Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002
Dr. Angelika Köster-Loßack
23621
(C)(A)
1) Anlage 12
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23623
(C)
(D)
(A)
(B)
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 16.05.2002
DIE GRÜNEN
Fischer (Berlin), BÜNDNIS 90/ 16.05.2002
Andrea DIE GRÜNEN
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 16.05.2002
Friedrich (Altenburg), SPD 16.05.2002
Peter
Gleicke, Iris SPD 16.05.2002
Dr. Grehn, Klaus PDS 16.05.2002
Dr. Haussmann, Helmut FDP 16.05.2002
Hilsberg, Stephan SPD 16.05.2002
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 16.05.2002
DIE GRÜNEN
Irmer, Ulrich FDP 16.05.2002
Jüttemann, Gerhard PDS 16.05.2002
Klinkert, Ulrich CDU/CSU 16.05.2002
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 16.05.2002
Kolbow, Walter SPD 16.05.2002
Lamp, Helmut CDU/CSU 16.05.2002
Leidinger, Robert SPD 16.05.2002
Lengsfeld, Vera CDU/CSU 16.05.2002
Michels, Meinolf CDU/CSU 16.05.2002
Neumann (Gotha), SPD 16.05.2002
Gerhard
Ostrowski, Christine PDS 16.05.2002
Pieper, Cornelia FDP 16.05.2002
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 16.05.2002
Ronsöhr, CDU/CSU 16.05.2002
Heinrich-Wilhelm
Roos, Gudrun SPD 16.05.2002
Sauer, Thomas SPD 16.05.2002
Schauerte, Hartmut CDU/CSU 16.05.2002
Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 16.05.2002
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 16.05.2002
Hans Peter
Schütze (Berlin), CDU/CSU 16.05.2002
Diethard
Schultz (Everswinkel), SPD 16.05.2002
Reinhard
Seehofer, Horst CDU/CSU 16.05.2002
Siemann, Werner CDU/CSU 16.05.2002
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 16.05.2002
Wieczorek-Zeul, SPD 16.05.2002
Heidemarie
Zierer, Benno CDU/CSU 16.05.2002*
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Anlage 2
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Dr. Eckhart Pick auf die Fragen
des Abgeordneten Norbert Geis (CDU/CSU) (Druck-
sache 14/9003, Fragen 1 und 2):
Weshalb hat das Bundesministerium der Justiz davon abgese-
hen, die Auslieferung des 1985 wegen Mordes zu lebenslanger
Haft verurteilten Mannes zu beantragen, der nach seiner Flucht
aus dem rheinland-pfälzischen Strafvollzug im Februar 2002 in
Portugal festgenommen werden konnte und der nach Ablauf der
Antragsfrist nun wieder auf freiem Fuße ist?
Mit welchen Erwägungen – im Einzelnen – ist bei dieser Ent-
scheidung die offenbar gegenteilige Auffassung der Staatsanwalt-
schaft Frankenthal (Pfalz) sowie des Justizministeriums des Lan-
des Rheinland-Pfalz verworfen worden?
Zu Frage 1:
Das Bundesministerium der Justiz hat nicht das Stellen
eines Ersuchens um Auslieferung abgelehnt. Da Portugal
Mitgliedstaat des Schengener Übereinkommens ist, liegt
die Zuständigkeit für die Stellung von Auslieferungsersu-
chen nach der einschlägigen Zuständigkeitsvereinbarung
zwischen Bund und Ländern grundsätzlich bei der Lan-
desjustizverwaltung.
In dem angesprochenen Fall verhielt es sich wie folgt:
Der Betroffene verbüßte eine lebenslange Freiheitsstrafe,
welche am 30. Januar 1985 durch Urteil des Landgerichts
Frankenthal wegen Mordes in Tateinheit mit Raub ver-
hängt worden war. Mit Beschluss vom 26. Mai 1997 hatte
die Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Koblenz nach § 57a StGB festgestellt, dass die besondere
Schwere der Schuld eine Vollstreckung bis zum 20. Fe-
bruar 2001 gebiete. Aus Gründen, die der Bundesregie-
rung nicht bekannt sind, wurde die Vollstreckung über den
20. Februar 2001 hinaus (seit dem 22. Februar 2000 im of-
fenen Vollzug) fortgesetzt. Der Betroffene befand sich im
18. Jahr in Haft, als er am 13. Februar 2002 von einem ihm
gewährten Ausgang nicht zurückkehrte und sich nach
Portugal absetzte.
Das portugiesische Strafrecht kennt die lebenslange
Freiheitsstrafe nicht. Die Höchstdauer der Freiheits-
strafe beträgt in Portugal 15 Jahre. Die portugiesische
Regierung bewilligt eine Auslieferung grundsätzlich
nicht, wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde
liegende strafbare Handlung mit einer lebenslangen
Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung
bedroht ist. Ausnahmsweise kann sie jedoch eine Aus-
lieferung bewilligen, wenn die ersuchende Vertragspar-
tei zusichert, nach Maßgabe des nationalen Rechts und
der Strafvollstreckungspraxis alle Vollstreckungserleich-
terungen zu fördern, die zugunsten der auszuliefernden
Person getroffen werden können. Zuständig für eine der-
artige Zusicherung ist die Bundesregierung, die das Vor-
liegen der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzun-
gen zu prüfen hat.
Der dieser Prüfung zugrunde liegende und auf Bitten
des Bundesministeriums der Justiz ergänzte Bericht der
Staatsanwaltschaft Frankenthal als zuständiger Voll-
streckungsbehörde kommt zu dem Ergebnis, es könne nur
zugesichert werden, dass von Amts wegen geprüft werde,
ob eine bedingte Entlassung zum 27. Juli 2004 in Betracht
komme.
Die Staatsanwaltschaft Frankenthal vertrat die Ansicht,
dass ein Antrag des Betroffenen auf bedingte Entlassung
vor seiner Flucht abgelehnt worden wäre, weil adäquate
soziale Kontakte noch hätten aufgebaut werden müssen.
Sie konnte jedoch nicht darlegen, dass in der Vergangen-
heit alles getan worden war, um Vollstreckungserleichte-
rungen zu fördern, bzw. dass dies künftig geschehen wird.
Vor diesem Hintergrund war die von der portugiesischen
Seite geforderte Zusicherung nicht möglich.
Zu Frage 2:
Auf die Antwort zu Frage Nr. 1 wird verwiesen. Mit
dem Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz
wurde die Angelegenheit mehrfach erörtert. Das Landes-
justizministerium forderte in Würdigung der berechtigten
Bedenken des Bundesministeriums der Justiz einen er-
gänzenden Bericht der Staatsanwaltschaft Frankenthal an.
Auch das Landesjustizministerium war der Ansicht, dass
eher nicht mit einer längeren weiteren Haftdauer zu rech-
nen sei, wenn der Betroffene sich freiwillig der weiteren
Strafvollstreckung stelle. Einvernehmen zwischen dem
Bundesministerium der Justiz und dem Justizministerium
des Landes Rheinland-Pfalz bestand auch hinsichtlich der
Tatsache, dass das Bundesministerium der Justiz die er-
forderliche Zusicherung nicht abgeben kann, wenn von
den zuständigen Stellen der Landesjustizverwaltung das
Vorliegen der Voraussetzungen dieser Zusicherung im
konkreten Einzelfall nicht dargetan wird.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Heidemarie Ehlert (PDS) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 30. November 2000 zur Än-
derung des Europol-Übereinkommens (Tages-
ordnungspunkt 38 e)
Ich stimme für den Änderungsantrag der PDS-Frak-
tion, weil ich für die Einheit von Reden und Handeln bin.
Bei meiner Abstimmung gehe ich von Positionen aus,
die die große Mehrheit des Hauses teilt: Wir alle sind stets
für eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Ländern
der Europäischen Union eingetreten. Das gilt auch für die
Verfahren zur Verfolgung von Straftaten. Wir haben ge-
meinsam der Einrichtung eines internationalen Strafge-
richts zugestimmt und in diesem Zusammenhang sogar
das Grundgesetz geändert.
Von dieser gemeinsamen Haltung ausgehend halte ich es
für nicht erträglich, dass die Bundesrepublik Deutschland
das strafrechtliche Ermittlungsverfahren des EU-Staats
Österreich dadurch leer laufen lässt, dass hinsichtlich
eigener Staatsbedientester das Privileg der Staatenimmu-
nität geltend gemacht wird.
Hier ist eine erneute Selbstprüfung erforderlich. Diese
würde die Annahme des Änderungsantrags ermöglichen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
derAbgeordneten Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über
die Entlassung des Bundesministers der Vertei-
digung Rudolf Scharping (Zusatztagesord-
nungspunkt 13)
Einer Entlassung von Verteidigungsminister Rudolf
Scharping werde ich diesmal noch nicht zustimmen, son-
dern mit Enthaltung votieren.
So vordergründig die Absicht der FDP sein mag, die zu
diesem Antrag führte, so klar ist auch ein anderes: SPD
und Grüne würden – säßen sie in der Opposition – ebenso
agieren.
Das ist nicht nur legitim, es ist eigentlich – angesichts
der Fakten – auch zwingend, wenn Ehrlichkeit und Ver-
lässlichkeit Kategorien der Politik sein sollen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Herr Scharping mit
Halbwahrheiten oder Falschinformationen agiert und Ver-
sprechen nicht hält. Ich erinnere nur an die Informations-
politik zum Angriffskrieg gegen Jugoslawien.
Für mein heutiges Abstimmungsverhalten ausschlag-
gebend ist allerdings das unüberbrückbar weite Ausein-
anderklaffen von Wort und Tat hinsichtlich einer zivilen
Nutzung des früheren Truppenübungsplatzes in der
Kyritz-Ruppiner Heide. Rudolf Scharping hat in dieser
Frage im Wahlkampf 1994, also als damaliger Kanzler-
kandidat der SPD, den Bürgerinnen und Bürgern eine
zivile Nutzung des durch brutale Enteignung entstande-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223624
(C)
(D)
(A)
(B)
nen russischen Übungsplatzes versprochen. Als Verteidi-
gungsminister aber hat er das Parlament wissentlich
getäuscht und im neuen Truppenübungsplatzkonzept die
Weiterführung der Garnison Wittstock beschließen las-
sen, einer Garnison, die es gar nicht gibt und die erst mit
weit über 100 Millionen Euro, mit Geld, das wir nicht ha-
ben, aus Ruinen entstehen müsste.
Ich gebe zu, dass ich der Meinung bin, dass Politiker,
die wie Rudolf Scharping ihr Wort, ohne mit der Wimper
zu zucken, brechen und uns Abgeordnete falsch informie-
ren, vom Parlament zum Rücktritt aufgefordert werden
sollten.
Wenn ich mich dennoch heute der Stimme enthalte,
dann nur, um Herrn Scharping die Möglichkeit einzuräu-
men, schnellstens eine Kehrtwende in dieser Frage zu
vollziehen. Das ist inhaltlich und erst recht moralisch ge-
boten.
Herr Scharping! Zerstören Sie nicht grundlos Arbeits-
plätze in Bayern, wo Sie eine Garnison – wie sie in Witt-
stock entstehen soll – schließen wollen, obwohl die Be-
völkerung dort sie behalten will! Zerstören Sie mit einem
Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide nicht eine
der schönsten Ferienregionen Deutschlands, die bis zur
Mecklenburgischen Seenplatte und dem Nationalpark
Müritz reicht! Nutzen Sie die Chance, Ihr Wahlverspre-
chen einzulösen, und die Bürgerinnen und Bürger werden
sich dankbar erinnern.
Sollten Sie im Wortbruch bleiben, werde auch ich öf-
fentlich ihren Rücktritt fordern.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Christian Simmert, Annelie
Buntenbach und Irmingard Schewe-Gerigk
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
Abstimmung über die Entlassung des Bundesmi-
nisters der Verteidigung Rudolf Scharping (Zu-
satztagesordnungspunkt 13)
Die Absetzung des Bundesverteidigungsministers
Rudolf Scharping, SPD, lehnen wir ab, obwohl auch wir
erhebliche Zweifel haben an der haushaltsrechtlichen
Korrektheit des Vorgehen des Verteidigungsministeriums
sowie an seinen Positionen in anderen, uns zentralen po-
litischen Fragen. Die Wahlkampfstrategie der FDP, den
Versuch zu unternehmen, den Verteidigungsminister vier
Monate vor der Bundestagswahl absetzen zu wollen und
damit die rot-grüne Regierung insgesamt auszuhebeln, ist
durchsichtig. Dies werden wir nicht unterstützen.
Die Ablehnung des Antrags der FDP rechtfertigt aller-
dings keineswegs den Umkehrschluss, dass wir uns hinter
den Bundesverteidigungsminister und seine Politik stel-
len können und wollen. Wir teilen die begründeten haus-
haltsrechtlichen Zweifel am Rüstungsauftrag des Militär-
Airbus. Darüber hinaus können wir aufgrund des NATO-
Bombardements und unserer Kritik an der deutschen
Beteiligung am Kosovo-Krieg sowie der Haltung des Ver-
teidigungsministers in diesem Zusammenhang ihm das
Vertrauen nicht aussprechen. Gleiches gilt für die Entsen-
dung deutscher Soldaten nach Afghanistan und die Betei-
ligung der Bundesrepublik Deutschland an „Enduring
Freedom“.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Anträge:
– Zentrum gegen Vertreibungen
– Für ein europäisches Zentrum gegen
Vertreibungen
(Tagesordnungspunkt 11 a und b, Zusatztages-
ordnungspunkt 16)
Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister im Bundes-
kanzleramt: Die Vertreibung der Deutschen im und nach
dem Zweiten Weltkrieg hat die deutsche Nachkriegsge-
schichte insgesamt wesentlich mitgeprägt. Angesichts des
Ausmaßes des je individuell erfahrenen Leids und ange-
sichts der Zahl der Opfer – Schätzungen gehen von über
14 Millionen Vertriebenen aus, von denen Hunderttau-
sende starben – ist dies nur zu verständlich. Gleichwohl
unterliegt die Art und Weise der Thematisierung von Ver-
treibungen sich wandelnden, zeitgeschichtlich bedingten
Rahmenbedingungen. Ein moralisch und politisch ange-
messener Umgang mit dem Thema verlangt meines Er-
achtens, dass wir diese veränderten Bedingungen in den
Blick nehmen.
Bezogen auf die Bundesrepublik, das heißt unter Aus-
klammerung des Umgangs bzw. Nicht-Umgangs mit der
Vertreibungsproblematik in der DDR, denke ich hier ins-
besondere an die neue Rolle, die dem Thema Vertreibung
im Kontext der Entspannungspolitik ab den 60er-Jahren
zugewiesen wurde. Während in den 50er-Jahren – nicht
nur, aber doch vor allem – Fragen der sozialen und kul-
turellen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im
Mittelpunkt standen, unterlag die Thematisierung der
Problematik vor dem Hintergrund der neuen Ostpolitik
zugleich einer Verengung und Polarisierung. Die Vertrie-
benen und ihre Verbände brandmarkten die Entspan-
nungspolitik in erster Linie als Verrat. Das komplexe
Thema Vertreibung wurde so – nicht frei von revanchis-
tischen Tönen – auf die Frage der staatlichen Grenzen
Deutschlands reduziert. Dieser verengten Sichtweise
korrespondierte auf der Seite der Befürworter der Ent-
spannungspolitik eine weitgehende Tabuisierung. Allein
das Ansprechen der im Zuge der Vertreibungen verübten
Verbrechen galt nicht selten als Ausweis einer aggressi-
ven, gegen den Geist der Entspannung gerichteten Hal-
tung.
Seit 1989 hat sich die politische Konstellation grund-
legend gewandelt. Die Prämissen des Kalten Krieges sind
außer Kraft gesetzt und mit ihnen entfielen die Gründe für
eine Tabuisierung des Themas Vertreibung. Ein zweites,
dunkles Moment trat nach 1989 hinzu: das Bewusstsein
für die Gegenwärtigkeit von Vertreibung, auch hier in
Europa. Ich erinnere nur an die schrecklichen Entwick-
lungen im ehemaligen Jugoslawien.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23625
(C)
(D)
(A)
(B)
Noch eine weitere Randbedingung der gegenwärtigen
Diskussion scheint mir bedeutsam zu sein: Angesichts der
voranschreitenden Integration innerhalb der Europä-
ischen Union und ihrer Erweiterung insbesondere nach
Osten wächst das Interesse an einer europäischen – und
das heißt nicht nationalstaatlich verengten – Sicht auf
historische Prozesse. Vor diesem Hintergrund gibt es auch
gerade bei der jüngeren Generation eine neue Aufmerk-
samkeit für deutsche Geschichte, verstanden als Teil der
europäischen Geschichte.
Wir sollten die nach dem Ende des Kalten Krieges ver-
änderte Grundkonstellation als Chance begreifen, für ei-
nen breiten, genuin europäischen Dialog über Flucht und
Vertreibung. Eines dürfen wir allerdings nicht zulassen:
dass die Erinnerung an die Rolle Nazi-Deutschlands als
Aggressor, als Initiator eines verbrecherischen Vernich-
tungskrieges verblasst. Und wir dürfen auch nicht zulas-
sen, dass mit Blick auf die Vertreibungen eine neue Auf-
rechnungsdiskussion beginnt. Der Respekt vor den
Opfern, der je individuellen Würde der Opfer verbietet
jede Form von Instrumentalisierung.
Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU nimmt Bezug
auf eine Initiative des Bundes der Vertriebenen. In einem
ersten Gespräch habe ich Ende März vergangenen Jahres
mit Frau Steinbach die Pläne zur Einrichtung eines Zen-
trums gegen Vertreibung erörtert und dabei meine prinzipi-
elle Zustimmung signalisiert. Ich habe allerdings bereits
seinerzeit darauf hingewiesen, dass es aus meiner Sicht
keine thematische Engführung eines solchen Zentrums ge-
ben darf in dem Sinne, dass nur die Vertreibung von Deut-
schen Gegenstand wäre. Wenn ein solches Zentrum seinem
Thema gerecht werden soll, muss es europäisch ausgerich-
tet sein und eine enge Kooperation mit unseren europä-
ischen Partnern anstreben. Der Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen unterstreicht – auch vor
dem eben skizzierten historischen Hintergrund – zu Recht,
dass dieses Projekt keine rein nationale Aufgabe sein kann.
Ein Zentrum gegen Vertreibung sollte meines Erach-
tens vor allem zwei Aufgaben gerecht werden. Es sollte
erstens umfassend über Vertreibungen und ihre Hinter-
gründe informieren, auch mit Blick auf die immer noch
und wieder gegebene Aktualität des Themas. Zum Zwei-
ten sollte es einen Beitrag dazu leisten, Erinnerung zu be-
wahren, Erinnerung nicht zuletzt an die schwerwiegenden
menschlichen, sozialen und kulturellen Verluste, die mit
Vertreibung verbunden waren und verbunden bleiben
werden. Dass dabei, wie dies auch der Antrag der Regie-
rungsfraktionen hervorhebt, die persönlich Betroffenen
an prominenter Stelle einzubeziehen sind, ist aus meiner
Sicht ein inhaltlicher Kernpunkt.
Wir sollten uns in der gesamten Diskussion zunächst
auf die inhaltlichen Fragestellungen konzentrieren. Wich-
tig scheint mir dabei in erster Linie zu sein, dass ein eu-
ropäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibung ein
Forum für alle Betroffenen und für alle interessierten Bür-
gerinnen und Bürger bietet. Das Zentrum würde weder
der moralischen noch der politischen Dimension seines
Gegenstandes gerecht, wenn es zu einer Fokussierung auf
einzelne Gruppen käme.
Mit Blick auf die Entwicklung der Konzeption für ein
Zentrum gegen Vertreibung ist es von eminenter Bedeu-
tung, dass wir auf breiter Ebene Sachverstand einholen.
Ich weise in diesem Zusammenhang auf die vom Haus der
Geschichte in Bonn bereits begonnenen Vorarbeiten für
ein Ausstellungsprojekt zur Vertreibung der Deutschen
hin. Ich erinnere auch an die neuen Akzente, die meine
Behörde im Bereich der Förderung nach § 96 des Bun-
desvertriebenengesetzes seit 1998 gesetzt hat; Stichwort
etwa Kulturgeschichte im östlichen Europa. Auch die hier
gemeinsam mit den Partnern in unseren östlichen Nach-
barländern gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse
könnten in die Konzeption eines europäisch orientierten
Zentrums gegen Vertreibung einfließen.
Gegenüber den inhaltlichen Fragestellungen sind aus
meiner Sicht die Fragen nach der Trägerschaft und nach
dem künftigen Ort des Zentrums gegenwärtig nicht prio-
ritär. Ich habe mit Freude registriert, dass sich auf der
Seite unserer polnischen Nachbarn prominente Personen
für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertrei-
bung ausgesprochen haben. Ich plädiere allerdings dafür,
die Frage des Zentrumssitzes jetzt nicht in einer Weise in
den Vordergrund zu stellen, die die entscheidenden in-
haltlichen Aspekte überdecken würde. Und ich erlaube
mir auch den Hinweis, dass alle Seiten gleichermaßen in
die Debatte einbezogen werden sollten, beispielsweise
auch unsere tschechischen Partner.
Eine aufgeklärte nationale Identität Deutschlands ver-
langt einen offenen Umgang mit dem Thema Vertreibung,
auch der Vertreibung der Deutschen im Osten. Wir sollten
den Dialog über die Einrichtung eines Zentrums gegen
Vertreibung auf europäischer Ebene führen – eingedenk
der Tatsache, dass die früheren Siedlungsgebiete der Deut-
schen im Osten von einem reichen kulturellen Geflecht ge-
prägt sind, zu dessen Entstehung vielfältige Einflüsse
beigetragen haben: jüdische, polnische, tschechische,
deutsche, um nur einige zu nennen. Dieses gemeinsame
Erbe Europas muss bewahrt und fortentwickelt werden.
Ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibun-
gen wäre dazu ein wegweisender Beitrag.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zum Bürokratieabbau
für kleine und mittelständische Betriebe
– Bericht: Förderung der Innovation im Mittel-
stand
(Tagesordnungspunkt 13 a und b)
Rolf Kutzmutz (PDS):Wie ich schon Ende Januar den
verehrten Kollegen Börnsen und Riesenhuber bei der ers-
ten Lesung angekündigt habe, wird die PDS ihren Antrag
„Förderung der Innovation im Mittelstand“ unterstützen,
wie wir dieselben Forderungen der CDU/CSU bereits im
November in den Haushaltberatungen zugestimmt haben,
weil sie ja auch teilweise den zeitlich vorher eingebrach-
ten PDS-Anträgen entsprachen.
Mehr Finanzsicherheit für indirekte Forschungszu-
sammenarbeit, industrielle Gemeinschaftsforschung, die
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(C)
(D)
(A)
(B)
Programme für Forschung und Entwicklung in den neuen
Ländern, NEMO, die Beteiligungsförderung in technolo-
gieorientierten Unternehmen sowie zum Einsatz von
Informations- und Kommunikationstechnologien in klei-
neren Betrieben sind unbedingt erforderlich.
So berechtigt jedoch die Kritik an der so genannten
Fortschreibung des Innovationskonzepts von 1997 durch
Rot-Grün ist – das Eigenlob für das Konzept der Kohl-Ära
im Feststellungsteil des Antrages stinkt dennoch mächtig.
Denn weder früher noch heute scheinen die Christdemo-
kraten bereit, Fördervoraussetzungen für mittelständische
Technologieprogramme auf ökologische und soziale Kri-
terien zuzuschneiden. Kriterien wie Energie- und Res-
sourceneffizienz und Schadstoffminderung müssen und
können Eingang in die Technologieförderung in kleineren
und mittleren Unternehmen finden. Auch reichen die
Wurzeln der heutigen Finanzmisere der Förderkulisse
zweifellos bis weit in die schwarz-gelbe Regierungszeit
zurück.
Wir stimmen dem Antrag dennoch zu – um die CDU/
CSU beim Wort zu nehmen, falls sie einmal wieder in Ver-
antwortung geraten sollte. Wir werden sie dann auf alle
Fälle an ihre hehren Bekundungen von heute erinnern und
sie daran messen!
Zum zweiten Gegenstand dieser Debatte. Beim Ge-
setzentwurf zum Bürokratieabbau für KMU hatte ich zur
ersten Lesung im November vorigen Jahres unsererseits
eine ernsthafte Prüfung zugesagt, denn der Verzicht auf
unnötige Bürokratie ist natürlich äußerst sinnvoll. Mit der
Pflicht zur Buchführung müssen Unternehmen strengere
und umfassendere Rechnungslegungsvorschriften als mit
der einfacheren Überschussrechnung erfüllen. Höhere
Anforderungen bestehen insbesondere hinsichtlich der
Vermögensverhältnisse des Unternehmens. Diese wenigs-
tens an einer Stelle seriös erkennen zu können, daran müs-
sen aber neben dem Finanzamt vor allem auch Gläubiger
und Handelspartner ein Interesse haben.
Womit wir beim Pferdefuß einer großzügigen Libera-
lisierung sind. Zu Recht beklagen wir alle den rasanten
Rückzug der Banken aus der Unternehmensfinanzierung
unter der Flagge von Basel II, brandmarken wir die mi-
serable Zahlungsmoral, unter der vor allem kleinere Un-
ternehmen zusammenbrechen. Andererseits kann auch
niemand die Augen davor verschließen, dass Finanzie-
rungen oder Beteiligungen allzu oft tatsächlich man-
gelnde Transparenz der Kapital bzw. Geschäfte Suchen-
den gegenübersteht. Insoweit stünde bei Umsetzung
dieses Gesetzentwurfes nicht nur „Bürokratieabbau“ ge-
gen „Aufgabe von Sicherheit“, sondern möglicherweise
sogar Verzicht auf bessere Finanzierungs- und damit Zu-
kunftschancen.
Ich weiß nicht, ob das im Überschwang der neuen Frei-
heit wirklich alle Begünstigten hinreichend überschauen
würden. Auch ist unklar, ob dieser Antrag wirklich prak-
tisch relevant ist. Schließlich würde das bedeuten, dass
eine größere Zahl bisher nicht buchführungspflichtiger
Unternehmen einen Jahresumsatz jenseits der heute schon
gültigen Schwelle von 260 000 Euro erwirtschaftet. Das ist
aber zu bezweifeln.
Aus diesen Gründen wird sich die PDS bei der Ab-
stimmung zu diesem Punkt enthalten.
Margareta Wolf, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minsiter für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre-
gierung setzt auf Forschung und Innovation. Wir haben in
dieser Legislaturperiode mit unserer Technologie- und In-
novationspolitik wichtige Impulse für Wachstum und zu-
kunftsfähige Arbeitsplätze gegeben. Deutschland ist in
den letzten Jahren wieder zu einem international hochat-
traktiven Innovationsstandort geworden.
Die Entwicklung des Bundeshaushalts macht eindrucks-
voll deutlich: Wir haben für Innovation, Forschung und
Technologie deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt als
die Vorgängerregierung – und dennoch die öffentlichen
Haushalte konsolidiert. Die Innovationsbudgets von BMWi
und BMBF wurden von insgesamt 6,1 Milliarden Euro im
Jahr 1998 auf 7,2 Milliarden Euro im Jahr 2002 gesteigert.
Das ist ein Aufwuchs von 18 Prozent .
Gerade kleine und mittlere Unternehmen – das Rück-
grat unserer Wirtschaft – spielen eine Vorreiterrolle bei
der Umsetzung von FuE-Ergebnissen und neuen Techno-
logien. Ihnen gilt auch 2002 ein Hauptaugenmerk im
BMWi-Haushalt: Rund 540 Millionen Euro stellen wir für
„Forschung, Entwicklung und Innovation für den Mittel-
stand“ in diesem Jahr bereit. Davon wurden Mittel in
Höhe von fast 90 Millionen Euro im parlamentarischen
Verfahren zusätzlich in den Haushalt eingestellt.
Gegenüber dem Ansatz von 2001 ist das eine Steige-
rung von rund 14 Prozent zum Teil zur Bedienung von
Altverpflichtungen aus dem BTU-Programm – ein deutli-
ches Signal im Innovationsbereich. Daneben wurden im
Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms wichtige
Akzente auch bei der Energieforschung gesetzt.
Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Förderung der
Innovation im Mittelstand“, der im Rahmen der noch lau-
fenden parlamentarischen Beratungen und vor der Verab-
schiedung des Bundeshaushalts 2002 eingebracht wurde,
ist schon lange überholt.
Auch im kommenden Regierungsentwurf für den
Haushalt 2003 werden wir bei Forschung und Entwick-
lung wieder einen Schwerpunkt setzen, um der Wirt-
schaft in diesem Bereich Planungssicherheit und eine
verlässliche Perspektive zu bieten. Dies gilt in besonde-
rem Maße für die kleinen und mittleren Unternehmen in
den neuen Ländern, die wir weiterhin zielgerichtet unter-
stützen werden. Außerdem wird mit dem Haushalt 2003
der Einstieg in das neue Luftfahrtforschungsprogramm
beginnen, um so auch für diese hochinnovative Schlüs-
selbranche einen stetigen und verlässlichen Förderrah-
men zu gewährleisten.
Vor allem kommt es darauf an, was wir mit den Mitteln
konkret bewirken: Bundesministerin Bulmahn und Bun-
desminister Müller haben kürzlich mit dem gemeinsamen
Konzept „Innovationspolitik“ auf einer gemeinsamen
Pressekonferenz am 29. April 2002 zur Vorstellung der
Broschüre „Innovationspolitik – Mehr Dynamik für
zukunftsfähige Arbeitsplätze“ eine positive Bilanz der
Aktivitäten für Technologie und Innovation gezogen:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23627
(C)
(D)
(A)
(B)
Gründung und Entwicklung von technologieorientierten
Unternehmen, Forschungskooperationen und innovative
Netzwerke, aber auch technologische Beratung erhalten
wichtige Anreize. Durch die Erhöhung der Haushalts-
ansätze konnten wir zielgenau neue Initiativen wie PRO
INNO und die „Förderung von innovativen Netzwerken“,
InnoNet, starten.
Die Industrieforschung in den neuen Ländern hat be-
sondere Priorität. Auf sie entfällt rund die Hälfte der
BMWi-Mittel für innovative kleine und mittlere Unter-
nehmen, nämlich rund 270 Millionen Euro im Ansatz
2002.
Zur Unterstützung des Aufbaus von innovativen Un-
ternehmensnetzwerken in Ostdeutschland haben wir Ende
Februar den „Förderwettbewerb Netzwerkmanagement-
Ost“, NEMO, gestartet.
Effizienter und transparenter Einsatz der Haushalts-
mittel und – darauf legen wir besonderen Wert – eine
Technologieförderung, die auf die künftigen Anforderun-
gen des Mittelstandes umfassend ausgerichtet ist –, das ist
ein Anspruch, dem wir uns dauerhaft stellen.
Das BMWi hat sein auf Forschungskooperation und
Netzwerkbildung gerichtetes Fördersystem evaluieren
lassen. Die unabhängige Kommission hat sich nach-
drücklich für die Fortsetzung dieser Unterstützung ausge-
sprochen. Ihre Empfehlungen zur Neuausrichtung der
wirtschaftsintegrierenden Forschungsförderung wollen
wir in differenzierten Zeitschritten umsetzen.
Doch Förderung ist nur ein Aspekt der Unterstützung
des innovativen Mittelstandes. Von prioritärer Bedeutung
sind strukturelle Reformen, die wir mit Erfolg in Angriff
genommen haben: Wir haben die Steuerreform auf den
Weg gebracht, die den Unternehmen neuen Spielraum für
Innovationen verschafft. Und wir haben die Öffnung der
Märkte vorangebracht. Zu nennen sind Fortschritte im
Telekommunikationsbereich sowie bei der Öffnung der
Strom- und Postmärkte.
Ein Wort zum Entwurf eines „Gesetzes zum Büro-
kratieabbau für kleine und mittlere Betriebe“ der Frak-
tion der CDU/CSU. Als Mittelstandsbeauftragte liegen
mir bürokratische Erleichterungen gerade auch für
kleine Unternehmen sehr am Herzen. Schon weit vor
dem Antrag der Opposition hat daher das BMWi die An-
hebung der Buchführungsgrenzen als eine sinnvolle
Maßnahme identifiziert, um den kleinen Unternehmen
zu helfen, nachzulesen im Bericht „Abbau bürokrati-
scher Hemmnisse“ aus März 2001, vier Monate vor dem
Oppositionsantrag. Auch das Bundesfinanzministerium
teilt unsere Sicht der Dinge. Es führt in dieser Sache ei-
nen engen Dialog mit den Ländern. Hier sind zum Bei-
spiel noch Fragen zu klären, in welchem Umfang eine
Standardisierung der Einnahme-/Überschussrechnung
notwendig sein könnte. Um Entscheidungen auf mög-
lichst umfassender Faktengrundlage zu treffen, sollte
das Ergebnis dieser Erörterungen zunächst abgewartet
werden.
Wir werden hier am Ball bleiben, damit zügig in
der nächsten Legislaturperiode unsere Ideen umgesetzt
werden.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung des Entschließungsantrages: Zu-
kunft der deutschen Messewirtschaft in der Glo-
balisierung (Tagesordnungspunkt 14)
Rolf Hempelmann (SPD): Die deutsche Exportwirt-
schaft ist einer der wichtigsten Antriebsmotoren für un-
sere Wirtschaft. Deutsche Produkte sind international
wettbewerbsfähig, weil nicht nur ihr Preis, sondern vor
allem ihre Qualität herausragend ist. Um ihre Produkte in
aller Welt und vor allem auf bisher noch wenig erschlos-
senen Märkten bekannt zu machen, nutzen deutsche Un-
ternehmen vor allem zahlreiche Fachmessen im In- und
Ausland. Denn die persönliche Kommunikation ist noch
immer zentraler Bestandteil aller Werbe- und Marke-
tingstrategien. Dafür bilden Messen seit Jahrhunderten
– daran haben auch die neuen Medien nichts geändert –
eine ideale Plattform.
Erfreulich ist vor diesem Hintergrund, dass der Messe-
standort Deutschland im internationalen Vergleich zu den
wichtigsten gehört und sich wachsender Beliebtheit bei
Kunden und Ausstellern aus dem Ausland erfreut. Sowohl
die Zahl der Aussteller als auch die der Besucher und der
vermieteten Ausstellungsflächen stieg in den letzten Jah-
ren an. Zwei Drittel der weltweit führenden Messen fin-
den in unserem Land statt. Diese Entwicklung begrüßen
wir ausdrücklich. Der Messestandort Deutschland ist kon-
kurrenzfähig, die deutsche Messewirtschaft funktioniert.
Deshalb halte ich Ihre Forderung nach einem eu-
ropäisch abgestimmten Messekonzept, das bestimmte
Messestandorte besonders fördern soll, für kontrapro-
duktiv: Wir haben im Bereich der Messewirtschaft seit
dem Mittelalter einen funktionierenden Wettbewerb. Dass
gerade Sie von der CDU/CSU, die Sie stets mehr Wett-
bewerb predigen, ihn in diesem funktionierenden und his-
torisch gewachsenen Markt außer Kraft setzen wollen,
verwundert mich sehr. Mit uns wird es das nicht geben.
Wir wollen den Wettbewerb hier aufrechterhalten und den
Messestandort Deutschland auch weiterhin im Rahmen
des Möglichen stärken.
Aber sehen wir an dieser Stelle ganz klar: Die direkte
finanzielle Inlandsmesseförderung ist Sache der Länder
und liegt nicht im Kompetenzbereich der Bundesregierung.
Dennoch lässt die Bundesregierung die Inlandsmesseför-
derung natürlich nicht außer Acht. Sie engagiert sich hier
vor allem durch den Ausbau der notwendigen Infrastruktur.
Das passiert, weil die Bundesregierung die Bedeutung des
Messestandortes Deutschland für verschiedene Wirt-
schaftsbereiche, zum Beispiel für die Exportwirtschaft,
aber auch für die Tourismusbranche, anerkennt.
Die direkte Förderung von Messebeteiligungen kon-
zentriert die Bundesregierung auf die Auslandsmessen.
Dort nutzt die exportierende Wirtschaft die Möglichkeit,
ihre Produkte international bekannt zu machen. Durch die
zunehmende Öffnung der internationalen Märkte ist die
Präsentation deutscher Produkte auf Auslandsmessen zu-
nehmend bedeutsam. Jedoch ist gerade für kleine und
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mittlere Unternehmen die Finanzierung solcher Mes-
seauftritte mit hohen finanziellen Risiken verbunden. Be-
sonders für diese Unternehmen gibt es das Instrument der
Förderung von Messeauftritten deutscher Unternehmen
im Ausland. Es hat in den letzten Jahren wesentlich dazu
beigetragen, dass die exportierende Wirtschaft auch im
Ausland erfolgreich auf ihre Produkte aufmerksam ma-
chen kann. Bereits jetzt ist die Messeförderung nach dem
Ausfuhrgewährleistungssystem zum zweitwichtigsten Mit-
tel der Exportförderung avanciert.
Über die herausragende Bedeutung der Auslandsmes-
seförderung herrscht in diesem Haus, soweit ich sehe, Ei-
nigkeit. Einig sind wir uns auch darüber, dass zur Unter-
stützung deutscher Messeauftritte im Ausland alles getan
werden muss, was möglich ist. Genau das ist der zentrale
Punkt: Das Mögliche muss getan werden, aber es muss
auch verantwortbar bleiben. Auch wir würden das Aus-
landsmessewesen gerne stärker finanziell unterstützen.
Deshalb haben wir im Zuge der Beratungen zum Haus-
halt 2002 Umschichtungen im Haushalt des Ministeriums
für Wirtschaft und Technologie vorgenommen und den
Etat für die Förderung von Auslandsmessebeteiligungen
gegenüber dem ursprünglichen Ansatz angehoben. Aber
wie der kürzlich verstorbene Unternehmer Philipp
Rosenthal einmal gesagt hat: „Wer zu spät an die Kosten
denkt, ruiniert sein Unternehmen. Wer immer zu früh an
die Kosten denkt, tötet die Kreativität“.
Genau das ist der schmale Grat, auf dem wir uns hier
bewegen. Mehr Geld als 33,5 Millionen Euro im Jahr
2002 bereitzustellen war nicht möglich. Ich kann Ihnen
auch sagen, warum: Weil Sie, die heutige Opposition von
CDU/CSU und FDP, während Ihrer Regierungszeit einen
Schuldenberg von 1,5 Billionen DM aufgebaut und uns
hinterlassen haben. Die fatalen Auswirkungen dieser Po-
litik von 16 Jahren Kohl-Regierung haben uns nicht nur
während der letzten vier Jahre begleitet, wir werden sie
auch in den nächsten Jahren weiterhin spüren. Sie haben
einfach zu spät an die Kosten gedacht und genau diesen
Fehler machen wir nicht.
An unserer Politik der Haushaltskonsolidierung geht
kein Weg vorbei. Folgte man Ihren zahlreichen Forderun-
gen und Vorschlägen, wie sie unter anderem von Ihrem
Spitzenkandidaten Stoiber zu hören, aber auch in Ihrem
Wahlprogramm nachzulesen sind, würde das den Bun-
deshaushalt mit sage und schreibe zusätzlich 50 Milli-
arden Euro belasten. Sie propagieren die flotte Formel
dreimal 40 und wollen damit sowohl der Wirtschaft als
auch den Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln, unter ei-
nem Kanzler Stoiber mehr Geld im Portemonnaie zu ha-
ben. In der Realität würde es jedoch ganz anders ausse-
hen: Die Verschuldung würde weiter ansteigen, denn Ihre
Vorstellungen sind schlicht und ergreifend nicht finan-
zierbar. Diese von Ihnen geplante unsolide Haushaltspo-
litik würde weitere langfristige Schäden in der deutschen
Wirtschaftslandschaft verursachen, denn die unvermeid-
baren Konsequenzen wären weitaus tiefere und schmerz-
haftere Einschnitte im Bundeshaushalt, als die aktuelle
Bundesregierung sie in dieser Legislaturperiode vorge-
nommen hat. Mit einer SPD-geführten Bundesregierung
wird es diese unverantwortliche Politik nicht geben. Die
vorgenommenen Einsparungen waren notwendig. Des-
halb hat es auch im Bereich der Auslandsmessen eine Ab-
senkung des Etats von 35,8 Millionen Euro im Jahr 2001
auf 33,5 Millionen Euro im Jahr 2002 gegeben.
Im Übrigen hat die Erfahrung gezeigt, dass die finan-
zielle Förderung vor allem für kleine und mittlere Unter-
nehmen zwar wichtig, aber nicht allein Heil bringend ist.
Zentral für diese Firmen sind neben der finanziellen vor
allem die praktische und infrastrukturelle Unterstützung
bei Messeauftritten im Ausland. In diesem Bereich enga-
giert sich die aktuelle Bundesregierung – allein oder teil-
weise auch in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirt-
schaft.
Als Beispiel will ich an dieser Stelle das im letzten
Jahr geschaffene Außenwirtschaftsportal im Internet,
„iXPOS“, nennen. Es informiert über Länder und Bran-
chen, Finanzierungs- und Rechtsfragen sowie aktuelle
Termine und vermittelt Geschäftsund Ansprechpartner.
Auch die Bundesagentur für Außenwirtschaft, bfai, liefert
Know-how über Messebeteiligungen in zahlreichen Län-
dern. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen, haben
die Möglichkeit, sich auf diesen Wegen einfach sowie
Zeit und Kosten sparend über die wichtigsten Rahmen-
bedingungen für ihren Messeauftritt zu informieren. Als
wichtige Dienstleister erweisen sich auch die deutschen
Botschaften im Ausland, die ihre Aufgaben zunehmend
als Türöffner für deutsche Unternehmen verstehen. Da-
rüber hinaus seien die Außenhandelskammern erwähnt,
die das Bundesministerium für Wirtschaft und Techno-
logie in zahlreichen Ländern fördert. Sie sind ebenfalls
beratend tätig und bei der Organisation von Messeauftrit-
ten im Ausland behilflich. Diese praktische Hilfe ist ge-
rade für Neulinge oft wichtiger als die Erstattung von
Kosten eines Messeauftritts im Ausland, der nämlich ohne
die notwendigen Hintergrundinformationen oft erst gar
nicht hätte zustande kommen können.
Darüber hinaus hat die Wirtschaft selbst Wege gefun-
den, Informationen und Hilfestellungen für Unternehmen
anzubieten, die ihre Produkte auf Messen im Ausland prä-
sentieren wollen. Insofern kann ich Sie beruhigen, was
Ihre Forderung nach einem Förderkonzept für kleinere und
mittlere Unternehmen betrifft. Bereits jetzt profitieren ge-
rade diese Unternehmen sowohl von der finanziellen Aus-
landsmesseförderung – hier beträgt der Anteil von KMU
über 85 Prozent – als auch von den anderen Aktivitäten der
Bundesregierung im infrastrukturellen Bereich.
Sie sehen also selbst, Ihr Entschließungsantrag ist in
vielerlei Hinsicht obsolet geworden. Deshalb lehnen wir
ihn auch ab.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Gute
Ware lobt sich selbst – das ist eine alte Weisheit. Doch oft
könnte sie konsequenter umgesetzt werden.
Waren und Dienstleistungen müssen vorgestellt, ange-
fasst und ausprobiert werden, damit ihre Qualität erkannt
wird. Messen bieten dafür hervorragende Chancen, Mes-
sen gehören zu den wichtigsten Kommunikationsinstru-
menten der Wirtschaft. Sie dienen dazu, Innovationen zu
präsentieren, den Bekanntheitsgrad des eigenen Unterneh-
mens zu erhöhen, die Wettbewerbssituation zu analysieren
sowie Kontakte zu alten und neuen Kunden herzustellen.
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Jährlich werden in Deutschland 130 bis 150 überregio-
nale und internationale Messen und Ausstellungen durch-
geführt. Trotz des konjunkturellen Abschwungs und des
Rückgangs des Außenhandelswachstums gab es im letz-
ten Jahr mehr Aussteller als je zuvor: 171 000. Das ent-
spricht einem Plus von 3 Prozent. Bei den Besuchern
wurde die 10-Millionen-Grenze mit 10,7 Millionen deut-
lich überschritten. Die verbesserte Messeförderung aus
den 90er-Jahren trägt weiter Früchte. Rund 50 Prozent der
Aussteller kommen aus dem Ausland, davon ein Drittel
aus Ländern außerhalb Europas, und Devisen kommen in
unser Land. Von den Besuchern reist knapp ein Fünftel
aus dem Ausland an, davon wiederum rund 20 Prozent aus
Übersee. Kein anderes Messeland erreicht vergleichbare
Größenordnungen. Deutschland ist Messeland Nummer
eins in der Welt. Die Grundlagenschaffung vor 10 Jahren
hat ebenso dazu beigetragen wie die aktive Arbeit des
AUMAund die Aufgeschlossenheit unserer Unternehmen
der Messegesellschaften.
Für die deutsche Wirtschaft haben Messebeteiligungen
einen besonders hohen Stellenwert im Kommunikations-
mix. So fließen in der Investitionsgüterindustrie rund ein
Drittel sämtlicher Ausgaben für Marktkommunikation in
Messebeteiligungen – mit steigender Tendenz. Doch ge-
rade in diesem Segment sind kleine und mittelständische
sowie neu gegründete Unternehmen benachteiligt. Sie
können oft die hohen Kosten einer Messebeteiligung
nicht aufbringen, der Mittelstand geht leer aus. Hier ist die
Politik gefragt. Stattdessen hat die Bundesregierung der
gezielten Förderung für kleine und mittelständische Un-
ternehmen eine klare Absage erteilt, so nachzulesen in der
Antwort auf Frage 10 unserer Großen Anfrage. Sie schiebt
die Verantwortung den regionalen Industrie- und Han-
delskammern sowie den Handwerkskammern zu.
Besonders gravierend ist die vernachlässigte Aus-
landsmesseförderung. Für 2002 stehen fast 10 Prozent
weniger Mittel gegenüber dem Vorjahr zur Verfügung.
Der Ausstellungs- und Messeausschuss der Deutschen
Wirtschaft hat deshalb die Absage von 10 bis 15 Messe-
beteiligungen in den Monaten November und Dezember
angekündigt. Das bedeutet umgerechnet einen Verlust
von bis zu 3 Milliarden Euro für die Wirtschaft. Für 2003
plant die rot-grüne Bundesregierung, den Etat noch ein-
mal von derzeit 33,5 Millionen Euro auf dann 27 Milli-
onen Euro zu kürzen. Daraus sollen nach der Vorstellung
von Bundesfinanzminister Eichel auch noch die zusätzli-
chen außerplanmäßigen Vorlaufkosten für eine so ge-
nannte kleine Weltausstellung in Paris im Jahre 2004 be-
stritten werden. Breit verteilt, weniger effektiv!
Für eine Exportnation wie Deutschland hat dies gra-
vierende Rückwirkungen auf Arbeitsmarkt und Steuer-
einnahmen. Das Finanzwissenschaftliche Forschungs-
institut der Uni Köln hat festgestellt: Die vom Bund 2001
eingebrachten 35,7 Millionen Euro für Messebeteiligun-
gen im Ausland haben ein Exportvolumen von mindes-
tens 3,5 Milliarden Euro induziert; damit sind verknüpft
20 000 Arbeitsplätze. Die Folgen solcher Förderung: Ein
Mehr an Steuereinnahmen von 167 Millionen Euro, da-
von 75 Millionen Euro allein für den Bund. Der Einsatz
von 35 Millionen Euro hat sich mehr als verdoppelt. Die
mittelbaren Folgeeffekte sind dabei noch gar nicht mitge-
zählt.
Auch ordnungspolitisch wird der Auslandsmesse-
förderung Unbedenklichkeit bescheinigt. Sie stützt und
stärkt den Markt, sie gleicht Wettbewerbsnachteile für
kleinere und mittlere Unternehmen aus.
Die mittelständische Wirtschaft bildet das Rückgrat
der gesamten deutschen Wirtschaft. Über 85 Prozent der
4 500 bis 5 000 Firmen, die jährlich am Auslandsmesse-
programm teilnehmen, sind kleine und mittlere Unterneh-
men. Für diese Unternehmen ist der Export zunehmend
existenzentscheidend, nicht zuletzt aufgrund der Konsum-
und Konjunkturflaute zu Hause nach vier Jahren rot-grü-
ner Wirtschaftspolitik. Für 2003 ist die Anzahl der einge-
gangenen Beteiligungsanträge der Wirtschaft gegenüber
den Vorjahren um 30 Prozent gestiegen. Für kleine und
mittlere Unternehmen eignen sich Auslandsmessebeteili-
gungen als erste Schritte in neue Wachstumsmärkte. Rund
20 Prozent der Exporte sind direkte Folge der Beteiligun-
gen deutscher Unternehmen an Auslandsmessen. Die
Auslandsmesseförderung ist deshalb für die Exportwirt-
schaft eine unverzichtbare Unterstützung bei der erfolg-
reichen Erschließung ausländischer Märkte. Eine Anhe-
bung der Auslandsmesseförderung auf 40 Millionen Euro
pro Jahr ist deshalb dringend notwendig. Eine offensive
Messepolitik bedeutet Sicherung und Schaffung von Ar-
beitsplätzen. Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen
und 1,7 Millionen in befristeten Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahmen, das heißt 5,7 Millionen Menschen ohne dauer-
hafte Arbeit, 5,7 Millionen Familien in Existenznot, ist
dies eine Schicksalsfrage für unser Land.
Die Kabinettsentscheidung 2001 hat bereits negative
Auswirkungen. Der Messeausschuss der deutschen Wirt-
schaft hat die von Rot-Grün nur mündlich unterstützte
KONSUGERMA 2002 in Japan absagen müssen. Dabei
handelt es sich um die größte Sonderschau der deutschen
Konsumgüterindustrie in Asien, ein Schaufenster Deutsch-
lands im Erdteil mit den meisten Menschen. Die Messe fin-
det alle vier Jahre abwechselnd zur TECHNOGERMA, der
Sonderschau der deutschen Investitionsgüterindustrie
statt, beide jeweils in der größten Wachstumsregion der
Welt. Die Entscheidung der Wirtschaft war notwendig,
um nach der angekündigten Kürzung nicht die 239 re-
gulären Auslandsmessen zu gefährden. Für eine Großver-
anstaltung müssten 30 bis 40 kleine Messebeteiligungen
abgesagt werden. Aufgrund der fehlenden Unterstützung
durch die Bundesregierung ist aktuell keine der beiden
großen deutschen Leistungsschauen im Ausland mehr ge-
plant – ein Bitter für die Betroffenen, ein Armutszeugnis
für vorausschauende Politiker. Gerade kleine und mittel-
ständische Unternehmen verlieren durch die Berliner Ent-
scheidung die Chance, auf dem schwierigen japanischen
und damit asiatischen Markt Fuß zu fassen. Besonders sie
sollten bei der großen Sonderschau in Japan von dem
positiven Imagetransfer großer bekannter deutscher Mar-
ken profitieren. Hier ist eine langfristige Garantie für
KONSUGERMA und TECHNOGERMA unabhängig
von der regulären Auslandsmesseförderung notwendig.
Die Auslandsmesseförderung, die eine Hilfe zur
Selbsthilfe darstellt, muss in den nächsten Jahren so aus-
gebaut werden, dass sie den wachsenden Anforderungen
an die globale Präsenz deutscher Unternehmen im Aus-
land Rechnung trägt. Eine Reduzierung zerstört Export-
chancen. Sichere Fördermittel auch für die Zukunft sind
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damit ein entscheidender Faktor eines Exporterfolges.
Hierbei muss in Zukunft auch die Förderung von Messe-
beteiligungen im Bereich Wehrtechnik möglich sein.
Frankreich und Großbritannien sichern so den Absatz ih-
rer wehrtechnischen Produkte, deutsche Unternehmen in
diesem Bereich erhalten keinerlei Unterstützung. Noch ist
Deutschland Weltmarktführer in vielen Bereichen der ma-
ritimen Wehrtechnik, wie U-Booten, Fregatten und Kor-
vetten. Bei schrumpfendem Etat der Bundeswehr kann
der Bestand hoch spezialisierter Werftarbeitsplätze nur
durch die Ausweitung des Exports gesichert werden.
Die deutsche Wirtschaft erfüllt durch ihre Messeprä-
senz auf Auslandsmessen neben den genannten wirt-
schaftlichen Funktionen auch eine wichtige öffentliche
Funktion für die politischen und wirtschaftlichen Bezie-
hungen der Bundesrepublik mit dem Ausland. Sie sind
kompetente Botschafter unseres Landes. Deutsche Veran-
stalter organisieren neben Beteiligungen außerdem pro
Jahr rund 180 eigene Messen in wichtigen ausländischen
Wachstumsregionen, insbesondere in Asien, Nord- und
Südamerika sowie Osteuropa. Diese Veranstalter brau-
chen ergänzend zu ihrem umfangreichen Engagement auf
deutschen Messen zunehmend auch in schwierigen Aus-
landsmärkten kompetente Partner. Dieser Einsatz wird
und muss in den nächsten Jahren im Rahmen der Globa-
lisierung weiter wachsen. Man will an den zunehmenden
Handelsströmen zwischen außereuropäischen Regionen
teilhaben, um einen positiven Imagetransfer und damit
eine Stärkung der heimischen Leitmessen zu erreichen.
Die Messewirtschaft gehört zu den führenden Dienst-
leistungsbranchen der deutschen Wirtschaft. Sie zeichnet
sich durch besonders hohe internationale Ausstrahlung
und Innovationskraft aus. Rund zwei Drittel der weltweit
führenden Messen finden in Deutschland statt. Wir von
der CDU/CSU haben diese Entwicklung gewollt und be-
fördert und alle Fraktionen des Deutschen Bundestages
haben sich dieser Ausrichtung nie verschlossen. Bei die-
ser Gemeinsamkeit sollte es bleiben. Die Messen bei uns
sind zentrale Handels- und Kommunikationsplätze für die
Wirtschaft. Sie leisten dadurch einen wesentlichen Bei-
trag zu Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und
zur Intensivierung des internationalen Handels.
Handel und Wandel sind die Grundlage der deutschen
Messewirtschaft, der freie Welthandel ist ihr Motor. Die
von der CDU/CSU vorangetriebene Einführung des Euro
hat ihm weiteren Schwung geben, die anstehende Erwei-
terung der Europäischen Union gibt ihm zusätzliche Im-
pulse.
Sechs der zehn umsatzstärksten Messegesellschaften
der Welt haben ihren Sitz in Deutschland. Die deutschen
Messeveranstalter setzen pro Jahr über 2,25 Milliarden
Euro um. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der
Messewirtschaft wurde durch verschiedene Studien be-
stätigt. Aufwendungen der Aussteller und Besucher von
rund 10 Milliarden pro Jahr und gesamtwirtschaftliche
Produktionseffekte von 23 Milliarden Euro zeigen, dass
die Messewirtschaft zu den wichtigsten Dienstleistungs-
branchen der deutschen Wirtschaft zählt.
Rund 250 000 Vollzeitarbeitsplätze hängen von der
Durchführung von Messen ab. Da die Aussteller- und Be-
sucherzahlen auch in Zukunft weiter wachsen werden, wird
die Messewirtschaft auf Dauer am Standort Deutschland
Arbeitsplätze schaffen und nicht abbauen. Rund 1,2 Milli-
arden Euro wollen die deutschen Messeplätze mit überre-
gionaler Bedeutung bis 2006 in die Modernisierung und Er-
weiterung ihrer Kapazitäten investieren. Mit diesen Mitteln
werden 120 000 Quadratmeter zusätzliche Hallenfläche
geschaffen, eine Fläche von 16,5 Fußballplätzen. Das ent-
spricht einem Wachstum von 4,7 Prozent zu den bestehen-
den 2,4 Millionen Quadratmetern Hallenfläche, vergleich-
bar mit 330 Fußballfeldern.
Ganz anders sieht es bei den kleinen Messestandorten
aus. Mit rund 70 Millionen Euro ist eine Kapazitätsaus-
weitung von nur 2,5 Prozent geplant. Dabei sollten gerade
die Vor-Ort-Initiativen unterstützt werden. Messestand-
orte stärken die regionale Wirtschaft. Hotellerie und
Gastronomie profitieren davon ebenso wie Verkehrs-
unternehmen und Firmen, die Messedienstleistungen für
Veranstalter und Aussteller erbringen, wie Messebau, Lo-
gistikunternehmen, Dolmetscher- und Hostessendienste.
Je mehr Aussteller und Besucher aus anderen Regionen in
die Messestadt kommen und dort übernachten, umso
größer ist dieser Effekt. Die regionalwirtschaftlichen
Effekte umfassen bei stark international ausgerichteten
Messeplätzen das 5- bis 6-fache des Veranstalterumsatzes.
Betrachtet man neben den reinen Messen auch die 63 Mil-
lionen Tagungs- und Kongressteilnehmer, bewirkten diese
1999 für den Tourismus und Messestandort Deutschland
einen Umsatz von 42 Milliarden Euro und 65 Millionen
Übernachtungen, so das GCB, das German Convention
Bureau. Damit sicherte dieser Dienstleistungsbereich
bundesweit etwa 850 000 Vollzeitarbeitsplätze. Darüber
hinaus entstehen erhebliche zusätzliche Steuereinnahmen
für Städte, Länder und Bund. Nicht zu vergessen sind die
positive Imagewirkungen für die jeweilige Stadt im In-
und Ausland.
Doch können diesen Effekt nicht alle Regionen in der
Bundesrepublik gleichrangig nutzen. Die Verteilung von
Messen mit überregionaler und internationaler Bedeutung
ist unausgewogen. Sie konzentrieren sich auf sehr leis-
tungsfähige und stark frequentierte Messestandorte mit
gut ausgebauter Infrastruktur wie Frankfurt, Düsseldorf
oder Berlin. Die Förderung bestehender regionaler Mes-
sestandorte in rand- bzw. strukturschwachen Regionen
muss daher die Aufgabe von Bund und Ländern sein.
Durch eine optimierte Anbindung an die Verkehrsinfra-
struktur könnten diese zu Kristallisationspunkten für die
Wirtschaftsentwicklung einer ganzen Region werden.
Auch in den strukturschwachen Gebieten meiner
Heimat Schleswig-Holstein gibt es solche entwicklungs-
fähige Messen, die das Potenzial zu überregionaler
Bedeutung haben. Hierzu sind die NORLA in Rendsburg,
die „windtech Husum“ und die RORO in Lübeck zu
zählen. Die „windtech Husum“ macht es vor: Gegenüber
der Leistungsschau 1999 verdreifachte sich 2001 die Aus-
stellerzahl. 250 Aussteller aus 20 Ländern waren im Sep-
tember auf der Windkraft-Leitmesse. Für regionale Stand-
orte sind besonders Multifunktionshallen geeignet, wie
sie im Dezember letzten Jahres mit der „Campus-Halle“ in
Flensburg eröffnet wurde. Hier entstand eine mit moderns-
ter Technik ausgestattete Halle mit 8 100 Quadratmetern
für Ausstellungen, Kongresse, Sport und Entertainment. In
einem Gutachten im Auftrag der Landesregierung in Kiel
wurde festgestellt:
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Durch die „Campus-Halle“ besteht eine moderne
Event-Infrastruktur bei hoher Multifunktionalität
mit zentralem Standort im engeren Einzugsgebiet
und ohne große Konkurrenzeffekte.
Deshalb findet zur Zeit eine Neupositionierung dieses
regionalen Messestandortes im Einzugsgebiet zwischen
Hamburg und Kopenhagen statt; es muss eine Leitmesse
für den Standort etabliert werden!
Ideen dafür gibt es: Mit Bezug auf das Profil der bei-
den Hochschulen vor Ort könnte dies im Bereich Ge-
sundheitswirtschaft und Wellness liegen. Der Kern ist mit
den Krankenhausmanagement-Tagen der Fachhoch-
schule Flensburg bereits gelegt; eine Ausdehnung schei-
terte bisher an den Räumlichkeiten. Mit diesem Thema
könnte sich Flensburg als regionaler Messestandort auch
national positionieren.
Doch auch weitere Themen liegen auf der Hand: In Ko-
operation mit der ansässigen Wirtschaft und der Hoch-
schule kann der Bereich Schiffstechnik ausgebaut und
können die Themen Logistik mit klarem Bezug zu Däne-
mark und Skandinavien sowie maritimer Tourismus eta-
bliert werden.
Einer der größten maritimen Wachstumsmärkte, die
Aqua- oder Mari-Kulturen, sind durch Messen bisher von
keinem Standort abgedeckt. Das Gutachten empfiehlt
außerdem eine AUMA-Mitgliedschaft, um die bei ande-
ren Standorten gegebene Transparenz und eine äquiva-
lente Dokumentation sicherzustellen. Als Auftrag an die
Politik wurde in dem Gutachten festgehalten, die ver-
kehrliche Erreichbarkeit an die Ansprüche internationaler
Leitmessen anzupassen und im Rahmen der Systematik
bestehender Förderprogramme die Entwicklung neuer,
profilbildender und wiederkehrender Messen- und Kon-
gressthemen zu fördern. Das ist ein klarer Auftrag an die
Politik, regionale Wirtschaftsentwicklung und aktive Ar-
beitsmarktförderung in einem.
Doch nicht nur die Auslandsmesseförderung und die
regionalen Messestandorte werden von Rot-Grün ver-
nachlässigt. Immer wieder werden neue Stolpersteine in
den Weg gelegt. So wurde mit dem Gesetz zur Eindäm-
mung illegaler Beschäftigung im Baugewerbe zum 1. Ja-
nuar die so genannte Bauabzugssteuer eingeführt und Un-
sicherheit bei Ausstellern und Veranstaltern geschaffen.
Jetzt muss das Gesetz nachgebessert werden. Doch das
angekündigte Schreiben von Finanzminister Eichel, das
den Bau von Messeständen von dieser Steuer befreien
soll, liegt noch nicht vor.
Auch das so genannte Scheinselbstständigengesetz hat
die Branche getroffen. Sie ist auf den kurzfristigen Einsatz
von Messebetreuern, Handwerkern und Bewachungsper-
sonal angewiesen. Jetzt ist vor jedem Einsatz eine büro-
kratische Hürde aufgebaut.
Durch die Einführung des Reverse-Charge-Systems im
Umsatzsteuerrecht zum 1. Januar 2002 kommt es zu einem
Wettbewerbsnachteil des Messestandorts Deutschland im
internationalen Vergleich. Wenn ein ausländischer Veran-
stalter in Deutschland eine Messe durchführt, müssen
sämtliche ausländischen Aussteller in Deutschland um-
satzsteuerrechtlich registriert werden und für den jeweili-
gen Messezeitraum eine Umsatzsteuervoranmeldung ab-
geben. Ein bürokratisches Hemmnis, das abschreckt! Fi-
nanzminister Eichel hat auch hier eine Vereinfachungsre-
gel angekündigt, die bisher aber aussteht.
Der Antrag der Union, die Messeteilnahme von Aus-
ländern durch ein spezielles Messe-Visum zu vereinfa-
chen, hat bereits erste Ergebnisse gebracht. Anträge von
Unternehmen, mit denen es positive Erfahrungen bei
ihrem Messeaufenthalt in Deutschland gibt, sollen in Zu-
kunft bei der Visa-Erteilung für ihre Mitarbeiter von den
deutschen Konsulaten und Botschaften ohne die sonst
üblichen Nachweise bearbeitet werden. Das Gleiche soll
gelten, wenn der lokalen Handelskammer ein Empfeh-
lungsschreiben vorgelegt werden kann. Ob damit die Eng-
pässe für Besucher außerhalb der EU beseitigt werden,
wird die Praxis zeigen.
Für jede Messe müssen die Interessen der Aussteller,
Besucher und Veranstalter hinsichtlich Bezeichnung, No-
menklatur, Standort, Termin, Dauer und Turnus von Mes-
sen immer wieder aufs Neue zum Ausgleich gebracht
werden. Der Ausstellungs- und Messeausschuss der deut-
schen Wirtschaft wirkt daran als neutrale Clearingstelle
hilfreich mit. Dadurch fördert er ein rationelles Messe-
wesen im Sinne einer effektiven Subsidiarität, der Staat
wird entlastet, die Wirtschaft gestärkt, die Bürger haben
gut von diesem Modell. Deutschland muss Messeland
Nummer eins bleiben!
Ernst Burgbacher (FDP):Die Messewirtschaft stellt
in Deutschland einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar.
„Die Dienstleistungsbranche Messen zählt ... zu den
Schlüsselbereichen der deutschen Dienstleistungswirt-
schaft. Sie gilt im internationalen Wettbewerb als die leis-
tungsfähigste, innovativste und am breitesten aufge-
fächerte Messewirtschaft“, so die Bundesregierung in
ihrer Antwort auf die Große Anfrage.
Die Zahlen sind in der Tat beeindruckend: sechs der
zehn weltweit umsatzstärksten Messegesellschaften be-
finden sich in Deutschland; vier der fünf weltweit größten
Messegelände befinden sich in Deutschland; zwei Drittel
der weltweit führenden Messen finden in Deutschland
statt. Der Messestandort Deutschland hat eine führende
Marktposition inne, wobei das Potenzial noch lange nicht
ausgeschöpft ist.
Für die regionale Wirtschaft haben Messen eine zen-
trale Bedeutung. Verkehrsbetriebe und Taxi-Unterneh-
men, Logistik, Transport und Messebau, Einzelhandel,
Kultur- und Freizeiteinrichtungen: Es gibt kaum eine
Branche, die nicht direkt oder indirekt an einer großen
Messe mitverdient. Die Umwegrendite für die regionale
Wirtschaft im Umfeld einer großen Messe beträgt durch-
schnittlich das Fünf oder Sechsfache. Das heißt im Klar-
text: Jeder Euro, der auf der Leipziger Messe umgesetzt
wird, bringt der Region etwa 5 bis 6 Euro ein. Hotellerie
und Gastgewerbe profitieren von den Ausstellern und Be-
suchern. In Leipzig macht der Messe- und Kongresstou-
rismus 30 Prozent der gesamten Zimmerbelegung aus.
Wer je versucht hat, während der Buchmesse in Frankfurt
noch ein Hotelzimmer zu bekommen, wird das Problem
einer hundertprozentigen Zimmerbelegung kennen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223632
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Von den jährlich 160 000 Ausstellern auf den deut-
schen überregionalen und internationalen Messen kom-
men 80 000 aus dem Ausland, von ihnen etwa ein Drittel
aus Übersee. Von den 10 Millionen Besuchern kommen
etwa 2 Millionen aus dem Ausland. Viele Aussteller und
Messebesucher nutzen die Messe auch für ein privates
touristisches Besuchsprogramm. Gerade ausländische
Gäste geben dabei überdurchschnittlich viel Geld aus.
Zur Attraktivität des Messestandorts Deutschland
gehört auch, dass sich ausländische Besucher in unserem
Land wohlfühlen. Die Liberalisierung der Sperrzeiten und
Verlängerung der Öffnungszeiten in der Außengastrono-
mie sowie die Flexibilisierung der Ladenschlusszeiten
würden hier ein deutliches Zeichen setzen. Qualität und
Service können weiter verbessert werden. Die nach lan-
gem Kampf der FDP jetzt beabsichtigte Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung wird einen deutlichen Beitrag dazu
leisten. Messen müssen auch in ihrer Bedeutung für die
Tourismuswirtschaft ernst genommen werden!
Entscheidend für einen erfolgreichen Messestandort
Deutschland sind die richtigen Rahmenbedingungen. 85
Prozent der rund 62 000 ausstellenden Unternehmen in
Deutschland sind kleine und mittelständische Unterneh-
men. Ihr Wachstum wird durch die mittelstandsfeind-
lichen Entscheidungen von Rot-Grün behindert. Ich
nenne hier vor allem die Steuer- und Arbeitsmarktpolitik.
Wir brauchen ein einfaches und gerechtes Steuersystem
mit deutlich niedrigeren Steuersätzen – 15, 25, 35 Prozent
heißt die Devise. Wir brauchen einen flexiblen und un-
bürokratischen Arbeitsmarkt, der den Begriff Markt wie-
der verdient. Große Probleme für den Mittelstand gibt es
aber auch bei der Kreditvergabe. Ich denke vor allem an
Basel II und die geplante weitere Verschärfung der Richt-
linien des Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen.
Wenn 2001 3 Prozent weniger deutsche Aussteller auf un-
seren Messen waren, hängt das auch damit zusammen,
dass wir derzeit im Mittelstand eine Insolvenzwelle haben
und viele Firmen sehr zurückhaltend planen. Die FDP
wird ab dem 23. September die richtigen Signale für eine
neue Mittelstandspolitik setzen.
Gerade fair die deutsche Wirtschaft und insbesondere
den Mittelstand ist die Auslandsmesseförderung entschei-
dend wichtig. Kleine und mittlere Unternehmen bilden
mit 85 Prozent aller am Auslandsmesseprogramm betei-
ligten Firmen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Ge-
rade für diese Betriebe wird der Export zunehmend exis-
tenzentscheidend. Diese Unternehmen, die zahlreiche
Arbeitsplätze in Deutschland sichern, dürfen nicht allein
gelassen werden. Sie stehen in einer kleiner werdenden
Welt in einem harten Wettbewerb. Sie können diese Auf-
gabe nicht allein bewältigen.
Die Auslandsmesseförderung der Regierung ist
rückläufig, in diesem Jahr handelt es sich lediglich um
33,5 Millionen Euro. 2001 waren es noch 35,79 Millionen
Euro. Dies ist der falsche Weg. Aus Sicht der FDP muss
die Auslandsmesseförderung erhöht werden. Die deut-
sche Messewirtschaft braucht ein Signal der Unterstüt-
zung und Zuverlässigkeit.
Es wird Zeit, dass in Deutschland eine neue Kultur der
Selbstständigkeit entsteht, dass mehr investiert wird, dass
auch der Messemarkt zusätzlich Impulse bekommt. Die
Liberalen haben dafür das richtige Programm. Nach dem
22. September werden wir es umsetzen.
Rolf Kutzmutz (PDS): Wie so oft vermischt die
CDU/CSU wirtschaftspolitisch sehr vernünftige Forde-
rungen mit unsozialen und wenig problemorientierten
neoliberalen Attacken. Die bestimmen jedoch die eigent-
liche Stoßrichtung der Initiative.
Öffentliche Marketinghilfen für Kleinstunternehmen,
die dann unter anderem der Teilnahme an Messen dienen
können, fordert beispielsweise die PDS schon seit Jahren,
auch schon zu Zeiten der Kohl-Regierung. Eine regional-
politische Förderung von Messestandorten in struktur-
schwachen Regionen klingt gut. Dass sie von der
CDU/CSU in politischer Verantwortung jemals irgendwo
praktiziert wurde, ist mir aber nicht aufgefallen.
Die Wartezeiten bei der Visaerteilung für Messebesu-
cher aus Osteuropa zu verkürzen – auch das findet unsere
Zustimmung. Nur müssten sich die CDU/CSU-Wirt-
schaftspolitiker einmal mit ihren Innenpolitikern und
ihrem Kanzlerkandidaten einigen, wie dicht oder durch-
lässig nun die deutschen Grenzen sein sollen.
Regelrecht demagogisch finde ich jedoch die Forde-
rung nach zwölf Stunden Tagesarbeitszeit für Messemitar-
beiter, um – ich zitiere – „dem erhöhten Servicebedarf für
Messekunden besser gerecht zu werden“. Einmal mehr
soll also die so genannte Attraktivität des Standortes – hier
die Gewinne der Messebetreiber – allein auf den Knochen
der Beschäftigten verbessert werden. Hinter dieser Forde-
rung, die ich im Übrigen wie alle eingangs genannten als
schmückendes Beiwerk ansehe, steckt die Logik, auf wel-
cher auch der eigentliche Kern des Antrags beruht, näm-
lich die Auslandsmesseförderung in den kommenden Jah-
ren wieder auf das Niveau der Vergangenheit anzuheben.
Nur, geht es wirklich um die Frage, wie der Status quo
gehalten werden kann oder wie sich die deutsche Wirt-
schaft auf den Exportmärkten noch besser behauptet? Wir
meinen nein. Das eigentliche Problem ist doch, dass auf
diesen Märkten überwiegend ein Verdrängungswettbe-
werb herrscht. Jeder versucht beim Nachbarn mehr abzu-
setzen, weil zu Hause die private und öffentliche Nach-
frage sinkt – auch weil die Beschäftigten zwar länger, aber
nicht für entsprechend mehr Geld arbeiten sollen, wie die
CDU/CSU hier im Falle der. Messeangestellten verlangt.
Käme jedoch hierzulande und anderswo auf der Welt
mehr Nachfrage zustande, würde nicht nur der Druck auf
Exporte nicht weiter zunehmen. Sie wären sogar leichter
als heute möglich. Die Subvention von Messeauftritten im
Ausland, deren messbarer Nutzwert ja zunächst den frem-
den Messestandorten zugute kommt, hat wirtschaftspoli-
tisch nun wirklich keine besondere Priorität. Wenn die
Nachfrage angekurbelt wird, dann entwickelt sich auch
die Teilnahme an Messen zum Selbstläufer.
Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit der Großen Anfrage zur „Zukunft der
deutschen Messewirtschaft in der Globalisierung“ wurde
ein wichtiger Bereich der Dienstleistungswirtschaft ange-
sprochen, dem die Bundesregierung auch schon in der
Vergangenheit ihre Aufmerksamkeit gewidmet hat.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23633
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Messen und Ausstellungen im In- und Ausland haben
für die exportorientierte deutsche Wirtschaft eine zentrale
Bedeutung. Messen und Ausstellungen sind Grundlage
des Exportgeschäfts und stützen damit die inländische
Produktion, Beschäftigung und die Steuereinnahmen des
Staates.
Als einem wichtigen Teil des Außenwirtschaftsförder-
instrumentariums kommt der Auslandsmesseförderung
ein hoher Stellenwert zu. Die staatliche Unterstützung ist
Hilfe zur Selbsthilfe zur Erschließung schwieriger aus-
ländischer Märkte. Dabei zielt die Unterstützung insbe-
sondere auf kleine und mittlere Unternehmen, die sich im
Ausland keine eigenen Vertretungen leisten können.
Insgesamt steht die Mittelstandsförderung im Zentrum
der Auslandsmessepolitik. So hat die Bundesregierung im
Jahr 2000 190 Auslandsmessen mitfinanziert. 2001 wurde
aufgrund von Absagen aus der Wirtschaft mit 182 Aus-
landsmessen eine etwas kleinere Zahl finanziell unter-
stützt.
Rund 90 Prozent der Messeteilnehmer sind mittelstän-
dischen Unternehmen zuzuordnen. Ein spezielles Förder-
konzept ist deshalb nicht erforderlich. Die Beteiligungen
von wenigen Großunternehmen haben eine Sogwirkung
auf Besucher im Ausland und auch auf deutsche Ausstel-
ler, die an diesen Auslandsmessen teilnehmen. Nicht zu-
letzt deshalb sieht die Bundesregierung in der Auslands-
messeförderung eine mittel- und langfristige Aufgabe.
Es ist das übergeordnete Ziel der Bundesregierung, den
Bundeshaushalt wieder in geordnete Verhältnisse zurück-
zuführen. Deshalb sind Einschnitte in vielen Bereichen er-
forderlich, von denen auch die Auslandsmesseförderung
nicht ausgenommen werden kann. Allerdings ist die Bun-
desregierung bemüht, im Interesse der langfristigen Stabi-
lität die Absenkung des Messeetats in Grenzen zu halten.
Ob es dadurch tatsächlich zu sehr viel weniger Aus-
landsmessebeteiligungen kommen wird als in diesem und
in den Vorjahren, wird ganz wesentlich davon abhängen,
ob die Unternehmen bereit sind, mehr Eigenmittel in die
geförderten Auslandsmessebeteiligungen einzubringen.
Die Bundesregierung hält ein höheres finanzielles Enga-
gement der ausstellenden Unternehmen an den direkten
förderfähigen Messekosten für angemessen und zumut-
bar. Derzeit tragen die Aussteller durchschnittlich ein
Drittel dieser Kosten. Bei höherer Eigenbeteiligung
könnte durchaus die Zahl der Auslandsmessebeteiligun-
gen gehalten werden. Die Förderquote der direkten Mes-
sekosten würde dann im Schnitt immer noch über 50 Pro-
zent liegen.
Ein „europäisch abgestimmtes Messekonzept“ zur För-
derung von strukturschwachen Regionen ist schon im An-
satz verfehlt. Es würde Eingriffe in den unternehmerischen
Wettbewerb, in die Interessen anderer europäischer Staa-
ten und in unternehmerische Gestaltungsspielräume be-
deuten. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass sich
Messen und Messestandorte fast ausschließlich nach An-
gebot und Nachfrage regeln sollten. Insofern hält sie sich
bei Verordnungen und speziellen Messegesetzen und Zu-
lassungsregelungen für Messen und Ausstellungen zurück.
Obwohl in erster Linie Länderangelegenheit, hat sich
die Bundesregierung mit zahlreichen Einzelmaßnahmen
an einer Verbesserung der Verkehrsanbindung von Mes-
sestädten beteiligt, zum Beispiel in Hannover, Köln,
Hamburg und Leipzig.
Die Visaerteilungen an Messeaussteller und -besucher
insbesondere aus der Volksrepublik China, der Ukraine
und aus Russland laufen nun reibungslos, nachdem Ver-
fahren eingeführt wurden, die sicherstellen, dass Visaan-
träge von Geschäftsleuten vorrangig bearbeitet werden.
Dadurch leisten die Visastellen zusammen mit den Wirt-
schaftsdiensten an den deutschen Auslandsvertretungen
einen hervorragenden Beitrag zur Stärkung des Messe-
standortes Deutschland.
Die Bundesregierung hält Ausnahmeregelungen für
Dienstleister im Bereich der Messewirtschaft bei Teilzeit-
arbeit und der Befristung von Arbeitsverträgen nicht für
angebracht. Diese Messeunternehmen können keine Son-
derstellung beanspruchen. Vielmehr sollten sie die vor-
handenen Flexibilitäten im Teilzeit- und Fristarbeitsrecht
ausschöpfen, um dem erhöhten Servicebedarf von Messe-
kunden gerecht zu werden.
Die Bundesregierung hält die „Zukunft der deutschen
Messewirtschaft in der Globalisierung“ auch trotz der not-
wendigen Haushaltskürzungen für weiterhin gesichert und
aussichtsreich. Der Messestandort Deutschland hat seine
internationale Bedeutung nachhaltig unter Beweis gestellt.
Auch im Auslandsmessegeschäft sind und bleiben deut-
sche Dienstleister und Aussteller an der Weltspitze.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrages: Neue Impulse für die
Zusammenarbeit von EU und Russland bei der
Entwicklung der Region Kaliningrad (Tagesord-
nungspunkt 15)
Markus Meckel (SPD): Seit den friedlichen Revolu-
tionen in Mittelosteuropa und der Auflösung der Sowjet-
union bemühen wir uns, die Partner beim Übergang zu
Demokratie und Marktwirtschaft zu unterstützen. Damit
soll Sicherheit und Stabilität in Europa geschaffen wer-
den. In diesem Jahr stehen in diesem Prozess zentrale Ent-
scheidungen an. Die EU wird die Erweiterungsverhand-
lungen mit einer Reihe von Kandidaten bis Ende 2002
abschließen und festlegen, wer der Union 2004 beitreten
kann. Auf dem Gipfel in Prag wird die NATO im Novem-
ber 2002 über eine zweite Runde der Öffnung entschei-
den. Der NATO-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns
1999 war ein erster Meilenstein auf dem Weg der Integra-
tion der mittelosteuropäischen Staaten.
Mit dem bevorstehenden Beitritt von Polen und Li-
tauen wird die russische Exklave Kaliningrad vollständig
zu einer Enklave der Europäischen Union. Ohne ein-
schneidende Maßnahmen könnte Kaliningrad leicht in die
Lage einer „doppelten Peripherie“ geraten: ein vergesse-
nes Gebiet Russlands an seinem Rande und vor den Toren
der Europäischen Union.
Eines muss klar sein: Kaliningrad ist integraler Be-
standteil der Russischen Föderation. Mit Souveränität
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geht die Verantwortung Russlands für die Entwicklung
des Gebiets einher. Gleichwohl ist es auch im Interesse
der EU, die Bedingungen für einen positiven Trend in der
Region Kaliningrad zu schaffen und Russland bei seinen
Bemühungen zu unterstützen.
Die russische Regierung hat bereits in ihrer „Mittelfris-
tigen Strategie gegenüber der EU“ im Oktober 1999 er-
klärt, daß Kaliningrad zu einer „Pilotregion“ für die Be-
ziehungen EU – Russland werden könnte und darin ein
„besonderes Abkommen“ vorgeschlagen. Auf den ersten
Blick verspricht dieser Ansatz Vorteile. Aber ein solches
Abkommen müsste von allen Mitgliedern, einschließlich
Griechenland und Portugal, ratifiziert werden. Allein das
dürfte zwei Jahre dauern.
Die EU-Kommission hat auf die russische Strategie im
Januar 2001 mit einem Optionenpapier reagiert, das die
zentralen Probleme benennt und die Bereitschaft signali-
siert, pragmatische Lösungen zu suchen. Nur eines
möchte die Kommission derzeit nicht: langwierige Ver-
tragsverhandlungen über ein gesondertes Abkommen
führen. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
zwischen der EU und Russland bildet seit 1997 die
Grundlage für die beiderseitigen Beziehungen. In diesem
Rahmen können spezifische Regelungen für Kaliningrad
vereinbart werden. Gespräche darüber sind angelaufen.
Es gilt, die Verhandlungen durch einen konkreten Zeit-
plan zu beschleunigen. Wichtig ist es, die unmittelbaren
Nachbarn Polen und Litauen schon jetzt in die Gespräche
mit einzubeziehen.
Die schwierige Lage in der Region lässt sich mit weni-
gen Zahlen illustrieren. Die Wirtschaft hat seit dem Ende
der Sowjetunion einen dramatischen Niedergang erlebt.
Bis Ende der 90er-Jahre sank die Produktion in Industrie
und Landwirtschaft auf weniger als 30 bzw. 50 Prozent
des Standes von 1990. Das monatliche Einkommen lag im
Jahr 2000 bei 67 Euro und blieb damit nicht nur weit hin-
ter den Nachbarn Polen und Litauen, sondern auch ge-
genüber dem russischen Durchschnitt von 86 Euro
zurück. Laut offiziellen Statistiken lebt ein Drittel der Be-
völkerung unter der Armutsgrenze. Mit der Armut haben
sich organisierte Kriminalität, Korruption, Drogenmiss-
brauch und Seuchen wie Aids und Tuberkulose in der Re-
gion ausgebreitet.
Die Lage ist aber alles andere als hoffnungslos. Die
Ende 2000 gewählte Administration unter Gouverneur Je-
gorow und ein Großteil der Eliten treten bei fester Veran-
kerung in der Russischen Föderation entschieden für eine
Öffnung des Gebiets zum Ostseeraum und zur EU ein. Bei
einem Besuch Mitte Januar äußerten sich alle Gesprächs-
partner in Kaliningrad zufrieden darüber, dass die Region
unter Präsident Putin größere Aufmerksamkeit genieße.
Ein Mitglied der Gebietsduma sagte, erstmals seit zehn
Jahren sehe man die Probleme der Region von Moskau
angemessen beschrieben und wiesen die Lösungsvor-
schläge in die richtige Richtung. Dazu zählt das im De-
zember 2001 verabschiedete „Föderale Zielprogramm zur
Entwicklung des Verwaltungsgebietes Kaliningrad bis
zum Jahre 2010“. Nur für die Halbinsel Sachalin wurde
im letzten Jahr ein ähnliches Programm beschlossen. Das
Programm ist zwar ein Sammelbecken für allerlei mehr
oder weniger sinnvolle Initiativen und die Finanzierung in
Höhe von circa 3 Milliarden US-Dollar ist nur zu einem
Teil gesichert. Gestatten Sie mir eine Nebenbemerkung:
Manchmal könnte man den Eindruck haben, daß Russland
Pläne macht, welche die EU bezahlen soll. Aber dennoch
könnte des Föderalprogramm zu einem strategischen
Konzept für die Entwicklung des Kaliningrader Gebietes
und der Sonderwirtschaftszone weiterentwickelt werden.
Denn eines ist klar: Die Weichen für die Entwicklung
der Region Kaliningrad stellt Russland. Das gilt bei-
spielsweise für die Frage nach der militärischen Bedeu-
tung der Region. Sie war in den letzten Jahren stark rück-
läufig. Die Zahl der Streitkräfte ist von etwa 200 000 auf
etwa 18 000 zurückgegangen und soll bis 2003 weiter sin-
ken auf 8 000. Noch immer ist aber beispielsweise der
äußerste Teil des Hafens militärisches Sperrgebiet. Das
bringt Einschränkungen im zivilen Schiffsverkehr und
Handel mit sich.
Ebenso stellt sich die Frage, welchen Handlungsspiel-
raum die russische Regierung regionalen Behörden bei
der wirtschaftlichen Entwicklung und im Umgang mit
seinen direkten Nachbarn einräumen will. Es bleibt zu
klären, ob es sinnvoll ist, jedes Detail in den Beziehungen
zwischen Kaliningrad und seinen Nachbarn über Moskau
zu verhandeln. An unserer Westgrenze haben wir positive
Erfahrungen mit der Schaffung von Euroregionen und der
Übertragung von Kompetenzen für die Regelung nach-
barschaftlicher Beziehungen gemacht. Auch wenn wir
dies an der deutsch-polnischen Grenze noch nicht voll-
ständig realisiert haben, könnten die Regelungen des
Karlsruher Rahmenabkommens des Europarates bei der
Ausgestaltung der Kaliningrad berührenden Euroregio-
nen „Ostsee“, „Saule“ und „Neman“ hilfreich sein.
Lassen Sie mich nun auf die konkreten Probleme zu
sprechen kommen, mit denen sich die EU und Russland
im Zuge der Erweiterung konfrontiert sehen: Visa- und
Transitregeln, Verkehrsanbindung, Warenaustausch.
Als vorrangig sehen alle eine baldige Regelung der
Visa- und Transitfrage an. Wir suchen Regelungen, die den
Bedürfnissen der EU nach einem sicheren Schutz der
Außengrenzen ebenso gerecht werden wie dem Interesse
an einem Ausbau der grenzüberschreitenden Kontakte und
Kooperation zwischen Bürgern Russlands und der EU.
Noch bis zum 1. Juli kommenden Jahres gilt mit Polen
und Litauen Visafreiheit. Jährlich werden weit über 8 Mil-
lionen Grenzübertritte und 3 Millionen PKWs an den
Grenzen zur Polen und Litauen registriert. Weit mehr
Menschen reisen nach Wilna, Warschau oder Berlin als
ins russische Kernland. Gerade junge Menschen interes-
sieren sich stark für die Nachbarländer im Ostseeraum
und darüber hinaus für die EU. Wenn Polen und Litauen
die Regelungen des Schengener Abkommens an den
zukünftigen EU-Außengrenzen anwenden, fürchten viele,
isoliert zu werden.
Das russische Außenministerium fordert in offiziellen
Verhandlungen noch immer eine „Korridorlösung“ für
den Personen- und Warenverkehr zwischen Kaliningrad
und dem russischen Kerngebiet. Während auch in Kali-
ningrad viele die Aufrechterhaltung der Visafreiheit für
wünschenswert halten, hatte ich bei den Gesprächen im
Januar den Eindruck, dass sich die Einsicht durchsetzt:
Diese Forderung ist unrealistisch.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23635
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Die EU-Kommission hat eine flexible Anwendung des
Schengener Abkommens in Aussicht gestellt. Das bedeu-
tet: Grundsätzlich herrscht Visapflicht und Russland muss
die etwa 950 000 Einwohner der Region Kaliningrad mit
Pässen ausstatten. Denkbar wären aber Regelungen zum
kleinen Grenzverkehr, Mehrfachvisa, Visaerteilung an der
Grenze, kostengünstige bzw. kostenlose Visa etc. Dies
setzt voraus, dass wir auch die Bedingungen für die Ver-
gabe von Visa vor Ort verbessern. Polen und Litauen ver-
fügen über Generalkonsulate in der Region. Entsprechend
einer Empfehlung der EU-Kommission hat Schweden als
erstes EU-Land im Dezember 2001 die russische Zustim-
mung zur Errichtung eines Konsulates erhalten. Wir for-
dern die Bundesregierung auf, ebenfalls eine konsula-
rische Vertretung in der Region anzustreben, um den
Personenverkehr zu erleichtern.
Eine gute Verkehrsanbindung ist eine wichtige Voraus-
setzung für wirtschaftliche Entwicklung und die Integra-
tion in den Weltmarkt. Da die direkten Zug- und Flugver-
bindungen zur EU im vergangenen Jahr eingestellt wurden,
habe ich auf der Autofahrt zwischen Warschau und Kali-
ningrad selbst gesehen, wie schlecht die Straßenverbin-
dungen geworden sind und wie schleppend die Abferti-
gung an der Grenze vonstatten geht. Hier ist eine
Veränderung der Haltung des Personals und der Abferti-
gungsverfahren ebenso nötig wie Investitionen in die In-
frastruktur, die von Russland und der EU gemeinsam in
Angriff genommen werden könnten. Insbesondere setzen
wir uns für eine Anbindung an die „Via Baltica“ und den
Ausbau der „Via Hanseatica“ ein. Es soll damit ausge-
schlossen werden, dass die „Via Balitica“ als Nord-Süd-
Verbindung von Tallin über Riga und Kaunas nach War-
schau Kaliningrad ausspart. Die Bundesregierung sollte
sich dafür einsetzen, dass die „Via Hanseatica“ von Ber-
lin über Stettin, Danzig, Kaliningrad und Riga nach Sankt
Petersburg ausgebaut wird. So entsteht eine direkte Ver-
bindung nach Westeuropa. Beides ist von der EU bisher
nicht vorgesehen.
Kaliningrad ist bei der Versorgung mit Lebensmitteln
und anderen Gütern sowie mit Energie auf den Austausch
mit den Nachbarn und dem russischen Kernland ange-
wiesen. Die Einfuhren übersteigen die Ausfuhren dabei
um das Doppelte. Polen und Litauen sind – neben dem
Handel mit dem russischen Kernland – die wichtigsten
Absatzmärkte für Kaliningrad. Nach Einführung der Re-
geln des EU-Binnenmarktes rechnet man mit erheblichen
Einbußen beim Export, weil die Unternehmen der Region
Schwierigkeiten haben, technische, sanitäre und ökolo-
gische Normen der EU – beispielsweise in der Fischerei
und der fischverarbeitenden Industrie – zu erfüllen. Auf
diese Probleme müssen die Programme der russischen
Regierung stärker zugeschnitten werden. Die EU kann
zwar nicht das wirtschaftliche Risiko übernehmen, aber
sie kann Unternehmen bei der Umstellung auf die neuen
Anforderungen unterstützen – in der Ausbildung des Per-
sonals oder bei Ausrüstungsinvestitionen.
Wenn es uns gelingt, diese Probleme gemeinsam mit
Russland in den Griff zu bekommen, kann Kaliningrad
am wirtschaftlichen Aufschwung und den Wohlstandsge-
winnen in der Ostseeregion teilhaben, die mit der EU-Er-
weiterung einher gehen. Dass die Hoffnung nicht ganz
fehl am Platze ist, zeigen folgende Zahlen: Im letzten Jahr
lag das Wirtschaftswachstum der Region mit 12,5 Prozent
erstmals seit 1991 über dem russischen Durchschnitt von
5,4 Prozent. Als Ostseeanrainer hat Deutschland ein Inte-
resse, ein Wohlstandsgefälle im Ostseeraum zu verhin-
dern und stattdessen für gedeihliche Zusammenarbeit zu
sorgen. Da alle Ostseeanrainer bis auf die Russische Fö-
deration in Kürze Mitglieder der EU sein werden, setzen
wir uns dafür ein, dass die Kooperation im Ostseerat eine
größere Bedeutung im Rahmen der „Nördlichen Dimen-
sion“ der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der
Union erhält und die EU mit Russland aktiv nach Lösun-
gen für die Probleme des Kaliningrader Gebietes sucht.
Das bedeutet auch, dass wir über zusätzliche Mittel spre-
chen müssen. Derzeit werden für TACIS-Projekte jedes
Jahr etwa 3,5 Millionen Euro aufgewandt, während die
EU die Beitrittskandidaten Polen und Litauen mit etwa
1 Milliarde bzw. 180 Millionen Euro unterstützt. So wer-
den die unterschiedlichen Entwicklungstrends eher noch
verschärft.
Ich freue mich, dass es in diesem Haus in dieser Frage
einen breiten Konsens gibt und wir einen interfraktionel-
len Antrag zustande gebracht haben. Und wir stehen in
diesem Bestreben nicht allein. Das Europäische Parla-
ment hat nach ausführlicher Debatte am Dienstag gestern
einen Bericht der deutschen Kollegin Magdalene Hoff zu
Kaliningrad verabschiedet, der in vielen Punkten ähnliche
Forderungen vertritt. An manchen Stellen geht das EP
aber auch über unsere Forderungen hinaus, wenn es zum
Beispiel anregt, gemeinsame Grenzpatrouillen von EU-
und russischem Personal zu prüfen.
Aber was können wir dazu eventuell noch aus deut-
scher Sicht beitragen? Durch humanitäre Initiativen –
zum Beispiel bei der Alten- und Gesundheitsversorgung –
und praktische Unterstützung im Rahmen der acht Städ-
tepartnerschaften und der Beziehungen zwischen anderen
Kommunalverbänden genießt Deutschland einen guten
Ruf als zuverlässiger Partner. Auch im Bereich des
Außenhandels steht Deutschland – wenn auch auf relativ
niedrigem Niveau – an dritter Stelle nach Polen und Li-
tauen. Ich denke, dies ist ein Pfund, mit dem wir wuchern
sollten. Es gilt, direkte Begegnungen, einschließlich des
Jugendaustausches, ebenso wie Wirtschaftskontakte ge-
zielt zu fördern. Bei der Anbahnung und Aufrechterhal-
tung von Kontakten auf der gesellschaftlichen Ebene
spielt das Deutsch-Russische-Haus eine zentrale Rolle. Es
ist wichtig für die Darstellung Deutschlands und trägt zur
Entwicklung der Zivilgesellschaft in Kaliningrad bei. Wir
halten es daher für unbedingt erforderlich, die Finanzie-
rung des Deutsch-Russischen-Hauses auf Dauer zu si-
chern.
Die Länder Schleswig-Holstein, Brandenburg, Ham-
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und
Sachsen arbeiten seit Jahren mit dem Kaliningrader Ge-
biet zusammen. Schleswig-Holstein, das traditionell sehr
stark in der Ostseekooperation engagiert ist, hat schon
sehr früh vielfältige Kontakte geknüpft. Unter anderem
unterstützt das Land die Ausbildung und Kooperation der
Polizei im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Der
schleswig-holsteinische Landtag hat im Jahr 2000 als ers-
ter die Kooperation auf parlamentarischer Ebene mit der
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Gebietsduma in Angriff genommen. Brandenburg hat sich
dieser Initiative im vergangenen Jahr angeschlossen. Es
hat 1994 auch als erstes ein förmliches Kooperationsab-
kommen mit dem Kaliningrader Gebiet unterzeichnet.
Diese Kooperation konzentrierte sich zunächst auf Fort-
bildung von Fachkräften in Wirtschaft und Verwaltung so-
wie die Landwirtschaft – ein Bereich, dessen Potenzial
zur Selbstversorgung in Kaliningrad noch längst nicht
ausgeschöpft ist.
Ich glaube, die Zeit ist günstig, um die Kooperation mit
Russland auf breiter Front voranzubringen. Die in dieser
Woche beschlossene Intensivierung der Beziehungen
zwischen NATO – Russland und die Schaffung eines
neuen Rates zu 20 stimmen mich ebenso zuversichtlich
wie die Vereinbarungen über die Reduzierung der strate-
gischen Nuklearwaffen zwischen den USAund Russland.
Präsident Putin hat bei seiner Rede im Deutschen Bun-
destag bekräftigt, dass er insbesondere an einem Fort-
schritt der Beziehungen zur EU interessiert ist. An einer
Lösung der Probleme Kaliningrads sind beide Seiten in-
teressiert. Russland hat das dadurch unterstrichen, dass das
Außenministertreffen aus Anlass des zehnjährigen Grün-
dungsjubiläums des Ostseerats am 3. bis 4. März 2002 in
Kaliningrad stattfand. Die Entwicklung Kaliningrads
nahm bei den Beratungen breiten Raum ein, auch wenn es
nicht zu einschneidenden Beschlüssen führte. Beim
nächsten EU-Russland-Gipfel am 28. Mai 2002 steht Ka-
liningrad ganz oben auf der Tagesordnung. Den großen
Durchbruch zur Lösung der Probleme der russischen Re-
gion Kaliningrad zu erwarten, wäre wahrscheinlich ver-
messen. Aber wir fordern die Bundesregierung auf, die
Gespräche der EU mit Russland durch neue Vorschläge
voran zu bringen. Russland bieten sich große Chancen zur
Entwicklung der Region Kaliningrad, wenn es die richti-
gen Maßnahmen ergreift. Die EU kann es dabei durch
flankierende Programme und bei der Finanzierung unter-
stützen. Aber Russland muss ebenfalls seine Verantwor-
tung wahrnehmen.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Einer der
vielen Artikel, die in letzter Zeit über die komplizierte Si-
tuation Kaliningrads geschrieben wurden, bringt mit der
Frage, ob Kaliningrad nun ein „Hongkong am baltischen
Meer“ oder doch eine vergessene Exklave Russlands sei,
die zwiespältige Lage diese Gebietes auf den Punkt.
Auch wir sind aufgefordert, uns angesichts EU-Oster-
weiterung, NATO-Öffnung und NATO-Kooperation mit
Russland endlich Gedanken über den Status Kaliningrads
zu machen. Russland andererseits muss seiner Exklave an
der Ostsee, die mit der EU-Osterweiterung zur Enklave in
der EU werden wird, endlich Perspektiven aufzeigen.
Die Region hat ihre größten wirtschaftlichen Absatz-
märkte in Polen und Litauen. Zwischen diesen beiden EU-
Anwärterstaaten und Kaliningrad besteht seit zehn Jahren
Visumsfreiheit. Der kleine Grenzverkehr ist rege und ele-
mentar für die wirtschaftliche Entwicklung der Region.
Polen und Litauen streben aber im Zuge der NATO-Oster-
weiterung nachvollziehbar danach, die Schengener Ver-
einbarungen vor allem strikt umzusetzen und die Visums-
freiheit aufzuheben. Zwangsläufig wird dadurch eine
Lebensader Kaliningrads gekappt werden.
Wir müssen in enger Abstimmung mit Russland Lö-
sungen für die Region finden. Wir müssen dafür sorgen,
dass Investitionen nach Kaliningrad fließen können und
es teilhaben kann am wirtschaftlichen Wachstum des Ost-
seeraumes. BMW hat den Schritt nach Kaliningrad ja be-
reits gewagt.
Doch die Region steht noch vor zu vielen großen Pro-
blemen, die sie nicht alleine bewältigen kann. Kaliningrad
gehört mit zu den größten Umweltverschmutzern im Ost-
seeraum und hat noch heute zu kämpfen mit den Altlasten,
die die Rote Armee nach Ende des Kalten Krieges auf dem
Rückzug aus den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten
hinterlassen hat. Es hat die prozentual höchste Raten an
HIV-I- und Tuberkuloseinfektionen in Europa und orga-
nisierte Kriminalität, Korruption und Drogenmissbrauch
stellen den Kaliningrader Gouverneur Jegorow vor eine
sicherheitspolitische und administrative Aufgabe, die
schier nicht zu bewältigen ist. Der Lebensstandard der
Kaliningrader liegt 20 Prozent unter dem russischen
Durchschnitt; ein Drittel der Bevölkerung muss unterhalb
der Armutsgrenze leben. Kaliningrad ist abhängig von
Subventionen aus Moskau und muss selbst seine Grund-
versorgung an Rohstoffen, Energie, Wirtschaftsgütern
und Lebensmitteln durch Importe vor allem aus Russland,
aber auch aus den Nachbarstaaten, absichern.
Der Abstand Kaliningrads zu den künftigen EU-Staa-
ten in seiner Nachbarschaft darf nicht noch größer wer-
den. Kaliningrad hat eine viel versprechende Lage im
sonst prosperierenden Ostseeraum. Im Grunde bleibt ne-
ben der denkbar schlechtesten Lösung, nach der man die
künftige Enklave sich selbst überlässt, nur die Möglich-
keit, für die Region Kaliningrad einen Sonderstatus zu er-
reichen. Das ist vorrangig russische Aufgabe. Moskau
muss die Kaliningrader Administration von seinem Tropf
lassen, ihr Entscheidungskompetenzen überlassen und
den Status der Region aufwerten gegenüber dem Mutter-
land. Nur so kann auch ein innen- und sicherheitspoliti-
sches Klima geschaffen werden, das künftigen Investoren
entgegenkommt. Nur so kann sich Kaliningrad öffnen und
sich in den europäischen Wirtschaftsraum integrieren.
Natürlich werden die EU-Staaten ein solches Vorgehen
nach Kräften unterstützen. Russland aber muss nur die
Initiative ergreifen. Der NATO-Russlandrat und der Ost-
seerat unter russischem Vorsitz sind geeignete Gremien,
die regionale Anbindung Kaliningrads institutionell zu
verankern. Die Initiative hierfür aber muss von Russland
ausgehen. Die EU kann nur unterstützen. Denkbar ist ein
regionaler Sonderstatus für, Kaliningrad in Europa und
eine Zusammenarbeit nachdem Modell der Euregio.
Zum Abschluss möchte ich noch feststellen, dass heute
im Zusammenhang mit einer Öffnung Kaliningrads nie-
mand mehr von der Gefahr der Germanisierung spricht.
Andererseits mangelt es uns Deutschen immer noch an
der Unbefangenheit, von Kaliningrad als Königsberg zu
reden, so wie es die Franzosen tun, wenn sie mit Aix-la-
Chapelle Aachen und mit Ratisbonne Regensburg mei-
nen. Es geht hier ja nicht um Revanchismus. Wir sollten
unbefangener auch die Bezeichnung Königsberg verwen-
den für eine Stadt im heutigen Russland, deren Bewohner,
die Presse berichtet immer öfter davon, sich mehr und
mehr mit der deutschen Vergangenheit ihrer Heimat aus-
einander setzen und sie zur Kenntnis nehmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23637
(C)
(D)
(A)
(B)
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Während des Petersburger Dialogs Anfang April dieses
Jahres in Weimar wurden wir von unseren russischen Ge-
sprächspartnern im Arbeitskreis Politik mehrfach gefragt,
was denn unsere Position zur Zukunft Kaliningrads sei,
welche Konzepte wir vorschlagen würden. Wir konnten
nur antworten, eine gemeinsame Position hierzu gebe es
nicht. Jeder könne nur seine eigene Meinung vortragen.
Im Übrigen bestehe das Problem ja darin, dass Kalinin-
grad eine russische Enklave innerhalb der EU werden
würde, insofern bedürfe es einer Lösung, die zwischen der
EU und Russland gefunden werden müsse. Als Deutsche
würden wir es vorziehen, andere EU-Länder für uns spre-
chen zu lassen, wir seien als Deutsche da zu leicht Miss-
verständnissen ausgesetzt. Erst das Befremden unserer
russischen Gesprächspartner machte uns deutlich, dass zu
solcher Zurückhaltung kein Anlass besteht, dass man im
Gegensatz von uns Lösungen erwarte.
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir heute einen inter-
fraktionellen Antrag beschließen, der eine Reihe von sinn-
vollen Impulsen enthält, woraus allmählich ein Konzept
erwachsen kann.
Das Problem Kaliningrad besteht ja darin, dass es nach
der nächsten Erweiterung der EU von EU-Ländern umge-
ben sein wird, eine russische Exklave in der EU, umgeben
von einer Schengen-Grenze. Dessen Zukunft besteht
darin, dass es entweder ein von Russland abgetrenntes Ar-
menhaus werden könnte oder eine russisches Provinz,
prosperierend, weil die Wirtschaftsimpulse des Ostsee-
raums und der EU-Erweiterung zusammen mit der wach-
senden Dynamik der russischen Wirtschaft sich gerade
auf diese Provinz auswirken werden. Letzteres müssen
wir in jeder Weise fördern.
Natürlich haben die Älteren unter uns Erinnerungen,
vieles verbindet uns mit der Geschichte von Königsberg-
Kaliningrad. Ich erinnere; an die Gedichte Bobrowskis
oder die jüngeren Filme Volker Koepps über die „Kalte
Heimat“. Und doch: Die Zukunft liegt in der Öffnung die-
ses Gebiets als eines russischen Raumes, der teilhaben
kann an der Dynamik des Ostseeraums, der eine Brücke
sein kann zwischen Russland und der EU und damit auch
zwischen Russland und Deutschland.
Der Antrag nennt die vielfältigen Ebenen der Zusam-
menarbeit. Eine neue regionale Identität könnte sich hier
herausbilden. Die Kooperation auf der Ebene der Bun-
desländer und der Regionen in anderen Staaten kann dazu
beitragen, dass europäische Begegnung zur alltäglichen
Erfahrung vieler politischer Ebenen wird. Die Entwick-
lung der Zusammenarbeit auf der Ebene der NGOs ist da-
bei mir selbst ein besonderes Anliegen. Mit Vergnügen er-
innere ich mich an Gespräche in Berlin und in Moskau mit
Vertretern der Kaliningrader „Ekodefense“, die mit gro-
ßem Verantwortungsbewusstsein für den Umweltschutz
in Kaliningrad sich einsetzen.
Wir sehen gegenwärtig, wie durch das engere Zusam-
menrücken von USA, EU und Russland in der NATO eine
neue Sicherheitsstruktur unseres Kontinents entsteht. Wir
begrüßen das. Wir erkennen darin eine historische
Chance, aus den Schatten des 20. Jahrhunderts herauszu-
treten. Zugleich haben wir eine große Aufgabe vor uns,
deren Lösung noch kaum sichtbar ist. Im vorliegenden
Antrag weisen wir zu Recht auf die Auswirkungen der
Schengen-Regelungen auf Kaliningrad hin. Regelungen
müssen gefunden werden. Wie viel Erleichterungen bei
der Visa-Vergabe sind wir bereit zu geben, um die Errich-
tung einer neuen Mauer an der zukünftigen Grenze der
EU zu verhindern? Ich weiß, dass die Wahlerfolge von
Rechtspopulisten in Kernstaaten der EU uns alle darauf
verweisen, dass wir die Menschen in unseren eigenen
Staaten nicht überfordern dürfen. Und doch wünsche ich
mir eine ehrliche und öffentliche Diskussion darüber, wie
wir gerade die Schengen-Grenzen um Kaliningrad so
durchlässig machen können, dass sie die Bewegung der
dort lebenden Menschen zwischen ihrer Heimat Kalinin-
grad und Russland nicht behindern und zugleich auch ih-
nen den Weg zu uns öffnet. Vielleicht können wir diese
ehrliche und öffentliche Diskussion erst nach dem
22. September führen, obwohl sie vielleicht gerade im
Wahlkampf nötig wäre.
Dr. Werner Hoyer (FDP): Die heutige Debatte hätten
wir schon Anfang letzten Jahres führen können und
führen sollen. Damals, im Januar 2001, hat nämlich die
FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag vorgelegt, der bei
der Abfassung des heute zu behandelnden interfraktionel-
len Antrages ganz offensichtlich Modell gestanden hat.
Hätte sich die Regierungskoalition seinerzeit dazu durch-
ringen können, unseren Antrag zu unterstützen, dann hätte
die Bundesregierung Gelegenheit gehabt, die vielen darin
enthaltenen nützlichen Forderungen noch zu einem Zeit-
punkt umzusetzen, der hinsichtlich der bevorstehenden
Erweiterung von NATO und EU mehr Spielraum für die
Entwicklung eines tragfähigen Konzeptes zur Einbindung
der Exklave Kaliningrad in die europäischen Strukturen
gelassen hätte. Doch besser spät als nie. Deshalb haben
wir uns auch gern bereit erklärt, den interfraktionellen
Ansatz mitzutragen, wenngleich wir das Copyright schon
für uns beanspruchen. Doch auch hier gilt, dass das Ori-
ginal meist besser ist als die Kopie. Aus diesem Grunde
sind wir auch nicht bereit, unseren eigenen Antrag zurück-
zuziehen, der in einigen wichtigen Punkten noch weit
über den interfraktionellen Ansatz hinausgeht.
Zum Inhalt: Die bevorstehenden Erweiterungen der
Europäischen Union und der NATO stellt die Exklave
Kaliningrad vor eine Phase voller Herausforderungen und
Chancen. Mit der EU-Osterweiterung wird die Region
nicht nur zum Bindeglied zwischen Europa und Russland.
Sie gewinnt auch im Rahmen der „Nördlichen Dimen-
sion“ der EU eine besondere Bedeutung für den gesamten
Ostseeraum. Nach anfänglichem Zögern hat die neue
russische Regierung Konsequenzen aus der sich abzeich-
nenden Entwicklung gezogen und die Exklave zur Pilot-
region für die Entwicklung einer regionalen Zusammen-
arbeit mit der EU erklärt. Kaliningrad wird von Moskau
nicht nur als militärischer Vorposten betrachtet. Deutlich
erkennbar ist die Bereitschaft, dort ein liberales Wirt-
schaftsmodell in Verbindung mit Sonderbeziehungen zur
EU zu etablieren.
Bereits 1996 war das gesamte Kaliningrader Gebiet zur
Sonderwirtschaftszone erklärt worden, um Standort-
nachteile durch Steuer- und Zollvergünstigungen aufzu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223638
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wiegen. Mit Litauen und Polen wurde der visafreie Reise-
verkehr für Kaliningrader Bürger eingeführt. Die Einrich-
tung der Sonderwirtschaftszone hat angesichts einer un-
beweglichen Bürokratie, fehlender Investitionen und
öffentlicher Fördermittel, aber auch aufgrund von Kor-
ruption und Kriminalität bislang jedoch nicht zu dem er-
hofften Aufschwung geführt. Auch in diesen Punkten lei-
det die Exklave bis heute an ihrem sowjetischen Erbe. Die
wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme der
Region sind auch zwölf Jahre nach dem Umbruch in Mit-
tel- und Osteuropa enorm. Die Industrieproduktion ten-
diert gegen null, die Landwirtschaft liegt brach, Infra-
struktur und Logistik sind kaum entwickelt, Schifffahrt-
und Hafenbetrieb sind fast zum Erliegen gekommen, Le-
bensmittel, Rohstoffe und Energie werden aus Russland
oder den Nachbarländern eingeführt, die organisierte Kri-
minalität blüht.
Im Rahmen der bevorstehenden EU-Erweiterung müs-
sen daher dringend regional angepasste Lösungen gefun-
den und umgesetzt werden. Insbesondere die Gestaltung
des Schengener Abkommens an den Außengrenzen einer
erweiterten Union zur Exklave Kaliningrad stellt die eu-
ropäisch-russische Zusammenarbeit vor große Herausfor-
derungen. Falls keine Sonderregelung vereinbart werden
kann, werden die Kaliningrader nach dem EU-Beitritt Po-
lens und Litauens ein Visum beantragen müssen, wenn sie
das russische Hauptland auf dem Landweg besuchen wol-
len. Bereits jetzt behindern extrem lange Wartezeiten an
den Grenzen den Warenverkehr, wodurch die Attraktivität
des einzigen eisfreien russischen Ostseehafens weiter be-
einträchtigt wird. Neben der Visaproblematik würde nach
einem EU-Beitritt Polens und Litauens auch der regionale
Handel erheblich weiter erschwert werden, da Kalinin-
grad kaum in der Lage sein wird, technische und ökologi-
sche Normen der EU, etwa im Bereich der für die
Kaliningrader Wirtschaft wichtigen Fischverarbeitungs-
industrie, zu übernehmen. Ziel der gemeinsamen An-
strengungen muss es daher sein, die Exklave zu einer
Brücke Russlands nach Europa auszubauen. Kaliningrad
wird so zum Testfall für die zukünftige europäisch-russi-
sche Zusammenarbeit.
Die EU-Kommission hat dem Rat ein Diskussionspa-
pier über die künftige Gestaltung der Beziehungen zur
Exklave Kaliningrad zur internen Abstimmung vorgelegt.
Diskussionspapiere sind schön, machen aber nur dann
Sinn, wenn hieraus konkrete Strategien und Umsetzungs-
modelle entstehen. Nur so kann eine Isolierung der Re-
gion mit den daraus entstehenden Folgen für eine weitere
Verarmung, für Kriminalität, Waffenhandel und politische
Instabilität vermieden werden. Eine verstärkte Zusam-
menarbeit mit der Europäischen Union im Rahmen der
„Nördlichen Dimension“ und des Ostseerates bietet die
besten Voraussetzungen zur Intensivierung der wirt-
schaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen
Kaliningrads zu seinen Nachbarn und zum Abbau noch
vorhandenen Misstrauens. Die Bundesregierung ist ge-
fordert, hier eigene Initiativen zu entfalten.
Es ist offensichtlich, dass sich alle genannten Probleme
nur mit dem Einverständnis Moskaus lösen lassen. Die
russische Regierung muss daher eng in die Planungs-
prozesse auf allen Ebenen mit einbezogen werden. Hierzu
gehört auch die intensive Auseinandersetzung mit dem
von russischer Seite vorgeschlagenen „besonderen Ab-
kommen“ mit der Union sowie die Beteiligung Russlands
an der weiteren Verfolgung des vom EU-Rat in Feira be-
schlossenen „Aktionsplanes“ der „Nördlichen Dimen-
sion“ der EU.
Eine stärkere Anbindung an europäische Strukturen ist
jedoch nicht nur aus wirtschaftspolitischer Sicht dringend
geboten. Das Kaliningrader Gebiet wird nach der bevor-
stehenden NATO-Osterweiterung von der NATO-Grenze
umgeben sein. Entsprechend wird die strategische Bedeu-
tung Kaliningrads für Moskau weiter ansteigen. Dies be-
trifft auch die schwierige Frage des Transports von russi-
schen Militärgütern durch Litauen.
Vor dem Hintergrund der besonderen geschichtlichen
Verantwortung Deutschlands müssen die europäischen
Bemühungen zur Einbindung der Region Kaliningrad in
die europäischen Strukturen auch durch bilaterale Initiati-
ven ergänzt werden. Dies betrifft unter anderem ein stär-
keres Engagement für deutsche Investoren, den Ausbau
und Erhalt der Bahnstrecke Königsberg–Berlin, Univer-
sitäts- und Schulpartnerschaften wie auch Maßnahmen
zur Förderung des Deutsch-Russischen Hauses in Kali-
ningrad und zur Unterhaltung der deutschen Soldaten-
friedhöfe. 1250 km von Moskau und nur 600 km von Ber-
lin entfernt gelegen, könnte sich Kaliningrad zur
Drehscheibe für Handel und Transport zwischen Russ-
land und der erweiterten Union und zum Bindeglied zwi-
schen Russland und NATO im Rahmen eines gemeinsa-
men europäischen Sicherheitsraumes entwickeln. Doch
es muss schnell gehandelt werden.
Dr. Klaus Grehn (PDS): Der vorliegende Antrag zu
einem wichtigen Problem der europäischen Politik – der
Einbindung der russischen Region Kaliningrad in die
EU-Osterweiterung – kann ein positiver Beitrag des Deut-
schen Bundestages zur Intensivierung der Beziehungen
zu Russland und für das Wohl aller europäischen Völker
sein. Leider nicht zum ersten Mal wurde bei diesem ge-
meinsamen Antrag von vier Fraktionen dieses Hauses
eine Verständigung mit der PDS nicht gesucht.
Zweifellos spielt für Russland die Gewährleistung der
Sicherheit in den Beziehungen zur EU eine zentrale Rolle
und es ist zu begrüßen, dass die deutsche Russland-Poli-
tik dies zunehmend in Rechnung stellt. Auch und gerade
in den wünschenswerten Gesprächen und Verhandlungen
der EU mit Russland um die Perspektiven der Region Ka-
liningrad muss das beachtet und verstanden werden. Die
russischen sicherheitspolitischen Aspekte kreuzen sich
mit wirtschaftspolitischen in durchaus überregionaler Di-
mension. In der Region ist ein Truppenkontingent von
70 000 Mann stationiert, der Hafen von Kaliningrad ist
eisfrei. Die Region Kaliningrad hat circa 1 Million Ein-
wohner und liegt nach dem BIP an 57. Stelle der 89 Re-
gionen Russlands. Die gemeinsame Grenze zu Polen und
Litauen ist 400 Kilometer lang und hat drei Grenzüber-
gänge. Für Russland ist die Sicherung des freien Zugangs
zu seiner Enklave von zentraler Bedeutung. Dies betrifft
neben dem ungehinderten Land- und Luftverkehr auch
den freien Verkehr von Personen von und nach Kalinin-
grad. Der vorliegende Antrag stellt richtig heraus, dass mit
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dem Eintritt vor allem Polens und Litauens in die EU un-
ter den Bedingungen des Schengener Abkommens erheb-
licher Regelungsbedarf für dieses Problem entstehen
wird. Die hier vorgeschlagenen Regelungen gehen in die
richtige Richtung und werden später auch zum Beispiel in
den Beziehungen zur Ukraine und Belorussland Beispiel-
funktion haben, wenn Polen der EU beigetreten sein wird.
Ebenfalls unterstützen wir die Forderung des Antrages,
Polen und Litauen auch schon vor ihrem Beitritt zur EU
in alle die Regelungen einzubeziehen, die mit der Enklave
Kaliningrad zu tun haben. Der europäische Integrations-
prozess kann einen ganz besonderen Beitrag dazu leisten,
dass historisch bedingte und leider immer noch vorhan-
dene Ressentiments zwischen den baltischen Völkern,
Polen und Russland abgebaut werden.
Wir begrüßen bei dem Antrag ganz besonders, dass er
frei ist von ,,besonderen deutschen Interessen“ und damit
Tendenzen des in manchen deutschen Kreisen vorhande-
nen Revanchismus eine Absage erteilt wird. Nicht ganz
ausgewogen ist hingegen die Begründung und Verant-
wortungszuteilung für den gegenwärtigen Zustand der
Region. Hier allein den Schlüssel bei Russland zu suchen,
ist historisch wenig gerecht, den zu lösenden – und im An-
trag ja auch benannten – Aufgaben dient diese einseitige
Schuldzuweisung wenig. So richtig es ist, von Russland
die Bereitschaft zu gemeinsamen Anstrengungen zu ver-
langen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen, so
falsch wäre das Warten oder das Drängen auf russische
Vorleistungen. Schließlich ist es vor allem die Erweite-
rung der EU und die entsprechenden Visaregelungen, die
zunächst einmal Probleme bereiten. Russland hat zudem
zu beachten, dass die Schaffung besonderer Bedingungen
für Teile seines nach dem Zweiten Weltkrieg hinzuge-
kommenen Territoriums einen Präzedenzfall schafft, und
es ist zu respektieren, dass manches Notwendige nur zö-
gerlich erkannt wird. Zudem wird die russische Bevölke-
rung in den baltischen Staaten mit deren Beitritt zu EU-
Bürgern und das ist für Russland ein ganz neues auch
innenpolitisches Problem.
Alles in allem ist es wünschenswert, dass die Bundes-
regierung die in dem Antrag genannten Forderungen mit
Leben erfüllt und zielstrebig in Angriff nimmt.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Intensivierung der Beziehungen zwischen der
Europäischen Union, Latainamerika und der
Karibik
– Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad
(Tagesordnungspunkt 16, Zusatztagesordnungs-
punkt 18)
Lothar Mark (SPD): Unsere Beziehungen zu Latein-
amerika und der Karibik sind gut, so gut sogar, dass sie
– wenig spektakulär und vergleichsweise geringen Kon-
fliktstoff bergend – in der Öffentlichkeit kaum wahrge-
nommen werden. Lateinamerika steht somit aus nachvoll-
ziehbaren Gründen nicht im Mittelpunkt der deutschen
Außenpolitik. Und trotzdem müssen wir unsere Aufmerk-
samkeit verstärkt und nachhaltig dem lateinamerikani-
schen Subkontinent zuwenden.
Wenn am kommenden 17. und 18. Mai in Madrid die
Staats- und Regierungschefs der europäischen, lateiname-
rikanischen und karibischen Länder zu ihrem zweiten
Gipfel zusammenkommen, werden nur wenige wirkliche
Differenzen in den biregionalen Beziehungen zu verhan-
deln sein. Lateinamerika steht uns so nahe wie keine an-
dere Weltregion.
Madrid knüpft an den ersten Gipfel dieser Art 1999 in
Rio de Janeiro an. Hier haben sich Lateinamerika, die
Karibik und Europa zu einer strategischen Partnerschaft
bekannt. Sie ist sichtbarer Ausdruck der unsere Regionen
verbindenden Werte- und Interessengemeinschaft.
In Madrid soll nun das Erreichte der Rio-Deklaration
bewertet, diese Partnerschaft weiter verstetigt und ausge-
baut werden. Man wird zu Recht feststellen, dass seit Rio
einiges erreicht ist. Seither wurde der biregionale Dialog
zu vielen Themen auf der politischen Agenda, wie zum
Beispiel auf den Gebieten Sicherheit, Drogenbekämp-
fung, Ausbau der Demokratie, Sicherung der Menschen-
rechte oder nachhaltige Entwicklung vertieft. Ich möchte
des Weiteren das im Juli 2000 in Kraft getretene Freihan-
delsabkommen EU Mexiko und das seit Oktober 2000
geltende Globalabkommen EU Mexiko erwähnen, das
übrigens das erste Abkommen der EU dieser Art weltweit
ist. Ebenso konnten in Rio die Weichen für den Abschluss
ähnlicher Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur
und Chile gestellt werden. Die an sich parallel angelegten
Verhandlungen konnten mit Chile schneller vorange-
bracht werden, sodass erfreulicherweise die Unterzeich-
nung am Rande der Madrid-Konferenz erfolgen soll.
Hier ist also vieles in Bewegung gekommen; ich werde
aber später noch darauf eingehen, dass diese auch an ei-
nigen Stellen stockt.
Auf nationaler Ebene ist Lateinamerika ebenfalls wie-
der etwas stärker ins Blickfeld getreten: Diese „neue Auf-
merksamkeit“, die seitens der Regierung und auch von
uns Parlamentariern dem Subkontinent beigemessen
wird, ist außerordentlich zu begrüßen. Die Reisen von
Bundeskanzler Schröder und Bundesminister Fischer An-
fang dieses Jahres in die Region wurden dort als deutli-
ches Signal aufgenommen.
Jetzt gilt es, diese positiven Ansätze zu nutzen. Denn bei
allem Optimismus müssen wir zugeben, dass unser bishe-
riges Engagement in und für Lateinamerika und die Kari-
bik noch deutlich ausgebaut werden könnte und müsste.
Das Potenzial für eine dichtere, für beide Regionen frucht-
bare Zusammenarbeit ist immens; es muss aber auch aus-
geschöpft werden. Wenn dies gelingt, so meine ich, zeitigt
diese Region mit dem geringsten Einsatz die im Vergleich
größten Erfolge. Der Beschluss von Rio, eine strategische
Partnerschaft anzustreben, erfolgte unter deutscher EU-
Präsidentschaft. Deswegen haben wir eine besondere Ver-
antwortung für den Folgeprozess und müssen uns bemü-
hen, diesen noch stärker mit Leben zu füllen.
Das Europaparlament ist hierbei vorbildlich voran-
gegangen: Schon Ende letzten Jahres hat es eine um-
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fangreiche Entschließung zum anstehenden Gipfel ver-
abschiedet – Titel: „Entschließung des Europäischen Par-
laments zu einer globalen Partnerschaft und einer ge-
meinsamen Strategie für die Beziehungen zwischen der
Europäischen Union und Lateinamerika“. Der vorlie-
gende Antrag möchte die darin ausgesprochenen Feststel-
lungen und Forderungen aus deutscher Perspektive be-
kräftigen. Im Gegensatz zum Antrag der PDS-Fraktion
vom 15. März 2002 mit dem Titel: „Partnerschaftliche Be-
ziehungen zu Lateinamerika festigen und ausbauen“ soll
er der gesamten Bandbreite der Beziehungen zwischen
unseren beiden Regionen gerecht werden.
Lassen Sie mich daher kurz auf einige Einzelbereiche
eingehen:
Die Europäische Union ist in wirtschaftlicher Hinsicht
der zweitwichtigste Handelspartner und Investor in La-
teinamerika und der Karibik. Sie ist insgesamt der bedeu-
tendste entwicklungspolitische Partner und zudem wich-
tigster Wirtschaftspartner des Mercosur. Diese bestehende
enge Kooperation kann allerdings nicht über die Tatsache
hinwegtäuschen, dass sich der lateinamerikanische Sub-
kontinent wirtschaftlich immer stärker auf seinen großen
nördlichen Nachbarn, die USA, ausrichtet. Bis 2005 wol-
len die Vereinigten Staaten mit den einzelnen Ländern ein
gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen vereinbart
haben.
Die Handelsströme zwischen der EU und Lateiname-
rika dagegen nehmen ab. 1990 bezogen Lateinamerika und
die Karibik noch 20,9 Prozent ihrer Gesamtimporte aus der
EU, 1999 waren es nur mehr 15,8 Prozent. Die entspre-
chenden Exportanteile haben sich noch ungünstiger ent-
wickelt: Sie sanken im selben Zeitraum von 23,9 Prozent
auf 11,7 Prozent.
Bei den Investitionen kann zwar eine Zunahme des eu-
ropäischen Engagements in Lateinamerika konstatiert
werden, bedauerlicherweise erfolgt dies aber derzeit fast
auf einer Einbahnstrasse. Von Lateinamerika nach Europa
ist nur eine relativ geringe Investitionstätigkeit zu ver-
zeichnen. Gleichzeitig scheint es mir an dieser Stelle
wichtig darauf hinzuweisen, dass die deutsche Wirtschaft
in der Vergangenheit nicht in gleicher Weise an der dyna-
mischen Wirtschaftsentwicklung in Lateinamerika parti-
zipiert hat wie andere EU-Mitgliedstaaten. Um gerade im
wirtschaftlich interessantesten Integrationsraum, dem
Mercosur, nicht an Boden zu verlieren, halte ich einen
schnellen Abschluss des Assoziierungsabkommens EU
Mercosur für unbedingt erforderlich. Mittelfristig sollten
wir aber auch den Abschluss entsprechender Abkommen
mit der Andengemeinschaft und Zentralamerika nicht aus
den Augen verlieren.
In diesem Zusammenhang muss nun ein zentraler Kon-
fliktpunkt, der zu großen Teilen einen zügigen Abschluss
des EU Mercosur-Abkommens bisher verzögert hat, an-
gesprochen werden: Wie halten wir es mit der Handels-
liberalisierung im Agrarbereich? Wie nicht anders zu er-
warten, wird die Agrarfrage insbesondere wegen der
Blockade einiger EU-Mitgliedsländer auch auf dem
Madrid-Gipfel von den lateinamerikanischen Teilneh-
mern als prioritäres Thema angesprochen werden. Und in
der Tat müssen wir Europäer uns fragen lassen, warum
wir unseren massiv geschützten Agrarmarkt nicht stärker
für lateinamerikanische Produkte öffnen. Im Interesse der
Fortentwicklung der gemeinsamen Handelsbeziehungen
sollten wir, wie ich meine, den lateinamerikanischen Län-
dern besonders in den Segmenten eine Chance geben, in
denen die meisten von ihnen international wettbewerbs-
fähige Produkte anbieten. Denn nachhaltige wirtschaft-
liche Prosperität und soziale Stabilität sind auf das Engste
miteinander verknüpft. Und ohne eine deutliche Verbes-
serung der sozialen Situation in vielen lateinamerikani-
schen und karibischen Ländern werden auch Demokratie
als politisches und Marktwirtschaft als ökonomisches
Ordnungsmodell an Akzeptanz verlieren.
Lateinamerika ist noch immer die weltweit am stärks-
ten von sozialen Disparitäten gekennzeichnete Region.
Trotz erheblicher Fortschritte im wirtschaftlichen Reform-
prozess hat sich die Armutsschere in der vergangenen
Dekade weiter geöffnet. Im Zuge einer stärker präventiv
ausgerichteten Außenpolitik sollten wir solche Entwick-
lungen aufmerksamer beobachten und mit größerer Ener-
gie dagegensteuern. Dies ist auch – aber eben nicht aus-
schließlich – eine Aufgabe, die im Wege verstärkter
entwicklungspolitischer Anstrengungen unsererseits ge-
löst werden muss.
Diese Zusammenhänge werden nicht nur durch die ak-
tuellen besorgniserregenden Entwicklungen in Argenti-
nien und Venezuela eindrücklich belegt. Auch in der An-
denregion, Teilen Zentralamerikas und der Karibik droht
eine Destabilisierung. Umfragen zeigen, dass in einigen
lateinamerikanischen Ländern das Vertrauen in die demo-
kratischen Institutionen in alarmierendem Ausmaß
abnimmt. Wir müssen feststellen, dass etliche lateiname-
rikanische Demokratien nicht so solide sind, wie wir ge-
hofft hatten.
Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang auch kurz
auf den akutesten sicherheitspolitischen Brennpunkt La-
teinamerikas einzugehen, den Jahrzehnte andauernden be-
waffneten Konflikt in Kolumbien. Ich denke, dass sich an
diesem Beispiel deutlich zeigt, dass der dominante, mi-
litärische Politikansatz der USA in eine Sackgasse führt.
Hier müssen wir meiner Ansicht nach – im Rahmen der
EU – deutlicher eine eigenständige Strategie vertreten, die
auf Deeskalation und zivile Lösung des Konflikts setzt.
Nur auf diese Weise scheint mir ein Flächenbrand in der
Andenregion zu verhindern zu sein.
Europa und Deutschland haben ein vitales Interesse an
starken, handlungsfähigen Partnern. Denn die große He-
rausforderung unserer Zeit, die Globalisierung politisch
zu gestalten, läßt sich nur gemeinsam meistern. Kleine
Fortschritte bei der Lösung globaler Fragen werden nur
durch einen zäh errungenen Konsens aller Beteiligten er-
zielt.
Ich habe heute schon einmal betont, dass wir solche
verlässlichen Partner gerade in Lateinamerika und der
Karibik finden. Beide Regionen fühlen sich dem Konzept
des Multilateralismus verpflichtet und leisten dadurch ei-
nen wichtigen Beitrag zu einer globalen Kooperations-
kultur. Daher, so finde ich, sollten künftig verstärkt ge-
meinsame Initiativen auf globaler Ebene von unseren
Regionen ausgehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23641
(C)
(D)
(A)
(B)
Angesichts der zahlreichen drängenden Problemkom-
plexe auf der weltpolitischen Agenda bieten sich die unter-
schiedlichsten Bereiche für eine solche Zusammenarbeit
an: Umwelt- und Klimaschutz, Biodiversität, Menschen-
und Sozialrechte, Rüstungskontrolle, internationales Straf-
recht, Drogenbekämpfung, innere und äußere Sicherheit.
Diese Aufzählung deutet nur an, dass die Zusammenarbeit
in internationalen bzw. supranationalen Foren als einer der
Aktivposten der Beziehungen zwischen Europa und La-
teinamerika auszumachen ist.
Aus diesem Grund sollte uns auch daran gelegen sein,
dass die verschiedenen Integrationsbestrebungen in La-
teinamerika und der Karibik erfolgreich weiter betrieben
werden und zu starken regionalen Blöcken führen. Auch
auf diesem Feld verbinden unsere beiden Regionen ge-
meinsame Erfahrungen und Hoffnungen.
Ich möchte abschließend zum Bereich der kulturellen
und wissenschaftlichen Kooperation im weiteren Sinne
kommen. Hier zeigt sich am deutlichsten der Charakter
der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen als ein
„von unten“ getragenes System. Mit keiner anderen Welt-
region unterhält Europa bzw. Deutschland ein solch dich-
tes Kooperationsnetzwerk unterhalb der staatlichen
Ebene. Die Fülle von Kontakten im Rahmen der Kirchen,
politischen Stiftungen, Gewerkschaften oder anderen
Nichtregierungsorganisationen spiegelt die enorme Sym-
pathie beider Seiten füreinander wider.
Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, son-
dern auch in kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht
sind Lateinamerika und die Karibik für Europa eine
Wachstumsregion. Hier ergeben sich interessante, zu-
kunftsweisende Kooperationsbereiche: bei der Frage bei-
spielsweise, wie unsere Regionen den Übergang zur In-
formationsgesellschaft bewerkstelligen oder bei der
Diskussion über unsere kulturelle Identität im Kontext der
Globalisierung.
Auch ein solches Netzwerk muss institutionell veran-
kert sein und von staatlicher Seite Unterstützung erfahren:
Dies kostet Geld, aber dies ist gut investiertes Geld, wenn
wir nicht wollen, dass die zukünftigen lateinamerikani-
schen Eliten sich ausschließlich in Richtung USA orien-
tieren. Europa läuft in der Tat Gefahr, seine Anziehungs-
kraft als intellektuelles Zentrum zu verspielen. Es wächst
eine Generation von Absolventen heran, für die ein Ab-
schluss in Harvard oder Berkeley die bessere Eintrittskarte
ist als der einer europäischen Universität. Um diesem
Trend zumindest entgegenzuwirken, scheinen mir ver-
schiedene Maßnahmen angezeigt, darunter eine deutliche
Erhöhung der Stipendien und die Einrichtung eines euro-
päischen Zentrums für Lateinamerika-Studien. Angesichts
knapper öffentlicher Kassen muss freilich der Mittelein-
satz zielgerichtet nach effizienten Kriterien erfolgen.
Die Koalitionsfraktionen weisen mit dem vorliegenden
Antrag meiner Ansicht nach in die richtige Richtung, näm-
lich einen qualitativen Schritt vorwärts zu einer fruchtba-
ren strategischen Partnerschaft mit Lateinamerika und der
Karibik.
Abschließend noch wenige Worte zum ebenfalls zu be-
ratenden Antrag „Hilfe für die Opfer der Colonia Dig-
nidad“. Es geht darum, die Menschenrechtsverletzungen
in der südchilenischen Kolonie wirksam abzustellen und
den Opfern der Sekte zu helfen.
Der Antrag ist in erster Lesung im November des ver-
gangen Jahres eingebracht worden. Diese Initiative wurde
in der chilenischen Öffentlichkeit überwiegend sehr posi-
tiv aufgenommen. Die chilenische Regierung hat die
darin gemachten Angebote als „deutsches Interesse, das
die Zeit überdauert hat“, gewürdigt.
Im Rahmen seiner eingangs erwähnten Reise nach
Chile Anfang dieses Jahres hat Bundesminister Fischer
der chilenischen Regierung deutsche Hilfe bei der Straf-
verfolgung im Zusammenhang mit Colonia Dignidad zu-
gesagt. Ich glaube, durch diesen Antrag sind bereits jetzt
entscheidende Schritte angeregt worden. Daher bin ich
sehr hoffnungsvoll.
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden acht neue
Klagen wegen Kindesmissbrauch gegen Mitglieder der
Führungsclique eingereicht. Es sind insgesamt über 70
Prozesse gegen diese anhängig.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass den Menschen in
der Kolonie noch immer nicht wirkungsvoll geholfen
werden konnte. Seit der ersten Lesung hat es weitere un-
geklärte Todesfälle gegeben. Es spricht auch nichts dafür,
dass sich die menschenunwürdigen Zustände in der Colo-
nia Dignidad seitdem wesentlich gebessert hätten.
Noch immer ist Schäfer nicht gefasst. Die gegen ihn
anhängigen Verfahren sind von der chilenischen Justiz vor
kurzem vorübergehend eingestellt worden, ohne aller-
dings den Haftbefehl gegen ihn aufzuheben.
Hieran ist erkennbar, wie groß die Gefahr einer Ver-
schleppung der Fälle ist. Das Erpressungspotenzial der
Colonia Dignidad in der chilenischen Gesellschaft scheint
noch immer bedeutend zu sein. Daher müssen politische
Signale ausgesendet werden. Wir werden deshalb im
Nachgang zum vorliegenden Antrag verstärkt die Zusam-
menarbeit mit der chilenischen Seite auf parlamentari-
scher Ebene suchen.
Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Heute geht es um
das Verhältnis zwischen der EU und Lateinamerika. Ich
muss leider feststellen, dass wir Europäer Lateinamerika
im letzten Jahrzehnt etwas aus den Augen verloren haben,
obwohl gerade wir den Kontinent sprachlich wie kulturell
maßgeblich geprägt haben.
In den 70er- und 80er-Jahren gingen noch Tausende
von Menschen in Deutschland für den Freiheitskampf in
Lateinamerika, vor allem in Chile, Argentinien, Nicara-
gua und anderen Ländern, auf die Straße.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung gen
Osten änderten sich aber die Prioritäten vor allem bei uns
in Deutschland. Europa hörte nicht mehr am Eisernen
Vorhang auf, sondern ein Riesentor öffnete sich. Die po-
litische und wirtschaftliche Integration und Erweiterung
der EU nach Osten ist das Thema schlechthin in den letz-
ten Jahren und bindet leider viele Kräfte, sodass wir uns
mehr mit uns selbst und unserer neuen Rolle in der glo-
balisierten Welt beschäftigen müssen. Diese Neuorientie-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223642
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rung muss natürlich geschehen, denn wir wissen, nur ein
starkes Europa kann in einer globalisierten Welt vorne
mitspielen. Aber gerade deshalb ist es nicht minder wich-
tig, die Beziehungen zu außereuropäischen Märkten und
Regionen neu zu definieren und aufzubauen.
Sicher haben wir in Lateinamerika noch nicht überall
gefestigte demokratische Strukturen. Korruption und Filz
alter Machteliten bestimmen immer noch vielerorts die
Politik. Aber die einfachen Menschen sind sich ihrer
Macht zusehends bewusst und machen von ihren Grund-
rechten Gebrauch.
So hat sich die Qualität der Auseinandersetzungen in
Lateinamerika verändert. Die Menschen möchten stärker
an Wohlstand und Freiheit partizipieren und gehen heute,
wie in Argentinien, wegen des drohenden Verlustes ihrer
Ersparnisse auf die Straße. Wenn die Regierung Duhalde
25 Prozent der Verwaltung und auch der politischen Man-
date auf allen Ebenen streicht, zeigt dies doch den Re-
formdruck, aber auch die Fähigkeit, endlich zu handeln,
und die Steuerschulden anzugehen.
Erst 1999 beim Gipfeltreffen in Rio wurde der Faden
zwischen der EU und Lateinamerika wieder geknüpft. Es
wurde beschlossen, die Beziehungen zwischen EU und
den Staaten Lateinamerikas und der Karibik wieder auf-
zufrischen und zu intensivieren. Damals hatte dieser Gip-
fel unter der EU-Präsidentschaft der Bundesrepublik
Deutschland stattgefunden und Deutschland war damals
sehr daran interessiert gewesen, die vereinbarten Emp-
fehlungen und Ziele zu erreichen.
Es geht uns immer noch darum, eine engere Zusam-
menarbeit zwischen Europa und Lateinamerika zu erzie-
len, und zwar nicht nur auf politischer und wirtschaftli-
cher, sondern auch auf kultureller Ebene. Leider ist
seitdem nicht viel umgesetzt worden, wie in Ihrem Antrag
richtig bemerkt worden ist. Deutschland konnte sich in
der EU nicht durchsetzen.
Dieser Tage findet in Madrid das zweite lateinameri-
kanisch-europäische Gipfeltreffen statt. Es wird für alle
Beteiligten nicht einfach sein; denn die Situation hat sich
nach 1999 stark verändert: Da haben wir zum einen eine
wirtschaftliche Schieflage in Europa und zum anderen,
was viel gravierender ist, befinden sich viele Länder La-
teinamerikas ebenfalls in einer schwierigen wirtschaft-
liche Krise, siehe Venezuela, Kolumbien oder Argenti-
nien. Damit schwinden langsam die Hoffnungen von
1999 und die Agenda bleibt wenig konkret.
Der bevorstehende Gipfel in Madrid bietet Koopera-
tionen, die alle Beteiligten ernst nehmen sollten, denn in
einer Welt nach dem 11. September sind politische und
wirtschaftliche Zusammenschlüsse wichtiger denn je.
Bisher, vor allem nach dem 11. September, streben wir
nach noch engeren Beziehungen zu den USA. Aber auch
die Osterweiterung, Osteuropa, die Balkanstaaten, der
Frieden im Nahen Osten und die Maghreb-Staaten stehen
jetzt im Mittelpunkt der derzeitigen außen- und sicher-
heitspolitischen Interessen in Europa. Wir dürfen dabei
aber die Staaten in Lateinamerika nicht vergessen; sie
müssen ebenfalls in unser Kooperationsgeflecht mit ein-
bezogen werden.
Es ist an uns, dies jetzt in Madrid anzupacken. Es geht
dabei um eine Intensivierung des politischen Dialogs, was
die Sicherheit nach außen und nach innen angeht, das
heißt um die Unterbindung von illegalen Drogen, eine
Verbesserung der Sozialstandards, um Bioethik und um
eine nachhaltige Umwelt- und Klimapolitik. Es geht um
die technologische Kooperation und Informationsgesell-
schaft und um den kulturellen und wissenschaftlichen
Austausch zwischen EU und Lateinamerika.
Ich beginne mit dem politischen Dialog und der Sicher-
heitspolitik: Wir als EU sind zurzeit damit beschäftigt, eine
effiziente Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu
schaffen. Aber auch Lateinamerika setzt große Akzente für
eine Außen- und Sicherheitspolitik. Dies wäre zum Bei-
spiel ein wichtiger Ansatzpunkt für einen gemeinsamen
Erfahrungsaustausch. Die organisierte Kriminalität sowie
das Drogenproblem können nur global bekämpft werden.
Beim Kampf gegen die Drogenkartelle gibt es eine Reihe
von Ansätzen, den einfachen Coca-Bauern Alternativen
zum Drogenanbau anzubieten. Jedoch sind die Erträge zu
niedrig, als dass sie die meisten Bauern überzeugen wür-
den. Auch hier stoßen wir auf weitere Schwierigkeiten in
unserer Argumentation, den Drogenhandel durch Alterna-
tivprodukte zu unterbinden. Wir müssen dann nämlich
auch unsere Märkte für diese Produkte öffnen und dürfen
unsere Märkte nicht durch Schutzzölle abschotten, wie
dies jahrelang im Bananenstreit geschehen ist. Welchen
Anreiz sollen die Bauern denn haben, wenn sie ihre Pro-
dukte nicht verkaufen können?
Während die USA Polizei und Militäreinheiten in Ko-
lumbien gegen Terroristen und Drogenkartelle zum Ein-
satz bringen, stellt sich die Frage, was wir Europäer dies-
bezüglich unternehmen. 6 000 Entführungen und über
30 000 Morde im Jahr in Kolumbien lassen uns anschei-
nend unbeirrt, obwohl dies mehr Opfer sind als der Ju-
goslawienkonflikt zu verantworten hatte. Ich frage mich,
wo hier unser Konzept zur Befriedung bleibt. Wir sollten
nicht verkennen, dass bei solchen instabilen Verhältnissen
die Gefahr von Flächenbränden groß ist. Auch unsere Un-
ternehmen und deren Mitarbeiter sind davon betroffen.
Die Kriminalitätsquote ist in den meisten südamerika-
nischen Ländern nach wie vor extrem hoch. Ursachen
sind sicher die sozialen Verhältnisse vieler Länder und die
hohe Arbeitslosigkeit und Inflation. Hier müssen wir über
die Weltbank und vielleicht auch zunehmend über die
EZB währungspolitische Hilfe anbieten, damit die Infla-
tion nicht die Ersparnisse der kleinen Leute auffrisst mit
den Folgen einer sozialen Verelendung und einer zuneh-
menden Kriminalität.
Das europäische Integrationsmodell der EU kann
ebenfalls als Vorbild und somit als attraktives Konzept für
die Staaten Lateinamerikas dienen. Die schlechte Ein-
kommensverteilung in Lateinamerika könnte stark von ei-
nem sozialen Mindeststandard profitieren und so den of-
fenen Dialog untereinander fördern.
Die Vereinheitlichung der Sozialmaßstäbe nach EU-
Vorbild sollte von uns entsprechend gefördert und voran-
getrieben werden. Denn nach wie vor herrschen sehr
große soziale Unterschiede in den einzelnen Ländern La-
teinamerikas. Während beispielsweise der Anteil der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23643
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armen Bevölkerung in Chile von 42 Prozent auf 20 Pro-
zent gesunken ist, beträgt der Anteil der Armen in vielen
Ländern nach wie vor über 50 Prozent. Gerade das Bei-
spiel Chile zeigt, dass eine solide, marktwirtschaftlich ori-
entierte Wirtschaftspolitik, die auf einer soliden Haus-
haltsführung und einer ausgeglichenen Steuerpolitik
beruht, das beste Entwicklungsrezept ist. Die Inflation
liegt in Chile unter 3 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei rund
10 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 12 400 US-
Dollar das höchste des Kontinents. Was Chile bisher ge-
schafft hat, könnte auch für die anderen lateinamerikani-
schen Staaten beispielhaft sein.
Anders als in den 70er- und 80er-Jahren, als aufgrund
der politischen Umstände viele Intellektuelle Zuflucht in
Europa gefunden haben, suchen die lateinamerikanischen
Eliten heute zunehmend den Weg in die USA und werden
dort ausgebildet. Damit ist der kulturelle und wissen-
schaftliche Austausch von EU zu Lateinamerika rückläu-
fig. Unsere Universitäten bieten wenig Attraktivität, die
Bildungskassen sind leer, die Hörsäle sind überfüllt und
die Studienzeiten viel zu lang. Dies ist ein Ergebnis einer
gescheiterten Bildungspolitik der Sozialdemokraten. Da-
ran wird auch das neue Hochschulrahmengesetz der Ko-
alition nicht viel ändern.
Aber nicht nur die lateinamerikanischen Eliten drängt
es in die USA, sondern auch Wirtschaftsflüchtlinge und
Arbeitsmigranten zieht es dorthin. Dadurch ist Spanisch
gerade in den südlichen US-Bundesstaaten mittlerweile
schon die zweite Amtssprache geworden. Andererseits
verfügen wir mit unseren EU-Partnern Spanien und Por-
tugal über klassische Brückenköpfe mit entsprechendem
kulturellen und sprachlichen Know-How, das vielmehr
auch zugunsten der anderen EU-Partner genutzt werden
sollte.
Nicht zuletzt durch die intensive Arbeit, insbesondere
auch der deutschen politischen Stiftungen – beispielhaft
möchte ich hier natürlich die Konrad-Adenauer-Stiftung
nennen –, gelang es in vielen Ländern, die Militärdiktatu-
ren durch frei gewählte Parlamente abzulösen. Wenn in
dem vorliegenden Antrag die Intensivierung der zivilge-
sellschaftlichen Beteiligung der politischen Stiftungen
und die Förderung der politischen Eliten durch eine Er-
höhung der Stipendien gefordert wird, steht dies diametral
dem neuen Haushaltsansatz der Regierung für das Jahr
2003 entgegen, in dem der Zuschuss für Stiftungen von
11,2 Millionen Euro auf 2,8 Millionen Euro gekürzt wer-
den soll.
Im Bereich Umweltschutz müssen die Staaten in La-
teinamerika ihre Umweltprobleme ernst nehmen und ihre
Ressourcen schützen. Das Bewusstsein für die Lebens-
notwendigkeit der Erhaltung des tropischen Regenwaldes
fehlt in vielen Regionen. Hier ist eine Sensibilisierung der
Bevölkerung notwendig.
EU-Projekte, die die Regenwälder bewahren, sind da ein
Vorbild und müssen fortgesetzt werden. Da ist der Schutz
des brasilianischen Regenwaldes zu nennen, der mithilfe
eines europäischen Pilotprojektes gerettet werden soll.
Deutschland ist der größte Beitragszahler dieses Pilotpro-
jektes mit der Übernahme von 43 Prozent der Kosten in
Höhe von insgesamt 350 Millionen US-Dollar. Lateiname-
rika muss für den Klimaschutz sensibilisiert werden und da
ist die EU ein guter Partner bei der Einhaltung und Weiter-
entwicklung der Klimakonventionen. Aber gerade in die-
sem Bereich hätten wir von dem grünen Koalitionspartner
mehr Akzente und Engagement erwartet.
Wirtschaftlich gesehen ist die lateinamerikanische Si-
tuation zurzeit sehr angeschlagen. Ich erinnere nur an die
schwierige Lage Argentiniens und Venezuelas. Deutsche
Direktinvestitionen und der Außenhandel mit Lateiname-
rika und dem Mercosur sind in den letzten Jahren zurück-
gegangen, obwohl zum Beispiel gerade das Engagement
deutscher Firmen, und ich möchte ausdrücklich betonen:
auch mittelständischer Unternehmen – in Brasilien in die-
ser hohen Anzahl einzigartig ist. Davon konnten wir uns
bei der Südamerikareise des Bundeskanzlers vor wenigen
Wochen vor Ort überzeugen. Dies bezieht sich nicht nur
auf die wirtschaftlichen Investitionen in Brasilien, son-
dern gleichzeitig auf die sozialen Standards, die dort ge-
setzt werden, sowie auf das ökologische Engagement, das
viele Firmen dort freiwillig setzen.
Eine Wirtschaftskooperation mit EU und Mercosur ist
kein einseitiges europäisches Ziel. Die Staaten des Mer-
cosur brauchen ebenfalls die strategische Kooperation mit
der EU. Lateinamerika darf sich nicht in eine Wirtschafts-
und Währungsabhängigkeit mit den USA und ihrem
Dollar begeben. Die Partnerschaft mit der EU muss hier
als nützliche Balance wirken und ihre Chancen müssen
aufgezeigt werden.
Eine weitere Verzögerung des Freihandelsabkommens
zwischen EU und Mercosur würde die Wettbewerbsposi-
tion deutscher und europäischer Unternehmen schwächen
und dem US-amerikanischen Wirtschaftseinfluss auf La-
teinamerika weiteren Auftrieb geben. 2005 soll das ge-
samtamerikanische Freihandelsabkommen ALCA in
Kraft treten. Wir stehen somit in einem Wettbewerb mit
den USA, den wir, wenn wir so weitermachen, sicherlich
verlieren werden.
Dadurch, dass deutsche Unternehmen ihre Direktin-
vestitionen zunehmend in andere Weltregionen leiten,
vorrangig in andere EU-Staaten, die USA und nach Ost-
europa, verliert Deutschland vor allem in Lateinamerika
gegenüber Mitbewerbern an Boden. Hier wird Latein-
amerika als Markt und als strategischer Partner unter-
schätzt, obwohl dieser mit einer halben Milliarde Ein-
wohnern ein Bruttoinlandsprodukt von drei Billionen
Dollar erwirtschaftet. Beispielsweise ist die Wirtschafts-
kraft Brasiliens größer als die von Russland und Indien
zusammen.
Hoffen wir, dass die Gespräche am 17. und 18. Mai auf
dem Gipfeltreffen in Madrid zu mehr Taten statt Worten
führen.
Abschließend möchte ich jedoch nicht unerwähnt las-
sen, dass der Antrag der PDS zur gleichen Problematik
heute nicht beraten wird, obwohl er viel früher einge-
bracht wurde als dieser Antrag, den wir heute beraten. Ich
habe stark den Eindruck, dass es sich hier um einen Alibi-
Antrag handelt, um vom PDS-Antrag abzulenken. Was
von der PDS kritisch angemerkt wird, wird letztendlich
etwas geschönt dargestellt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der Über-
weisung zu, weil damit die Gelegenheit besteht, beide An-
träge gemeinsam zu beraten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223644
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Zum Antrag „Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad“
werden wir uns enthalten.
Dr. Werner Hoyer (FDP): Wir sind ja daran gewöhnt,
dass auch die entlegensten Themen zu Wahlkampf-
zwecken missbraucht werden. Aber dass nicht einmal die
Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika von
parteipolitischen Eifersüchteleien freigehalten werden
können, ist schon ein bemerkenswerter Vorgang. Wir Li-
berale bedauern es jedenfalls sehr, dass die Regierungs-
fraktionen ihr Angebot, den heute zur Beratung stehenden
Antrag interfraktionell einzubringen, auf Drängen der
GRÜNEN wieder zurückgezogen haben. Gerade am Vor-
abend des zweiten EU-Lateinamerika-Gipfels in Madrid
wäre es ein schönes Signal gewesen, wenn die dringend
notwendige Intensivierung der Beziehungen zwischen
EU und Lateinamerika in einem gemeinsamen Antrag
aller maßgeblichen politischen Kräfte dieses Hauses zum
Ausdruck gekommen wäre. Ein wenig mehr Souveränität
wäre der Sache sicherlich dienlicher gewesen.
Da wir aber nicht nachtragend sind und weil wir über
Kontinuität in der Außenpolitik nicht nur reden, sondern
sie auch praktizieren, werden wir dazu beitragen, den
Schaden zu begrenzen und dem Antrag zumindest unse-
rerseits die Zustimmung nicht verweigern. Dabei geht es
uns, wie immer, um die Sache und um die verantwor-
tungsvolle Wahrnehmung deutscher außenpolitischer In-
teressen. Deutschland hat ein vorrangiges außenpoliti-
sches Interesse daran, dass die in Rio beschworene
strategische Partnerschaft endlich Gestalt annimmt und
dass die Zusammenarbeit zwischen Europa und Latein-
amerika zu einer zentralen Säule der transatlantischen Be-
ziehungen wird.
Dabei geht es uns nicht nur um die Intensivierung des
politischen Dialogs. Es mangelt nicht in erster Linie an
Dialogforen. Es mangelt vor allen Dingen an der prakti-
schen Umsetzung gemeinsamer Projekte in wichtigen Po-
litikbereichen wie die Schaffung einer euro-lateinameri-
kanischen Sicherheitspartnerschaft mit gemeinsamen
Initiativen zur Rüstungskontrolle. Es mangelt an belast-
baren Strukturen für eine gemeinsame Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Drogenhandels und es
mangelt an der Umsetzung der handelspolitischen Zu-
sammenarbeit. Alle diese Themen greift der Antrag auf
und fordert zu Recht ein stärkeres Engagement der Bun-
desregierung.
Wenn die nun immerhin schon vor 15 Jahren gegrün-
dete Rio-Gruppe tatsächlich ihrer Aufgabe als ständiges
politisches Koordinierungsinstrument gerecht werden
will, dann muss sie über die jährlichen Ministertreffen hi-
naus die euro-lateinamerikanischen Beziehungen durch
konkrete Projekte sichtbarer und ergebnisorientierter ge-
stalten. Dabei sollten in Anbetracht der bevorstehenden
neuen Welthandelsrunde handelspolitische Themen im
Vordergrund stehen. Hier hat die EU gegenüber Latein-
amerika, insbesondere gegenüber MERCOSUR, eine
Bringschuld.
Die 1999 begonnenen Verhandlungen über ein Freihan-
delsabkommen mit der Europäischen Union zielen neben
der Intensivierung des Handelsaustausches und der Inves-
titionstätigkeit auch auf eine Stärkung der Position von
MERCOSUR im Rahmen der gesamtamerikanischen Frei-
handelsbemühungen ab. Wegen der Weigerung der EU, den
europäischen Markt für lateinamerikanische Agrarimporte
zu öffnen, stagnieren diese Verhandlungen. Besonders Ar-
gentinien, aufgrund seiner Finanzkrise ohnehin stark ge-
beutelt, wird durch den europäischen Protektionismus hart
getroffen und in seinen Bemühungen, seine Wirtschaft wie-
der auf Vordermann zu bringen, behindert.
Ich frage mich bisweilen, ob wir eigentlich begreifen,
welch dramatische Folgen die Entwicklung in Argentinien
bereits hat und – sollte sie weiter instabil werden – noch
haben wird. Unser derzeitiger peruanischer Gast, Außen-
minister Dr. Garcia-Sayan, hat mir noch gestern berichtet,
dass sein Land mit bis zu 50 000 Re-Migranten aus Ar-
gentinien im Zuge der Wirtschaftskrise rechnet. Während-
dessen ist der Re-Migrationsstrom der Bolivianer bereits
voll im Gange und könnte bis zu 500000 Personen erfassen.
Der soziale und ökonomische Sprengstoff, der in dieser Ent-
wicklung liegt, wird meines Erachtens derzeit sträflich un-
terschätzt. Überzeugende Lösungsmodelle internationaler
Finanzinstitutionen sind auch nicht in Sicht. Man stelle
sich nur einmal die Konsequenzen vor, wenn es nicht ge-
lingen sollte, Brasilien gegen die argentinische Krise zu
immunisieren. Die Folge wäre eine politische, wirtschaft-
liche und soziale Destabilisierung von kontinentaler, ja
weltwirtschaftlicher Dimension.
Meine Damen und Herren, seit der von George Bush
junior in Quebec kürzlich lancierten Initiative zur Ver-
schmelzung von NAFTA und der transamerikanischen
Freihandelszone (FTAA) haben die Verhandlungen zwi-
schen MERCOSUR und EU eine zusätzliche politische
Dimension erhalten. Zwar wird von US-amerikanischer
Seite immer wieder beteuert, bei FTAA handele es sich
nicht um eine Art handelspolitische Neuauflage der Mon-
roe-Doktrin. Dennoch muss sich Europa anstrengen,
wenn es nicht seine traditionell herausgehobene politi-
sche und wirtschaftliche Rolle in Lateinamerika verlieren
will. Allen Beteiligten muss klar sein, dass die Errichtung
einer transamerikanischen Freihandelszone vor dem Ab-
schluss eines Abkommens mit der EU europäische und la-
teinamerikanische Interessen gleichermaßen beeinträchti-
gen und zum Verlust beträchtlicher Marktanteile führen
würde. Europa macht sich unglaubwürdig, wenn es welt-
weit für Freihandel eintritt, den eigenen Markt aber ab-
schirmt. Dass Europa nicht bereit ist, mit MERCOSUR
ähnliche Abkommen abzuschließen wie bereits mit Me-
xiko und Südafrika, ist aus unserer Sicht daher vollkom-
men unverständlich. Dabei wäre gerade dies aus europä-
ischer Sicht eine geeignete Maßnahme, um langfristig den
Zugang zu dem zukünftigen gesamtamerikanischen
Markt abzusichern. Hier liegt ein wichtiges Betätigungs-
feld für die Bundesregierung. Sie hat es jedoch in den letz-
ten dreieinhalb Jahren ebenso versäumt, in diesem Be-
reich Initiativen zu ergreifen, wie sie auch die bilaterale
Gestaltung der Beziehungen zu Lateinamerika hat schlei-
fen lassen.
Wenn wir es mal ganz nüchtern betrachten, dann
kommt man zu dem Schluss, dass deutsche Außenwirt-
schaftspolitik in Lateinamerika – wie auch in anderen Re-
gionen der Welt – schlichtweg nicht stattfindet. Noch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23645
(C)
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(B)
Mitte der 90er-Jahre war Deutschland hinter den USAder
zweitwichtigste Investitionspartner Lateinamerikas. Mit
Blick auf Brasilien sind wir – ehemals auf dem zweiten
Rang – kürzlich von Portugal auf Platz 6 verdrängt wor-
den. Ähnlich düster ist die Lage bei Betrachtung der übri-
gen lateinamerikanischen Länder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es drängt sich die
Frage auf: Wo ist denn der Wirtschaftsminister angesichts
einer ernüchternden Bilanz für den deutschen Außenhan-
del mit Lateinamerika? Wo ist denn unser überall Prioritä-
ten setzender Außenminister? Für uns als FDP ist der
Zustand, dass Herr Müller weder Leidenschaft noch Kon-
zepte für eine Unterstützung unserer eigenen Wirtschaft
durch eine intensive Außenwirtschaftspolitik zeigt, uner-
träglich. Es ist schon ein ziemlich starkes Stück, wenn
Wirtschaftsminister Müller kurz nach Amtsantritt unsere
lateinamerikanischen Partner zu einer großen Konferenz
nach Porto Alegre bittet, selbst dann aber gar nicht zu die-
ser Konferenz erscheint. Viel später dann endlich zur ers-
ten Lateinamerikareise aufzubrechen, hier aber lediglich
Kuba anstatt die zuvor brüskierten Partner und insbeson-
dere Brasilien und Argentinien zu besuchen, setzt dem
Ganzen dann die Krone auf. Die Bilanz: Außenwirt-
schaftspolitik findet bei diesem Wirtschaftsminister, bei
dieser Bundesregierung, schlicht nicht statt. Lateiname-
rika zeigt deutlich, dass wir hier auch im Vergleich zu an-
deren europäischen Staaten immer weiter zurückfallen,
anstatt unser Engagement im Zuge der dramatischen Wirt-
schaftsliberalisierung in Lateinamerika zu verstärken. Viel
Musik ist in diesem Thema drin, aber andere sitzen im Or-
chester und Deutschland hört wieder einmal nur zu.
Die USA – wer könnte es ihnen verdenken – richten
derweil ihre Handelspolitik noch aggressiver auf die
Wachstumsmärkte ihrer südlichen Nachbarn aus. Dies
führt jedoch auch dazu, dass einige Lateinamerikaner eine
zunehmende Abhängigkeit vom großen Bruder im Nor-
den befürchten und daher ihre politischen und wirtschaft-
lichen Beziehungen zugunsten Europas diversifizieren
möchten. So strebt zum Beispiel Brasilien als größtes
Land und führende Industrienation Lateinamerikas unter
dem Stichwort „Emanzipatorische Integration“ eine stär-
kere Orientierung in Richtung Europa auch deswegen an,
um sich gegenüber den USA stärker zu behaupten. Im
wohlverstandenen europäischen Eigeninteresse sollten
wir die ausgestreckte Hand der lateinamerikanischen
Staaten ergreifen.
Wolfgang Gehrcke (PDS): Es geschehen noch Wun-
der – selten, zu späten Zeiten, aber immerhin: Nachdem
die Bundesregierung fast vier Jahre nicht in der Lage war,
sich strategisch zu Lateinamerika zu äußern, aber weil die
PDS-Fraktion am 15. März 2002 ein solches strategisches
Konzept vorschlug und einreichte, legte die Koalition von
SPD und Grünen gestern für die heutige Debatte einen
Antrag auf den Tisch. Schon das zeigt: Eine ernsthafte
Diskussion eines wichtigen Themas ist nicht gewünscht.
Schade – aber kein Wunder.
Der Antrag, der vorliegt, ist langweilig, unaktuell und
von einer grenzenlosen Allgemeinheit.
Der vorliegende Antrag ist schlichtweg schlecht. Not-
wendig hingegen wären wirkliche konzeptionelle, strate-
gische Vorstellungen für die Zusammenarbeit Deutsch-
land – Europa – Lateinamerika.
Die USA zielen mit der gesamtamerikanischen Frei-
handelszone darauf, die lateinamerikanischen Länder in
Abhängigkeit zu halten, ihre politische und militärische
Dominanz zu festigen und europäische Firma aus diesen
Märkten zu verdrängen. Monopolstellung und Marktbe-
herrschung – das ist die Strategie der USA.
Deutsche und europäische Firmen, die in Lateiname-
rika tätig sind, brauchen Förderung und Unterstützung;
sie müssen aber auch begreifen, das gute soziale, öko-
logische und demokratische Standards nicht hinderlich,
sondern zum Vorteil längerfristiger Geschäftsbeziehun-
gen sind und dass Handel nur dann dauerhaft ist, wenn eu-
ropäische Märkte sich gegenüber Lateinamerika öffnen.
Notwendig ist es, Friedensprozesse in solchen Ländern
wie El Salvador, Guatemala, Nicaragua druckvoll zu un-
terstützen, Bewegungen, die sich mit der Aufarbeitung
von Vergangenheit befassen wie in Chile, Argentinien,
Peru und anderen Ländern zu helfen und nicht zuzusehen,
wenn die USA wieder auf Militär, Putsch und Unter-
drückung setzen.
Der rot-grüne Antrag entwickelt keine Idee zur Lösung
der Verschuldensproblematik, keine Ideen, wie die Sta-
gnation der Entwicklungszusammenarbeit aufgebrochen,
kulturelle Zusammenarbeit neu in Gang gebracht wird
und Lateinamerika-Forschung nicht ein Fremdwort
bleibt.
Vergleichen Sie die Anträge – die PDS scheut keinen
Leistungsvergleich.
Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Morgen beginnt in Madrid der zweitägige Gipfel
EU–Lateinamerika/Karibik. Ich bin sicher, dass dieser
Gipfel – wie der vorangegangene erste Gipfel in Rio 1999
unter deutscher EU-Präsidentschaft – ein Erfolg wird und
Impulse gibt für die Weiterentwicklung der biregionalen
Beziehungen.
Der Gipfelprozess ist wichtiger Teil der sich intensi-
vierenden Lateinamerikapolitik der Bundesregierung.
Wir wollen engere Beziehungen zu dieser an politischem
und wirtschaftlichem Gewicht wachsenden Region. Wir
wollen eine stärkere Einbeziehung und eine stärkere Mit-
sprache der sich international mehr zu Wort meldenden
lateinamerikanischen Länder. Ich erwähne nur Themen
wie Terrorismusbekämpfung, Umweltschutz, Menschen-
rechte. Wir wollen den dynamischen Integrationsprozess
Lateinamerikas aktiv unterstützend begleiten, im deut-
schen und europäischen Eigeninteresse einer demokrati-
schen und wirtschaftlichen Stabilisierung des Subkonti-
nents. Wir wollen einen stärkeren Ausbau von Handel und
Investitionen mit Lateinamerika; schließlich werden be-
reits heute über 300 000 Arbeitsplätze in Deutschland
durch unsere Exporte nach Lateinamerika gesichert und
hierin steckt noch einiges an Potenzial. Wir wollen außer-
dem einen Zuwachs an kulturellem Austausch einschließ-
lich eines enger geführten Dialogs der Zivilgesellschaf-
ten. Beziehungen zwischen Ländern und Völkern sind
nicht nur Sache der Regierungen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223646
(C)
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Sie alle haben in jüngster Zeit in den Medien Meldun-
gen aus Lateinamerika verfolgt, die alles andere als be-
ruhigend sind. Versuchter Putsch in Venezuela: Präsident
Chávez ist in Parlament und Bevölkerung erheblich ge-
schwächt. Wird sich die Lage in diesem wichtigen ölpro-
duzierenden Land wieder stabilisieren?
Argentinien befindet sich seit Ende letzten Jahres in
der Zahlungsunfähigkeit. Die Wirtschaftsentwicklung ist
alarmierend. Das Land durchlebt eine tiefe wirtschaftli-
che und auch politische Krise. Das betrifft uns unmittel-
bar. Das starke Engagement der deutschen Wirtschaft in
Argentinien ist bekannt.
In Kolumbien läuft seit fast vier Jahrzehnten ein be-
waffneter Konflikt, der von Staats- wie von Guerillaseite
mit großer Härte ausgetragen wird, mit erheblichen Men-
schenrechtsverletzungen von beiden Seiten. Auch dies
geht uns Deutsche unmittelbar an! Kürzlich wurden in
Bellavista, in Kolumbien, in einer Kirche 100 Personen
umgebracht, darunter 40 Kinder.
Dies sind drei Beispiele aus jüngster Zeit. Wir dürfen
Lateinamerika nicht in der Hoffnung, der Kontinent sei
demokratisch und marktwirtschaftlich auf dem richtigen
Weg, sich selbst überlassen. Sonst riskieren wir, über-
rascht zu werden. Neben den ernormen Chancen, die La-
teinamerika gerade der deutschen Wirtschaft bietet, gibt
es Risiken, die wir sehen müssen und bei deren Bewälti-
gung wir im eigenen Interesse den Lateinamerikanern
beistehen müssen.
Die Bundesregierung hat kurz nach Amtsantritt festge-
stellt, dass die alten, kontinentbezogenen Konzepte der
außenpolitischen Zusammenarbeit den heutigen Realitä-
ten nicht gerecht werden. Lateinamerika kann man ge-
nauso wenig wie Asien einheitlich behandeln und eine nur
auf Wirtschaftsbeziehungen fokussierende Kontaktauf-
nahme greift zu kurz. Wir haben hingegen Wert auf Dia-
log auf gleicher Augenhöhe gelegt: zur Wirtschaft wie zur
Politik, zu sozialen Entwicklungen wie zu globalen Fra-
gen. Die Bundesregierung wie nach deren Aussage auch
unsere lateinamerikanischen Partner haben daraus wert-
volle Denkanstöße, Hintergründe und Lösungsansätze
und ein verbessertes Verständnis füreinander gefunden.
Lateinamerikapolitik folgt nun fünf differenzierten, nach
Regionen gegliederten Konzepten: für die Andenstaaten,
den Mercosur/Mercosul und Chile, für Brasilien, für Me-
xiko und für Zentralamerika und die Karibik. Diese Re-
gionalisierungen sind sinnvoll; wir möchten sie in La-
teinamerika angesichts unserer eigenen europäischen
Erfolgsgeschichte mit der Regionenbildung unterstützen.
Im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit hat sich
Deutschland stets für faire und angemessene Handelsbe-
dingungen eingesetzt, zum Beispiel in den Verhandlungen
über das Assoziationsabkommen zwischen EU und Mer-
cosur. Faire Bedingungen sind der Schlüssel für einen ver-
besserten Welthandel. Dabei müssen wir unsere europä-
ischen Kontakte und Beziehungen zu Lateinamerika in
ein harmonisches Verhältnis zu anderen bringen: Die
Bundesregierung befürwortet ein transatlantisches Drei-
eck von Beziehungen zwischen USA und Lateinamerika
und Europa. Nicht Konkurrenz, sondern Kooperation zu
allseitigem Vorteil muss unser Ziel sein.
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund mit
Interesse den Beschlussantrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen „Intensivierung der
Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Latein-
amerika und der Karibik“ aufgenommen. Um es kurz zu
sagen: Der Antrag weist mit seinen wesentlichen Forde-
rungen in Richtungen, die die Bundesregierung bereits in-
tensiv verfolgt. Die Botschaft des Antrags, dass nämlich
für unsere Beziehungen mit Lateinamerika Engagement
erforderlich ist – übrigens nicht nur vonseiten der Bun-
desregierung –, kann ich nur begrüßen!
Ich will einige zentrale Punkte aus dem Antrag heraus-
greifen:
Da ist zunächst die Forderung nach einer Intensivie-
rung der politischen Beziehungen mit dem Ziel gemein-
samer Initiativen in der Weltpolitik. Hier wird genau zu
prüfen sein, inwieweit „gemeinsame Initiativen“ mit der
in der internen Abstimmung gemeinsamer Positionen
noch ungeübten Region Lateinamerika praktisch möglich
sind; Ziffer II, 2. Im Vordergrund steht ganz sicher
zunächst die Intensivierung biregionaler Konsultationen,
wie wir sie mit der lateinamerikanischen Seite bereits
führen.
Reform der europäischen Agrarpolitik mit dem Ziel ei-
ner Ausweitung des biregionalen Handels, Ziffer II, 3: Die
lateinamerikanischen Länder fordern einen besseren Zu-
gang ihrer Agrarprodukte auf die europäischen Märkte
und sie haben Recht mit dieser Forderung. Wir können
nicht erweiterten Handel und Zollabbau verlangen und
die Landwirtschaft dabei teilweise ausklammern. Die Re-
form der gemeinsamen Agrarpolitik gehört zu den vor-
rangigen Zielen der EU-Politik der Bundesregierung.
Auch mit Blick auf die kommende Erweiterungsrunde der
EU müssen wir auf dem eingeschlagenen Weg fortfahren.
Schneller Abschluss der Assoziationsabkommen mit
Mercosur und mit Chile, Ziffer II, 4: Mit Chile hat die EU
die Verhandlungen rechtzeitig zum morgigen Gipfel ab-
schließen können. Nach den Verträgen mit Mexiko ist das
Abkommen mit Chile ein weiteres sehr konkretes Ele-
ment zur Umsetzung der in Rio 1999 vereinbarten strate-
gischen Partnerschaft der beiden Regionen. Mit dem Mer-
cosur – Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay –
kommen die Verhandlungen voran, wenn auch sehr lang-
sam. Dies hat nun mit der Argentinienkrise einen ganz
konkreten Grund. Der Mercosur steht wegen der kata-
strophalen Verhältnisse in Argentinien selbst in einer tie-
fen Krise. Dass EU und Mercosur in den Verhandlungen
trotzdem gewisse Fortschritte machen, zeigt den Grad des
beiderseitigen Interesses. Dieses Interesse ist gerade vor
dem Hintergrund der laufenden Bemühungen zur Errich-
tung einer panamerikanischen Freihandelszone, FTAA,
von großer Bedeutung. Ein gewisses Wettbewerbsver-
hältnis mit den USA in der Region ist nicht zu leugnen.
Mir liegt aber daran, zu unterstreichen, dass sich der von
der EU verfolgte Verhandlungsansatz gerade dadurch aus-
zeichnet, die Zusammenarbeit mit Lateinamerika über
den reinen Handelsbereich hinaus in nahezu allen Berei-
chen systematisch fortzuentwickeln. Dies wird von unse-
ren Partnern auch immer wieder besonders gewürdigt.
Die Bundesregierung unterstützt im Übrigen auch den
Wunsch der Staaten Zentralamerikas und der Andenge-
meinschaft nach Intensivierung der Beziehungen zur EU.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23647
(C)
(D)
(A)
(B)
Sie hat sich besonders im Hinblick auf den EU-Latein-
amerika-Gipfel in Madrid für ein positives Signal an die
Partner eingesetzt. Es gab – und gibt – jedoch unter
EU-Mitgliedstaaten und bei der EU-Kommission erhebli-
che Widerstände gegen die Verhandlung von Assoziie-
rungsabkommen mit diesen Staaten zum gegenwärtigen
Zeitpunkt.
Um dennoch zu einer für unsere lateinamerikanischen
Partner akzeptablen Lösung zu kommen, haben wir einen
zweistufigen Ansatz vorgeschlagen, der vom Rat aufge-
griffen und gebilligt wurde. Danach wird den betreffen-
den Staaten zunächst eine Intensivierung der Kooperation
in Form eines Abkommens über politischen Dialog und
Zusammenarbeit angeboten, das insbesondere die Förde-
rung von Demokratie, Menschenrechten und verantwor-
tungsvoller Staatsführung, die Vollendung der regionalen
Integrationsprozesse sowie Armutsbekämpfung, Sozial-
standards und nachhaltiges Ressourcenmanagement zum
Ziel hat. Durch die Umsetzung dieser Ziele sollen die Vo-
raussetzungen für die Aufnahme von Verhandlungen über
Freihandelsabkommen nach Abschluss der Doha-Runde
geschaffen werden.
Diese Linie knüpft im Übrigen an das Vorgehen der EU
gegenüber Mercosur/Chile an. Die Kommission wird noch
in diesem Jahr einen Mandatsentwurf für die künftigen
Abkommen vorlegen. Eine zielgerichtete Intensivierung
der Zusammenarbeit kann auf der Grundlage bereits vor-
liegender Vorschläge der Kommission sofort beginnen.
Die Kooperation im Umweltschutz, Ziffer Il, 6, wird
die Bundesregierung weiter intensivieren. Zeichen hierfür
sind nicht nur das umfangreiche Tropenwaldprogramm
PPG 7, bei dessen Finanzierung Deutschland den größten
Anteil hält, sondern auch die Fülle von Projekten der Ent-
wicklungszusammenarbeit, gerade auch im Bereich des
städtischen Umweltschutzes. Der hier liegenden Ge-
schäftschancen für die deutsche Industrie ist sich die
Bundesregierung wohl bewusst.
Die intensivere Einbeziehung der Zivilgesellschaft,
Ziffer II, 9, entspricht der laufenden Praxis der Bundesre-
gierung. Ein Beispiel ist der vom Bundeskanzler und dem
brasilianischen Staatspräsidenten Cardosa während des
Bundeskanzlerbesuchs in Brasilia vereinbarte Dialogme-
chanismus zwischen beiden Zivilgesellschaften.
Die Bundesregierung hat sich in den letzten Jahren La-
teinamerika stärker zugewandt. Symptomatisch ist hierfür
auch der zunehmende Besucheraustausch. Ich erwähne
nur die jüngsten Lateinamerikareisen von Bundeskanzler
Schröder und Bundesminister Fischer im Februar und
März 2002 sowie mehrerer Bundesminister. Die chileni-
sche Parlamentspräsidentin und auch der chilenische
Wirtschaftsminister Rodriguez Grossi sind mit einer
Wirtschaftsdelegation zurzeit in Deutschland. Die Staats-
präsidenten von Brasilien, Mexiko, Argentinien, Peru und
Chile waren hier.
Wir alle, Bundesregierung und Bundestag, die deut-
sche Wirtschaft wie Wissenschaft und Forschung, müssen
in den Anstrengungen fortfahren, unsere Partnerschaft mit
Lateinamerika weiter zu vertiefen. Der Deutsche Bundes-
tag hat die Bundesregierung hier sehr unterstützt und
dafür danke ich.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge
– Welternährungsgipfel – fünf Jahre später
– Umsetzung der von Deutschland beim Mille-
niumgipfel übernommenen Verpflichtungen
(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-
nungspunkt 19)
Joachim Günther (FDP): Es ist inzwischen fast
schon zum parlamentarischen Ritual dieser Legislaturpe-
riode geworden, dass die Bundesregierung und die sie tra-
genden Parteien durch Ankündigungen und Anträge den
Eindruck zu erwecken versuchen, als sei die entwick-
lungspolitische Zusammenarbeit ein zentrales Anliegen
deutscher Politik. Daraus ergibt sich für uns stets die trau-
rige Pflicht, darauf zu verweisen, dass genau das Gegen-
teil zutrifft. Entwicklungspolitik ist zum Stiefkind rot-
grüner Politik degradiert worden. Darüber kann auch der
vorliegende Antrag nicht hinwegtäuschen, zumal er trotz
aller Lobhudelei für die „Förderung der Diskussion über
Lösungsstrategien unter Einbeziehung aller gesellschaft-
licher Gruppen“ durch die Bundesregierung in seinem
Forderungsteil letztlich selbst zu dem Ergebnis kommt,
dass die finanziellen Mittel für die Entwicklungszusam-
menarbeit deutlich gesteigert werden müssen.
Wir brauchen nicht die Förderung von Diskussionen.
An Redebeiträgen und gut gemeinten Ratschlägen aus
Deutschland besteht kein Mangel. Wir brauchen anderer-
seits auch keine exorbitanten Steigerungen unserer öf-
fentlichen Entwicklungsausgaben. Aber um unsere inter-
nationale Glaubwürdigkeit nicht vollends zu verlieren,
müssen wir wenigstens zu unseren Worten stehen und un-
sere internationalen Verpflichtungen erfüllen.
Von daher bedauern auch wir, wie die Regierungsfrak-
tionen, dass der „Welternährungsgipfel – fünf Jahre spä-
ter“ abgesagt wurde. Wir bedauern es aber auch deswe-
gen, weil die Bundesregierung dann hätte Farbe bekennen
müssen, dass sie ihre international übernommenen Ver-
pflichtungen vernachlässigt.
Dies gilt für den Welternährungsgipfel ebenso wie den
Millenniumgipfel. 1,2 Milliarden Menschen, Viertel der
Bevölkerung in den Entwicklungsländern, müssen mit we-
niger als einem Dollar pro Tag auskommen. Absolute Ar-
mut und das dadurch geförderte Bevölkerungswachstum
auf voraussichtlich 7 Milliarden Menschen bis 2015 bedro-
hen Frieden und Sicherheit, verursachen weltweite Flücht-
lingsströme, belasten die Umwelt und beeinträchtigen den
Aufbau rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Struk-
turen. Vor diesem Hintergrund haben 146 Staats- und Re-
gierungschefs, darunter Bundeskanzler Gerhard
Schröder, anlässlich des Millenniumgipfels der Vereinten
Nationen im September 2000 in New York die Halbierung
der extremen Armut bis 2015 beschlossen. Infolge des
Millenniumgipfels hat die Bundesregierung im April
2001 ein „Aktionsprogramm 2015 – der Beitrag der Bun-
desregierung zur weltweiten Halbierung extremer Armut“
vorgelegt. In diesem Programm verpflichtet sich die Bun-
desregierung unter anderem dazu, mehr Mittel für die Ar-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223648
(C)
(D)
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(B)
mutshalbierung bis zum Jahre 2015 zu mobilisieren, die
Finanzsysteme in den Entwicklungsländern verstärkt zu
unterstützen, die wirtschaftliche Dynamik in den betrof-
fenen Ländern zu erhöhen, verstärkt Mittel für die Zu-
sammenarbeit mit solchen Ländern einzusetzen, die wie
Bolivien, Mosambik, Vietnam oder Jemen besondere An-
strengungen zur Armutsminderung unternehmen, sich
weiter den 0,7-Prozent-BSP-Ziel der Vereinten Nationen
zu nähern, besondere Anstrengungen für Grunddienste in
den Partnerländern zu unternehmen und Sektorreform-
programme, besonders in Bildungs- und Gesundheitswe-
sen der Entwicklungsländer, stärker zu unterstützen.
Die zahlreichen im Aktionsprogramm aufgezählten
Maßnahmen – 75 Aktionen – sollen anhand eines „Um-
setzungsplanes“ durchgeführt werden, der konkrete
Schritte für die einzelnen Aktionen enthalten und die je-
weiligen Verantwortlichen benennen soll. Bis heute, über
ein Jahr nach der Verabschiedung des Aktionsprogramms,
liegt jedoch ein derartiger Umsetzungsplan mit konkreten
Angaben über die Finanzierung der Aktionen nicht vor.
Auch auf der internationalen Konferenz über die Finan-
zierung von Entwicklungen im März 2002 in Monter-
rey/Mexiko hat die Bundesregierung keinerlei Finanzplan
zur Umsetzung der von ihr eingegangenen Verpflichtun-
gen vorgelegt. Entgegen der während des Millenniumgip-
fels übernommenen Verpflichtungen, die Mittel für die
entwicklungspolitische Zusammenarbeit zu erhöhen, ist
der Haushalt des BMZ in dieser Legislaturperiode viel-
mehr deutlich gesunken.
Anstatt also stets nur Aktionen anzukündigen, fordern
wir die Bundesregierung auf, baldmöglichst einen kon-
kreten Finanzplan für die Umsetzung des von ihr veröf-
fentlichten Aktionsprogramms 2015 zur Armutsbekämp-
fung vorzulegen und anstatt bei der Umsetzung des
Aktionsplanes eine Vielzahl von Aktionen gleichzeitig
anzustreben, deutliche sektorale, regionale und instru-
mentelle Schwerpunkte zu bilden. Einen entsprechenden
Antrag haben wir heute hierzu vorgelegt.
Carsten Hübner (PDS): Mit Blick auf über 800 Mil-
lionen Menschen auf der Welt, die Hunger leiden, ist die
Zielsetzung vom Welternährungsgipfel in Rom, die Zahl
der Hungernden bis 2015 auf 400 Millionen zu reduzie-
ren, ein ebenso ehrgeiziges wie dringend notwendiges
Ziel. Die PDS-Fraktion unterstützt in diesem Zusammen-
hang ausdrücklich die Positionen des Koalitionsantrages,
wenn auch gesagt werden muss, dass wiederum gerade
die Knackpunkte beflissentlich umgangen wurden, also
jene Bereiche, in denen es um Kohärenz mit anderen
Politikfeldern geht, in denen auch hier Widerstand
einflussreicher Lobbygruppen zu erwarten wäre. Bei-
spielhaft dafür ist die hier wieder und wieder debattierte
Frage des Marktprotektionismus und der EU-Subventi-
onspolitik in der Landwirtschaft. Die unter Punkt 10 an-
geführten Initiativen greifen jedenfalls zu kurz, der Zeit-
rahmen ihrer Umsetzung ist inaktzeptabel lang und die
beschriebenen Perspektiven sind zu unkonkret. Denn
letztlich, zumindest wenn man es ernst meint, geht kein
Weg vorbei an der völligen Öffnung der Märkte der Indus-
trieländer für die gesamte Produktpalette des Südens bei
gleichzeitigem Schutz der dortigen Märkte vor den un-
gleich leistungsstärkeren Ökonomien des Nordens.
Und noch ein Punkt, auf den ich verweisen möchte:
Seit Jahren fordert die PDS-Fraktion eine Umstrukturie-
rung des BMZ-Etats in Richtung grundsichernder Ar-
mutsbekämpfung und der vom Weltsozialgipfel geforder-
ten 20:20-Initiative. In diesem Rahmen unverzichtbare
Maßnahmen wie die Förderung lokaler und regionaler
Märkte und insbesondere die Förderung von Frauen im
ländlichen Raum sind von der PDS-Fraktion in den Haus-
haltsberatungen Jahr für Jahr beantragt, aber wieder und
wieder von der Koalitionsmehrheit abgelehnt worden –
mit fadenscheinigen Argumenten. Wir begrüßen es des-
halb umso mehr, dass diesen Aspekten in Punkt 8 Ihres
Antrages nun endlich Rechnung getragen wurde und Sie
nicht wieder mittels der Formel „Frauenförderung ist
Querschnittsaufgabe“ der besonderen Fördernotwendig-
keit von Frauen in Entwicklungsländern ausgewichen
sind. Wir erwarten, dass sich diese Einsicht allerdings
auch im kommenden Haushalt niederschlägt.
Die PDS-Fraktion wird dem Koalitionsvertrag zustim-
men. Beim Antrag der FDP werden wir uns enthalten.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratung derGroßen Anfrage: Sicherung so-
zialer und tariflicher Standards sowie Stellung
der kommunalen Selbstverwaltung und der öf-
fentlichen Daseinsvorsorge im nationalen und
europäischen Wettbewerbs- und Vergaberecht
(Tagesordnungspunkt 18)
Klaus Wiesehügel (SPD): Man könnte meinen, die
heutige Beratung der Großen Anfrage der PDS-Fraktion
komme zu spät oder sie wäre obsolet, weil wir ja in die-
sem Hause am 16. April in zweiter und dritter Lesung ein
entsprechendes und den Erfordernissen gerecht werden-
des Vergabegesetz verabschiedet haben.
Ich nutze aber heute gern nochmals die Gelegenheit,
die Notwendigkeit eines – wie ja auch in der Anfrage ge-
forderten – Vergabegesetzes sowie dessen wesentlichen
Inhalte zu erläutern. Dies scheint mir nicht nur wegen der
Beiträge von Herrn Schauerte und Herrn Brüderle in der
soeben angesprochenen Debatte notwendig, sondern ins-
besondere vor dem Hintergrund der noch ausstehenden
Zustimmung des Bundesrates.
Wer heute immer noch die Notwendigkeit eines Verga-
begesetzes bestreitet, der verkennt und ignoriert die Ursa-
chen und Probleme der Bauwirtschaft und verschließt die
Augen vor den sich anbahnenden Problemen im Bereich
des ÖPNV.
Wir wissen, dass spätestens seit dem Ende des Bau-
booms in Ostdeutschland, seit 1995, sich die Bauwirt-
schaft in einer schweren strukturellen Krise befindet. Der
deutsche Baumarkt ist von Überkapazitäten geprägt, die
durch eine falsche Weichenstellung der Regierung Kohl
bedingt sind.
Zugleich ist der deutsche Baumarkt der größte und of-
fenste in Westeuropa, auf dem vor allem ausländische Bil-
ligunternehmen ein weites Betätigungsfeld gefunden
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23649
(C)
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haben. Die Folge sind ein enormer Konkurrenzdruck und
ein ruinöser Wettbewerb, gekennzeichnet durch Lohn-
dumping und eine zunehmende Tarifflucht, selbst deut-
scher Firmen.
Die Zahl der legalen Arbeitsplätze mit tarifgerechter
Bezahlung sinkt dramatisch immer weiter und im glei-
chen Tempo weiten sich illegale Strukturen aus.
Seit 1995 sind ein Drittel der legalen inländischen
Arbeitsplätze abgebaut worden. Das sind mehr als eine
halbe Million Menschen. Gleichzeitig haben wir aber eine
Zunahme der illegalen Beschäftigung auf mindestens
300 000 Beschäftigte zu verzeichnen.
Neben der Bauwirtschaft ist das Tariftreuegesetz aber
auch insbesondere mit Blick auf die Zukunft für den öf-
fentlichen Personennahverkehr wichtig. Denn die Europä-
ische Kommission hat zuletzt im Februar einen Vorschlag
für eine Europäische Verordnung vorgelegt, wonach künf-
tig Verkehrsleistungen grundsätzlich im Ausschreibungs-
wettbewerb zu vergeben sind. Das heißt ganz klar: Ohne
ein flankierendes Tariftreuegesetz würde dies den deut-
schen Nahverkehrsmarkt mit seinen rund 6 400 Betrieben
und 250000 Arbeitnehmern in einen ruinösen Wettbewerb
treiben, so wie wir es leider aus der Bauwirtschaft kennen.
Diese Regierung hat die Probleme erkannt, hat gehan-
delt, mit dem Gesetz eine neue Weichenstellung vorgenom-
men und damit ihren Weg konsequent fortgesetzt, Recht und
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wieder herzustellen. Wir ha-
ben dies im Übrigen auch in dieser Woche nochmals in ei-
ner Entschließung des Wirtschaftsausschusses im Bereich
der Europäischen Vergabepraxis untermauert.
Nur klare und faire Vergaberichtlinien, so wie wir sie
gesetzlich hier verabschiedet haben, können die katastro-
phalen Zustände in der Bauwirtschaft auf Dauer beseiti-
gen und im Bereich des öffentlichen Personennahverkehr
vorbeugen.
Der Kern unseres Gesetzentwurfes ist, dass öffentliche
Auftraggeber verpflichtet werden, Aufträge nur an Unter-
nehmen zu vergeben, die sich verpflichten, ihren Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung
dieser Leistungen mindestens die am Ort der Leis-
tungsausführung einschlägigen Lohn- und Gehaltstarife
zu zahlen.
Der Gesetzentwurf sieht ein Stufenmodell vor, das die
Interessen ostdeutscher Unternehmen bzw. struktur-
schwacher Regionen berücksichtigt. Ab Inkrafttreten soll
die Zahlung von mindestens 92,5 Prozent des am Ort der
Leistungserbringung einschlägigen Lohn- und Gehaltsta-
rifs gezahlt werden. Dieser Anteil erhöht sich zum 1. Ja-
nuar 2003 auf 95 Prozent und zum 1. Januar 2004 auf
97,5 Prozent. Ab dem 1. Januar 2005 ist der volle Tarif zu
zahlen.
Darüber hinaus haben wir festgelegt, das bei Vorliegen
mehrerer Tarifverträge der öffentliche Auftraggeber den
Tarifvertrag zugrunde zu legen hat, der für die meisten Ar-
beitnehmer Anwendung findet: repräsentativer Tarifver-
trag.
Ganz wesentlich ist, dass diese Regelungen auch für
Nachunternehmen gelten. Damit wird erreicht, dass die
Nachunternehmer unmittelbar durch den öffentlichen
Auftraggeber zur Einhaltung der Lohn- und Gehaltstarif-
verträge verpflichtet werden.
Zusätzlich ist für den Anwendungsbereich eine zeit-
liche Staffelung vereinbart. Das neue Gesetz gilt zunächst
bei öffentlichen Aufträgen mit einem Auftragsvolumen
von 100 000 Euro. Dieser Wert verringert sich zum 1. Ja-
nuar 2003 auf 75 000 Euro und zum 1. Januar 2004 auf
50 000 Euro.
Die zweite wesentliche Komponente im Rahmen unse-
rer Tariftreueregelung ist die Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen. Wir schaffen die gesetzli-
chen Grundlagen für die Einrichtung eines Registers unzu-
verlässiger Unternehmen, die von der Vergabe öffentlicher
Aufträge ausgeschlossen worden sind: Unternehmen, de-
nen schwere Verfehlungen – wie beispielsweise Korrup-
tion, illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit oder Verstöße
gegen die Tariftreueregelung nachgewiesen werden kann,
werden in dieses Register aufgenommen und können von
der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden.
Wird ein Unternehmen einmal wegen Korruption oder an-
derer Wirtschaftsdelikte ausgeschlossen, werden das alle
35 000 deutschen öffentlichen Auftraggeber erfahren. Von
daher wird das Register eine erhebliche Abschreckungs-
wirkung auf die Unternehmen haben.
Wettbewerb darf nicht über Lohndumping und auf dem
Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausge-
tragen werden, sondern muss über Produktivität, Service
und Qualität bestimmt werden. Darum geht es uns. Es
geht um den Erhalt vieler Arbeitsplätze in zwei sehr sen-
siblen Bereichen. Es geht darum, einen ausreichenden so-
zialen Schutz und ein angemessenes Einkommensniveau
zu gewährleisten und auf der anderen Seite Belastungen
für die sozialen Sicherungssysteme zu vermeiden.
Ich appelliere daher nochmals ausdrücklich an die Kol-
leginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion: Geben
sie ihre Blockadehaltung auf. Sorgen sie dafür, dass nicht
aus wahltaktischen Gründen im Bundesrat ein Gesetz
verhindert wird, auf das die Beschäftigten sowohl im öf-
fentlichen Personennahverkehr als auch in der Baubran-
che dringend warten.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Es ist schon
erstaunlich, dass sich ausgerechnet die PDS als Retter der
sozialen Sicherung, tariflicher Standards sowie der kom-
munalen Selbstverwaltung und der öffentlichen Daseins-
vorsorge präsentiert. Wir haben nicht vergessen, dass es
die SED war, in deren Nachfolge Sie stehen, die in vier
Jahrzehnten durch eine zentrale Verwaltungswirtschaft
den östlichen Teil unseres Vaterlandes in Grund und Bo-
den gewirtschaftet haben. Wir leiden noch heute darunter.
Große Ressourcen unserer Volkswirtschaft müssen für die
Folgenbeseitigung dieser 40 Jahre aufgewendet werden.
Die zentrale Verwaltungswirtschaft ist genau das Ge-
genteil von dezentraler Kreativität und damit der kommu-
nalen Selbstverwaltung. Nach der Landtagswahl in Sach-
sen-Anhalt ist deutlich geworden, dass die Mehrheit der
Bürger Dunkelrot besser von der Verantwortung fernhal-
ten will. Auch die SPD sollte endlich begreifen, dass Rot-
Rot alles andere als ein Erfolgsmodell ist.
Aber auch die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage macht deutlich, dass sie immer noch nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223650
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begriffen hat, dass die Chance in der Kreativität der Men-
schen und im Wettbewerb, nicht aber in bürokratischer
Gängelung liegt. Es ist der falsche Weg, mithilfe des Ta-
riftreuegesetzes die Wettbewerbsprobleme entlang der
ehemaligen Zonengrenze lösen zu wollen. Bürokratie
bringt eher zusätzliche Belastung und Lähmung anstelle
von Wettbewerbsgleichheit und Chancen. Es wird immer
wieder Kräfte geben, die fantasievoller als der regelnde
Staat sind und die bürokratischen Regelungen unterlaufen.
Das künstliche Hochhalten von tariflichen Regelungen
wird nichts bringen. Wer immer noch dafür eintritt über-
sieht, dass die Menschen in den neuen Bundesländern
längst mit den Füßen über derartige Konzepte abgestimmt
haben. Mit Billigung der Gewerkschaften werden tarif-
vertragliche Regelungen entgegen der geltenden Rechts-
lage unterlaufen. Man nimmt den Abschluss eines
Flächentarifes hin, beachtet ihn aber nicht, sondern ersetzt
ihn durch betriebsbezogene Vereinbarungen. Dies ge-
schieht nicht aus bösem Willen, sondern aus purer Not.
Andernfalls würden noch mehr Arbeitsplätze gefährdet
sein. Wenn man die Realitäten richtig zur Kenntnis
nähme, könnte man darin auch ein Vorbild für richtige Re-
gelungen in ganz Deutschland sehen. Wir wollen deshalb
das Günstigkeitsprinzip dahingehend erweitern, dass die
Sicherung von Arbeitsplätzen auch als günstigere Rege-
lung im Sinne des Tarifrechtes gilt und als Anlass zum Ab-
weichen von Flächentarifverträgen genommen werden
darf. Dies wird dafür sorgen, dass der Arbeitsmarkt wie-
derum ein Stück näher zum Markt wird und seine Funk-
tion wieder besser erfüllen kann.
Hinsichtlich des Tariftreuegesetzes scheint es auch in
der SPD Nachdenklichkeit zu geben. Vielleicht setzt diese
sich ja doch noch durch. Man sollte auch bedenken, dass
durch ein Tariftreuegesetz die Betätigungsmöglichkeiten
von Betrieben aus den neuen Bundesländern eingeschränkt
werden. Dies kann eigentlich nicht wünschenswert sein.
Dennoch verkennen wir nicht, dass es gerade an der Naht-
stelle zwischen alten und neuen Bundesländern durch Wett-
bewerbsverzerrungen erhebliche Probleme gibt. Betriebe
aus den Gebieten mit höheren Tarifen bekommen entlang
des ehemaligen Zonenrandgebietes kaum noch Aufträge.
Auch dieser Zustand ist nicht richtig und muss in Angriff
genommen werden. Hier sehe ich allerdings bisher keine
Aktivitäten der Bundesregierung. Das ist sehr zu bedauern.
Wir dürfen allerdings nicht Ost gegen West oder Alt gegen
Neu ausspielen. Wir müssen die Probleme gemeinsam so
lösen, dass unter dem Strich eine möglichst hohe wirt-
schaftliche Aktivität das Ergebnis ist.
Das gilt natürlich auch für die Bekämpfung der illega-
len Beschäftigung. Das Gifhorner-Modell und die Ver-
besserung von Angebotsbedingungen sind hier allerdings
wesentlich erfolgsversprechender als ein Tariftreue-
gesetz. Noch besser wäre es natürlich, wenn durch eine
Steigerung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Markt
wieder so groß würde, dass viel mehr Betriebe und Be-
schäftigte Arbeit fänden. Deshalb kommt es auf die rich-
tige Gestaltung des wirtschaftspolitischen Rahmens an,
um für Wirtschaftswachstum zu sorgen. In diese Richtung
bietet die Politik der Bundesregierung allerdings prak-
tisch keine Ansätze. Im Gegenteil: Durch Entzug der
Kaufkraft bei der Bevölkerung über Ökosteuer, Tabak
und Versicherungssteuer sowie steigende Sozialversiche-
rungsbeiträge und Aushöhlung der Kommunalfinanzen
wird den beiden Gruppen, nämlich der Bevölkerung und
den Kommunen, die Investitionskraft genommen. Ihr
Ausfall am Nachfragemarkt behindert das Wirtschafts-
wachstum ganz massiv. Da liegen die Hauptprobleme. Es
ist eben gerade nicht so, dass die Steuerquote gesunken
wäre. Sie versuchen, durch verbale Kraftakte die „größte
Steuerreform“ vorzutäuschen, dass sie hier richtig han-
deln. Die Steuerschätzung ergibt allerdings das Gegenteil.
Die Steuerquote ist unverändert geblieben. Sie macht
deutlich, dass es gerade nicht zu einer Steuerentlastung
gekommen ist.
Es gibt gute Beispiele für eine erfolgreiche Politik aus
den angeblich so schrecklichen 16 Regierungsjahren von
Helmut Kohl. Wenn der Bundeskanzler im Fernsehen be-
hauptet, er habe eine Steuerreform zustande gebracht, die
Vorgängerregierung dagegen in 16 Jahren nicht; dann
zeigt das sein wohl etwas kurzes Gedächtnis. Ich kann ja
verstehen, dass er an seine eigene Versprechen nicht gern
erinnert wird, ich nenne hier nur das Beispiel: Wenn wir
es nicht schaffen die Arbeitslosigkeit nennenswert unter
3,5 Millionen zu drücken, dann haben wir es nicht länger
verdient zu regieren. Ich kann verstehen, dass er dies an-
gesichts der zurzeit mehr als 4 Millionen Arbeitslosen
verdrängt, genauso wie er etwa gegenüber den Rentnern
das Versprechen gebrochen hat, die Renten weiter wie die
Nettolöhne steigen zu lassen oder etwa „6 Pfennig sind
genug bei der Ökosteuer“. Aber leider hat er über das Ver-
drängen auch verlernt, dass es in der Vergangenheit rich-
tige Rezepte gegeben hat.
Ich erinnere an die stoltenbergsche Steuerreform von
1985 bis 1989. Hier waren allein in den alten Bundeslän-
dern am Ende 3 Millionen mehr Menschen in sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und
das Steueraufkommen hatte sich sogar erheblich gestei-
gert. Anstelle von einem Minus von 43 Milliarden DM,
wie es theoretisch vorgesehen war, gab es Mehreinnah-
men von 121 Milliarden DM. Hat der Kanzler vergessen,
dass die Petersberger Beschlüsse mit einer umfassenden
Steuerreform, die wesentlich besser war als all das, was
Rot-Grün jemals vorgelegt hat, zweimal im Bundestag
mit Kanzlermehrheit von CDU/CSU und FDP verab-
schiedet wurden und durch ihn als Ministerpräsidenten
mit seinen SPD-Kollegen Eichel und Lafontaine im Bun-
desrat verhindert worden ist? Zwei wichtige Meister-
stücke von Reformen wurden von der Union konzipiert
und beschlossen. Soweit sie in Kraft getreten sind, wie die
stoltenbergschen Reform, waren sie ein großer Erfolg.
Die SPD trägt die Verantwortung dafür, dass die Pe-
tersberger Beschlüsse nicht in Kraft treten konnten und
dementsprechend erhebliches Wirtschaftswachstum ver-
hindert wurde. Dies hat dazu geführt, dass Arbeitslosig-
keit nicht in dem Maße beseitigt worden ist, wie das mög-
lich gewesen wäre. Dieses Versagen der Politik hat einen
Namen: Gerhard Schröder.
Wenn der 1998 eingeleitete Aufschwung angeblich der
Aufschwung Gerhard Schröders war, dann ist der jetzige
Abschwung ebenfalls sein Abschwung.
Da die Union die Regelungen des Tariftreuegesetzes
schon inhaltlich für falsch hält, kommt es auf die Verein-
barkeit mit dem europäischen Recht nicht mehr an. Die
Ergebnisse der entsprechenden Prüfung werden uns
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23651
(C)
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(B)
sicherlich bald ins Haus stehen und dann werden Sie Ihr
nächstes Waterloo erleben. Es wäre besser, wenn die
Bundesregierung unseren Vorschlägen für eine Verbesse-
rung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen folgen
würde. Schlagt nach bei Stoiber, Merkel und Merz im Re-
gierungsprogramm. Das, was in anderen Ländern zum Er-
folg geführt hat, wie die Beispiele Frankreich, England
und Amerika beweisen und wie die stoltenbergschen Re-
formen bei uns selbst bewiesen haben, sollten wir endlich
anpacken. Bürokratie führt uns nicht von der Roten La-
terne zur Lokomotive in Europa zurück. Die Antworten
der Bundesregierung machen deutlich, dass nur ein poli-
tischer Wechsel am 22. September 2002 den wirtschaft-
lichen Aufschwung bringen wird.
Gerhard Schüßler (FDP): Bei den öffentlich er-
brachten Dienstleistungen und im öffentlichen Vergabe-
recht liegt vieles im Argen. Aufgrund der mangelnden Kos-
tenkontrolle arbeiten öffentliche Unternehmen ineffizient.
Anstatt sich auf ihre Kernleistungen zu konzentrieren, bre-
chen sie mit zusätzlichen Leistungen in den privatwirt-
schaftlichen Markt ein und machen den Handwerkern und
der mittelständischen Wirtschaft Konkurrenz. Ausrangierte
Parteipolitiker werden mit lukrativen Posten versorgt und
sichern den Einfluss der Parteien auf die Unternehmen. Die
Unternehmen müssen wiederum Annehmlichkeiten der
Politik finanzieren. Damit die Rechnung immer wieder
aufgeht, zahlen die Bürger überteuerte Tarife, ohne dass
sie die Möglichkeit haben, auf Konkurrenz auszuweichen.
Von der öffentlichen Verwaltung werden Leistungen
häufig mit fadenscheinigen Ausreden gar nicht ausge-
schrieben, um sie bestimmten Unternehmern zuschieben
zu können. Oder bei unausweichlichen Ausschreibungen
werden sie nach großzügiger „Beatmung“ der Privat- oder
Parteikassen befreundeten Bewerbern zugeschlagen.
Die große Koalition aus SPD und CDU in den Rathäu-
sern Westdeutschlands kann damit großartig leben. Das
tut auch die PDS im Osten, die das System schnell für sich
entdeckt hat. Der Spendenskandal der SPD in NRW hat
die Mechanismen gerade wieder schonungslos offen ge-
legt.
Also wehe dem, der wie die europäische Kommission
Hand an das deutsche System legen will. Die vorliegende
Große Anfrage zeigt ein einträchtiges Bild. Das Wechsel-
spiel von Fragen der PDS und Antworten der Bundes-
regierung zeigt, wie ängstlich das rot-rot-grüne Trio in ih-
rer deutschen Trutzburg sitzt und misstrauisch auf das
böse Brüssel schielt. Da finden sich schnell die Nichtigen
zusammen, wenn es darum geht, auch nur den kleinsten
Fortschritt auf dem Gebiet des Vergaberechts und der öf-
fentlichen Dienstleistungen zu verhindern.
Auf nationaler Ebene versucht Rot-Grün mit seinem
Tariftreuegesetz der darniederliegenden ostdeutschen
Bauwirtschaft den Todesstoß zu geben. Als finanzielle
Auswirkung gesteht selbst die Bundesregierung eine Ver-
teuerung von öffentlichen Projekten um 5 Prozent ein.
Das sind 2 Milliarden Euro. Dazu kommen noch Verwal-
tungsmehrkosten in Höhe von mindestens 1 Prozent des
Auftragsvolumens, Kontrollkosten, Vollzugskosten, Kos-
ten für Registerführung etc. Der PDS geht das natürlich
noch nicht weit genug, wobei schwer vorzustellen ist, wie
ein noch größerer Schaden aussehen könnte.
Da müssen wir fast der europäischen Kommission
dankbar sein. Bei allem unguten Gefühl, das auch ich
habe, wenn Politik außerhalb des deutschen Parlaments
gemacht wird, muss ich anerkennen, dass die europäische
Kommission derzeit die einzige Akteurin ist, die in
Deutschlands Wirtschaftverfassung für Bewegung sorgt
und die das Wohl der deutschen Bürger eher im Auge
behält als die rot-grüne Regierung. Während die Bundes-
regierung alles unternimmt, ein nicht mehr leistungsfähi-
ges Industrie- und Arbeitsmarktmodell weiter zu zemen-
tieren, versucht die Kommission Standards für mehr
Wettbewerb und effizientere Leistungserbringung bei öf-
fentlichen Dienstleistungen durchzusetzen. Es steht aller-
dings auch hier zu befürchten, dass Bundeskanzler
Schröder bei diesen Ansätzen ähnlich wie bei der Stein-
kohlesubventionierung oder der Kfz-Vermarktung in
Brüssel und Europa eine Schneise der Verwüstung schla-
gen wird, um für seine antiquierte Vorstellung von deut-
scher Industriepolitik zu kämpfen.
Man muss sich nicht mit allen Vorschlägen der Kom-
mission einverstanden erklären. Aber die Zielrichtung
verdient Zustimmung. Mit den Verordnungs- und Richtli-
nienvorschlägen sollen Mindestanforderungen an die
Qualität der Dienstleistung festgelegt werden. Es soll
vollständige Transparenz geschaffen werden, die gerade
in Deutschland bitter notwendig wäre. Die Bürger sollen
Wahlmöglichkeiten bekommen. Damit wäre endlich auch
ein effizienzsteigernder Wettbewerb möglich. Zudem sol-
len unabhängige Regulierungsinstanzen geschaffen wer-
den, ein Instrument, mit dem wir in Deutschland zumin-
dest auf dem Gebiet der Telekommunikation recht
positive Erfahrungen gesammelt haben.
Dies alles ist durchaus im Sinne unserer Bürger. Aber
die Vorstellung des freien Wettbewerbs für kommunale
Unternehmen scheint SPD, PDS und Grüne auf die Barri-
kaden zu treiben. Der Begriff der Daseinsvorsorge dient
ihnen als Deckmantel, ein ineffizientes, in parteipoliti-
schen Filz verwobenes System öffentlicher Dienstleistun-
gen und Vergabepraktiken zu rechtfertigen. Wann erken-
nen diese sich selbst „sozial“ nennenden Parteien endlich,
dass auch faire Preise für öffentliche Güter und Dienst-
leistungen soziale Errungenschaften sind?
Reformen sind in Deutschland dringend notwendig.
Nur sollten wir damit nicht auf Brüsseler Kompromisse
warten müssen, sondern sie selbst zielstrebig für unser
Land anpacken.
Ursula Lötzer (PDS): In seiner Berliner Rede be-
schrieb Bundespräsident Rau am Montag dieser Woche
den Widerspruch zwischen Markt und Demokratie als
eine der zentralen Herausforderungen an eine politische
Gestaltung der Globalisierung: „Wenn jetzt der Markt
global wird, dann brauchen wir Ordnungen, die weltweit
die Freiheit der Menschen sichern. Dann muss die Politik
dafür sorgen, dass die Freiheit des globalen Marktes die
Freiheit der Menschen nicht beschädigen kann.“
Diese Worte des Bundespräsidenten gelten auch für die
Europäische Union und ihr Wettbewerbsrecht: Wollen wir
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223652
(C)
(D)
(A)
(B)
eine Europäische Union, in der allein die uneinge-
schränkte Marktteilnahme internationaler Konzerne das
Maß dafür ist, ob und wie Leistungen der Daseinsvor-
sorge erbracht werden, oder wollen wir, dass darüber de-
mokratisch nach sozialen und ökologischen Kriterien in
den Kommunen entschieden wird, wie es dem grundge-
setzlich geschützten Recht auf kommunale Selbstverwal-
tung entspricht? Wollen wir eine Europäische Union mit
einer Wettbewerbsordnung, die eine Abwärtsspirale der
Konkurrenz um immer niedrigere Einkommen, immer
schlechtere soziale Standards in Gang setzt, oder wollen
wir eine politische Gestaltung des Wettbewerbs, die die
Einkommen der Beschäftigten davor schützt?
Ausgehend von diesen beiden Grundfragen haben wir
in unserer Großen Anfrage die Forderungen von Gewerk-
schaften und die Positionen kommunaler Verkehrsver-
bände wie auch des Deutschen Städtetages für zukunfts-
fähige, qualitativ hochwertige Nahverkehrsunternehmen
aufgenommen; auf sie umfassend im Detail einzugehen in
fünf Minuten Redezeit ist nicht möglich.
Umso notwendiger ist es bei einer Debatte, die mehr
als sechs Monate nach Abfassung der Antwort stattfindet,
auch auf die inzwischen eingetretenen Entwicklungen
einzugehen.
Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament,
auch dank der hervorragenden Arbeit des Berichterstatters
Erik Meijer aus der Fraktion der Europäischen Linken
(GUE/NGL), zahlreiche Änderungen des Verordnungs-
entwurfes der Kommission beschlossen, die wir als
Schritte zur Stärkung von sozialer Gerechtigkeit und De-
mokratie begrüßen und nachhaltig unterstützen. Von he-
rausragender Bedeutung ist dabei die Entscheidung des
EP, den Kommunen selbst die Entscheidung zu überlas-
sen, ob sie Nahverkehrsdienstleistungen weiterhin mit
ihren kommunalen Unternehmen erbringen oder ob sie
eine europaweite Ausschreibung durchführen wollen. Die
Europäische Kommission weigert sich hingegen hart-
näckig, auf den Zwang zur Ausschreibung zu verzichten,
mit dem das Subsidiaritätsprinzip verletzt und das Wett-
bewerbsrecht der kommunalen Demokratie übergeordnet
wird, wie ein gerade von der Gewerkschaft Verdi vorge-
legtes Rechtsgutachten eindrucksvoll aufzeigt.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung im Europä-
ischen Rat entsprechend ihrer Aussage in der Antwort auf
unsere Frage diese Position wirksam unterstützt und diese
Auseinandersetzung auch öffentlich führt. Denn es geht
um Grundfragen der demokratischen Verfasstheit der
Europäischen Union und, wie unlängst in Köln Stefan
Arcticus, Geschäftsführer des Deutschen Städtetages, for-
mulierte, um „Überlebensfragen der Kommunalpolitik“.
Die kommunale Demokratie darf nicht zu einer Aus-
schreibungsagentur mit besonderen Ortskenntnissen von
Gnaden der EU-Kommission verkommen.
In dieser Auseinandersetzung steht die PDS an der
Seite der Kommunen und der Gewerkschaften ebenso wie
in der Frage der so genannten Quersubventionierung, der
in vielen Kommunen üblichen Finanzierung der Verluste
des QPNV mit Gewinnen aus der kommunalen Energie-
und Wasserversorgung, die die Kommission als wettbe-
werbswidrige Beihilfen verboten sehen will. Wo bleibt die
viel beschworene Neutralität der EU gegenüber Eigen-
tums- und Betriebsformen, wenn von im Verkehrsbereich
tätigen Konzernen wie Vivendi nicht verlangt wird, nach-
zuweisen, den Busbereich nicht mit Gewinnen aus ande-
ren Geschäftsbereichen zu subventionieren? Ich sage: Die
internen Bilanzen von Stadtwerken gehen die Wettbe-
werbsbürokraten in Brüssel nichts an. Quersubventionie-
rung muss möglich bleiben.
Auch hier erwarte ich von der Bundesregierung, dass
sie sich öffentlich und im Europäischen Rat dafür ein-
setzt. Wenn wir ein soziales Europa wollen, in dem erst
die Demokratie und dann der freie Markt kommt – wie
es der Bundespräsident gefordert hat –, brauchen wir ei-
nen öffentlichen und transparenten Entscheidungspro-
zess. Aussagen wie die der Bundesregierung, dass „sie
die von ihr gewählte Verhandlungslinie auf europäischer
Ebene im Rahmen der Beantwortung einer Großen An-
frage im Detail nicht darlegen kann“, sind damit nicht
vereinbar.
Dies ist aus meiner Sicht eine tief greifende Missach-
tung des Parlaments, unserer Informationsrechte als Ab-
geordnete und wie die Sache selbst eine Grundfrage der
Demokratie in der Europäischen Union. Es spricht der
Demokratie Hohn, wenn über Regierungshandeln, das
mit europäischen Richtlinien zu Ergebnissen führt, die für
die Politik in der Bundesrepublik verbindlich sind, erst
nachträglich im Parlament diskutiert werden kann. Und
dieses Demokratiedefizit Ihrer Politik ist mitverantwort-
lich für Euroskepsis und die Erfolge einer nationalisti-
schen und rechtspopulistischen Kritik an einem Europa,
das als undurchschaubare Instanz empfunden wird – nicht
nur in der Bundesrepublik, sondern auch in unseren
Nachbarländern, allen voran in Frankreich.
In der letzten Sitzungswoche wurde das Tariftreuege-
setz verabschiedet. Im Wirtschaftsausschuss haben wir,
mit den Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
tionen Änderungen zu den jetzt vorliegenden Richtlinien-
entwürfen für die Auftragsvergabe beschlossen. Mit die-
sen Änderungen sollen die jeweiligen unterschiedlichen
Tarifsysteme der Mitgliedstaaten für den anzuwendenden
Tarifvertrag berücksichtigt werden. Wir fordern die Ver-
treter der Bundesregierung dringend auf, sich dafür ein-
zusetzen.
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
Juni vergangenen Jahres ist die PDS mit ihrer Großen An-
frage „Sicherung sozialer und tariflicher Standards sowie
der Stellung der kommunalen Selbstverwaltung und der
öffentlichen Daseinsvorsorge im nationalen und europä-
ischen Wettbewerbs- und Vergaberecht“, über die wir
heute debattieren, auf einen Zug aufgesprungen, den die
Bundesregierung bereits aufs Gleis gesetzt und zum Fah-
ren gebracht hat: Ich meine damit das von der Bundesre-
gierung im Dezember letzten Jahres eingebrachte und am
26. April hier im Plenum in zweiter und dritter Lesung ver-
abschiedete Tariftreuegesetz bei öffentlichen Aufträgen.
Wenn man die Fragen der Damen und Herren der PDS
einmal etwas näher betrachtet, stellt man sehr schnell fest,
dass hier weitgehend Fragen aufgeworfen und Problem-
kreise angesprochen sind, mit denen sich die Bundesre-
gierung bereits eingehend bei der Erarbeitung des Ge-
setzentwurfes befasste.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 2002 23653
(C)
(D)
(A)
(B)
Meine Damen und Herren, das Tariftreuegesetz, das
öffentliche Auftragnehmer bei der Vergabe von Bauauf-
trägen und bei Auftragsvergaben im öffentlichen Perso-
nennahverkehr dazu zwingt, ihren Beschäftigten den je-
weiligen Lohn am Ort der Leistungserbringung zu zahlen,
ist ein Beitrag zur Stabilisierung der Arbeitsbedingungen
in der Bauwirtschaft und im ÖPNV und dient gleichzeitig
dazu, Wettbewerbsverzerrungen durch den Einsatz von
Niedriglohnkräften zu verhindern.
Es sichert Arbeitsplätze, auskömmliche Löhne und
hilft, Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme zu
vermeiden.
Zur Verwirklichung dieser Ziele müssen die Unterneh-
men zur Zahlung der ortsüblichen Tariflöhne verpflichtet
werden. Nichts anderes sieht das Gesetz vor, das hoffent-
lich noch in diesem Monat in der vom Bundestag verab-
schiedeten Fassung auch den Bundesrat passiert.
Dem Grundsatz könnte entgegen gehalten werden,
dass Bauunternehmen aus Regionen mit niedrigerer
Lohnstruktur, etwa den neuen Bundesländern, ihren bis-
lang bestehenden Lohnvorteil bei öffentlichen Auf-
trägen verlieren würden. Doch auch dies haben wir
bedacht. Mit der schrittweisen Absenkung der Schwel-
lenwerte und der stufenweisen Anhebung der zu zahlen-
den Löhne haben wir eine Lösung erarbeitet, die sowohl
dem mit dem Tariftreuegesetz angestrebten Ziel Rech-
nung trägt, gleichzeitig aber sozialen Schutz wahrt und
Rücksicht auf die Interessen der ostdeutschen Bauwirt-
schaft nimmt.
Meine Damen und Herren, eine Alternative zu diesem
Gesetz gibt es nicht. Die Bundesregierung sieht sich viel-
mehr in guter Gesellschaft mit den Bundesländern.
Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt, um nur ein paar zu
nennen, waren Länder, die ihrerseits bereits Tariftreue-
regelungen eingeführt hatten, bevor der Bund das Thema
aufgriff und die Gesetzesinitiative übernahm.
Auch die von Ihnen in der Großen Anfrage vorge-
brachten Bedenken der europa- und verfassungsrechtli-
chen Zulässigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung
sind sorgfältigst geprüft.
Meine Damen und Herren, zusammen mit dem Tarif-
treuegesetz schaffen wir in dem Entwurf die rechtliche
Grundlage zur Einrichtung eines Registers über unzuver-
lässige Unternehmen, allgemein „Korruptionsregister“
genannt.
Unternehmen, deren führende Mitarbeiter durch
korrupte Verhaltensweisen oder andere schwere Verfeh-
lungen im Rechtsverkehr negativ aufgefallen sind, haben
beim Geschäft mit dem Staat nichts zu suchen. Sie sind
vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge auszu-
schließen. Dies ist seit langer Zeit in Deutschland bereits
geltendes Recht und daher kein legislatives Problem.
Das Problem ist vielmehr: Wie erfährt der öffentliche
Auftraggeber in A, dass ein Auftraggeber in B ein Unter-
nehmen wegen schwerer Verfehlungen ausgeschlossen
hat? Hier setzt das von uns geplante Korruptionsregister
an, für dessen Einrichtung wir mit dem Tariftreuegesetz
die notwendige Rechtsgrundlage schaffen.
Durch Rechtsverordnung sollen in Zukunft alle öffent-
lichen Auftraggeber verpflichtet werden, Unternehmen,
die wegen einer schweren Verfehlung von der Vergabe öf-
fentlicher Aufträge ausgeschlossen worden sind, dem Re-
gister zu melden. Damit werden sie bundesweit erfasst
und die Unzulässigkeit dieser Unternehmen wird allen öf-
fentlichen Auftraggebern bekannt.
Durch Rechtsverordnung sollen in Zukunft außerdem
alle öffentlichen Auftraggeber verpflichtet werden, beim
Register anzufragen, ob das Unternehmen, an das der
Auftrag gehen soll, dort gelistet ist. Der Ausschluss we-
gen einer schweren Verfehlung ist dann bundesweit jedem
öffentlichen Auftraggeber vor Auftragsvergabe bekannt,
und jeder öffentliche Auftraggeber hat dann noch einmal
im Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob die Ausschluss-
gründe weiter fortbestehen oder ob das Unternehmen sich
wieder auf den Pfad der Tugend begeben und Maßnahmen
der Selbstreinigung ergriffen hat. Ist dies in ausreichen-
dem Maße der Fall, muss es wieder zum Wettbewerb um
öffentliche Aufträge zugelassen werden.
Ich denke, dass mit diesen Maßnahmen auch klare Sig-
nale an Unternehmen und Bürger gehen, dass die Bun-
desregierung Korruption und Wirtschaftskriminalität
ernsthaft bekämpft, dokumentiert, dass in Deutschland
mit unlauteren Mitteln keine Geschäfte mit dem Staat zu
machen sind und das Vertrauen der Bürger in Politik und
Verwaltung stärken will.
Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, hat die Bun-
desregierung mit dem Tariftreuegesetz ein Bündel von
Maßnahmen vorgelegt, das von diesem Parlament auch
mehrheitlich verabschiedet wurde und das weit über das
hinausgeht, was Sie mit Ihrer Großen Anfrage bezwecken
wollten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 236. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Mai 200223654
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin