamt, haben wohl möglicher-
weise wieder einmal ganz bewusst übersehen, dass es seit
dem vergangenen Jahr einen Solidarpakt II gibt, der ein
wesentliches Ergebnis unserer Regierungspolitik ist.
Der Aufbau Ost bleibt vorrangige Aufgabe. Das zeigt
ein Blick in den Haushalt 2002 eindeutig. Eine Arbeits-
marktpolitik mit hohem Niveau wird fortgeführt. Die
neuen Länder erhalten ab 2002 den Betrag von 3,4 Milli-
arden Euro – nicht mehr wie bisher zweckgebunden für
Investitionen, sondern gemäß ihrer Forderung frei ver-
fügbar.
Bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“ ist eine Verpflichtungser-
mächtigung auf dem Niveau des Vorjahres in Höhe von
781 Millionen Euro eingeplant.
Insgesamt mit Länder- und EU-Mitteln ist der Bewil-
ligungsrahmen rund 2,2 Milliarden Euro höher als 2001.
Aufgestockt werden auch folgende Maßnahmen: Auf-
stockung Goldener Plan Ost von 7,6 Millionen Euro auf
14,8 Millionen Euro, Programm Netzwerkmanagement
für kleinere und mittlere Unternehmen mit 2,8 Millionen
Euro, für Forschung und Entwicklung in den neuen Län-
dern Aufstockung um 10 Millionen Euro.
Damit darf ich dann abschließend daran erinnern, dass
in einem Mittelrahmen von insgesamt 156,5 Milliarden
Euro mit einer Perspektive bis zum Jahr 2020 der Anglei-
chungsprozess der ostdeutschen Bundesländer fortgeführt
werden wird. Damit sind die finanziellen Voraussetzungen
gegeben, um die bekannten Defizite in der Infrastruktur als
Entwicklungshemmnis zu beseitigen. Allerdings ist damit
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223782
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auch die Aufforderung an die ostdeutschen Landesregie-
rungen verbunden, die zugewiesenen Mittel für die Öf-
fentlichkeit nachvollziehbar zur Infrastrukturentwicklung
einzusetzen.
Den vorgelegten Antrag lehnen wir aus den erläuterten
Gründen ab.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): „Irrtü-
mer haben ihren Wert. Aber nur hie und da, denn nicht je-
der, der nach Amerika fährt, entdeckt Amerika“ – so Erich
Kästner. Der Kästner’sche Irrtum der PDS und der Bun-
desregierung ist es zu glauben, durch ein regionalpoliti-
sches 10-Jahres-Programm und eine Politik gegen den
ökonomischen Sachverstand die großen Herausforderun-
gen der strukturschwachen Regionen Deutschlands lösen
zu können.
Selbstverständlich spielen auch die nationalen Mittel
der Gemeinschaftsaufgabe und die europäischen Gelder
der Strukturfonds eine wichtige Rolle bei der Entwick-
lung und Unterstützung der Regionen. Selbstverständlich
muss beim Ausbau der regionalen Infrastruktur sowohl
ökologischen als auch sozialen Belangen angemessen
Rechnung getragen werden. Und selbstverständlich muss
nicht nur die Regionalpolitik darauf abzielen, mehr Be-
schäftigung zu schaffen. Vor allem aber mit Blick auf die
EU-Osterweiterung und die wirtschaftspolitischen Re-
formvorschläge nahezu aller anerkannten Ökonomen
kann in den regionalen Förderprogrammen allein nicht
der entscheidende Schlüssel zum Erfolg liegen. Vielmehr
gilt auch hier: Wirtschaftspolitik muss man richtig ma-
chen. Nur durch eine gute, umfassende, erfolgreiche und
zielstrebige Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpoli-
tik kann es gelingen, die gesamtwirtschaftlichen Rah-
menbedingungen für Deutschland insgesamt wieder auf
mehr Wachstum und Beschäftigung zu justieren. Davon
profitieren dann auch die Regionen.
Vor der Therapie aber steht die Diagnose. Deshalb ist
zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme über den Zu-
stand der „Deutschland AG“ erforderlich: Und die lautet:
Der Patient ist krank.
Deutschland ist beim Wirtschaftswachstum, bei der
Überwindung der Arbeitslosigkeit und beim Abbau der
Staatsverschuldung in 2001 und 2002 absolutes Schluss-
licht unter allen 15 Mitgliedstaaten der EU.
Das Wachstum war in 2001 mit 0,6 Prozent so gering
wie seit fast zehn Jahren nicht. Für dieses Jahr geht der op-
timistische Jahreswirtschaftsbericht des Bundesfinanzmi-
nisters von 0,75 Prozent aus. Bei einer Beschäftigungs-
schwelle von rund zwei Prozent bedeutet dies: Auch in
diesem Jahr wird die Arbeitsmarktkrise nicht gelöst.
Die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit ist von Dezem-
ber 2000 bis heute Monat für Monat gestiegen und wird
auch im Jahresdurchschnitt kaum unter der Vier-Milli-
onen-Grenze liegen. Den leichten Rückgang im März die-
ses Jahres bezeichnet selbst der neue BA-Chef Gerster
nicht als Trendwende.
Aufgrund der Netto-Neuverschuldung von 2,7 Prozent
im deutschen Gesamthaushalt 2001, hat die Europäische
Kommission erstmalig das Frühwarnsystem gegen
Deutschland in Gang gesetzt.
Rund 32 300 Firmenpleiten hat das Statistische Bun-
desamt im vergangenen Jahr gezählt. Mehr als je zuvor.
Die Experten von Creditreform gehen von 40 000 Unter-
nehmensinsolvenzen in diesem Jahr aus. Dies trifft die
strukturschwachen Regionen besonders hart.
Trotz Steuerreform: Die Steuerbelastung der Arbeit-
nehmer und mittelständischen Unternehmen ist nicht ge-
sunken. Für einen Durchschnittsverdiener gleicht die
Steuersenkungsstufe 2001 nicht einmal die Mehrbelas-
tungen durch Ökosteuer und Energiepreisanstieg aus. Für
mittelständische Unternehmen wird die geringfügige Sen-
kung des Spitzensteuersatzes durch Verschlechterungen
an anderer Stelle, insbesondere durch die massive Ver-
schlechterung der Abschreibungsbedingungen, erkauft.
Die von der Bundesregierung fest angekündigte Sen-
kung der Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent
wurde nicht erreicht. Im Gegenteil: in allen Zweigen des
sozialen Sicherungssystems laufen die Kosten aus dem
Ruder. Die Summe der Sozialversicherungsbeiträge ist in
2002 trotz Ökosteuer fast genauso hoch wie in 1998. Wei-
tere Beitragserhöhungen sind bei einer Fortsetzung der
bisherigen Politik unausweichlich.
Der Rentenversicherungsbeitrag wurde nicht wie an-
gekündigt nachhaltig gesenkt. Dennoch haben Arbeitneh-
mer und Betriebe infolge der Ökosteuer inzwischen
Mehrbelastungen von insgesamt rund 17 Milliarden Euro
jährlich zu tragen. Im laufenden Jahr konnte trotz der zum
1. Januar 2002 vorgenommenen weiteren Erhöhung der
Ökosteuer eine Erhöhung des Rentenversicherungsbeitra-
ges nur durch eine Verminderung der Schwankungsre-
serve um 20 Prozent vermieden werden.
In der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen der
Bundesregierung sowohl ein tragfähiges Konzept als
auch die Bereitschaft, notwendige Reformen in Angriff zu
nehmen. In der Folge steigen die Beiträge trotz Leis-
tungsverschlechterungen auf breiter Front.
Das Versprechen, die Lebensbedingungen in den neuen
Ländern an die der alten Länder anzunähern, wurde nicht
eingehalten. Seit dem Jahre 2000 fallen die neuen Länder
sogar wieder zurück. Im Jahr 2000 machte die Wachs-
tumsrate in Ostdeutschland nicht einmal ein Drittel der
Wachstumsrate in Westdeutschland aus; in 2001 kam es
dort sogar zu einer Schrumpfung des Bruttoinlandspro-
dukts von minus 0,1 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist in
den neuen Bundesländern fast zweieinhalb mal so hoch
wie in den alten Bundesländern. Ein wesentlicher Grund
dafür ist die weiterhin bestehende Infrastrukturlücke in
den neuen Bundesländern von rund 150 Milliarden Euro.
Die Chancen personalintensiver Dienstleistungsbran-
chen wie zum Beispiel der Tourismuswirtschaft, deren
Arbeitsplätze an den Standort Deutschland gebunden sind
und insbesondere den strukturschwachen Räumen zugute
kommen können, sind nicht genutzt worden.
Dies belegt: Die Bundesregierung hat wesentliche Ver-
sprechungen ihres Regierungsprogramms von 1998, wie
sie in der Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und
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Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998 sowie in
der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler
Gerhard Schröder vom 10. November 1998 festgeschrie-
ben worden sind, nicht eingelöst. Dabei hatte Bundes-
kanzler Gerhard Schröder selbst angekündigt, sich an Er-
folgen am Arbeitsmarkt messen zu lassen.
Diese „Bestandsaufnahme Deutschland“ ist schlimm
genug. Sie wäre aber erträglicher, wenn durch klare wirt-
schafts- und arbeitsmarktpolitische Entscheidungen der
Bundesregierung eine Hoffnung, eine Perspektive, zur
Überwindung der Krise eröffnet werden würde. Das Ge-
genteil ist leider der Fall: Trotz hoher Regulierungsdichte
und gegen ökonomische Ratschläge hat Rot-Grün den Ar-
beitsmarkt weiter bürokratisiert. Die Stichworte Schein-
selbstständigkeit, 325-Euro-Gesetz, Betriebsverfassungs-
novelle zeigen wie falsch der Weg ist, den die
Bundesregierung seit 1998 gegangen ist.
Das „wichtigste Reformprojekt“ – wie der Bundes-
kanzler das Bündnis für Arbeit genannt hat – ist geschei-
tert. Im Januar gab es ein medienwirksames Gipfeltreffen,
ohne Abschlusskommunique, ohne Ergebnis, ohne Per-
spektive. Das Bündnis für Arbeit ist Symbol für die ge-
scheiterte Wirtschaftspolitik von Rot-Grün. Der Streik in
der Metallindustrie hat in diesen Tagen gezeigt, wie ge-
ring die Integrationskraft des Bundeskanzler noch ist.
Und: Förderung der Regionen heißt, Innovation stär-
ken. Diese gehen aber stetig zurück. Nach vier Jahren
Rot-Grün ist die staatliche Investitionsquote von über
zwölf Prozent in 1998 auf einen jetzt fast einstelligen Be-
trag abgebaut worden. Die Mittel zur Förderung des Mit-
telstands werden nach der mittelfristigen Finanzplanung
des Bundesfinanzministers im kommenden Jahr im Ver-
gleich zu 2002 sogar um fast 70 Millionen Euro zusam-
mengestrichen. Ein Anstieg wäre das richtige Signal ge-
wesen, um regionale Beschäftigung zu schaffen – und das
wäre auch sozial.
Was muss sich also ändern?
Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten, Abraham
Lincoln, hat in seinem politischen Vermächtnis hierzu klare
Richtlinien formuliert: „Ihr werdet die Schwachen nicht
stärken, indem ihr die Starken schwächt. Ihr werdet
Schwierigkeiten bekommen, wenn ihr mehr ausgebt, als ihr
verdient. Ihr werdet den Menschen nie auf Dauer helfen,
wenn ihr für sie tut, was sie selbst für sich tun könnten.“
Zunächst muss also die Grundausrichtung wieder stim-
men: Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft müssen
die Leitbilder sein, soziale Absicherung darf nicht als
„Rund-Um-Sorglos-Paket“ missbraucht werden, sondern
sollte nur in Notfällen als gezielte Hilfe zur Selbsthilfe
wirken. Mit einem Wort: Rückbesinnung auf die Soziale
Marktwirtschaft.
Konkret bedeutet dies: Erstens ein Steuersystem, das
einfach und gerecht ist und damit dauerhaft Leistungsan-
reize setzt. Die Eckpunkte hierfür lauten: Eingangsteuer-
satz unter 15 Prozent und ein Spitzensteuersatz unter 40
Prozent.
Zweitens die Befreiung der Zeitarbeit von bürokrati-
schen Hemmnissen. Zeitarbeitsverhältnisse haben sich in
Europa an vielen Stellen als stabile Brücke in den Ar-
beitsmarkt und dauerhafte Vollzeitbeschäftigung erwie-
sen. Deshalb muss diese Brücke jetzt ausgebaut werden.
Drittens flexible und beschäftigungsfreundliche Rege-
lung von befristeten Arbeitsverhältnissen. Damit wird die
Akzeptanz auch in konjunkturell unsicheren Zeiten
schnell und kurzfristig neue Arbeitsplätze zu schaffen,
nachhaltig gefördert.
Viertens die Reform des Tarifvertragrechts, hier vor al-
lem die Modernisierung des Günstigkeitsprinzips. Es ist
widersinnig, dass Unternehmen in Krisenzeiten gegen
geltendes Recht verstoßen, wenn sie gemeinsam mit der
Belegschaft längere Arbeitszeiten gegen sichere Arbeits-
plätze tauschen.
Fünftens Umsetzung des Drei-Säulen-Modells für den
Niedriglohnsektor. Durch eine unbürokratische Neurege-
lung und Ausweitung auf 400 Euro werden Zusatzjobs
wieder lukrativ – 1. Säule. Das „Bürokratiemonster
630-DM-Gesetz“ verschwindet. Durch Förderung der Ar-
beitnehmerbeiträge zwischen 400 und 800 Euro soll die
beschäftigungsfeindliche Brutto-Netto-Lücke auch bei
kleinen Einkommen überwunden werden – 2. Säule. Mit
einer eindeutigen Klarstellung der Pflichten von Hilfebe-
ziehern und die konsequente Kürzung von Sozialleistun-
gen, wenn zumutbare Arbeiten abgelehnt werden, wird
aus der „Hängematte Sozialpolitik“ wieder ein belastba-
res Trampolin – 3. Säule.
Sechstens eine Politik für die neuen Länder und struk-
turschwachen Regionen, die eine Doppelfunktion erfüllt:
Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen und
Ausbau der regionalen Infrastruktur – vor allem auch mit
Blick auf das zusammenwachsende Europa. Der Ostsee-
raum, die alten Verbindungen der Hanse aber auch die his-
torisch gewachsenen Handelswege zwischen den Bei-
trittsländern und den Mitgliedern der EU müssen durch
zukunftsfähige Infrastruktur wiederbelebt und neu ge-
stärkt werden.
Deutschland braucht wieder eine ehrliche Wirtschafts-
politik, die die strukturellen Verkrustungen auflöst und
nachhaltige Reformen anstößt. Die Rückbesinnung auf
Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft ist überfällig.
Subventionen – auch wenn sie noch so gut gemeint sein
sollten – sind der falsche Weg. Statt dessen muss sich
Leistung lohnen. Barrieren, die Innovationskraft und
Eigeninitiative einschränken oder gar ersticken, müssen
abgebaut werden. Beschäftigung muss lukrativer sein als
Arbeitslosigkeit. Dies sind auch die Grundsätze für eine
erfolgreiche, ökologisch und sozial ausgewogene Regio-
nalpolitik für mehr Beschäftigung.
Mit Blick auf die Wahl im September könnte man in
Anlehnung an einen sehr erfolgreichen Wahlslogan einer
anderen Partei aus dem Jahre 1998 daher sagen: „Wir sind
bereit.“
Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Ausbau der regionalen Infrastruktur, der länd-
lichen Räume und der ostdeutschen Bundesländer ist uns
ein besonderes Anliegen. Wir wollen daher die ländlichen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223784
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(A)
(B)
Regionen gezielt fördern und die entsprechenden Förder-
instrumente ausbauen. Das soll in erster Linie geschehen
durch den noch besseren Einsatz bestehender Fördermit-
tel. Am Beispiel der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur
und Küstenschutz – GAK – möchte ich das verdeutlichen:
Im Zuge der Agenda 2000 und durch die Anwendung der
Modulation soll eine Umorientierung der Agrarfördermit-
tel eingeleitet werden, hin zur Förderung von umwelt-
freundlicher Produktion und von Arbeitsplätzen. Leider
hat auch die PDS in den Ost-Bundesländern die konse-
quente Anwendung dieses Prinzips bisher verhindert.
Mittelfristig wollen wir, dass EU-Mittel aus der Produkti-
ons-Subventionierung massiv in die so genannte 2. Säule
der Agenda 2000 zur Förderung ländlicher Räume umori-
entiert werden. Diese Haltung vertritt auch EU-Agrar-
kommissar Fischler.
Damit diese Mittel in den Regionen wirksam werden
können, muss der überholte Agrarstrukturbegriff neu
definiert werden. Es muss künftig beispielsweise auch
möglich sein, aus diesen Fördermitteln zum Beispiel
kleine Handwerksbetriebe in Ostdeutschland zu unter-
stützen oder den Aufbau neuer Erwerbszweige in länd-
lichen Räumen wie ländlicher Tourismus, erneuerbare
Energien oder nachwachsende Rohstoffe.
Die bisherigen Förderinstrumente waren nicht so zahn-
los, wie die PDS das darstellt: Jeder einzelne landwirt-
schaftliche Betrieb in Ostdeutschland ist in den letzten
zwölf Jahren massiv über die GA gefördert worden. An
fehlenden Fördermitteln des Bundes ist sicherlich keine
einzige Investition gescheitert – im Gegenteil. Im vorläu-
figen Bericht der Bundesregierung über die Gemein-
schaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschafts-
struktur – GRW – ist nachzulesen, dass die eingesetzten
Mittel zur Neuschaffung von circa 34 000 und zur Absi-
cherung von weiteren 80 000 Arbeitsplätzen beigetragen
haben, die meisten davon in Ostdeutschland.
Am Prinzip der GA sollte daher grundsätzlich festge-
halten werden. Dies ist schon deshalb notwendig, um die
Förderpolitik des Bundes mit der EU-Förderpolitik in
Einklang zu bringen. Der Bund muss dabei seinen Ein-
fluss behalten und seine koordinierende Funktion wahr-
nehmen. Es kann nicht Sinn einer gerechten Regionalför-
derung nach bundesweit einheitlichen Kriterien sein,
wenn jedes Bundesland macht, was es will, wie das einige
Ministerpräsidenten gerne hätten, am liebsten noch mit
Bundesmitteln, aber ohne Mitspracherechte des Bundes.
Wir müssen dafür sorgen, dass die schwachen Länder und
Regionen stärker werden und nicht umgekehrt. Eine Auf-
lösung der GAs würde aber zu weiteren Wettbewerbsver-
zerrungen für die Wirtschaft vor Ort führen, weil sie dann
nur noch von der Förderung der Bundesländer abhängig
wären. Das kann nicht im allgemeinen volkswirtschaft-
lichen Interesse sein.
Vordringlichste Ziele einer Reform der GRW/Regio-
nalförderung sind: Mehr Transparenz. Mittelherkunft,
Mittelverwendung und der Erfolg der Förderung müssen
besser nachvollziehbar und überprüfbar werden. Größere
Effizienz. Das Ziel eines dauerhaften Ausgleichs der
Standortnachteile der Förderregionen muss bei sparsamer
Mittelverwendung durch Maßnahmen im Rahmen einer
Erfolg versprechenden Gesamtstrategie erfolgen. Stärkere
Regionalverantwortung. Der Einfluss regionaler Ent-
scheidungsträger und die Verbindlichkeit regionaler Ent-
wicklungskonzepte müssen zunehmen. Bessere europä-
ische Abstimmung. Die Kompatibilität zur europäischen
Regionalförderung ist zu verbessern; vor dem Hin-
tergrund der EU-Osterweiterung muss die Möglichkeit
grenzüberschreitender Förderung erweitert werden.
Schließlich müssen die Kriterien für die Förderbedürf-
tigkeit einer Region am europäischen Maßstab fort-
entwickelt werden.
Die Regionalförderung sollte konsequenter als bisher
lang- und mittelfristig orientiert Standortnachteile und
Engpassfaktoren von Förderregionen beseitigen bzw. aus-
gleichen. Regionen, die durch die GRW gefördert werden
können, sollen generell ein Integriertes Regionales Ent-
wicklungskonzept erstellen, in dem die Entwicklungs-
ziele und Handlungsprioritäten der Region festgelegt
werden.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Der von der PDS
im Bundestag eingebrachte Antrag atmet den alten Geist
des Staatssozialismus. Mit neuen Sondervermögen, neuen
aufgeblasenen so genannten Investitionsprogrammen und
immer neuen Zweckbindungen von Steuern will die PDS
im Ergebnis eine staatliche Parallelwirtschaft aufbauen.
Sie versucht das Ganze durch modische Begriffe zu ka-
schieren. So spricht sie jetzt von „wirtschaftlichen Ver-
flechtungsräumen“ oder einem „tatsächlichen Umfang
der Unterbeschäftigung bei Berücksichtigung der Ge-
schlechterspezifik“ als neuen Kriterien für staatliche För-
derung. Zugleich will sie eine gewaltige neue Bürokratie
in Form von so genannten Projektverbünden, Netz-
werken, Bürgerinitiativen oder Begleitausschüssen auf-
bauen. Das strikte EU-Beihilferecht soll im Interesse ei-
ner neuen Staatswirtschaft beiseite geschoben werden.
Dem setzt die FDPein ganz anderes Konzept entgegen.
Unbestreitbar gibt es im deutschen Föderalismus Fehlent-
wicklungen. Die Gewaltenteilung ist einem System der
gegenseitigen Verflechtung zwischen Bund und Ländern
in Politik und Verwaltung gewichen. Deshalb fordert die
FDP wettbewerblichen Föderalismus mit transparenter
Entscheidungsfindung und einer klaren Verteilung von
Kompetenzen und Verantwortlichkeiten.
Die nachträglich in das Grundgesetz eingefügten Ge-
meinschaftsaufgaben haben die Staatsaufgaben über
falsche Ausgabenanreize aufgebläht. Daher sind die Arti-
kel 91 a und 91 b aus dem Grundgesetz zu streichen und
diese Aufgaben vollständig an die Länder zurückzugeben.
Ebenso müssen die Bundesfinanzhilfen an die Länder ent-
fallen, die bisher dem Bund die Möglichkeit eröffnen, von
den Ländern Zuständigkeiten zu erkaufen. Dieser Ansatz
muss mit einer verbesserten Finanzausstattung und mehr
Finanzautonomie für Länder und Gemeinden einherge-
hen. Für den Bürger muss dabei klar erkennbar bleiben,
welche Gebietskörperschaft wie viele Steuern von ihm er-
hebt. Nur so kann das finanzpolitische Gleichgewicht
zwischen Bund und Ländern sowie Ländern und Kom-
munen wieder hergestellt werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23785
(C)
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(B)
Rolf Kutzmutz (PDS): Vor zwei Wochen haben die
Wirtschaftsminister der Länder und des Bundes einstimmig
festgestellt, dass beim Verzicht auf die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ er-
hebliche Effizienzverluste und Entscheidungsrisiken bei
der Koordinierung der Regionalpolitik entstünden oder
diese letztlich allein den EU-Kommissionsdienststellen
überlassen bliebe.
Ihre Forderung lautete deshalb: Die Wirtschaftsminis-
terien müssten angemessen in den Verhandlungsgremien
über die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen vertreten sein.
Die PDS begrüßt, dass die Wirtschaftspolitik sich vom
Schock der einsamen Entscheidung der Ministerpräsiden-
ten in einer lauen Juninacht des vorigen Jahres endlich er-
holt hat. Und ich weiß mich mit den Wirtschaftspolitike-
rinnen und -politikern der anderen Fraktionen einig: Die
Gemeinschaftsaufgaben einfach abzuschaffen, das wäre
ein Unding.
Natürlich: Es gibt vielfältige Kritik an den Gemein-
schaftsaufgaben – und die ist häufig auch mehr als be-
rechtigt. Aber die strukturschwachen Regionen können
niemals aus eigener Kraft Anschluss finden. Gleichzeitig
werden die Fördermittel jährlich weniger, obwohl die För-
dertatbestände anwachsen. Unterm Strich haben sich in
den vergangenen Jahren die tatsächlichen Entwicklungs-
abstände schwacher Regionen – und die gibt es in Ost und
West – gegenüber den Ballungszentren nicht verringert.
Sie sind sogar gewachsen, wie alle volkswirtschaftlichen
Kennziffern belegen.
Der Ansatz der Regionalförderung und ihre Instrumen-
tarien sind deshalb neu zu überdenken. Ob mit oder ohne
EU-Osterweiterung – strukturschwache Regionen bedür-
fen langfristiger, zweckgebunderer Förderung für ihre
ganzheitliche Entwicklung. Das heißt sektorale und re-
gionale Strukturentwicklung durch Entwicklungskon-
zepte für zukunftsfähige Verkehrsstrukturen und Energie-
versorgung – also Schwerpunkte Schiene und öffentlicher
Personennahverkehr bzw. dezentraler Einsatz regenerati-
ver Energien. Das heißt aber ebenso Erneuerung und Aus-
bau der so genannten weichen Standort-Faktoren – also
der Infrastruktur von Bildung, Ausbildung, Betreuung
und Pflege. Das bedeutet auch die konkrete Planung der
Sanierung von Umweltlasten und die naturräumliche Ent-
wicklung.
Letztlich muss die regionale Infrastruktur im weitesten
Sinne erneuert und ausgebaut werden, um regionale Wirt-
schaftskreisläufe überhaupt in Gang zu setzen, Beschäfti-
gung zu schaffen und zu verstetigen, also schließlich um
überhaupt eine Grundlage für eine selbsttragende Ent-
wicklung in wirtschaftlichen Verflechtungsräumen zu
schaffen. Kenner regionaler Entwicklungsprozesse wis-
sen, dass langer Atem, Kontinutität der Mittelzuweisun-
gen, leichte Erreichbarkeit alternativ notwendiger Förder-
mittel und eine permanente Kontaktpflege und
Miteinbeziehung regionaler Akteure unerlässlich sind,
wenn sich einmal gewährte Subventionen zur Infrastruk-
turentwicklung auf Dauer nicht buchstäblich als verlorene
Zuschüsse erweisen sollen. Ein überbordender bürokrati-
scher Apparat für den von uns vorgeschlagenen umfas-
senden Entwicklungsansatz ist nicht nötig. Denn regio-
nale Entwicklungskonzeptionen müssen von allen betrof-
fenen Akteuren in den Regionen. selbst vor Ort erarbeitet
werden.
Das ist im Übrigen auch schon ein zunehmend besser
funktionierender Ansatz in der bestehenden Gemein-
schaftsaufgabe und wird in anderen, eingeschränkteren
Förderungen mittlerweile ebenfalls praktiziert. Ich nenne
nur NEMO und InnoRegio. Er darf aber nicht länger weit-
gehend auf Ostdeutschland beschränkt bleiben.
Neben öffentlichen, genossenschaftlichen sowie priva-
ten Unternehmen und Einrichtungen, den Kommunalpar-
lamenten und Kammern, den Arbeitsämtern und Verbän-
den gehören auch Gewerkschaften, Projektträger
gemeinnütziger, öffentlich geförderter Beschäftigung,
Frauen-, Erwerbslosen- und weitere Bürgerinitiativen mit
an den Tisch. Keine Idee und Kompetenz soll für die Zu-
sammenarbeit mit Planungsbüros und Regionalmanagern
verloren gehen. Für die Landes- und Bundesministerien
blieben lediglich Anleitungs- und Prüffunktionen, die sie
im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben jetzt sowieso
durchführen.
Nehmen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der an-
deren Fraktionen, unseren Vorschlag als Angebot zur
Debatte. Denn auf Dauer werden wir alle nicht darum he-
rumkommen. Fest steht nämlich: Erstens: Die EU-Ost-
erweiterung mit gravierenden Auswirkungen auf die
Strukturfonds kommt gewiss. Zweitens: Der Solidarpakt
II ist weder finanziell noch strukturell der Weisheit letzter
Schluss, wenn der Osten tatsächlich aufholen soll. Und
drittens gibt es auch in Westdeutschland viele Regionen,
denen mit der gegenwärtigen GA-Kulisse nicht geholfen
ist, obwohl auch sie kräftige Entwicklungsimpulse
benötigen würden. Beim Handeln ist also durchaus Eile
geboten, denn die Fördermittel der Gemeinschaftsaufga-
ben fließen immer spärlicher und es bedarf schneller, in-
telligenter Lösungen für die kommenden Jahre.
Anlage 14
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 775. Sitzung am 26. April
2002 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
Grundgesetz nicht zu stellen:
– Erstes Gesetz zur Änderung des Wasserverbands-
gesetzes
– Gesetz zurVerlängerung von Übergangsregelungen
im Bundessozialhilfegesetz
– Gesetz zurÄnderung des Gesetzes zur Förderung ei-
nes freiwilligen sozialen Jahres und anderer Gesetze
(FSJ-Förderungsänderungsgesetz – FSJGÄndG)
– Gesetz zur Neuordnung der Statistik über die Beher-
bergung im Reiseverkehr (Beherbergungsstatistikge-
setz – BeherbStatG)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223786
(C)
(D)
(A)
(B)
– Gesetz zur Reform der Juristenausbildung
– Gesetz zur Übertragung von Rechtspflegeraufga-
ben auf den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 98/8/EG des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar
1998 über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten
(Biozidgesetz)
– Siebtes Gesetz zur Änderung des Wasserhaushalts-
gesetzes
– Gesetz zur Änderung des Gesetzes vom 24. Mai
1997 zur Revision des Übereinkommens vom
20. März 1958 über die Annahme einheitlicher Be-
dingungen für die Genehmigung der Ausrüstungs-
gegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen und
über die gegenseitige Anerkennung der Genehmi-
gung
– Gesetz zur Vorbereitung einer bundeseinheitlichen
Wirtschaftsnummer
– Gesetz zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungs-
abkommen zwischen den Europäischen Gemein-
schaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedo-
nien andererseits
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 25. Februar
1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im
grenzüberschreitenden Rahmen sowie zu der auf
der zweiten Konferenz der Parteien in Sofia am
27. Februar 2001 beschlossenen Änderung des
Übereinkommens (Espoo-Vertragsgesetz)
– Gesetz zu dem Protokoll vom Kyoto vom 11. De-
zember 1997 zum Rahmenübereinkommen derVer-
einten Nationen über Klimaänderungen (Kyoto-
Protokoll)
– Gesetz zu dem Protokoll vom 27. Februar 2001 zur
Ergänzung des Abkommens vom 5. April 1993 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Lettland über den Luftverkehr
– Gesetz zu deren Abkommen vom 2. Oktober 2000
zur Änderung und Ergänzung des Abkommens
vom 18. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Staat Bahrain über den Luft-
verkehr
– Gesetz zu dem Abkommen vom 19. Juni 2001 zwi-
schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Regierung der Republik Kap Verde
über den Luftverkehr
– Gesetz zu den Verträgen vom 15. September 1999
des Weltpostvereins
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Finanzausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2001/02 des Sachverständi-
genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung
– Drucksache 14/7569 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2002 der Bundes-
regierung
Vor einem neuen Aufschwung – Verlässliche
Wirtschafts- und Finanzpolitik fortsetzen
– Drucksache 14/8175 –
Ausschuss fürWirtschaft und Technologie
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stellungnahme der Bundesregierung zum
Tätigkeitsbericht 1998/1999 der Regulie-
rungsbehörde für Telekommunikation und
Post und zu dem Sondergutachten derMono-
polkommission
– Drucksachen (zu 14/2321) 14/4064, 14/4093
Nr. 1.13 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht derBundesregierung – Politik für den
Mittelstand
– Drucksache 14/8548 –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesrepublik Deutschland an
die Vereinten Nationen gemäß Artikel 44
Abs. 1 Buchstabe b des Übereinkommens
über die Rechte des Kindes
– Drucksachen 14/6241, 14/6502 Nr. 1 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla-
gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla-
ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung
abgesehen hat.
Auswärtiger Ausschuss
Drucksache 14/8691 Nr. 2.10
Finanzausschuss
Drucksache 14/8339 Nr. 1.6
Drucksache 14/8339 Nr. 2.47
Drucksache 14/8428 Nr. 2.55
Drucksache 14/8428 Nr. 2.58
Haushaltsausschuss
Drucksache 14/8428 Nr. 2.1
Drucksache 14/8428 Nr. 2.2
Drucksache 14/8562 Nr. 2.10
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 2002 23787
(C)
(D)
(A)
(B)
Ausschuss fürWirtschaft und
Technologie
Drucksache 14/8339 Nr. 2.27
Drucksache 14/8428 Nr. 2.6
Drucksache 14/8428 Nr. 2.10
Drucksache 14/8428 Nr. 2.14
Drucksache 14/8428 Nr. 2.23
Drucksache 14/8428 Nr. 2.24
Drucksache 14/8428 Nr. 2.25
Drucksache 14/8428 Nr. 2.31
Drucksache 14/8428 Nr. 2.33
Drucksache 14/8428 Nr. 2.34
Drucksache 14/8428 Nr. 2.35
Drucksache 14/8428 Nr. 2.36
Drucksache 14/8428 Nr. 2.37
Drucksache 14/8428 Nr. 2.38
Drucksache 14/8428 Nr. 2.39
Drucksache 14/8428 Nr. 2.40
Drucksache 14/8428 Nr. 2.43
Drucksache 14/8428 Nr. 2.44
Drucksache 14/8428 Nr. 2.48
Drucksache 14/8428 Nr. 2.49
Drucksache 14/8428 Nr. 2.53
Drucksache 14/8428 Nr. 2.56
Drucksache 14/8428 Nr. 2.57
Drucksache 14/8562 Nr. 2.34
Drucksache 14/8562 Nr. 2.45
Drucksache 14/8562 Nr. 2.46
Drucksache 14/8562 Nr. 2.48
Drucksache 14/8562 Nr. 2.53
Drucksache 14/8562 Nr. 2.54
Drucksache 14/8691 Nr. 2.6
Drucksache 14/8691 Nr. 2.7
Drucksache 14/8691 Nr. 2.8
Drucksache 14/8691 Nr. 2.9
Drucksache 14/8691 Nr. 2.12
Drucksache 14/8691 Nr. 2.13
Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 14/6508 Nr. 2.30
Drucksache 14/8562 Nr. 2.35
Drucksache 14/8562 Nr. 2.42
Drucksache 14/8562 Nr. 2.49
Drucksache 14/8562 Nr. 2.52
Drucksache 14/8562 Nr. 2.55
Drucksache 14/8562 Nr. 2.56
Drucksache 14/8691 Nr. 2.5
Drucksache 14/8691 Nr. 2.11
Ausschuss für Gesundheit
Drucksache 14/8179 Nr. 3.1
Drucksache 14/8562 Nr. 2.28
Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
Drucksache 14/8339 Nr. 2.5
Drucksache 14/8339 Nr. 2.11
Drucksache 14/8339 Nr. 2.24
Drucksache 14/8339 Nr. 2.25
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Drucksache 14/8428 Nr. 2.29
Drucksache 14/8562 Nr. 1.4
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. Mai 200223788
(C)(A)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin