Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002
        Heidi Lippmann
        23254
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        1) Anlage 12
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23255
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Balt, Monika PDS 25.04.2002
        Behrendt, Wolfgang SPD 25.04.2002*
        Bindig, Rudolf SPD 25.04.2002*
        Breuer, Paul CDU/CSU 25.04.2002
        Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 25.04.2002*
        Klaus
        Erler, Gernot SPD 25.04.2002
        Ernstberger, Petra SPD 25.04.2002
        Friedrich (Altenburg), SPD 25.04.2002
        Peter
        Haack (Extertal), SPD 25.04.2002*
        Karl-Hermann
        Hofbauer, Klaus CDU/CSU 25.04.2002
        Hoffmann (Chemnitz), SPD 25.04.2002
        Jelena
        Dr. Hornhues, CDU/CSU 25.04.2002*
        Karl-Heinz
        Hornung, Siegfried CDU/CSU 25.04.2002*
        Irmer, Ulrich FDP 25.04.2002
        Jäger, Renate SPD 25.04.2002*
        Jünger, Sabine PDS 25.04.2002
        Koschyk, Hartmut CDU/CSU 25.04.2002
        Lintner, Eduard CDU/CSU 25.04.2002*
        Dr. Lippelt, Helmut BÜNDNIS 90/ 25.04.2002*
        DIE GRÜNEN
        Dr. Lucyga, Christine SPD 25.04.2002*
        Michels, Meinolf CDU/CSU 25.04.2002*
        Müller (Berlin), PDS 25.04.2002*
        Manfred
        Neumann (Gotha), SPD 25.04.2002*
        Gerhard
        Nietan, Dietmar SPD 25.04.2002
        Onur, Leyla SPD 25.04.2002*
        Ostrowski, Christine PDS 25.04.2002
        Palis, Kurt SPD 25.04.2002*
        Philipp, Beatrix CDU/CSU 25.04.2002
        Raidel, Hans CDU/CSU 25.04.2002
        Reiche, Katherina CDU/CSU 25.04.2002
        Roos, Gudrun SPD 25.04.2002
        Rühe, Volker CDU/CSU 25.04.2002
        Rupprecht, Marlene SPD 25.04.2002*
        Scharping, Rudolf SPD 25.04.2002
        Schily, Otto SPD 25.04.2002
        Schlee, Dietmar CDU/CSU 25.04.2002
        Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 25.04.2002
        Hans Peter
        von Schmude, Michael CDU/CSU 25.04.2002*
        Schultz (Köln), Volkmar SPD 25.04.2002
        Seehofer, Horst CDU/CSU 25.04.2002
        Siemann, Werner CDU/CSU 25.04.2002
        Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25.04.2002
        Thönnes, Franz SPD 25.04.2002
        Zierer, Benno CDU/CSU 25.04.2002*
        * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung
        des Europarates
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Em-
        bryonenschutzes im Zusammenhang mit Ein-
        fuhr und Verwendung menschlicher embryonaler
        Stammzellen (Stammzellgesetz – SZG) (Druck-
        sache 14/8846)
        Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Ich lehne den
        Import von menschlichen embryonalen Stammzellen aus
        grundsätzlichen Erwägungen heraus ab und stimme des-
        halb dem Gesetzentwurf nicht zu.
        Erstens. Bei der Entscheidung des Deutschen Bun-
        destages vom 30. Januar 2002 handelt es sich um eine
        grundlegende Weichenstellung. Damit wird ein Weg ein-
        geschlagen, den ich ablehne. Er widerspricht meinem
        grundlegenden Verständnis von der unteilbaren Würde
        des Menschen von Anfang an, beginnend mit der Ver-
        schmelzung von Ei und Samenzelle.
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        Zweitens. Unabhängig davon respektiere ich die Mehr-
        heitsentscheidung, da eine grundsätzliche Regelung des
        Imports von embryonalen Stammzellen dringend erfor-
        derlich ist.
        Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        lehne den Import embryonaler Stammzellen ab. Für mich
        beginnt das menschliche Leben mit der Verschmelzung
        von Ei- und Samenzelle. Dieses Leben in seiner Individu-
        alität muss den vollen Schutz des Grundgesetzes nach
        Art. 1 und 2 – die Unantastbarkeit der Würde des Men-
        schen sowie das Recht auf Leben – genießen. Diese ethi-
        sche Bewertung trifft auch für im Ausland erzeugte Em-
        bryonen zu.
        Am 30. Januar 2002 hat nach kontroverser und
        grundsätzlicher Debatte die Mehrheit des Deutschen Bun-
        destages dafür gestimmt, eine gesetzliche Regelung zum
        Stammzellenimport mit strikten Auflagen herbeizu-
        führen. Daraufhin habe ich mich dafür eingesetzt, eine
        klare und strenge Reglementierung in das Gesetz einzu-
        bringen, die gewährleistet, dass für die Stammzellfor-
        schung in Deutschland keine Embryonen getötet werden.
        Dies ist gelungen. Im Endeffekt stellt der jetzt vorliegende
        Gesetzentwurf eine wesentliche Verbesserung und Ver-
        schärfung der geltenden Gesetzeslage dar, die bisher
        keine Importeinschränkungen vorsieht. Deshalb kann ich
        dem jetzt vorliegenden Entwurf inklusive des Ände-
        rungsantrages Renesse/Fischer, der eine Klärung in den
        Strafvorschriften beinhaltet, zustimmen. Dieses Ergebnis
        ist ein großer Erfolg der Arbeit der Enquete-Kommission
        „Recht und Ethik der modernen Medizin“ sowie der öf-
        fentlichen Debatte, insbesondere der Beiträge von Kir-
        chen und NGOs. Noch vor einem Jahr wäre es so nicht zu-
        stande gekommen.
        Eine Rückholung der demokratischen Entscheidung
        vom 30. Januar durch einen Änderungsantrag, der den Im-
        port embryonaler Stammzellen gänzlich verbietet, halte
        ich trotz meiner oben dargelegten Auffassung zu diesem
        Thema für demokratisch und rechtlich problematisch.
        Eine Zustimmung zu diesem Antrag entspräche meiner
        Auffassung nach nicht dem Auftrag der Bundestagsmehr-
        heit zur Einbringung eines Gesetzesentwurfs mit strengen
        Richtlinien und würde den weiteren parlamentarischen
        Entscheidungen nicht standhalten. Im Gegenteil, eine sol-
        che Entscheidung wird zu rechtlich begründbaren Gegen-
        reaktionen führen und den Konsens gefährden.
        Daher werde ich mich an diesem Punkt enthalten.
        Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Dem Gesetzent-
        wurf zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zu-
        sammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher
        embryonaler Stammzellen – Drucksache 14/8394 – stimme
        ich zu in Respekt vor der Mehrheitsentscheidung des
        Bundestages vom 30. Januar dieses Jahres. In der damali-
        gen Debatte habe ich meine prinzipiellen Einwände gegen
        die Forschung an menschlichen Embryonen vorgetragen
        und meine Zweifel, ob die von der Mehrheit schließlich
        entschiedene Zulassung unter genau und eng definierten
        Grenzen auf Dauer haltbar und praktikabel ist. Diese
        Zweifel sind durch den vorliegenden Gesetzentwurf für
        mich keineswegs ausgeräumt, gleichwohl ist nicht zu be-
        streiten, dass dieser Entwurf die Grundsatzentscheidung
        der Mehrheit des Bundestages vom 30. Januar so genau
        wie eben möglich umsetzt.
        Ich stimme dem Gesetzentwurf nur deshalb zu, weil
        das geltende Embryonenschutzgesetz den Import embry-
        onaler Stammzellen nicht ausdrücklich ausschließt und
        daher eine Ergänzung und Präzisierung des Gesetzes-
        textes dringend geboten ist. Dies will ich nicht durch die
        Ablehnung dieses überfraktionellen Gesetzentwurfes ge-
        fährden, auch wenn er meinen persönlichen Überzeugun-
        gen im Grundsatz nicht entspricht.
        Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das deutsche
        Embryonenschutzgesetz verbietet den Verbrauch von
        Embryonen zu Forschungszwecken. In diesem Sinne
        lehne ich nach wie vor die Nutzung von Embryonen zu
        Forschungszwecken aus ethischen, moralischen und for-
        schungspolitischen Gründen ab. Folgerichtig resultiert
        daraus auch meine Ablehnung des Imports im Ausland
        hergestellter embryonaler Stammzellen. Eine Zulassung
        des Imports bedeutet, dass im Ausland gemacht wird, was
        in Deutschland verboten und nicht gewollt ist. Ethische
        Grundsätze aber ändern sich nicht mit dem Überschreiten
        politischer Grenzen.
        Der Deutsche Bundestag hat nach einer intensiven De-
        batte am 30. Januar 2002 die grundsätzliche Entscheidung
        in dieser Frage getroffen. Er hat sich mehrheitlich dafür
        ausgesprochen, den Import embryonaler Stammzellen auf
        bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten
        Stichtag etabliert wurden, zu beschränken. Wenngleich
        ich den Versuch der Befürworter und Befürworterinnen
        eines beschränkten Imports anerkenne und respektiere,
        über einen solchen Weg den Verbrauch neuer Embryonen
        verhindern zu wollen, halte ich die getroffene Entschei-
        dung nach wie vor für falsch.
        Ich hätte es meiner Wertvorstellungen wegen gerne
        verhindert, dass menschliches Leben für spekulative For-
        schung genutzt wird. Ich hätte es forschungspolitisch für
        sinnvoller gehalten, die Kräfte zu bündeln und auf die the-
        rapeutisch erfolgreicheren adulten Stammzellen zu kon-
        zentrieren.
        Wenn ich mich heute beim Gesetzentwurf in der geän-
        derten Fassung enthalte, so geschieht das vor dem Hinter-
        grund der Befürchtung, dass eine Ablehnung des vorlie-
        genden Entwurfs dazu führen könnte, dass am Ende keine
        Regelung zustande kommt und die gesellschaftliche und
        politische Akzeptanz für eine Beschränkung schwindet.
        Der nach dem Embryonenschutzgesetz mögliche unge-
        hinderte Import embryonaler Stammzellen aber stellt für
        mich das größere Übel dar, denn er würde einem Ver-
        brauch neu hergestellter Embryonen im Ausland Vor-
        schub leisten.
        Heinz Schemken (CDU/CSU): Ich stimme gegen
        den Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 14/8394
        „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryo-
        nenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwen-
        dung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stamm-
        zellgesetz – SZG)“. Es zeigt sich jetzt immer deutlicher,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223256
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        dass der Beschluss des Deutschen Bundestages vom
        30. Januar 2002 mit der bedingten Öffnung der Einfuhr
        von menschlichen embryonalen Stammzellen und die
        Forschung an diesen Zellen uns in eine zwangsläufige
        Folge weiter gehender Entscheidungen führt. Damit geht
        auch dieser Gesetzentwurf immer mehr vom Geist des
        Embryonenschutzgesetzes weg. Das geltende Embryo-
        nenschutzgesetz schließt eindeutig Forschungen an Em-
        bryonen ebenso aus wie das so genannte „therapeutische“
        Klonen, bei dem ein lebensfähiger Embryo zerstört wird.
        Statt der Forschung mit embryonalen Stammzellen sollte
        die Forschung mit adulten Stammzellen einschließlich der
        Stammzellen aus Nabelschnurblut intensiviert werden.
        Neue wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin,
        dass auf diesem Wege weit reichende Erkenntnisse zu ge-
        winnen sind.
        Leben ist mehr als Gesundheit und genetische Perfek-
        tion. Zum menschlichen Leben gehören ebenso Inspira-
        tion und Ideenreichtum, Engagement und Wille, aber
        auch Begrenzung und Behinderung. Als Christen glauben
        wir, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaf-
        fen hat. Daher ist das Leben der Verfügbarkeit des Men-
        schen entzogen. Der Mensch darf nicht sein eigener
        Schöpfer werden und selbst den Maßstab gelingenden Le-
        bens festsetzen. Die Würde des Menschen ist unantastbar
        – das ist Grundlage unserer demokratischen Verfassung.
        Die Fortschritte im Bereich der Lebenswissenschaften
        wecken Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Be-
        fürchtungen. Meine Auffassung ist die, dass technische
        Machbarkeit von Verfahren in der Biotechnologie und Me-
        dizin nicht zum Maßstab für eine ethische Rechtfertigung
        werden darf. Auch ökonomische Interessen sowie die Stan-
        dortfrage können nicht gegen Lebensschutz und Menschen-
        würde aufgewogen werden. Wer daher jetzt dem Drängen
        interessierter Kreise nachgibt, wird es zukünftig schwer ha-
        ben, entsprechende weiter gehende Forderungen abzu-
        wehren. Die Feststellung der EnqueteKommission, dass a
        ngesichts der ethischen Konflikte die Gewinnung von
        Stammzellen aus Embryonen, bei denen menschliches
        Leben vernichtet wurde, weiterhin nicht verantwortbar
        sei, muss deshalb wegweisend und bindend bleiben.
        Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Ich stimme dem
        Stammzellgesetz, eingeschlossen die vorliegenden Ände-
        rungsanträge, nicht zu. Nach meiner Auffassung bedarf es
        eines solchen Gesetzes nicht, sind die von ihm für die Em-
        bryonenforschung errichteten rechtlichen Schranken zu ri-
        gide. Der Schutz menschlichen Lebens kann grundsätzlich
        nur mit der Nidation beginnen. Vor der Nidation ist eine em-
        bryonale Stammzelle prinzipiell noch nicht als menschli-
        ches Leben im verfassungsrechtlich geschützten Sinne zu
        qualifizieren. Es besteht demgemäß kein verfassungsrecht-
        liches Erfordernis für eine Gesetzgebung der hier vorgese-
        henen Art. Im Gegenteil, gerade die Prinzipien des Schutzes
        der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG und des
        Schutzes von Leben und Gesundheit für jeden Menschen
        gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebieten zumindest die prin-
        zipielle Zulassung auch der Stammzellenforschung. Denn
        Stammzellenforschung dieser Art eröffnet medizinisch emi-
        nente Möglichkeiten zur Heilung von Erbkrankheiten und
        zur Bekämpfung von Gesundheitsschäden gerade genetisch
        bedingter Art. Solche Forschungen auszuschließen ist nicht
        nur mit Art. 5 Abs. 3 GG, sondern auch mit dem Grundrecht
        aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.
        Richtig ist, dass es bei Fragen dieser Art immer eines
        verhältnismäßigen Ausgleichs bedarf. Dies bedeutet ins-
        besondere, dass der Forschung an und mit adulten Stamm-
        zellen stets der Vorrang vor der Forschung mit embryona-
        len Stammzellen zu geben ist. Ein generelles Verbot der
        Forschung mit und an embryonalen Stammzellen ist je-
        doch unverhältnismäßig und meines Erachtens nicht ge-
        rechtfertigt. Aus diesem Grunde macht es auch keinen
        Sinn, ein entsprechendes Importverbot zu verhängen. Die
        Forschung an und mit embryonalen Zellen wird weltweit
        betrieben, stößt in aller Regel nicht auf vergleichbare
        Schranken, wie sie durch das Stammzellgesetz vorgese-
        hen werden. Aus Gewissensgründen wie aus verfassungs-
        rechtlichen Gründen kann ich dieser Gesetzgebung dem-
        gemäß nicht zustimmen.
        Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CDU):
        Ich lehne den Import von menschlichen embryonalen
        Stammzellen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab
        und stimme deshalb dem Gesetzentwurf nicht zu. Bei der
        Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 30. Januar
        2002 handelt es sich um eine grundlegende Weichen-
        stellung. Damit wird ein Weg eingeschlagen, den ich ab-
        lehne. Er widerspricht meinem grundlegenden Verständ-
        nis von der unteilbaren Würde des Menschen von Anfang
        an, beginnend mit der Verschmelzung von Ei und Samen-
        zelle.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Ruth
        Fuchs, Dr. Dietmar Bartsch und Dr. Uwe-Jens
        Rössel (alle PDS) zur namentlichen Abstimmung
        über den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstel-
        lung des Embryonenschutzes im Zusammen-
        hang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher
        embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz –
        SZG) (Drucksache 14/8846)
        Wir stimmen – im Unterschied zur Mehrheit unserer
        Fraktion – dem oben genannten Gesetzentwurf zu. Am
        30. Januar 2002 hat der Deutsche Bundestag beschlossen,
        in Deutschland – unter strengen Auflagen – die Forschung
        an menschlichen embryonalen Stammzellen zu hochran-
        gigen Zwecken zu ermöglichen.
        In der Abwägung zwischen den verschiedenen Beden-
        ken gegenüber der Verwendung von menschlichen em-
        bryonalen Stammzellen für Forschungszwecke, den Ge-
        fahren der Kommerzialisierung der Stammzellgewinnung
        und den sich aus der Forschung an embryonalen Stamm-
        zellen möglicherweise ergebenden Heilungschancen für
        schwere Erkrankungen haben wir diesen Beschluss be-
        grüßt.
        Wir sind der Auffassung, dass neben der Schutzwür-
        digkeit möglichen und werdenden Lebens auch die Inte-
        ressen von Schwerkranken zu berücksichtigen sind. Dabei
        gehen wir davon aus, dass menschliche Embryonen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23257
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        keinesfalls beliebige Forschungsgegenstände sind, son-
        dern nur unter strengen Regeln und ausschließlich zu
        hochrangigen Forschungszwecken genutzt werden dür-
        fen.
        Der vorliegende Gesetzentwurf setzt aus unserer Sicht
        den im Januar beschlossenen Kompromiss um, wenn auch
        mit zusätzlichen Restriktionen. Dennoch stimmen wir
        ihm zu, damit für die medizinische Forschung die not-
        wendige Rechtssicherheit hergestellt wird – auch wenn
        in Details andere Festlegungen wünschenswert gewesen
        wären.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        derAbgeordneten René Röspel, Wolfgang Thierse,
        Hans-Werner Bertl, Willi Brase, Christel
        Deichmann, Marga Elser, Gabriele Iwersen, Klaus
        Kirschner, Horst Kubatschka, Helga Kühn-
        Mengel, Dirk Manzewski, Andrea Nahles, Günter
        Oesinghaus, Dagmar Schmidt (Meschede), Regina
        Schmidt-Zadel, Walter Schöler, Dr. Sigrid
        Skarpelis-Sperk, Adelheid Tröscher, Rüdiger Veit,
        Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Arne Fuhrmann,
        Dr. Martin Pfaff, Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
        und Christel Riemann-Hanewinckel (alle SPD)
        zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf
        eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonen-
        schutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Ver-
        wendung menschlicher embryonaler Stammzellen
        (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache 14/8846)
        Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet den
        Verbrauch von Embryonen zu Forschungszwecken.
        In diesem Sinne lehnen wir nach wie vor die Nutzung
        von Embryonen zu Forschungszwecken aus ethischen,
        moralischen und forschungspolitischen Gründen ab. Fol-
        gerichtig resultiert daraus auch unsere Ablehnung des
        Imports im Ausland hergestellter embryonaler Stamm-
        zellen. Eine Zulassung des Imports bedeutet, dass im
        Ausland gemacht wird, was in Deutschland verboten und
        nicht gewollt ist. Unsere ethischen Grundsätze aber än-
        dern sich nicht mit dem Überschreiten politischer Gren-
        zen.
        Wenn wir heute dem Gesetzentwurf in der geänderten
        Fassung trotzdem zustimmen, so geschieht das vor dem
        Hintergrund der Befürchtung, dass eine Ablehnung des
        vorliegenden Entwurfs dazu führen könnte, dass am Ende
        keine Regelung zustande kommt und die gesellschaftliche
        und politische Akzeptanz für eine Beschränkung schwin-
        det. Der nach dem Embryonenschutzgesetz mögliche un-
        gehinderte Import embryonaler Stammzellen aber stellt
        für uns das größere Übel dar, denn er würde einem Ver-
        brauch neu hergestellter Embryonen im Ausland Vor-
        schub leisten.
        Der Deutsche Bundestag hat nach einer intensiven De-
        batte am 30. Januar 2002 die grundsätzliche Entscheidung
        in dieser Frage getroffen. Er hat sich mehrheitlich dafür
        ausgesprochen, den Import embryonaler Stammzellen auf
        bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten
        Stichtag etabliert wurden, zu beschränken. Wenngleich
        wir den Versuch der Befürworter und Befürworterinnen
        eines beschränkten Imports anerkennen und respektieren,
        über einen solchen Weg den Verbrauch neuer Embryonen
        verhindern zu wollen, halten wir die getroffene Entschei-
        dung nach wie vor für falsch.
        Darüber hinaus kritisieren wir, dass der vorliegende
        Gesetzentwurf nicht dem Bundestagsbeschluss vom
        30. Januar entspricht: Die in § 3 formulierte Definition
        von Stammzelllinien ist wirklichkeitsfremd und führt ge-
        genüber der Intention des Beschlusses vom 30. Januar zu
        einer erheblichen Ausweitung der Zahl benutzbarer Zel-
        len. Grundsätzlich müssen aus einem Gewebe oder Em-
        bryo isolierte Zellen immer zunächst in Kultur genommen
        und (zumindest für kurze Zeit) gehalten werden. Als Zell-
        linien werden aber üblicherweise solche Zellen bezeich-
        net, die über längere Zeiträume stabil in Nährmedien kul-
        tiviert werden können, ohne wesentliche Eigenschaften
        zu verlieren. Die vorliegende Definition wird dazu führen,
        dass nicht nur die etwa 80 zum Zeitpunkt des Beschlusses
        am 30. Januar bekannten „Stammzelllinien“ importiert
        werden dürfen, sondern alle zum Stichtag vorhandenen
        embryonalen Stammzellen (vermutlich mehrere Hundert
        oder Tausend weltweit). Eine weitere Veränderung findet
        sich zum Beispiel in Bezug auf die so genannte Zustim-
        mungsregelung. Im Bundestagsbeschluss vom 30. Januar
        wurde die informierte Einwilligung der Eltern als Grund-
        lage für eine Genehmigung gefordert. Im zur Abstim-
        mung stehenden Entwurf wird der Anspruch aufgegeben,
        Anforderungen an die informierte Zustimmung zu stel-
        len, wie sie für das deutsche Recht in anderen Fällen
        diskutiert werden. Stattdessen wird nur noch die Übe-
        reinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland ge-
        fordert.
        Wir hätten unserer Wertvorstellungen wegen gerne
        verhindert, dass menschliches Leben für spekulative For-
        schung genutzt wird. Wir hätten es forschungspolitisch
        für sinnvoller gehalten, die Kräfte zu bündeln und auf die
        therapeutisch erfolgreicheren adulten Stammzellen zu
        konzentrieren.
        Die Wahl zwischen der schwachen Begrenzung und
        der Alternative der Regellosigkeit lassen uns keine andere
        realistische Möglichkeit, als dem Gesetzentwurf zuzu-
        stimmen.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Hermann Kues, Kurt-
        Dieter Grill, Jochen Borchert, Sylvia Bonitz und
        Hermann Gröhe (alle CDU/CSU) zur namentli-
        chen Abstimmung über den Entwurf eines Ge-
        setzes zur Sicherstellung des Embryonen-
        schutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und
        Verwendung menschlicher embryonaler Stamm-
        zellen (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache
        14/8846)
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223258
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Wir lehnen den Import von menschlichen embryona-
        len Stammzellen aus grundsätzlichen Erwägungen he-
        raus ab und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf nicht
        zu.
        Erstens. Bei der Entscheidung des Deutschen Bundes-
        tages vom 30. Januar 2002 handelt es sich um eine grund-
        legende Weichenstellung. Damit wird ein Weg einge-
        schlagen, den wir ablehnen. Er widerspricht unserem
        grundlegenden Verständnis von der unteilbaren Würde
        des Menschen von Anfang an, beginnend mit der Ver-
        schmelzung von Ei und Samenzelle.
        Zweitens. Unabhängig davon respektieren wir diese
        Mehrheitsentscheidung. Das Parlament muss jetzt Rege-
        lungen beschließen, die diesem Abstimmungsverhalten
        entsprechen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        Zur Beratung
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung
        des Stiftungsrechts
        – des Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des
        Stiftungszivilrechts (Stiftungsrechtsreformgesetz)
        (Tagesordnungspunkt 9)
        Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Heute ist ein glücklicher Tag für das bürgerschaftliche En-
        gagement, denn heute wird die Reform des Stiftungs-
        rechts abgeschlossen. Fünf Jahre nachdem die Grünen
        sich dieses Themas angenommen haben und nachdem
        sich die Regierungskoalition vorgenommen hatte, das
        Thema zu einem zufrieden stellenden Abschluss zu brin-
        gen, sind wir heute hier und beraten den Gesetzentwurf
        zum letzten Mal – jedenfalls in dieser Legislaturperiode.
        Was haben wir geschafft? 1997 haben wir mit dem
        bündnisgrünen Gesetzentwurf das damalige Stiftungs-
        recht auf seine Schwächen und Stärken abgeklopft und ei-
        nen umfassenden Vorschlag zu seiner Verbesserung vor-
        gelegt. Das Hauptziel war, Anreize für Stifter und
        Interesse für Stiftungen zu wecken. Denn wir hatten er-
        kannt, was heute jedermann verstanden hat: Stiftungen
        wecken kreative Kräfte, sie sind Ideenschöpfer für eine
        moderne, globale Gesellschaft. Im Sommer 2000 setzten
        wir zusammen mit der SPD steuerrechtliche Reformen für
        die Stiftungen und die Stifter durch. Das schaffte konkrete
        Anreize vor allem auch für Stifter mit kleinen Vermögen,
        sich für eine gute Sache zu engagieren. Die Bürger und
        Bürgerinnen ergriffen die Gelegenheit beim Schopf. Vor
        allem die Bürgerstiftungen wuchsen allerorts aus dem Bo-
        den. Die Stiftungspraxis beweist, dass wir mit unserer Re-
        form unser Ziel erreichen: Allein im letzten Jahr sind an
        die 1 000 neue Stiftungen gegründet worden.
        Jetzt wird der vorläufig letzte Schritt vollzogen: Wir
        haben uns den zivilrechtlichen Regelungen im Stiftungs-
        wesen zugewandt und vier Regelungen vorgeschlagen:
        Erstens. Ein formuliertes „Recht auf Stiftung“. Was in
        juristischen Fachkreisen schon längst anerkannt ist, wird
        nun auch im Gesetz fest geschrieben.
        Zweitens. Eine abgeschlossene Liste der materiellen
        Voraussetzungen zur Errichtung einer Stiftung wird in das
        Gesetz aufgenommen. So ist ein Mindeststandard für die
        Errichtung einer Stiftung gewährleistet. Das bringt Über-
        sichtlichkeit, Einfachheit und Transparenz ins Stiftungs-
        wesen. Das ist stifterfreundlich.
        Drittens. Stiftungszweck kann jedes Anliegen eines
        Stifters sein, das nicht gegen die Gesetze verstößt. Nur so
        ist die Vielfalt der Stiftungen zu gewährleisten.
        Viertens. In Zukunft werden Stiftungen von den Behör-
        den nicht mehr länger genehmigt, sondern sie werden an-
        erkannt. Auch hier spiegelt sich die Auffassung wider,
        dass der Mensch ein Recht darauf hat, sich in Form einer
        Stiftung zu entfalten.
        Gestern meldeten sich schon die Stimmen der Kritik.
        Peter Rawert aus Hamburg wies nicht zu Unrecht auf den
        weitaus umfassenderen ersten Entwurf von 1997 hin. Und
        auch der Kulturrat bemängelte, dass man sich vor allem
        um eine eindeutigere Definition der Institution Stiftung
        hätte kümmern sollen.
        Mir persönlich ist es besonders bedauerlich, dass uns
        vonseiten des Parlaments die Hände vor allem dahin ge-
        hend gebunden waren, dass der Entwurf das Stiftungsre-
        gister mit all seinen Konsequenzen nicht aufnehmen
        konnte. Denn die Länder hatten von vornherein signali-
        siert, dass sie einem bundesweiten Register für Stiftungen
        nicht zustimmen würden.
        Mit einem solchen Register wäre dem legitimen Be-
        dürfnis der Öffentlichkeit Rechnung getragen worden,
        über die privilegierte Rechtsform Stiftung mehr und ein-
        heitlicheres zu erfahren, als die Stiftungen selbst bereit
        sind, bekannt zu geben. Stiftungen werden – so sie denn
        gemeinnützig sind – vom Staat vor allem steuerlich be-
        günstigt. Wir hätten uns also durchaus auch eine weiter
        gehende Reform vorstellen können, bei der gemeinnüt-
        zige echte Stiftungen im bürgerlichen Gesetzbuch defi-
        niert, durch bestimmte Rechtsformzusätze – entsprechend
        etwa dem „e. V.“ bei eingetragenen Vereinen gekenn-
        zeichnet und in einem öffentlich zugänglichen Re-
        gister geführt werden müssten.
        Mehr Transparenz in dieser Form hätte dem Stiftungs-
        wesen gut getan. Die Anhörung im Rechtsausschuss hat
        uns in dieser Hinsicht bestärkt, denn die Mehrheit der Re-
        ferenten sprach sich für ein Stiftungsregister aus. Wir ha-
        ben in dieser Hinsicht unsere parlamentarischen Möglich-
        keiten ausgeschöpft, indem wir im Ausschuss für Kultur
        und Medien einen interfraktionellen Entschließungsantrag
        einbrachten. Jetzt ist der Entschließungsantrag sogar ins
        Plenum eingebracht worden. Darin bitten wir die Länder,
        zumindest die regionalen Verzeichnisse zu vervollständi-
        gen, zu vernetzen und der Öffentlichkeit zugänglich zu
        machen. Das hat mit einem Register wenig zu tun, schafft
        aber immerhin mehr Öffentlichkeit für die Arbeit und die
        Organisation der Stiftungen. Wir haben den Ländern wei-
        terhin nahe gelegt, selbst die Register in ihre Landesge-
        setze aufzunehmen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23259
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Wir werden die Praxis beobachten. Das Thema lässt
        uns noch nicht los. Sollte sich herausstellen, dass sich in
        Sachen Transparenz zu wenig bewegt, werden wir noch
        einmal über eine diesbezügliche Verbesserung nachden-
        ken müssen. Wir haben in der vorliegenden Reform auch
        Abstand davon genommen, uns mit den vielfältigen Mög-
        lichkeiten des Missbrauchs von Stiftungen auseinander zu
        setzen. Auch hier werden wir wachsam sein und beo-
        bachten, ob weitere spektakuläre Fälle den Namen der
        Stiftung in Misskredit bringen. Vielleicht müssen wir spä-
        ter auch hier noch einmal nachhaken.
        Jetzt wollen wir erst einmal diesen Teil der Reform an-
        gemessen begrüßen. Genauso sehr wie ich mich über den
        Abschluss insgesamt freue, ist es mir ein besonders
        großes Vergnügen, festzustellen, dass die Arbeit an dieser
        Reform wieder etwas Schönes gezeigt hat: Manche The-
        men eignen sich so wenig zur Polemisierung, dass die Sa-
        che wieder in den Vordergrund rückt. Das freut mich für
        unser Parlament und heute ganz besonders für eine große
        und wichtige Angelegenheit der Zivilgesellschaft; dem
        persönlichen Einsatz der Bürger und Bürgerinnen, die
        Stiftung.
        Rainer Funke (FDP): Wir sind uns sicherlich in die-
        sem Hause einig, dass das Stiftungsrecht modernisiert
        werden muss. Aus diesem Grund haben die Grünen einen
        umfangreichen Gesetzentwurf bereits am Ende der letzten
        Legislaturperiode eingebracht, der von dem angesehenen
        Notar Professor Dr. Rawert ausgearbeitet war. Die FDP
        hat einen eigenen Gesetzentwurf zu Beginn dieser Legis-
        laturperiode vorgelegt, der das materielle Stiftungsrecht,
        also die Bestimmungen des BGB und das Steuerrecht,
        umfasste.
        Das Stiftungssteuerrecht ist inzwischen durch Be-
        schlussfassung des Bundestages im Bundesgesetzblatt.
        Auch wenn uns diese steuerlichen Entlastungen für Stif-
        ter und Stiftungen nicht weit genug gehen, räume ich ein,
        dass wir mit diesem Stiftungssteuerrecht auf dem richti-
        gen Weg sind. Erfreulich ist auch, dass die Bereitschaft,
        gemeinnützige Stiftungen zu gründen, zugenommen hat.
        Aber gerade um diese Stiftungskultur in Deutschland auf
        eine neue Stufe der Qualität und Quantität zu heben, muss
        das materielle Stiftungsrecht grundlegend vereinfacht
        werden und vom Konzessionssystem zum Normativsys-
        tem verändert werden. Gerade diese Grundvoraussetzung
        erfüllt der Regierungsentwurf bzw. der Entwurf der Ko-
        alitionsfraktionen nicht. Aus diesem Grunde werden sie
        von uns auch abgelehnt. Die geringfügigen Änderungen
        in § 80 und § 81 BGB führen nicht dazu, dass das Stif-
        tungsrecht, wie der Titel heißt, modernisiert wird; denn all
        das ist lediglich ein Etikettenschwindel. Ich frage mich
        wirklich, wie glaubwürdig gerade die Grünen sind, die
        noch vor vier Jahren einen Entwurf von Professor Rawert
        vorgelegt haben, der, auch wenn man nicht in allen Punk-
        ten mit ihm einverstanden sein musste, grundlegende Ver-
        änderungen gebracht hätte.
        Auch die Sachverständigenanhörung hat deutlich ge-
        macht, dass der heute zur Debatte stehende Gesetzentwurf
        abgelehnt und als nicht weitgehend genug bezeichnet
        wird. Das deckt sich im Übrigen mit dem Votum des Deut-
        schen Kulturrates, der die Stiftungsreform halbherzig
        nennt und mit der Auffassung Professor Rawerts in der
        „FAZ“ vom 23. April 2002, der das neue Stiftungsgesetz
        als Rückfall in das 19. Jahrhundert bezeichnet. Recht hat
        er; denn das Stiftungsrecht verbleibt bei den alten Rege-
        lungen des Jahres 1896 und den Partikularinteressen und
        Partikularrechten der Länder. Damit kann man keine An-
        reize für Stifter geben. Hier ist eine gute Gelegenheit ver-
        tan worden, das Stiftungsrecht wirklich zu modernisieren.
        Dies wäre auch möglich gewesen gegen den Widerstand
        der Länder, in denen das Stiftungsgeschäft so gestaltet
        worden wäre, dass das Normativsystem eingeführt und
        damit das Gesetz vom Zustimmungsgesetz zum Ein-
        spruchsgesetz verändert worden wäre.
        Der Gesetzentwurf der FDP, der diesem Kriterium der
        Modernisierung entspricht, hat weitgehende Zustimmung
        bei den Sachverständigen gefunden. Frau Kollegin
        Vollmer war zwar im Ausschuss der Auffassung, dass dem
        Gesetzentwurf der FDP handwerkliche Mängel anhaften
        würde, aber sie war auch nicht bereit, diese angeblichen
        Mängel zu beseitigen. So verbleibt es heute dabei, dass
        das Stiftungsrecht nicht modernisiert wird und dieses
        Vorhaben zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wie-
        der aufgerufen und dann eine wirkliche Reform mithilfe
        der FDP beschlossen werden wird.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Landminen ohne integrierte Selbstneutralisie-
        rungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen äch-
        ten – Minenräum- und Minenopferhilfe deutlich
        erhöhen
        – Für eine Weiterentwicklung der humanitären
        Rüstungskontrolle bei Landminen
        (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 7)
        Uta Zapf (SPD): Uns liegen heute zwei Anträge vor,
        die in langen Passagen bemerkenswerte Übereinstim-
        mungen aufweisen.
        Ich rätsele noch heute darüber, wie Teile des Textes des
        SPD/Grünen-Antrages, der erst gestern in den Bundestag
        eingebracht wurde, in den gemeinsamen Antrag von FDP
        und CDU/CSU vom 20. März 2002 gerieten. Der Ur-
        sprungstext des FDP-Antrages vom 20. Juni 2001 wurde
        jedenfalls dadurch wesentlich verbessert. Dies gibt Hoff-
        nung, dass in den Ausschussberatungen noch ein gemein-
        samer Antrag des ganzen Hauses entstehen kann.
        Wir sind uns alle darüber einig, dass Minen ein schwer
        wiegendes humanitäres Problem darstellen. Weltweit dürfte
        der Bestand an Antipersonenminen 230 bis 245 Millionen
        betragen, und täglich kommen mehr neue Minen hinzu, als
        geräumt werden können. Es sterben täglich viele Menschen
        oder werden verkrüppelt, weil sie auf zurückgelassene An-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223260
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        tipersonenminen treten. Ganze Landstriche sind nach Kon-
        flikten unbetretbar, weil sie minenverseucht sind.
        Das Minenprotokoll von 1996, das bestimmte Minen-
        arten ächtet, zum Beispiel booby-traps, und bei Verlegung
        von Minen strenge Vorschriften vorsieht, wie Kartierung
        und Markierung des Verlegegebietes, und das Standards
        für Detektierbarkeit und Wirkzeitbegrenzungen setzte,
        war ein begrüßenswerter Fortschritt, aber unzureichend.
        Diese Kriterien sind weltweit auch heute noch nicht um-
        gesetzt.
        Das Ottawa-Übereinkommen vom 4. Dezember 1997
        ächtet die gesamte Kategorie von Antipersonenminen
        völlig. Man muss an dieser Stelle das „7-Punkte-Aktions-
        programm“ des damaligen Außenministers Kinkel lobend
        erwähnen. Die Bundesrepublik war hier sicher ein maß-
        geblicher Unterstützer des Verbotsprozesses. 142 Staaten
        sind diesem Übereinkommen beigetreten; 122 Staaten ha-
        ben es mittlerweile ratifiziert. Aber wesentliche große
        Staaten, die produzieren und exportieren, fehlen. USA,
        China, Russland, Indien und Pakistan – insgesamt 14 Staa-
        ten produzieren auch heute noch Antipersonenminen.
        Auf der anderen Seite ist jedoch positiv zu vermerken,
        dass seit dem Beginn des Ottawa-Prozesses circa 27 Milli-
        onen gelagerte Antipersonenminen von mehr als 50 Staaten
        zerstört worden sind. 29 Staaten haben ihre Bestände be-
        reits vollständig zerstört, andere sind dabei. Nach dem Ot-
        tawa-Übereinkommen muss ein Staat in den vier Jahren,
        nachdem das Übereinkommen für ihn in Kraft getreten ist,
        alle Vorräte an Antipersonenminen vernichtet haben. Für
        die Bundesrepublik läuft diese Frist am 1. März 2003 ab,
        sie hat aber bereits vor In-Kraft-Treten des Übereinkom-
        mens 1999 alle Vorräte an Antipersonenminen vernichtet.
        Der größte Teil – fast 90 Prozent – der weltweit existieren-
        den Antipersonenminen befindet sich jedoch im Besitz von
        Staaten, die dem Ottawa-Übereinkommen nicht beigetre-
        ten sind. Ein vordringliches Ziel muss deshalb die Univer-
        salisierung des Ottawa-Übereinkommens sein. Darin sind
        sich die vorliegenden Anträge einig.
        Der Deutsche Initiativkreis zum Verbot von Landmi-
        nen fordert ein umfassendes Verbot aller Minen, also auch
        der bisher erlaubten Kategorie der Antifahrzeugminen,
        während die International Campaign to Ban Landmines
        diese radikale Forderung bislang nicht erhoben hat. Sie
        verfolgt einen schrittweisen Ansatz. Der ursprüngliche
        Antrag der FDP forderte einen Verzicht auf alle Antifahr-
        zeugminen, die sich „nicht ausschalten lassen oder selbst
        zerstören“. Diese Initiative hat die Bundesregierung be-
        reits längst in den internationalen Verhandlungsprozess
        eingebracht. Eine Ottawa-Folgekonferenz mit eben die-
        sem Ziel wäre wünschenswert, löst aber nicht das Di-
        lemma, dass bei Ottawa die großen Minenproduzenten
        und -nutzer wie USA, Russland und China nicht dabei
        sind.
        Die Bundesregierung hat diese Forderung deshalb bei
        der VN-Waffenkonvention thematisiert, weil Hoffnung
        besteht, dass diese großen Länder dieser Forderung folgen
        könnten. Aber auch dies löst das Dilemma keineswegs,
        weil die VN-Waffenkonvention nur Restriktionen bei An-
        tipersonenminen, jedoch nicht das völlige Verbot wie Ot-
        tawa vorsieht.
        Wenn wir Fortschritte erzielen wollen, müssen wir auf
        allen Ebenen ansetzen. Wir müssen mit Nachdruck für die
        Universalisierung des Ottawa-Übereinkommens eintreten,
        damit diese schreckliche Kategorie von Waffen wirklich
        vom Erdboden verschwindet. Wir müssen gleichzeitig ver-
        suchen, im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens alle
        Minen zu ächten, die nicht detektierbar sind und die keine
        Wirkzeitbegrenzung haben. Dies wird nur schrittweise zu
        erreichen sein.
        Erster Schritt ist, wie in unserem Antrag gefordert, sol-
        che Antifahrzeugminen, die sensible Zündmechanismen
        haben und somit von einzelnen Personen unbeabsichtigt
        ausgelöst werden können, zu verbieten. Sie müssen wie
        Antipersonenminen behandelt werden. Außerdem fordern
        wir im Antrag das Verbot von nicht detektierbaren Anti-
        fahrzeugminen und solchen, die über keine Wirkzeitbe-
        grenzung verfügen. Alle diese Minen gefährden die Men-
        schen noch viele Jahre nach Beendigung eines Konfliktes.
        Was heute leistbar ist und was wir unbedingt brauchen,
        ist ein Einstieg in das Verbot bei der VN-Waffenkonven-
        tion. Deshalb beginnen wir mit der Forderung nach dem
        Verbot der Antifahrzeugminen, die wie Antipersonenmi-
        nen wirken. Auch diese Forderung muss im Rahmen des
        Ottawa-Übereinkommens bekräftigt werden. Es gibt ei-
        nen Interpretationsstreit über die Reichweite des Verbotes
        für Minen im Ottawa-Übereinkommen: ob auch Antifahr-
        zeugminen, die eine Aufhebesperre haben, aber unbeab-
        sichtigt zur Explosion gebracht werden können, umfasst
        sind. Dieser Interpretationsstreit muss ausgeräumt wer-
        den.
        Vergessen wir nicht, dass bei seriösen Staaten Anti-
        fahrzeugminen als defensives Schutzsystem für Soldaten
        eingesetzt werden. Ehe wir diesen Schutz nicht anders ge-
        währleisten können, wird eine Forderung nach schnellem
        völligen Verbot illusorisch sein.
        Deutschland stellt für humanitäres Minenräumen er-
        hebliche Mittel zur Verfügung. Seit 1993 hat es Projekte
        in 31 Ländern mit circa 155 Millionen DM finanziert. Im
        Jahr 2002 stellte die Bundesrepublik allein circa 17 Mil-
        lionen Euro für Minenräumaktivitäten zur Verfügung.
        Dazu kommen noch die Mittel, die auf EU-Ebene für Mi-
        nenräumen aufgewandt werden. Im vergangenen Jahr
        wurden hierfür circa 125 Millionen Euro ausgegeben. Wir
        fordern die Bundesregierung auf, ihr Engagement in die-
        sem Bereich fortzusetzen und ihre Beiträge hierfür zu ver-
        stärken.
        Verena Wohlleben (SPD): Eine Weiterentwicklung
        der humanitären Rüstungskontrolle – und hier gerade bei
        Landminen – ist dringend geboten. Ich denke, soweit be-
        steht Einigkeit des Hauses. Uns allen sind die schreckli-
        chen Bilder geläufig von Minenopfern aus der Zivilbe-
        völkerung.
        Deshalb sind wir tätig geworden und bringen heute den
        Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein.
        Wir hätten uns gewünscht, einen gemeinsamen Antrag mit
        der Opposition einzubringen. Dies ist leider nicht gelun-
        gen; aber vielleicht besteht nach abschließender Beratung
        noch die Möglichkeit dazu. Unser Antrag geht über die
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23261
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        bestehenden Übereinkommen hinaus, nämlich das Ot-
        tawa-Übereinkommen zum Verbot von Antipersonenmi-
        nen und das Protokoll II der VN-Waffenkonvention zur
        Verbesserung der humanitären Standards von Landminen
        allgemein.
        Der entschiedene Kampf gegen das durch Minen ver-
        ursachte menschliche Leiden ist unser besonderes Anlie-
        gen, aber natürlich auch die Forderung der Bundesregie-
        rung. Sie ist dazu in den VN, der EU und den Gremien des
        Ottawa-Übereinkommens aktiv. Auch verfolgt die Bun-
        desregierung derzeit einen schrittweisen Ansatz, der die
        Universalisierung der bestehenden Abkommen in den
        Vordergrund stellt, aber parallel dazu Bemühungen um
        die Anhebung der humanitären Standards und die Aus-
        weitung der bestehenden Abkommen aktiv unterstützt.
        Die Forderung nach Universalisierung des Ottawa-
        Übereinkommens, Anhebung der humanitären Standards
        im Protokoll II des VN-Waffenübereinkommens, insbeson-
        dere auf Detektierbarkeit von Minen, die Wirkzeitbegren-
        zung für fernverlegte Minen, Unterstützung der Ini-tiative
        in den geeigneten Foren und Erweiterung humanitärer
        Hilfe sind für uns äußerst wichtig.
        Unser Ziel ist es, alle Minen zu ächten, die wie Anti-
        personenminen wirken. Die Ausrüstung von Antifahr-
        zeugminen mit sensiblen Zündmechanismen ist ein mög-
        licher Ansatz, um Unfälle durch Nichtkombattanten zu
        vermeiden. Diesbezügliche Ansätze waren bislang daran
        gescheitert, dass eine technische Definition von Sensibi-
        lität nicht zu erzielen war. Es geht dabei nicht nur um ein-
        fache Gewichtsbegrenzungen für Druckzünder, sondern
        um verschiedene Kriterien für unterschiedliche Zünder,
        zum Beispiel Magnetimpulse und Ähnliches. Eine ent-
        sprechende Initiative erscheint zwar derzeit international
        wenig erfolgversprechend, doch sollte dies in einem er-
        neuten Versuch ausgelotet werden. Der geeignete Rah-
        men dazu ist die VN-Waffenkonvention.
        Nun zum Problem des unbeabsichtigten Auslösens von
        Minen. Bisher gibt es keine Minentechnologie, die ver-
        lässlich zwischen beabsichtigter oder unbeabsichtigter,
        das heißt zufälliger Störung differenzieren könnte. Er-
        laubtheit oder Verbotensein einer Mine wäre damit von
        der Zufälligkeit des Geschehens abhängig, also von Ge-
        gebenheiten, die außerhalb des Einflussbereichs des
        Herstellers und des Anwenders lägen. Wir müssen dabei
        genau abwägen und überlegen, dass bei Einführung ei-
        nes derartigen Kriteriums praktisch alle Minen verboten
        werden würden. Dies wäre international nicht durchsetz-
        bar.
        Auch die Unterscheidung nach Fern- und Nahverle-
        gung ist zu beraten. Findet diese Unterscheidung nicht
        statt, würden auch nahverlegte Minen infrage gestellt, die
        aber im Spektrum an Sperr- und Wirkmitteln ein spezifi-
        sches, unverzichtbares Fähigkeitsprofil abdecken und ins-
        besondere dem unmittelbaren Selbstschutz unserer Solda-
        ten im Einsatz dienen, PzAbwMi DM 21. Ein Verzicht auf
        diese Mine würde die Gefährdung vor allem bei leichter un-
        gepanzerter eigener Truppen drastisch erhöhen. Die Vertei-
        digungsmöglichkeiten gegenüber gegnerischen gepanzer-
        ten Kräften würden erheblich eingeschränkt werden. Die
        dann vorhandene Fähigkeitslücke müsste durch neue ko-
        stenintensive Waffensysteme geschlossen werden.
        Nahverlegte Minen benötigen vorgenannte Wirkzeit-
        begrenzungen nicht notwendigerweise, wenn sie, wie
        nach den strengen Kriterien der Bundeswehr praktiziert,
        offen verlegt, gekennzeichnet, in einem Sperrplan sorg-
        fältig dokumentiert, durch Soldaten überwacht und beim
        Verlassen des jeweiligen Gebietes vollständig wieder auf-
        genommen werden. Eine eventuelle Wirkung wie bei An-
        tipersonenminen ist somit nicht gegeben. Daher wird eine
        Gefährdung der unbeteiligten Zivilbevölkerung nahezu
        ausgeschlossen. Daher ist zu überdenken, diese Differen-
        zierung, das heißt Beschränkung der Wirkzeitbegrenzung,
        auf fernverlegte Antifahrzeugminen, verknüpft mit den
        vorgenannten Kriterien, aufzunehmen.
        Zusammenfassend möchte ich feststellen: Es ist gut,
        dass heute der Antrag eingebracht wird. Es ist gut, dass
        wir in dieser Frage endlich zu einem Ergebnis kommen
        und den nächsten Schritt machen. Es ist gut, dass diese
        Anträge in verschiedenen Punkten in den Fachausschüs-
        sen noch beraten werden.
        Zu bedenken gebe ich: Es geht heute nicht mehr nur da-
        rum, dass wir es mit Staatsarmeen zu tun haben, die sich
        an die Regeln halten. Die terroristische Szene nutzt jede
        Gelegenheit, um tätig zu werden. Aus diesem Grunde darf
        man sich nicht alle Möglichkeiten des Schutzes selbst
        nehmen. Bei einer Gesamtächtung unterstellt man, dass
        alle Staaten sich an die Regeln halten. Aber im terroristi-
        schen Lager wird sich nicht daran gehalten, sondern die
        arbeiten weiter mit Dingen, die nicht unter die Verbote fal-
        len und deswegen muss man sich auch schützen können.
        Wenn dies aber nicht mehr möglich ist, hätte dies unüber-
        sehbare negative Folgen für die Operationsfähigkeit des
        Heeres und den Schutz sowie die Überlebensfähigkeit un-
        serer deutschen Soldaten. Demgegenüber würde sich aber
        die Gefährdungslage der Zivilbevölkerung nicht positiv
        verändern. Deshalb gilt es, streng darauf zu achten, dass
        wir nicht mit gut gemeinten Vorschlägen Leib und Leben
        unserer Soldaten gefährden.
        Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Lassen Sie mich ei-
        nen prinzipiellen Satz vorausschicken: Es ist wieder ein-
        mal spät am Abend, und deshalb wird diese Debatte nicht
        mehr geführt, sondern zu Protokoll gegeben – ein abrüs-
        tungspolitisches Thema von internationaler Brisanz! Ich
        weiß, wir hatten bereits spät nachts liegende Termine für
        diese Thematik – aber trotzdem – vielleicht sollten wir
        uns in Zukunft bemühen, derartige Themen zu einer Zeit
        in diesem Hause zu diskutieren, die der Wichtigkeit des
        Themas Abrüstung entspricht. – Aber das nur vornweg.
        Angesichts der Bilder, die uns beinahe täglich via Bild-
        schirm von Minenopfern erreichen, darf man eines nicht
        vergessen, auch wenn es leider beinah alltäglich gewor-
        den scheint: Jedes der Opfer ist ein Einzelschicksal! Jedes
        der beinamputierten Kinder, jeder der einarmigen Män-
        ner, jede verstümmelte Frau hat eine eigene Leidensge-
        schichte! Und keiner weiß genau, wie viele dieser Minen
        noch überall in der Welt versteckt in der Erde liegen und
        eine Gefahr für die jeweilige Zivilbevölkerung darstellen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223262
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        Jeden Tag müssen wir damit rechnen, dass irgendwo in
        Kambodscha, im Sudan, in Afghanistan oder anderswo
        Menschen durch Minen verstümmelt oder getötet werden.
        Jeden Tag wird die Zukunft von Menschen zerstört, die ihr
        ganzes Leben noch vor sich haben oder ihre Familien
        ernährt und versorgt haben. Da ist es auch wenig beruhi-
        gend, dass die Zahl der Todesopfer im Jahr 2000 leicht
        rückläufig war. Weltweit starben etwa 8 000 Menschen
        – ich wiederhole: 8 000 Tote! –, davon die meisten Zivilis-
        ten, durch Landminen.
        Man darf die Heimtücke und Unberechenbarkeit dieser
        Waffe nicht vergessen. Sie kann jahrelang im Boden lie-
        gen ohne unwirksam zu werden. Selbst wenn die eigent-
        lichen Kampfhandlungen vielleicht schon lange Zeit
        zurückliegen und die Region sogar befriedet ist, sie blei-
        ben eine unkalkulierbare Gefahr für die ansässige Bevöl-
        kerung. Genau da setzt der gemeinsame Antrag von
        CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion an. Wir fordern
        die Bundesregierung auf, sich für die Ächtung von Minen
        ohne Wirkzeitbegrenzung international stark zu machen.
        Deutschland hat sich in der Zeit der CDU/CSU-FDP-Re-
        gierung international stark engagiert, um eine Ächtung von
        Antipersonenminen weltweit zu erreichen. Wie Sie wissen,
        war es vor allem die deutsche Seite, die sich bei den Ver-
        bündeten in EU und NATO für eine Vernichtung von Anti-
        personenminen eingesetzt hat und selbst mit gutem Beispiel
        vorangegangen ist, indem sie bereits vor dem In-Kraft-Tre-
        ten des Ottawa-Übereinkommens sämtliche Bestände von
        Antipersonenminen der Bundeswehr beseitigt hat.
        Zudem hat die deutsche Regierung sich 1998 auch bei
        den Vereinten Nationen als Miteinbringer mehrerer Reso-
        lutionen für eine rasche Umsetzung des Ottawa-Überein-
        kommens und des revidierten Minenprotokolls von 1996
        eingesetzt.
        Bereits 1994 hat die unionsgeführte Bundesregierung ein
        Exportmoratorium für Antipersonenminen erlassen, dieses
        1996 für unbefristete Zeit verlängert und sich seit 1993 ak-
        tiv an Maßnahmen zur Minenbeseitigung in 23 Ländern be-
        teiligt. Durch ihr Handeln hat Deutschland internationale
        Reputation beim Kampf gegen Antipersonenminen und bei
        der Betreuung von deren Opfern erworben. Und genau diese
        gilt es international zu nutzen und nun auf das Verbot wei-
        terer, nicht weniger unterschiedslos wirkender Landminen
        auszuweiten.
        Der Antrag von CDU/CSU und FDP verliert dabei die
        Realität nicht aus den Augen. Wir wissen, dass es derzeit
        nicht möglich ist, alle Landminen ohne Wirkzeitbegren-
        zung ebenfalls zu verbieten.
        Die Armeen der NATO verwenden Panzerminen mit
        Wirkzeitbegrenzung durch die Pioniertruppe in drei ver-
        schiedenen Typen, die auf Stunden oder Tage program-
        miert werden können. Diese Minen werden aber nicht
        durch die übrigen Truppen zur Sicherung eingesetzt. Für
        diese bedarf es der heute noch verwendeten Panzermine
        DM 21, die leicht zu handhaben ist und von jedem Infan-
        teristen etc. als überwachte Minensicherung zum Schutz
        der eigenen Truppe verlegt werden kann. Von diesen Mi-
        nen hat selbst die Bundeswehr einen Vorrat von circa
        120 000 Stück. Die Herstellungskosten sind gering, aber
        eine Wirkzeitbegrenzung ist nicht einbaubar. Vielleicht ist
        es aber auch hier an der Zeit umzudenken und einen neuen
        Weg einzuschlagen, nach neuen Wegen und Formen zu
        suchen, die eigenen Truppen zu schützen.
        Gerade Sie, meine Damen und Herren von den Grünen,
        aber auch nicht wenige Abgeordnete der SPD-Fraktion
        hatten eben dieses in der letzten Legislaturperiode gefor-
        dert. Ihren eigenen Forderungen in der Zeit der Opposi-
        tion haben Sie bislang auch hier keine Taten folgen lassen.
        Seine Vorreiterrolle bei der Ächtung von Minen sollte
        Deutschland dadurch untermauern, indem unser Land
        einseitig und beispielgebend auf die Erprobung, Herstel-
        lung und den Export nicht detektierbarer Landminen so-
        wie Minen ohne Wirkzeitbegrenzung verzichtet.
        Militärs weltweit betrachten Fahrzeugminen als legiti-
        mes Defensivmittel zum Schutz des eigenen Territoriums
        oder der eigenen Soldaten gegen mögliche Aggressoren.
        Zudem werden Fahrzeugminen und ihre Verlegung von
        regulären Armeen durch exakte Minenpläne dokumen-
        tiert. So ist es möglich, nach Beendigung der Konfliktsi-
        tuation die Minen zu entfernen und damit das Risiko für
        die Zivilbevölkerung weitgehend zu minimieren.
        Allerdings, Sie bemerken meine Einschränkung, ist die
        Herstellung und Beschaffung von Minen jeglicher Art
        auch für nicht reguläre militärische Verbände, wie die
        Ausrüstung verschiedener paramilitärischer Guerillaver-
        bände beweist, kein Problem, da ihre Herstellung relativ
        simpel ist. Eine internationale Verifikation eines etwaigen
        Abkommens über das Verbot von Minen ohne Wirkzeit-
        begrenzung ist derzeit äußerst kompliziert. Doch wer re-
        signiert, hat schon verloren! Und Deutschland und seine
        Partner dürfen in dieser Frage nicht resignieren!
        Daher unterstützt die CDU/CSU-Fraktion Initiativen,
        die der Ächtung von Minen auf lange Sicht hin dienen. In
        den vergangenen Jahren gab es ja einige Erfolge, die Mut
        machen sollten. Das Ottawa-Obereinkommen wurde von
        mehr als 120 Staaten unterzeichnet. Um seine tatsächliche
        Wirksamkeit zu erreichen, fordern wir die Bundesregie-
        rung auf, sich auch weiterhin für den Beitritt wichtiger
        Minenproduzenten wie China, Russland und auch des
        NATO-Partners USA einzusetzen. Denn nur so kann der
        Druck auf Staaten wie Irak, Pakistan, Indien oder Nord-
        und Südkorea erhöht werden, ebenfalls ihre Produktion
        von Antipersonenminen einzustellen. Im Rahmen des
        VN-Waffenübereinkommens fordern wir die Bundesre-
        gierung auf, nachdrücklich auf ein Verbot von Antifahr-
        zeugminen mit sensiblen Zündern hinzuwirken. Denn
        auch die können von Zivilisten ausgelöst werden. Sie ma-
        chen eben meist keinen Unterschied zwischen einem Pan-
        zer oder Militärtransporter und einem Traktor oder einem
        zivilen Autobus.
        Vergessen wir aber eines nicht: Mit dem Verbot der Mi-
        nen ohne Wirkzeitbeschränkung ist das Problem der be-
        reits verlegten Minen nicht gelöst. Vor allem in den Staa-
        ten, wo paramilitärische Einheiten Minenfelder gelegt
        haben, existieren keine Pläne darüber. Die Suche und Zer-
        störung der Minen ist ein zeitaufwendiges und teures Un-
        terfangen, von seiner Gefährlichkeit ganz zu schweigen.
        Wir wissen alle, dass die betroffenen Staaten nicht in
        der Lage sind, dies allein zu bewältigen, weder technisch
        noch logistisch und schon gar nicht finanziell. Auch die
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        medizinische und psychologische Betreuung der Opfer
        von Minen ist in den meisten Ländern schwierig. Hier darf
        Deutschland die betroffenen Ländern nicht allein lassen.
        Bislang haben deutsche Spezialisten und Techniker in
        23 Ländern bei der humanitären Minenräumung und der
        medizinischen Betreuung der Opfer geholfen und sich da-
        bei Ansehen und internationale Anerkennung erworben.
        Um dies nicht zu gefährden, muss die Höhe der dafür
        bereitgestellten Mittel im Haushalt – die Summe stagniert
        seit einigen Jahren – deutlich erhöht werden. Unverständ-
        lich sind mir im Übrigen die teilweise sehr versteckten Ti-
        tel, unter denen die Summen vor allem im BMZ deklariert
        werden. Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe als
        Gelder für das Minenräumen zu erkennen ist nicht einfach
        und das Finanzministerium war auf Anfrage überhaupt
        nicht bereit, Auskunft über die exakte Höhe der bereitge-
        stellten Mittel zu erteilen – aber das nur am Rande.
        Ich bitte Sie, dem Antrag der CDU/CSU- und FDP-
        Fraktion zur Ächtung von Landminen ohne Selbstneutra-
        lisierungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen zuzu-
        stimmen und sich für die Erhöhung der Haushaltstitel für
        das Minenräumen und die Opferhilfe einzusetzen.
        Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
        Landminenproblem – das ist Konsens hier im Hause – ist
        längst nicht beseitigt; es besteht Handlungsbedarf. Immer
        noch sterben monatlich bis zu 2 000 Menschen. Allein in
        Afghanistan gibt es schätzungsweise zwischen 300 und
        360 Opfer pro Monat. Zwar ist es gelungen – nicht zuletzt
        dank der Initiative der internationalen Landminenkam-
        pagne – ein Verbot von Antipersonenminen zustande zu
        bringen. Interessierte Staaten haben sich hier gefunden
        und eine Koalition mit den Nichtregierungsorganisatio-
        nen gebildet. Der Ottawa-Vertrag war ein wichtiger
        Schritt im Kampf für die Ächtung aller Landminen. Die
        internationale Kampagne gegen Landminen wurde dafür
        mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Allerdings
        haben wichtige Länder den Vertrag noch nicht unter-
        schrieben und seine Reichweite ist begrenzt. Der Prozess
        war beispielhaft für eine neue Art des Verhandelns in der
        Rüstungskontrolle.
        Der Kampf gegen Minen geht weiter. Wir haben im
        Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir dafür eintreten
        wollen, „besonders grausame Waffen wie Landminen
        weltweit zu verbieten“. Unser Koalitionsantrag stellt ei-
        nen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.
        Herr Kollege Kinkel, Sie haben am 11. Dezember 1997
        gesagt: „Wenn es irgendwie geht, müssen wir ... uns natür-
        lich langfristig darauf konzentrieren, irgendwann ohne
        Panzerminen zu sein“. Dem kann ich voll zustimmen. Nur
        kann ich aus dem Oppositionsantrag nicht erkennen, dass
        sich dies bei Ihnen durchgesetzt hat. Er macht den Ein-
        druck, in erster Linie nach einem schnellen und öffentli-
        chen Effekt zu suchen.
        Wir haben in unserem Antrag einen Step-by-step-An-
        satz gewählt, mit dem Ziel, schrittweise die Ächtung aller
        Landminen zu erreichen. Uns ist klar, dass Fortschritte im
        Rahmen internationaler Verhandlungen schwierig und lang-
        wierig sind. Von verschiedensten Seiten werden industrie-
        politische, sicherheitspolitische und andere Interessen
        vorgebracht, die einen schnellen Erfolg erschweren. Da-
        her erscheint uns ein schrittweiser Ansatz am sinnvolls-
        ten. Wir können versuchen, analog zum Ottawa-Prozess,
        gleichgesonnene Partner zu gewinnen. Gleichzeitig müs-
        sen aber auch die Verhandlungen im Rahmen des Genfer
        Waffenprotokolls weitergehen.
        Wir haben machbare und gleichzeitig wegweisende
        Schritte formuliert, die neue Spielräume für die Bundes-
        regierung öffnen und sie in ihren bisherigen Aktivitäten
        unterstützen. Erster Schritt ist die Universalisierung des
        Ottawa-Prozesses: Wichtige Staaten wie Russland, China,
        Indien, Pakistan, die Türkei und nicht zuletzt die USAha-
        ben den Vertrag noch nicht unterzeichnet. Wir müssen auf
        diese Staaten einwirken, damit sie dem Ottawa-Abkom-
        men beitreten. Weiterhin gibt es einzelne Staaten, die das
        Abkommen zwar unterzeichnet haben, es aber nicht ein-
        halten. Insbesondere hier versucht die Bundesregierung,
        die Staaten zur Umsetzung des Vertrages zu drängen.
        Antifahrzeugminen, die aufgrund sensibler Zündmecha-
        nismen auch von Personen ausgelöst werden können, sind
        als Antipersonenminen anzusehen und werden daher be-
        reits vom Ottawa-Abkommen erfasst. Wir wollen diese
        Position auch bei anderen Teilnehmern des Ottawa-Regi-
        mes durchsetzen, da es hier unterschiedliche Interpretati-
        onsweisen gibt und eine Präzisierung im Rahmen des Ab-
        kommens möglich und politisch sinnvoll ist.
        Wir sprechen in unserem Antrag auch das schwierige
        Thema der einseitigen Vorleistungen an. Wir sind dafür,
        noch vorhandene Minen, die von Personen unbeabsichtigt
        ausgelöst werden können, aus dem Bestand der Bundes-
        wehr zu entfernen und Herstellung, Erprobung, Produk-
        tion, Lagerung und Export zu unterbinden, um im Sinne
        der humanitären Rüstungskontrolle ein Signal auch für
        andere Staaten zu setzen. Dies ist notwendig, damit die
        Bundesrepublik Deutschland weiterhin ihre Vorreiterrolle
        in diesem Bereich wahrnehmen kann. Jetzt schon zu ent-
        scheiden, welche Vorleistungen wir erbringen, wäre ver-
        früht. Wir wollen darüber sorgfältig diskutieren und dann
        die geeigneten Schritte umsetzen.
        Die Bundesregierung hat im Bereich der humanitären
        Minenräumung bereits viel unternommen. 1998 wurden
        16,6 Millionen DM ausgegeben. In diesem Jahr stehen
        16,4 Millionen Euro zur Verfügung, also fast das Dop-
        pelte. Dazu kommen noch Mittel im Rahmen der EU und
        der Vereinten Nationen und die des BMZ.
        Minenräumung wird von uns auch als Beitrag zur Ent-
        wicklungszusammenarbeit gesehen. Im Bad Honnefer
        Konzept der Nichtregierungsorganisationen wurde das
        herausgearbeitet. Deswegen sind im BMZ auch Mittel für
        die Opferrehabilitierung eingesetzt.
        Ich möchte betonen: Unsere Politik und die der Kam-
        pagne gegen Landminen ergänzen sich. Wir als Grüne un-
        terstützen die Bemühungen der Kampagne auf mehreren
        Ebenen, sowohl als Partei wie auch als Koalitionsfrak-
        tion. An dieser Stelle möchte ich auch das Engagement
        von Personen wie Sabine Christiansen, Marius Müller-
        Westernhagen oder Dr. Fritz Pleitgen hervorheben, die
        sich für ein Verbot aller Minen einsetzten.
        Es ist verständlich, dass es vielen engagierten Men-
        schen aus den Nichtregierungsorganisationen nicht
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223264
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        schnell genug geht. Aber die Prozesse der Einigung in in-
        ternationalen Verhandlungen sind äußerst schwierig. Da-
        her benötigt es einen langen Atem. Dass er zum Erfolg
        führen kann, hat das Ottawa-Abkommen bewiesen.
        Die Lage für Rüstungskontrollverhandlungen ist nicht
        leichter geworden. Gestern hat das Kabinett den Jahres-
        abrüstungsbericht 2001 verabschiedet. Aus ihm lassen
        sich die vielfältigen Bemühungen der Bundesregierung
        für Abrüstung und Rüstungskontrolle ablesen. Dennoch
        müssen wir ein Krise der Rüstungskontrolle im Allgemei-
        nen feststellen. Unsere amerikanischen Partner haben
        durch den unilaterialistischen Kurs zur Krise der Rüs-
        tungskontrolle beigetragen. Lassen Sie uns zusammen al-
        les daransetzen, sie davon zu überzeugen, wieder auf den
        Weg multilateraler Politik zurückzukehren. Unser Antrag
        zur Weiterentwicklung der humanitären Rüstungskon-
        trolle bei Landminen soll ein Beitrag in einem spezifi-
        schen Bereich sein, der hilft, diese Blockade zu beheben.
        Zum Abschluss möchte ich noch betonen: Die Kon-
        flikte, bei denen Landminen eingesetzt werden, gibt es
        nicht wegen dieser grausamen Waffen. Daher ist es not-
        wendig, unsere Politikansätze der Prävention weiterzu-
        entwickeln. Im Kampf gegen die Minenplage müssen wir
        auf mehreren Ebenen vorgehen: zum einen reagierend,
        um die akute Not und das Leiden der Menschen zu lin-
        dern, zweitens mittelfristig agierend, auf der völkerrecht-
        lichen Ebene, um diese Waffenkategorie endgültig abzu-
        schaffen, aber auch generell für eine effektive Export- und
        Importkontrolle zur Verhinderung destabilisierender Waf-
        fenlieferungen und drittens vorbeugend, indem wir die
        Mittel der Prävention und der Konfliktursachenbekämp-
        fung im Rahmen einer Weltinnenpolitik fördern. Das er-
        fordert eine Verstärkung der Mittel für Prävention und
        Entwicklungszusammenarbeit. Wenn diese drei Politik-
        ebenen zusammenwirken, kann es uns gelingen, die
        Landminenplage als ein zentrales humanitäres und sicher-
        heitspolitisches Problem zu lösen. Ich bitte dazu auch die
        Kollegen und Kolleginnen der Opposition um Unterstüt-
        zung.
        Dr. Klaus Kinkel (FDP): Landminen sind eine
        schlimme Menschheits-Geißel. Sie behalten ihre tödliche
        Wirkung noch Jahre über das Ende von Kriegshandlungen
        hinaus. Denn Minen kennen keinen Waffenstillstand, kei-
        nen Frieden. Weltweit fallen Jahr für Jahr Tausende den
        Minen zum Opfer, werden getötet oder auf schreckliche
        Weise verstümmelt. Weltweit gibt es heute über 200 Mil-
        lionen davon, und immer noch werden jährlich circa
        10 Millionen neue Minen produziert.
        Deshalb war es so wichtig, dass vor vier Jahren in Ottawa
        das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenmi-
        nen beschlossen wurde: 122 Staaten sind dem Abkommen
        bis heute beigetreten, Deutschland war mit einer der ersten
        Unterzeichner. Wichtige Staaten wie die USA, Russland,
        China, Indien und Pakistan haben leider noch nicht unter-
        zeichnet. Auch die Umsetzung durch die Unterzeichner lässt
        bis heute zu wünschen übrig; leider auch bei uns in Deutsch-
        land.
        Die Bundesregierung hat am 31. August 1999 verkün-
        det, man habe das Ottawa-Abkommen umgesetzt, alle
        Antipersonenminen seien aus dem Bestand der Bundes-
        wehr entfernt. Heute höre ich, dass das nicht zutrifft.
        Deutsche Tornado-Flugzeuge sind bis heute mit Antiper-
        sonenminen ausgestattet. Über 80 000 Munitionskörper
        der Submunition MUSPA des MB1-Körpers für das
        Kampfflugzeug Tornado befinden sich im Bestand der
        deutschen Luftwaffe.
        Alle anderen Tornado-Nutzerstaaten, die das Ottawa-Ab-
        kommen ratifiziert haben, sind der Meinung, dass es sich da-
        bei eindeutig um Antipersonenminen handelt, die seit
        Ottawa verboten sind. Großbritannien etwa hat deshalb
        schon vor längerer Zeit die Submunition MUSPA der briti-
        schen Royal Airforce vollständig vernichtet, Italien auch.
        Ich frage den Bundesverteidigungsminister: Wussten
        Sie das, als Sie stolz die vollständige Umsetzung von Ot-
        tawa verkündet haben? Im BMVg weiß offensichtlich die
        linke Hand nicht, was die rechte tut. Diese Geschichte
        könnte die nächste Mine werden, auf die der Bundesver-
        teidigungsminister tritt.
        Das Abkommen von Ottawa war beschränkt auf Anti-
        personenminen; Antipanzerminen waren ausgenommen.
        Mehr war damals leider noch nicht drin. Trotzdem war
        Ottawa ein wichtiger erster Schritt im Kampf gegen die
        Minen-Geißel. Rot-Grün hat das damals aus der Opposi-
        tion heraus als nicht weit gehend genug kritisiert. In der
        Regierungsverantwortung hat Rot-Grün sich dann selbst
        das Engagement für die Abrüstung groß auf die Fahnen
        geschrieben. In der Koalitionsvereinbarung stand der Ein-
        satz für die Umsetzung von Ottawa und für das weltweite
        Verbot aller Landminen als ein zentraler Punkt mit drin.
        Aber was ist seitdem passiert, was haben die selbster-
        nannten rot-grünen Abrüstungspäpste zur Umsetzung ih-
        rer hehren Ziele unternommen? Leider nichts. Weil die
        weltweite Bedrohung durch Landminen nicht ab-, sondern
        zugenommen hat – denken Sie nur an Angola, Mosambik,
        Kosovo und nicht zuletzt Afghanistan – hat die FDP-Frak-
        tion bereits im vergangenen Jahr einen Antrag zu Landmi-
        nen im Deutschen Bundestag eingebracht; mit der Forde-
        rung, den Einsatz für die Umsetzung von Ottawa zu
        verstärken und mehr Geld für die Erprobung und Entwick-
        lung von maschinellem Minenräumgerät aufzubringen.
        Denn Minen allein von Hand zu räumen, das ist wie
        eine Sanddüne mit dem Fingerhut abzutragen. Wir brau-
        chen deshalb zuverlässiges Großgerät zum Minenräumen.
        Damit könnten nach Expertenmeinung bis zu 60 Prozent
        der Minen geräumt werden. Die deutsche Industrie hat in
        der letzten Zeit große Fortschritte bei der Entwicklung von
        solchem Gerät gemacht. Sie verdienen eine Chance, diese
        mit viel Aufwand entwickelte Technologie in der Praxis
        einzusetzen. Da ist die Bundesregierung in der Pflicht.
        Vor allem aber zielte unser Antrag darauf, jetzt die Ini-
        tiative zu ergreifen und in einer zweiten Stufe nicht nur
        Antipersonenminen, sondern auch solche Antipanzermi-
        nen zu verbieten, die sich nicht selbst zerstören. Denn für
        diese Minen gilt dasselbe wie für Antipersonenminen: Sie
        gefährden das Leben von Zivilisten auch noch weit nach
        dem Ende der Kampfhandlungen. Antipanzerminen un-
        terscheiden nicht, ob es ein Panzer ist oder ein Schulbus,
        durch den sie ausgelöst werden.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23265
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        Der Antrag wurde in den Ausschüssen des Deutschen
        Bundestages im Sommer letzten Jahres abgelehnt. Die
        Abgeordnete Beer hat das damals damit begründet, die
        Forderungen der FDP gingen ihr nicht weit genug.
        Rot-Grün würde lieber an der Zielvorgabe der Koaliti-
        onsvereinbarung festhalten und alle Landminen verbieten
        lassen – also auch die so genannten „intelligenten“ Pan-
        zerminen, die sich nach einer gewissen Zeit selbst aus-
        schalten. Darüber lässt sich streiten.
        Aber was ist in den letzten neun Monaten passiert?
        Wieder nichts. Rot-Grün kriegt es einfach nicht auf die
        Reihe. Der Verteidigungsminister blockiert. Deshalb
        kommt die FDP jetzt erneut mit einem Antrag, in dem sie
        von der Bundesregierung eine Initiative zur internationa-
        len Ächtung von Antipanzerminen, die sich nicht selbst
        zerstören, fordert und in dem sie von der Bundesregierung
        als Signal fordert, auf die Minen, die sich heute im Be-
        stand der Bundeswehr befinden, einseitig zu verzichten
        und die Herstellung solcher Minen zu untersagen. Die
        Union hat sich unserem Antrag angeschlossen. Wir be-
        grüßen das ausdrücklich.
        Die rot-grüne Regierungskoalition hat zunächst lange
        herumgeeiert, vorsichtig Unterstützung signalisiert, und
        jetzt, gestern, einen Tag vor der Debatte, einen eigenen
        Antrag eingebracht, einen Antrag, der unsere Formulie-
        rungen in weiten Teilen übernimmt, aber an zwei ent-
        scheidenden Stellen kneift: Die DM 21-Minen der Bun-
        deswehr, die bei uns eindeutig genannt werden und die als
        Vorleistung sofort abgerüstet werden sollten, werden
        nicht beim Namen genannt, sondern verschwinden in ei-
        ner nebulösen Forderung nach einer „schrittweisen Ent-
        fernung“ einiger nicht genauer benannter Minen. Die For-
        derung nach einseitigem Verzicht auf Erprobung,
        Herstellung, Lizenzvergabe, Lagerung und Export sol-
        cher Minen taucht überhaupt nicht auf. Wir sollen das
        Teufelszeug also schrittweise abbauen, aber weiter expor-
        tieren? Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein!
        Frau Beer, ich wende mich jetzt ganz bewusst einmal
        an Sie, die verteidigungspolitische Sprecherin der Grü-
        nen: Sie haben mir im Sommer letzten Jahres öffentlich
        vorgeworfen, unsere Initiative reiche nicht weit genug.
        Jetzt bringen Sie hier im Deutschen Bundestag endlich
        eine eigene Landminen-Initiative ein.
        Schön und gut – man muss diese rot-grüne Bundesre-
        gierung wie immer zum Jagen tragen, bis überhaupt etwas
        passiert. Aber Ihre Initiative fällt in entscheidenden Punk-
        ten ganz bewusst hinter das, was wir wollen, zurück. Was
        ist eigentlich mit Ihnen los? Rot-Grün ist wirklich meilen-
        weit davon entfernt, den eigenen Zielen und Ansprüchen
        zu genügen. Aber hier geht es um das Leben Tausender un-
        schuldiger Zivilisten in den ärmsten Ländern der Welt.
        Und da sollte auch Rot-Grün einmal über den eigenen
        Schatten springen und unseren weiter gehenden Antrag
        unterstützen – auch mit den Forderungen nach einseitigen
        deutschen Vorleistungen, nach einem echten Signal für die
        Abrüstung und gegen die Landminen.
        Heidi Lippmann (PDS): Um es vorwegzunehmen:
        Beim Antrag der FDP werden wir uns enthalten, weil er
        nur einen klitzekleinen Schritt nach vorn weist und da-
        rüber hinaus einen fragwürdigen Ansatz verfolgt: Die
        High-Tech-Minen der großen Militärnationen sollen tabu
        bleiben, während die anderen abrüsten sollen. Das passt
        nicht zusammen. Dem Antrag der Koalitionsfraktion wer-
        den wir zustimmen, weil er über den Status quo hinaus-
        weist, richtige Schritte enthält und auch Einschnitte im
        Minenarsenal der Bundeswehr verlangt.
        Wir unterstützen die Universalisierung des Ottawa-
        Protokolls, aber wir sind uns darüber im Klaren, dass da-
        mit nur ein kleiner Teil des Minenproblems gelöst wäre.
        Daher ist es unabweisbar über Ottawa hinauszugehen.
        Dies betrifft alle Anti-Tank-Minen, die die Zivilbevölke-
        rung gefährden, und in letzter Konsequenz alle Landminen.
        Hier werden wir weiterhin die Auffassungen der Interna-
        tionalen Kampagne gegen die Landminen ohne Wenn und
        Aber unterstützen.
        Dass auch die Bundeswehr Ernst machen soll mit der
        Entfernung einer ganzen Kategorie von Landminen, fin-
        den wir richtig. Es bleibt zu hoffen, dass die Formulierung
        im Koalitionsantrag, dass diese Waffen „schrittweise zu
        entfernen“ seien, nicht als Alibi benutzt wird, diesen Pro-
        zess endlos hinauszuzögern. Es muss unmittelbar damit
        begonnen werden und diese todbringenden Waffen müs-
        sen zügig aus dem Bestand entfernt werden. Das muss da-
        mit beginnen, dass offen gelegt wird, über welche Waffen
        dieser Kategorie die Bundeswehr verfügt. Wir werden
        – sicherlich in Verbindung mit den zivilgesellschaftlichen
        Initiativen – darauf zu achten haben, dass der heutige Be-
        schluss des Bundestages konsequent umgesetzt wird.
        Der Antrag der Regierungsfraktionen berücksichtigt
        leider nicht das Problem der Mehrzweckbomben, die in
        gleicher Weise unterschiedslos Zivilbevölkerung wie Sol-
        daten treffen und in ihrer Wirkung von den Minen nicht
        zu unterscheiden sind: Ich denke hier an die auch von der
        NATO im Jugoslawien-Krieg eingesetzten Cluster-Bom-
        ben. Die darin enthaltenen „bomblets“ widersprechen
        ebenso wie die Minen dem humanitären Kriegsvölker-
        recht: Sie differenzieren nicht zwischen Zivilist und Sol-
        dat. Auch dieser Bombentyp muss unseres Erachtens auf
        die Liste der zu ächtenden Waffen.
        Die PDS hat im Mai 1995 erstmals den Antrag gestellt,
        Landminen weltweit zu ächten. Darin haben wir unter an-
        derem gefordert, dass die Bundesrepublik auf Forschung,
        Entwicklung, Produktion und Export aller Landminen so-
        fort verzichten sollte. Weiter wollten wir, dass die Mittel,
        die bis zu diesem Zeitpunkt für die Erforschung und Be-
        schaffung neuer Minen aufgewandt wurden, für die zivile
        Minenräumung umgewidmet werden. Seitdem stellen wir
        Jahr für Jahr bei den Haushaltsberatungen den Antrag, die
        Mittel für die Minenräumung, für die Rehabilitierung und
        Entschädigung der Opfer kräftig aufzustocken, und zwar
        aus den Finanzmitteln, die im Wehretat bisher für die Mi-
        nenrüstung aufgebracht werden. Diese Anträge wurden
        von dem Rest des Hauses immer wieder abgelehnt.
        Sie werden uns vorwerfen, uns ginge es nur um billige
        Symbolik. Das ist nicht der Fall. Richtig ist, dass es um
        eine Grundsatzentscheidung geht: Geld, das für die Ent-
        wicklung neuer Waffen ausgegeben wird, ist besser für die
        zivile Krisenbewältigung und die Abrüstung ausgegeben.
        Es geht uns aber nicht zuletzt darum – das ist für uns
        ein moralisches Prinzip –, dass wir das doppelbödige
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223266
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        Spiel der Konzerne nicht mitmachen, die einerseits neue
        Waffen dieses Typs entwickeln, andererseits bei der Räu-
        mung der Minen noch einmal Kasse machen wollen.
        Es bleibt zu hoffen, dass mit der heutigen Debatte und
        der Entschließung des Bundestages die Bekämpfung der
        Landminen wieder einen höheren Stellenwert erhält. Die-
        ses Engagement muss über den 22. September hinausrei-
        chen. Die PDS wird ihren Teil dazu beitragen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des
        Völkerstrafgesetzbuches
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des
        Römischen Statuts des Internationalen Strafge-
        richtshofes vom 17. Juli 1998
        (Tagesordnungspunkt 11 a und b)
        Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD):Am 22. März hat die
        erste Lesung des Gesetzes zur Einführung des Völker-
        strafgesetzbuches sowie des Ausführungsgesetzes zum
        Römischen Statut stattgefunden. In den fünf Wochen da-
        nach sind wir der von allen Fraktionen dieses Hauses ge-
        wollten Einrichtung des ersten weltweit zuständigen
        Strafgerichtshofes und der Sicherung seiner Arbeitsfähig-
        keit erneut mit großen Schritten näher gekommen. Die er-
        forderliche Mindestzahl von 60 Ratifikationen ist am
        11. April erreicht und sogar deutlich überschritten wor-
        den. Das Römische Statut wird damit am 1. Juli in Kraft
        treten. Von diesem Tag an können Verbrechen wie Völ-
        kermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
        Kriegsverbrechen im Rahmen eines neuen internationalen
        Rechtssystems geahndet werden. Es wird wohl weniger
        als ein Jahr dauern, bis der Internationale Strafgerichtshof
        in Den Haag seine Arbeit tatsächlich aufnehmen kann.
        In der am 22. März verabschiedeten Entschließung ha-
        ben wir die Bundesregierung aufgefordert, auf die Regie-
        rung der Vereinigten Staaten einzuwirken, damit sie keine
        direkten oder indirekten Maßnahmen gegenüber Staaten
        ergreift, die den Römischen Vertrag zu ratifizieren beab-
        sichtigen. Dieser Appell hat nun zusätzliches Gewicht.
        Bei dem Besuch einer Delegation des Rechtsausschusses
        in New York sechs Wochen nach den Terroranschlägen
        vom 11. September haben uns hochrangige Vertreter der
        amerikanischen Regierung zugesichert, dass die USAsich
        im Falle der Errichtung des Internationalen Strafgerichts-
        hofes und nach positiven Erfahrungen mit der Rechts-
        staatlichkeit der Verfahren dazu entschließen könnten,
        sich dem Gerichtshof anzuschließen. Dieser Schritt ist in
        hohem Maße wünschenswert, weil der Gerichtshof ganz
        besonders auf die Amts- und Rechtshilfe amerikanischer
        Polizei- und Justizbehörden angewiesen sein wird. Die
        gelegentlich befürchtete Anklageerhebung gegen ameri-
        kanische Politiker und Militärs hat sich in unseren Ge-
        sprächen als Scheinargument erwiesen. Denn selbstver-
        ständlich sind die USA ein Rechtsstaat, der die von
        eigenen Staatsangehörigen begangenen Verbrechen vor
        den eigenen Gerichten anklagt und zur Aburteilung
        bringt. In diesem Falle aber entsteht die Strafgewalt des
        Internationalen Strafgerichtshofes nicht, die bekanntlich
        dem Grundsatz der Komplementarität folgt. Sie ist also
        davon abhängig, dass das an sich zuständige nationale Ge-
        richt das Strafverfahren nicht durchführen kann oder will.
        Für die Bundesrepublik Deutschland haben wir in den
        vergangenen Wochen durch außerordentlich konstruktive
        und zügige Beratungen des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Einführung des Völkerstrafgesetzbuches die Vorausset-
        zungen dafür geschaffen, dass auch bei uns in praktisch
        allen relevanten Fällen der Grundsatz der Komplementa-
        rität greift. Dabei haben wir den an sich schon vorzügli-
        chen Entwurf an zwei Stellen noch einmal verbessert.
        Zum einen haben wir die Möglichkeit paralleler Ermitt-
        lungen durch die deutschen Staatsanwälte auch in Fällen,
        in denen ein Internationaler Strafgerichtshof oder ein vor-
        rangig zuständiger Gerichtshof eines anderen Staates die
        Verfolgung übernommen hat, erweitert. Wir haben die ur-
        sprünglich vorgesehene Soll-Einstellung des deutschen
        Verfahrens in eine Kann-Einstellung umgewandelt, wo-
        mit wir die internationale Zusammenarbeit bei der Auf-
        klärung schwerster Verbrechen verbessern wollen. Zum
        anderen haben wir aufgrund der Stellungnahme des Bun-
        desrates und entsprechender Änderungsanträge der
        CDU/CSU-Fraktion die neuen Tatbestände des Verbre-
        chens gegen die Menschlichkeit sowie der Kriegsverbre-
        chen in mehrere Tatbestände unseres Strafgesetzbuches
        eingefügt, in denen bisher beispielsweise die Nichtan-
        zeige von Verbrechen lediglich bei geplanten Taten wie
        Mord, Totschlag oder Völkermord für strafbar erklärt
        worden war. Die gewünschte Einfügung der neuen
        Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuches in die Straf-
        prozessordnung haben wir allerdings zurückgestellt. Es
        geht dabei insbesondere um die Möglichkeit der Telefon-
        und Wohnraumüberwachung. Wir sind der Auffassung,
        dass es insoweit nicht nur um eine Überprüfung der De-
        liktskataloge gehen darf, sondern auch eine kritische
        Überprüfung der bisher bestehenden und aus unsere Sicht
        noch nicht ausreichenden rechtsstaatlichen Kontrollen
        notwendig ist. Bei den dazu notwendigen Beratungen
        wollen wir uns auf das von der Bundesregierung in Auf-
        trag gegebene rechtsvergleichende und rechtstatsächliche
        Gutachten des Freiburger Max-Planck-Instituts für aus-
        ländisches und internationales Strafrecht stützen. Die Er-
        stellung dieses Gutachtens ist leider nicht zuletzt durch
        die lange Zeit verweigerte Herausgabe von Akten seitens
        der Landesregierungen von Bayern und Baden-Württem-
        berg verzögert worden. Wir wollen bei unseren Beratun-
        gen auch die Anregungen des neuen Gremiums nach
        Art. 13 Grundgesetz berücksichtigen, in welchem die Mit-
        glieder aller Fraktionen mit den bisher durch die Landes-
        regierungen ermöglichten Kontrollen unzufrieden sind.
        Das heute ebenfalls in dritter Lesung zu beratende
        und zu verabschiedende Gesetz zur Ausführung des
        Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes
        vom 17. Juli 1998 ist mit großer Einmütigkeit von allen
        Fraktionen dieses Hauses gutgeheißen worden. Das Aus-
        führungsgesetz dient der effektiven Zusammenarbeit
        zwischen den deutschen Justizbehörden und dem künfti-
        gen Internationalen Strafgerichtshof. Die von der Bun-
        desregierung in Formulierungshilfen vorgeschlagenen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23267
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        Verbesserungen des Entwurfes sind von allen Fraktionen
        begrüßt worden.
        Ich nehme das zum Anlass, insbesondere den Beamten
        des Bundesministeriums der Justiz, aber auch der von die-
        sem Ministerium eingesetzten Expertengruppe den Dank
        sicherlich aller Fraktionen auszusprechen. Nach meiner
        Überzeugung wird das Völkerstrafgesetzbuch auch in an-
        deren Staaten, die sich dem Gerichtshof bereits ange-
        schlossen haben, große Beachtung finden. Es ist sicher
        gut, wenn nicht nur deutsche Autobauer, sondern gele-
        gentlich auch der deutsche Gesetzgeber in anderen Län-
        dern geschätzte Exportartikel erarbeiten. Die Botschaft
        des Römischen Statuts, dass sich die Schreibtischtäter und
        Folterknechte dieser Welt nirgendwo und zu keiner Zeit
        mehr sicher fühlen dürfen, beginnt, ihre Wirkung zu ent-
        falten. Nach meiner Überzeugung wird allein die Tatsache
        der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes ein
        wesentlicher Beitrag dazu sein, die generalpräventive
        Wirkung des Römischen Statuts und unseres Völkerstraf-
        gesetzbuches weiter zu verstärken, noch bevor auch nur
        ein einziger Prozess in Den Haag begonnen hat und abge-
        schlossen worden ist.
        Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):Wir haben in die-
        sem Hause in dieser Legislaturperiode viele rechtspoliti-
        sche Kontroversen geführt. Der Einsatz Deutschlands für
        eine internationale Strafrechts- und Strafgerichtsordnung
        war und ist aber kein Streitthema, sondern bildet einen
        Grundkonsens deutscher Rechts- und Außenpolitik.
        Die Grenzen fallen, die Welt wächst zusammen. Dies
        hat sehr viele positive Seiten, aber wir erleben gerade in
        diesen Tagen auch den ambivalenten Charakter der Glo-
        balisierung. Neben Ängsten besteht die konkrete Besorg-
        nis, dass die Schwächung der Staaten nicht kompensiert
        wird durch internationale Institutionen, sondern ein Va-
        kuum zurücklässt. Es formieren sich die Globalisierungs-
        gegner. Aber die Wirklichkeit, die uns nicht gefällt, ruft
        nicht nach Verneinung, sondern nach Gestaltung, also
        nach einer Ordnung. Dies ist nach unserer kulturellen Vor-
        stellung eine Ordnung des Rechts und durch das Recht.
        Das Strafrecht ist elementarer Teil auch der internationa-
        len Rechtsordnung und umfasst die unverzichtbaren
        Werte und Regeln für ein friedliches Zusammenleben.
        Wir sind Zeugen, dass diese alte Erkenntnis Gestalt an-
        nimmt. Sie hat begonnen mit der Schaffung des Interna-
        tionalen Strafgerichtshofes und setzt sich fort durch das
        Völkerstrafgesetzbuch, das wir heute beschließen. Mit
        diesem Völkerstrafgesetzbuch werden schwerste Verlet-
        zungen des humanitären Völkerrechts nun auch durch die
        nationale Rechtsordnung und nationale Institutionen
        geächtet und verfolgt. Dies hat einen unmittelbaren prak-
        tischen Nutzen, indem so die Anwendung der völker-
        rechtlichen Bestimmungen, also die Verfolgung der
        Straftaten, sichergestellt wird. Es ist auch ein Signal der
        Ernsthaftigkeit; die Ächtung schwerster Verbrechen ge-
        gen die Menschlichkeit ist keine symbolische Geste, son-
        dern Gegenstand effektiven staatlichen Handelns.
        Die politische Dimension dieses Prozesses geht aber
        über diese praktischen Wirkungen hinaus: Die Über-
        nahme völkerrechtlicher Bestimmungen in nationales
        Strafrecht leitet eine Entwicklung ein, die den Dualismus
        zwischen dem zwar weltweit geltenden, aber durchset-
        zungsschwachen Völkerrecht einerseits und dem zwar
        durchsetzungsstarken, aber regional begrenzten staat-
        lichen Recht andererseits partiell auflöst und an seiner
        Stelle gemeinsames Recht vieler Staaten schafft. Das
        Recht antwortet damit der Wirklichkeit, in der sich die
        Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen in-
        nerer Bedrohung und äußerer Bedrohung, innerem Frieden
        und äußerem Frieden zunehmend auflöst. Die Entschei-
        dung für den Internationalen Strafgerichtshof und das Völ-
        kerstrafgesetzbuch sind der ernste und verbindliche Aus-
        druck der Geltung gemeinsamer universaler Werte. Sie
        sind die zivilisierte Antwort auf Terror und Krieg.
        Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat diesen Prozess
        immer positiv begleitet. Dies gilt auch für das jetzige Ge-
        setzesvorhaben. Der von unserer Fraktion gestellte Ände-
        rungsantrag umfasste zum einen die Einbeziehung der
        Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch in die
        Straftatenkataloge der §§ 126, 129 a und 138 des Strafge-
        setzbuches. Wir begrüßen, dass die Koalition in der letz-
        ten Sitzung des Rechtsausschusses diesem Teil unserer
        Änderungsanträge doch noch zugestimmt hat.
        Darüber hinaus zielt unser fortbestehender Änderungs-
        antrag darauf ab, dass die Bundesrepublik zur Verfolgung
        der schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit
        auch die strafprozessualen Mittel der §§ 100 a und 100 c
        der Strafprozessordnung einsetzt. Wir bedauern aus-
        drücklich, dass die rot-grüne Koalition aus rein internen,
        koalitionstaktischen Gründen hierzu die Kraft nicht auf-
        gebracht hat. Dies ist Ausdruck der inhaltlichen Auszeh-
        rung und politischen Schwäche der rot-grünen Koalition
        auch auf dem Gebiet der Rechtspolitik. Es ist schade, dass
        das Gesetzesvorhaben hiermit belastet wird. Aber ent-
        scheidend ist: Mit dem Völkerstrafgesetzbuch wird ein
        konkreter und zukunftsweisender Beitrag für eine gerech-
        tere und friedlichere Weltordnung geleistet. Darum stim-
        men wir dem Gesetzentwurf zu.
        Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
        Freude und Genugtuung stehe ich heute Abend hier und
        rede zu und mit Ihnen über unsere beiden von der Bun-
        desregierung vorgelegten Gesetzentwürfe zur Einführung
        des Völkerstrafgesetzbuches sowie zur Ausführung des
        Statutes von Rom. Als ich mich vor vielen Jahren nicht
        nur, aber auch in diesem Hause intensiv mit der juristi-
        schen Aufarbeitung des immensen von den beiden deut-
        schen Diktaturen im letzten Jahrhundert unzähligen Men-
        schen beigebrachten Unrechtes beschäftigt habe, musste
        ich wieder einmal erkennen: Das schlimmste, wirkungs-
        vollste und monströseste Unrecht liegt gar nicht in indivi-
        duellen Rechtsverletzungen oder Straftaten. Diese nehmen
        sich – gerade im 20. Jahrhundert! – minimal aus gegen das-
        jenige Unrecht, das in Befolgung der Gesetze geschehen
        ist. Diktaturen, gerade auch in Deutschland, haben es an
        sich, dass sie Gesetze erlassen, gegen die jedes menschli-
        che Empfinden rebelliert, dass sie formal zu Recht erklären,
        was jeden Gedanken von Freiheit, Demokratie, Toleranz
        und Menschenwürde zutiefst widerspricht: Verbrechen ge-
        gen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verfolgung
        und Unterdrückung bis hin zu Mord und Völkermord.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223268
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        Die juristische Aufarbeitung solchen Unrechts gestal-
        tet sich schwierig. Dafür sorgt schon das verfassungs-
        rechtliche Rückwirkungsverbot. Der Grundsatz „nulla
        poena sine lege“ zwingt uns, immer nur dasjenige Recht
        anzuwenden, das zur Tatzeit für den Täter galt. So sind der
        justiziellen Aufarbeitung von Unrecht im nationalen
        Rechtsgefüge oft enge Grenzen gezogen.
        Diese Erkenntnis war ein Grund für mich – sicher nicht
        der einzige, allerdings aber ein sehr wichtiger – , mich
        sehr früh schon für die Einführung eines Völkerstrafge-
        setzbuches und die Schaffung eines ständigen Internatio-
        nalen Strafgerichtshofes einzusetzen. Nach unzähligen
        Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern internatio-
        naler Juristenvereinigungen, von Amnesty International
        und auch aus dem Außen- und dem Justizministerium un-
        serer Bundesregierung, nach Kongressen, öffentlichen
        Anhörungen usw. habe ich schließlich in der vergangenen
        Legislaturperiode einen Antrag zur Schaffung eines stän-
        digen Internationalen Strafgerichtshofes im Deutschen
        Bundestag eingebracht – Drucksache 13/19935 –. Es ver-
        schafft mir große Befriedigung, nun heute mit Ihnen allen
        gemeinsam sowohl das rechtswirksame Zustandekom-
        men dieses Internationalen Strafgerichtshofes durch die
        Ratifizierung von mehr als 60 Mitgliedstaaten feiern und
        gleichzeitig auch die notwendige Umsetzung des Ergeb-
        nisses der in Rom hierüber getroffenen Vereinbarungen in
        das deutsche Recht vornehmen zu können.
        Das Zustandekommen dieses Internationalen Strafge-
        richtshofes ist ein Meilenstein in der Geschichte des Völ-
        kerrechtes. Die zügige Ratifikation so vieler Staaten belegt
        eindrucksvoll den Willen der internationalen Gemeinschaft
        zur Ächtung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Ver-
        brechen gegen die Menschlichkeit. Derartige Handlungen
        haben keinen Platz mehr in unserer immer enger werden-
        den, dichter vernetzten und immer stärker aufeinander an-
        gewiesenen Welt.
        Es gibt einen starken und eindrucksvollen Willen, ele-
        mentaren Grundsätzen des Menschen- und Völkerrechtes
        über die Grenzen von Staaten und Systemen hinweg welt-
        weit Geltung zu verschaffen. Dies ist ein elementarer
        Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Künftig
        wird es möglich sein, auf der Basis international vertrag-
        lich vereinbarten Rechtes einzelne Personen, Gewalttäter,
        Terroristen oder auch rücksichtslose Diktatoren wegen
        Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit
        oder Völkermord vor Gericht zu stellen.
        Das so vereinbarte Recht schützt die Schwachen. Und
        es macht, das ist wichtig, vor der Mächtigen, vor den
        Thronen dieser Welt nicht halt. Denn auch regierende Per-
        sonen sind ausdrücklich vor Anklagen nicht geschützt.
        Dabei haben betroffene Staaten die Chance, selbst mit
        den Mitteln der Strafverfolgung und des Rechtes tätig zu
        werden. Nur dann, wenn und dort, wo sie das nicht können
        oder tun, wird der Internationale Strafgerichtshof tätig.
        Der oft, zum Beispiel auch im Falle der Nürnberger
        Prozesse oder aktuell im Falle des Jugoslawien-Gerichts-
        hofes von interessierter Seite erhobene Vorwurf der „Sie-
        gerjustiz“ geht gegenüber diesem ständigen Strafgerichts-
        hof ins Leere. Dies nicht nur, weil ein großer und ständig
        wachsender Teil der Staatengemeinschaft sich seinen
        Grundsätzen und seiner Jurisdiktion bereits freiwillig und
        auf Dauer unterworfen hat, sondern auch deshalb, weil
        seine Richterinnen und Richter nicht nur aus einem Land
        oder einem Teil der Erde, sondern auf Dauer aus allen der
        139 Unterzeichnerstaaten kommen werden. Dies wird die
        Bereitschaft zur Anerkennung des Gerichtes als unpartei-
        ischer Wahrer des auf Grundlage frei getroffener Verein-
        barungen international geltenden Weltrechtes wesentlich
        befördern.
        Noch wichtiger ist ein zweiter Punkt: Anders als etwas
        das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wird der Inter-
        nationale Strafgerichtshof die Rechtmäßigkeit seiner
        Strafverfolgung nicht mit hohem rechtsphilosophischen
        Aufwand lange nach den begangenen Taten erst begrün-
        den müssen. Denn die Taten, die vor seine Schranken
        kommen, werden vorher schon ausdrücklich und für je-
        dermann bekannt von jetzt an unter Strafe gestellt.
        Dies wird die wichtigste Funktion der Existenz dieses
        Gerichtes fördern: die Abschreckung. Wer künftig Verbre-
        chen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder das
        Verbrechen des Völkermordes begeht, muss und wird vom
        ersten Moment an wissen, dass er, für den Fall, dass er über-
        lebt, der Folgen seiner Taten nicht froh werden kann. Er
        muss und wird wissen, dass das Gericht auf ihn wartet und
        dass er weltweit in allen Staaten, die mit diesem zusam-
        menarbeiten, verfolgt werden wird – und dies so lange, bis
        er, vor Gericht gebracht, für seine Taten sühnen muss.
        Das heißt: Mit der Schaffung dieses Gerichtshofes
        wird die Welt für Menschen, die guten Willens sind, ein
        klein wenig sicherer und für Terroristen und Machthaber,
        die ihre Macht zur Begehung schrecklicher Verbrechen
        missbrauchen, etwas unsicherer werden.
        Mit dem NS-Unrechtsstaat hat Deutschland in einem
        Rechtssystem, das jedes Maß verlor, das Recht perver-
        tiert, hat Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommu-
        nisten, Pazifisten, Christen, anders Denkende pauschal
        rechtlos gestellt und der Verfolgung und Vernichtung aus-
        gesetzt. Wir dürfen und wir werden das nicht vergessen.
        Umso mehr ehrt es unser Land, dass gerade Deutschland
        zu den wichtigsten, engagiertesten und aktivsten Wegbe-
        reitern dieses Gerichtshofes gehört.
        Mein besonderer Dank gilt daher denjenigen Vertretern
        unseres Landes und unserer Regierung, die – über Partei-
        grenzen und den Wechsel von Regierungsmehrheiten hin-
        weg – dieses Projekt so tatkräftig vorangetrieben haben.
        Und mein Dank gilt den vielen Juristen- und Menschen-
        rechtsinitiativen und Verbänden, die diese Idee mit ent-
        wickelt, vorangetrieben und gefördert haben.
        Meine dringende Bitte richtet sich an Russland, China
        und die Vereinigten Staaten von Amerika, die bisher die Zu-
        sammenarbeit mit dem Gericht noch verweigern. Wer dem
        Recht auf Dauer Geltung verschaffen will, wer möchte,
        dass Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte welt-
        weit Gültigkeit erlangen, darf sich der Zusammenarbeit
        mit dem Internationalen Völkerstrafgerichtshof nicht ver-
        weigern, will er nicht seine Glaubwürdigkeit verlieren.
        Die Stärkung des internationalen Rechtes ist die Alter-
        native zur Sprache der Waffen und der Gewalt. Der Aus-
        bau des Internationalen Rechtes stärkt Frieden, Freiheit,
        Menschenrecht und Menschenwürde. Geben wir diesem
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23269
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        Weg eine Chance! Stärken wir das Recht als Mittel gegen
        Terror und Gewalt!
        Deshalb darf ich Sie um Unterstützung für die vorlie-
        genden Gesetzentwürfe bitten!
        Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP): Die nur sehr
        kurze mir zur Verfügung stehende Redezeit will ich dem
        Völkerstrafgesetzbuch widmen; denn allein dieses ist das
        politisch Innovative. Der zweite Gegenstand unserer heuti-
        gen Befassung, das Ausführungs- bzw. Zusammenarbeits-
        gesetz, setzt lediglich – was ja auch gut und richtig ist – die
        Vorgaben des Römischen Statuts vom 17. Juli 1998 um,
        welches im Übrigen politisch maßgeblich von den Libera-
        len in der damaligen Bundesregierung mit zustande ge-
        bracht wurde.
        Deutschland ist nach dem Römischen Statut nicht ver-
        pflichtet, die dort thematisierten schweren Völkerrechts-
        verbrechen selber unter Strafe zu stellen. Es muss dann
        aber, wenn es eine innerstaatliche Pönalisierung nicht vor-
        sieht, Tatverdächtige zur Strafverfolgung an den Interna-
        tionalen Strafgerichtshof überstellen, und zwar auch,
        wenn es sich um eigene Staatsangehörige handelt. Stellt
        Deutschland also mit einem Völkerstrafgesetzbuch wie
        dem vorliegenden die inländische Strafverfolgung sicher,
        verhindert es zugleich, dass deutsche Staatsangehörige an
        den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden
        müssen. Schon deshalb kann man die Gesetzesinitiative
        eigentlich nur unterstützen.
        Es geht zugleich aber auch um den Ausbau des deut-
        schen Strafrechts zu einer im Hinblick auf die internatio-
        nalen Verpflichtungen und Herausforderungen leistungs-
        fähigen, modernen und den eigenen Ansprüchen gerecht
        werdenden Rechtsordnung. Wir wollen ja die Domesti-
        zierung des internationalen Geschehens, also auch die
        Friedenssicherung, durch das Recht. Wir wollen die inter-
        nationale rechtliche Verbindlichkeit der grundlegenden,
        gemeinsamen Wertvorstellungen auf diesem Globus. Wir
        wollen die persönliche Verantwortlichkeit staatspoliti-
        scher Täter vor der Völkergemeinschaft. Deshalb müssen
        wir in dieser Richtung auch alle Schritte unternehmen, die
        uns unserem Ziel näher bringen. Und es erübrigt sich, zu
        sagen, dass dies dann natürlich auch die Bereitschaft vo-
        raussetzt, das bisherige System zu reformieren und über-
        kommene, enge Souveränitätsvorstellungen aufzugeben.
        Auch dies wäre reizvoll näher auszuführen; ich kann das
        aber wegen der Kürze der Zeit leider nicht tun.
        Denn schließlich, drittens, soll das Völkerstrafrecht ja als
        solches noch vorangebracht und weiterentwickelt werden.
        Insofern haben wir die Chance, mit unserem Völkerstrafge-
        setzbuch jetzt einen Markstein zu setzen und gewisser-
        maßen eine kodifikatorische Vorbildfunktion zu überneh-
        men. Dies ist mit dem vorgelegten Corpus – das will ich
        freudig anerkennen – insgesamt gut gelungen. Ich möchte
        deshalb an dieser Stelle vor allem der vom Bundesjustizmi-
        nisterium eingesetzten Expertenarbeitsgruppe für ihre maß-
        stabsetzende Entwurfsfassung danken und – das sehen Sie
        mir hoffentlich nach – meiner Genugtuung Ausdruck geben,
        dass die parlamentarische Beratung an diesem geschlos-
        senen Konzept nicht sonderlich herumfrisiert hat.
        Die FDP jedenfalls wird den Gesetzesvorlagen gerne
        zustimmen.
        Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Meine Fraktion wird bei-
        den Gesetzentwürfen zustimmen. Das Völkerstrafgesetz-
        buch setzt das materielle Recht des Römischen Statuts im
        Großen und Ganzen adäquat in deutsches innerstaatliches
        Recht um. Es ist zweifellos ein gewichtiges Gesetzes-
        werk. Das Ausführungsgesetz regelt die Zusammenarbeit
        deutscher Behörden mit dem Internationalen Strafge-
        richtshof auf eine Weise, die rechtsstaatlichen Erforder-
        nissen und praktischen Notwendigkeiten entspricht.
        Auch ich halte das In-Kraft-Treten des Statuts für ein
        außerordentlich bedeutsames politisches und völkerrecht-
        liches Ereignis. Ich würdige ausdrücklich den Anteil der
        deutschen Diplomatie an seinem Zustandekommen. Erst-
        malig in der Geschichte kann ein internationaler Ge-
        richtshof mit universalem Anspruch schwerste internatio-
        nale Verbrechen verfolgen lassen und bestrafen.
        Das gilt allerdings nur, wenn ein Vertragsstaat nicht
        willens oder nicht in der Lage ist, die Strafverfolgung
        selbst zu betreiben. Er ergänzt also nur die innerstaatliche
        Strafgerichtsbarkeit. Der Gerichtshof kann seinen univer-
        salen Anspruch nur in dem Maße verwirklichen, wie im-
        mer mehr Staaten Vertragspartner des Statuts werden. Ge-
        genwärtig fehlen noch etwa 120 Ratifikationen, darunter
        die von China, Indien, Pakistan, Russland, der Türkei und
        der USA. Die USA veranstalten geradezu ein Kesseltrei-
        ben gegen das Statut und den Gerichtshof. Ich bin mir
        nicht sicher, ob die Regierung dagegen das oft beschwo-
        rene gewachsene Gewicht Deutschlands mit aller Deut-
        lichkeit in die Waagschale wirft.
        Ich habe schon bei früherer Gelegenheit darauf auf-
        merksam gemacht, dass das Römische Statut auch Defi-
        zite enthält. Es ist ja ein Kompromiss zwischen vielen
        Staaten. Diese Defizite werden durch das vorliegende Ge-
        setz nun im innerstaatlichen Recht sozusagen fortgeschrie-
        ben. Man sagt, das geht nicht anders, weil die beanspruchte
        Geltung des Weltrechtsprinzips es verbietet, dass das Völ-
        kerstrafgesetzbuch über die vertraglich oder gewohnheits-
        rechtlich eindeutig abgesicherten Verbrechenstatbestände
        hinausgeht. Ich meine, das Problem hätte sich juristisch
        lösen lassen.
        In meinen Augen ist es mehr als ein Schönheitsfehler,
        dass das deutsche Völkerstrafgesetzbuch keinen Tatbe-
        stand des Aggressionsverbrechens enthält. Der Erstein-
        satz von Atomwaffen wird im Entwurf der Regierung
        nicht unter Strafe gestellt, ebenso wenig wie die Anwen-
        dung besonders grausamer Waffen, wie Laserwaffen und
        Antipersonenminen, von Streu- und Splitterbomben. Ich
        nenne nur einige gravierende Defizite.
        Unser Entschließungsantrag verfolgt das Ziel, die Defi-
        zite sowohl im Römischen Statut als auch im Völkerstraf-
        gesetzbuch zu überwinden. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
        Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
        Justiz: Ich freue mich sehr, dass wir bereits heute das Ge-
        setz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches und das
        zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationa-
        len Strafgerichtshofs in zweiter und dritter Lesung bera-
        ten und beschließen können. Das zeigt nicht nur, dass die
        Bundesregierung auch hier sehr gut gearbeitet hat, son-
        dern macht die parteienübergreifende breite Unterstüt-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223270
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        zung für die Errichtung und die Arbeit des Internationalen
        Strafgerichtshofs hier im Deutschen Bundestag deutlich.
        Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr und
        leistet seinen Beitrag zur Bekämpfung und Verfolgung der
        schwersten Verbrechen in unserer internationalen Gemein-
        schaft: Bei Völkermord, Verbrechen gegen die Mensch-
        lichkeit und Kriegsverbrechen darf es künftig nirgendwo
        auf dieser Welt mehr Straflosigkeit geben.
        Vor knapp vier Jahren, am 17. Juli 1998, ist in Rom das
        Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs von
        120 Staaten angenommen worden. Er soll seinen Sitz in
        Den Haag bekommen und die ständige Gerichtsbarkeit
        über die schwersten Völkerrechtsverbrechen ausüben.
        Deutschland hat die Errichtung dieses Internationalen
        Strafgerichtshofes immer breit gefördert und das Statut
        bereits am 11. Dezember 2000 ratifiziert. Bei aller Unter-
        stützung bleibt doch darauf hinzuweisen, dass selbst die
        größten Optimisten die für das In-Kraft-Treten des Status
        nötigen Ratifikation durch 60 Vertragsstaaten erst in eini-
        gen Jahren erwartet hatten. Tatsache ist jedoch, dass der
        Gerichtshof schon sehr bald seine Arbeit aufnehmen
        kann. Nachdem vor zwei Wochen in New York nicht nur
        die 60., sondern schon die 66. Ratifikationsurkunde hin-
        terlegt wurde, kann das Statut am 1. Juli 2002 in Kraft tre-
        ten. Das ist ein großer Erfolg.
        Der IStGH wird ein echter „Weltstrafgerichtshof“ sein.
        Zwar stehen heute noch große Staaten der Welt, auch sol-
        che mit rechtsstaatlicher Tradition – wie etwa die USA –
        beiseite. Das ist bedauerlich, deshalb werben nicht nur wir
        hier in Deutschland, sondern alle Mitgliedstaaten der EU
        darum, dass die Regierung der USA ihre derzeitige politi-
        sche Skepsis überwindet und mitarbeitet. Ich werde auch
        die G-8-Konferenz der Justizminister in Kanada in eini-
        gen Tagen dazu nutzen, dafür zu werben. Insgesamt bin
        ich auch in diesem Punkt optimistisch – die Arbeit des
        ständigen Internationalen Strafgerichtshofs wird dazu
        beitragen, dass dieses globale Recht immer stärker auch
        für diese großen Staaten gelten wird. Sie sollen nicht auf
        Dauer abseits stehen.
        Für uns in Deutschland geht es jetzt nicht allein darum,
        die Aufbauarbeit des Internationalen Strafgerichtshofs zu
        unterstützen. Wir – und das geschieht durch die heute be-
        ratenen Gesetze – richten auch unser innerstaatliches
        Recht auf die künftigen Anforderungen aus, soweit dies
        nötig und sinnvoll ist.
        Das Ausführungsgesetz schafft die innerstaatlichen
        Voraussetzungen für die Zusammenarbeit der deutschen
        Strafverfolgungsbehörden mit dem Internationalen Straf-
        gerichtshof, etwa bei der Überstellung beschuldigter Per-
        sonen und der Übersendung von Beweismaterial. Die Re-
        gelungen folgen dem Statut und berücksichtigen die guten
        Erfahrungen der Zusammenarbeit insbesondere mit dem
        Jugoslawien-Gerichtshof, dem wir, ebenso wie dem
        Ruanda-Gerichtshof für seine hervorragende Arbeit auch
        an dieser Stelle ausdrücklich danken.
        Wir alle wissen auch, dass die Verfolgung von Völker-
        rechtsverbrechen vor den deutschen Gerichten wichtig
        bleibt. Der Komplementaritäts-Grundsatz des Römischen
        Status setzt ja fest, dass die Gerichtsbarkeit des Interna-
        tionalen Strafgerichtshofs nur greift, wenn Staaten nicht
        willens oder nicht in der Lage sind, eines der vom Statut
        erfassten Kernverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Das
        heißt, die Vertragsstaaten behalten ihre Verantwortung für
        die internationale Strafgerichtsbarkeit, soweit sie das kön-
        nen. Wir als Rechtsstaat können und wollen das.
        Mit unserem Völkerstrafgesetzbuch schaffen wir eine
        verbesserte Rechtsgrundlage für die Verfolgung von Völ-
        kerrechtsverbrechen. Bei Völkermord, Verbrechen gegen
        die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gelten jetzt die
        besonderen Straftatbestände. Diese schrecklichen Verbre-
        chen sind heute durch das allgemeine Strafrecht zwar er-
        fasst; ihr besonderer Unrechtsgehalt, etwa bei Massen-
        vergewaltigungen und ethnischer Säuberung im Rahmen
        systematischer Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder
        in einem Krieg, kommt jedoch in den Bestimmungen des
        Völkerstrafgesetzbuchs besser zum Ausdruck. Das gilt
        auch für die anderen hier angesprochenen Verbrechen wie
        etwa die Folter, die jetzt gesondert und nicht mehr allein
        über einen Tatbestand der Körperverletzung bestraft wird.
        Das Völkerstrafgesetzbuch setzt das Römische Statut
        um und nimmt zugleich gesichertes Völkergewohnheits-
        recht auf. Damit erleichtert es die Arbeit der Praxis und
        fördert darüber hinaus die Entwicklung und Verbreitung
        des humanitären Völkerrechts.
        Ein Wort noch zum Weltrechtsprinzip. Auch Täter, die
        weder selbst Deutsche sind, noch ihre Verbrechen gegen
        die Menschlichkeit in Deutschland oder an Deutschen be-
        gehen, können hier zur Verantwortung gezogen werden.
        Das ist vernünftig, einfach um die globale Bedeutung der
        Ächtung und Verfolgung solcher schwerster Straftaten zu
        unterstreichen. Allzu häufig werden freilich solche Fälle
        nicht sein. Die vorgesehene Einstellungsmöglichkeit stellt
        zudem sicher, dass die deutsche Justiz mit Verfahren ohne
        Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss im Inland
        oder bei bestehender Strafverfolgung durch vorrangig be-
        rufene andere Staaten oder durch die internationale Ge-
        richtsbarkeit nicht unnötig belastet wird.
        Ich habe schon erwähnt, die vorliegenden Gesetze sind
        gut. Und ich danke allen, die bei ihrer Erarbeitung und Be-
        ratung mitgewirkt haben: Das ist zum einen die Exper-
        tenkommission mit den Professoren Wehrle, Fischer,
        Weigend, Zimmermann, Ambos; das sind zum anderen
        die hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
        Strafrechtsabteilung des Bundesministeriums der Justiz
        unter Ministerialdirektor Wilkitzki, die sich ja seit Jahren
        nicht nur bei der Erarbeitung des Römischen Statuts, son-
        dern gerade auch beim Aufbau des Internationalen
        Strafgerichtshofs engagieren, und die Experten aus dem
        AA und dem BMV. Ich danke auch in besonderem Maße
        den Kolleginnen und Kollegen auf allen Seiten dieses
        Hauses, die sich beteiligt haben.
        Unser Völkerstrafgesetzbuch stößt auf großes Interesse
        auch im Ausland. Gerade auch bei den Staaten, die ebenfalls
        vor der Frage stehen, wie sie das Römische Statut umsetzen.
        Deshalb gibt es bereits eine englische und französische, eine
        russische und spanische Fassung; eine chinesische wird in
        Kürze folgen. Die deutsche Delegation hat es bei der jüngs-
        ten Tagung der Vorbereitungskommission für den Interna-
        tionalen Strafgerichtshof im April in New York vorgestellt –
        mit außerordentlich positivem Echo.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23271
        (C)
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        Die Botschaft des Ständigen Internationalen Strafge-
        richtshofs ist: Die Folterknechte und Schreibtischtäter
        dieser Welt können sich nirgendwo und zu keiner Zeit
        mehr vor einer gerechten Strafverfolgung sicher fühlen.
        Diese Botschaft unterstreichen und stärken wir heute.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung
        – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
        setzes über die Untersuchung von Seeunfällen (See-
        unfalluntersuchungsänderungsgesetz SeeUÄndG)
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem
        Antrag: Bildung einer Leitstelle für Seesicherheit
        – des Antrags: Maritime Sicherheit auf der Ostsee
        (Tagesordnungspunkte 12 a bis c)
        Annette Faße (SPD): Wir – die rot-grüne Bundesre-
        gierung und die Koalitionsfraktionen – haben auf dem
        Gebiet der Schiffssicherheit eine Menge erreicht. Der
        Bundesverkehrsminister hat mit der umfassenden Neu-
        konzeption der maritimen Notfallvorsorge Maßnahmen
        eingeleitet, die wesentlich dazu beitragen werden, das
        Schiffssicherheitskonzept zu optimieren. Ich möchte dem
        Ministerium an dieser Stelle – insbesondere auch als Be-
        troffene, als Küstenbewohnerin – meinen ausdrücklichen
        Dank für die effektive und erfolgreiche Arbeit in den ver-
        gangenen vier Jahren aussprechen. Im Gegensatz zu den
        Damen und Herren von der Opposition haben wir unsere
        Hausaufgaben gemacht.
        Im Falle eines schweren Seeunfalls ist ein zügiges, ef-
        fektives und kompetentes Eingreifen unbedingt erforder-
        lich. Hier zumindest scheinen wir einer Meinung zu sein.
        Mit der Errichtung eines Havariekommandos wird dies
        gewährleistet, und zwar auch ohne eine Änderung des
        Grundgesetzes. Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das
        Havariekommando so schnell wie möglich seine Arbeit
        aufnehmen kann. Überflüssige Grundgesetzänderungen
        würden den Prozess der Optimierung des Sicherheitskon-
        zepts nur unnötig verlängern.
        Ich bin schon etwas verwundert, wenn uns die CDU/
        CSU in ihrem Antrag mit der Errichtung des Havariekom-
        mandos eine „Alibi-Aktion“ unterstellt und plötzlich vehe-
        ment eine Zusammenfassung der bisher getrennten Aufga-
        benzuordnung von Bund und Ländern einfordert. Wenn ihr
        das so wichtig ist, frage ich mich allerdings, warum sie das
        nicht angegangen ist, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Zeit
        genug dazu hatte sie.
        Dass sie es nicht tat, liegt wohl daran, dass sie die be-
        stehende Struktur für vollkommen ausreichend hielt. Dies
        kann sie gerne in der Antwort der alten Bundesregierung
        auf die Kleine Anfrage „Sicherheit in der Deutschen
        Bucht V“, Drucksache 13/11453, nachlesen. Dort heißt
        es: „Die bestehende Einsatzleitungsstruktur hat sich bei
        der Bekämpfung von Unfallfolgen und den regelmäßig
        durchgeführten Übungen bewährt.“ Also möge sie uns
        bitte nicht erzählen, das geplante Havariekommando sei
        unzureichend.
        Im Übrigen setzen wir mit dem Havariekommando in
        Konsens mit den Küstenländern zentrale Empfehlungen
        der Grobecker-Kommission um.
        Bereits seit Dezember 2001 werden in Cuxhaven die
        Voraussetzungen geschaffen, damit das Havariekom-
        mando noch in diesem Jahr seine Arbeit aufnehmen kann.
        Die entsprechenden Vereinbarungen mit den Landesre-
        gierungen sind auf Arbeitsebene abgestimmt und den Län-
        dern zugeleitet worden. Es ist also davon auszugehen, dass
        die Länderkabinette bald ihre Zustimmung erteilen werden.
        Die Einsatzzentrale des Havariekommandos wird ein in
        24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes maritimes Lagezen-
        trum sein, das aus dem Bereich der Wasser- und Schiff-
        fahrtsverwaltung des Bundes und den Wasserschutzpoli-
        zeien der Küstenländer derzeit aufgebaut wird. Dort laufen
        künftig alle notwendigen Informationen zusammen.
        Der Leiter des Havariekommandos übernimmt die
        Führung des Einsatzes, wobei er von Arbeitsstäben für
        Schadstoff- und Brandbekämpfung, Verletztenversorgung,
        Bergung und Öffentlichkeitsarbeit beraten wird.
        Für den Einsatz kann er allen notwendigen Kräften des
        Bundes und der Küstenländer, zum Beispiel der Wasser-
        und Schifffahrtsverwaltung, den Feuerwehren, den
        Schleppern und den Ölbekämpfungsschiffen, Einsätze er-
        teilen und Einsatzabschnitte einrichten.
        Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
        und die Bundesmarine werden vollständig in die Arbeit
        des Havariekommandos integriert.
        Da der konkrete Einsatzfall hoffentlich künftig der ab-
        solute Ausnahmefall bleibt, wird unter dem Dach des Ma-
        ritimen Lagezentrums ein Kompetenzzentrum für alle Fra-
        gen der maritimen Unfallbekämpfung eingerichtet. Darin
        werden alle bisherigen Aufgaben, wie der Zentrale Melde-
        kopf oder die Sonderstellen zur Schadstoffbekämpfung,
        aufgehen. Für die Schiffsbrandbekämpfung gibt es dann
        erstmals eine zentrale Stelle.
        Neben dem Havariekommando ist die Vorhaltung aus-
        reichender Schleppkapazität ein elementarer Bestandteil
        eines optimalen Sicherheitskonzepts. Ich habe es sehr be-
        grüßt, dass mit Beginn des letzten Winterhalbjahres erst-
        mals auch in der Ostsee zwei Notschlepper in Rostock
        und Kiel stationiert sind.
        Ziel sind möglichst kurze Eingreifzeiten von maximal
        zwei Stunden in Nord- und Ostsee. Für die Nordsee ist der
        Chartervertrag für den Hochseeschlepper „Oceanic“ um
        weitere sechs Monate verlängert worden. Darüber hinaus
        ist im Frühjahr dieses Jahres ein europaweites Interessen-
        bekundungsverfahren eingeleitet worden. Dieses gibt den
        Schleppreedereien die Möglichkeit, ihre Vorstellungen
        und Angebote zur Umsetzung des Notschleppkonzepts
        darzulegen. Damit ist der teilweise geäußerten Kritik an
        den technischen Anforderungen des Notschleppers be-
        gegnet worden.
        Ich komme nun zu dem Bereich, der im Februar an die-
        ser Stelle höchst umstritten war, die Reform der Seeun-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223272
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        falluntersuchung. Sie war umstritten, weil die Opposition
        entweder von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist
        oder bewusst Unwahrheiten verbreitet hat, die sie auch
        noch weiter verbreitet. Aber lange werden die Leute ihr
        nicht mehr auf den Leim gehen; denn es wird sich zeigen,
        dass die Seeämter auch mit der neuen Gesetzeslage erhal-
        ten bleiben.
        Ich bleibe dabei: Die Reform der Seeunfallunter-
        suchung ist ein wichtiger und notwendiger Beitrag zur Ver-
        besserung der Schiffssicherheit und zur Unfallvermeidung.
        Damit haben wir mit unserem Gesetz die Unfallunter-
        suchung endlich an den internationalen Standard angepasst.
        Ihr Gesetzentwurf ist damit gegenstandslos geworden. Er
        wird im Übrigen den deutschen rechtlichen Anforderungen
        nicht gerecht.
        Ein wasserdichtes Notfallmanagement gibt es leider
        nicht. Aber wir haben mit den in den vergangenen vier
        Jahren eingeleiteten Maßnahmen die maritime Sicherheit
        entscheidend verbessert. Eine Optimierung werden wir
        Schritt für Schritt weiterverfolgen.
        Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Mit dem vorliegen-
        den Antrag fordern alle Fraktionen des Deutschen Bun-
        destages die Bundesregierung auf, bis Ende Mai dem
        Bundestag einen Bericht zur maritimen Sicherheit im Ost-
        seeraum zuzuleiten. In diesem Bericht sollen die Maßnah-
        men aufgeführt werden, die bereits realisiert oder geplant
        sind. Derartige Berichte sollen in allen Ostseeanrainer-
        staaten erarbeitet und veröffentlicht werden. Damit kann
        zum ersten Mal eine vergleichende Analyse für den ge-
        samten Ostseebereich erstellt werden.
        Die Berichte stellen dann zusammen mit den Ergeb-
        nissen einer im Mai stattfindenden Experten-Anhörung in
        Kopenhagen die Grundlage für Beschlussempfehlungen
        der 11. Ostseeparlamentarierkonferenz im September in
        St. Petersburg dar. Zur Erarbeitung von Vorschlägen zur
        Beschlussfassung für die Konferenz in St. Petersburg ist
        eigens und erstmals eine Arbeitsgruppe der Ostseeparla-
        mantarierkonferenz eingesetzt worden. Es ist sehr erfreu-
        lich, dass sich der Deutsche Bundestag bei diesem Antrag
        einig ist, und ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung
        einen Bericht erstellen wird, der sich sehen lassen kann.
        Ist in Deutschland bisher vorrangig die maritime Si-
        cherheit auf der Ostsee aus nationaler Sicht diskutiert
        worden, zum Beispiel bezogen auf die nationalen Gewäs-
        ser, so hat sich bei Havarien insbesondere bei der Kader-
        rinne gezeigt, dass es sich hier um eine internationale Auf-
        gabe handelt.
        Diese internationale Aufgabenstellung wurde bisher be-
        sonders von der HELCOM wahrgenommen, meiner Mei-
        nung nach mit sehr großem Erfolg, besonders auch unter
        umweltpolitischen Aspekten, wie Kollegin Deichmann
        und ich in Helsinki feststellen konnten. Aber auch die Ost-
        seeparlamentarierkonferenz hat sich dieser internationalen
        Aufgabe gestellt: Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe
        „Maritime Sicherheit“ ist der Anfang.
        Auf der Konferenz in Helsinki sind bereits diverse
        Maßnahmen gefordert worden. Hierauf wird der Bericht
        der Bundesregierung besonders eingehen. Die Konse-
        quenzen aus den verschiedenen nationalen Berichten wird
        dann der nächste Deutsche Bundestag nach der Ostsee-
        parlamentarierkonferenz in St. Petersburg ziehen.
        Die Ostseeparlamentarierkonferenz hat natürlich wenig
        von dem, was man Institution nennt. Deshalb hat sich be-
        sonders der Landtag Mecklenburg-Vorpommern große Ver-
        dienste bei den Vorbereitungen der Aktivitäten erworben,
        insbesondere der Vorsitzende Dr. Henning Klostermann.
        Das gilt auch für die im Mai stattfindende internatio-
        nale Anhörung in Kopenhagen. Dazu muss ich erneut eine
        Bitte an die Bundesregierung richten: Es wäre gut, wenn
        sie Clauß Grobecker als Sachverständigen vorschlagen
        würde, gegebenenfalls auch einen Mitarbeiter aus dem
        Verkehrsministerium.
        Fast alle anderen Ostseeanrainerstaaten sind vertreten.
        Außerdem könnte das Grobecker Gutachten offizielle Be-
        ratungsgrundlage werden. Ich glaube nicht, dass wir uns
        verstecken müssen und eine internationale Parlamentarier-
        konferenz ist auf eine entsprechende Zuarbeit angewiesen.
        Vielleicht überlegt sich das Verkehrsministerium diese
        Bitte noch einmal. Alle weiteren inhaltlichen Aspekte sind
        nach der Vorlage des Berichtes der Bundesregierung nach
        der Konferenz in St. Petersburg zu beraten.
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Schwer-
        punkt aller politischen Maßnahmen um zu mehr Seesi-
        cherheit zu kommen, muss die Unfallvermeidung sein.
        Deshalb halten wir von der Union an unserer Forderung
        nach einer nationalen Küstenwache fest. Das im letzten
        Sommer von Bundesverkehrsminister Bodewig konzi-
        pierte Havariekommando ist nur ein erster Schritt dazu, es
        erfüllt nicht die notwendigen Anforderungen an ein nau-
        tisches Sicherheitskonzept aus einem Guss. Wir brauchen
        eine nationale Küstenwache, wie sie in anderen Ländern
        mit Erfolg praktiziert wird, weil wir im Falle einer Hava-
        rie kurze Reaktionszeiten benötigen, weil wir eine straffe,
        alle Kompetenzen umfassende Organisation brauchen,
        weil alle an der Rettung Beteiligten nach einheitlichen
        Grundsätzen handeln müssen und weil die Handelnden
        als Team aufeinander eingespielt sein müssen und nicht
        erst im Falle eine Havarie kurzfristig zusammengerufen
        werden können.
        Das Havariekommando steht nur in einem konkreten
        Havariefall unter einheitlicher Führung, eine ständige
        Einrichtung aller mit einem eingespielten Team ist es
        nicht. Kontraproduktiv ist das Ausgrenzen von Zoll, BGS
        und Bundesmarine, so Kritiker von der Küste. Die nauti-
        schen Vereine sowie die Arbeitsgemeinschaft der Berufs-
        feuerwehren, machten erst vor kurzem wieder darauf
        aufmerksam, dass effektiver Küstenschutz nur unter Ein-
        beziehung der SAR-Hubschrauber, Ölaufklärungsflug-
        zeuge und Ölauffangschiffe der Bundesmarine möglich
        ist, so sehen es auch andere Experten.
        Von den Schleppern bis hin zu den Ölbekämpfungs-
        schiffen verfügt allein der Bund über 100 Boote. Noch im-
        mer gelten für den Einsatzverbund Küste zwei Zentren:
        Neustadt für die Ostsee, Cuxhaven für die Nordsee.
        Der Bundesrechnungshof hat, wie auch der Haushalts-
        ausschuss des Deutschen Bundestages, die Bundesregie-
        rung mehrfach auf die Notwendigkeit der Konzentration
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23273
        (C)
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        aller Seedienste hingewiesen; auch aus fiskalisch-ökono-
        mischen Überlegungen. Das Management aller Boote aus
        einer Hand im Krisenfall wurde als Zielmarke herausge-
        stellt. Handlungsdruck kommt auch von der EU-Kom-
        mission und durch das Europäische Parlament. Die EU
        will eine europäische Küstenwache. Deutschland kann
        aber diesem Erfordernis nur dann entsprechen, wenn es
        zuerst einmal eine nationale See- und Küstenwache
        schafft. Die EU-Kommission hat deutlich gemacht, dass
        man eine einheitliche Schiffssicherheitsbehörde, ein Amt
        für Seesicherheit, mit allen Kompetenzen im Katastro-
        phenfall benötigt. Das alles ist in dem Bericht der Kom-
        mission über die „Gesamtstrategie der Gemeinschaft für
        die Sicherheit im Seeverkehr“ nachzulesen.
        Es fehlt ein Unfallmanagement aus einem Guss mit
        klaren Zuständigkeiten, einheitlicher Führung und dem
        Recht des direkten Zugriffs auf alle Einheiten.
        Seit der „Pallas-Katastrophe“ vor dreieinhalb Jahren
        sind nur unzulängliche Entscheidungen getroffen worden,
        weil sie in unserem föderalen Zuständigkeitswirrwarr of-
        fensichtlich auch gar nicht zu treffen sind.
        Deshalb muss die Bundesregierung in diesem Punkt
        endlich für eine Neuordnung der Zuständigkeiten sorgen.
        Notwendig dafür ist eine Grundgesetzänderung. Zu die-
        sem Schluss kommt auch das fundierte Gutachten der
        Universität Rostock, das im Auftrag der Landesregierung
        in Mecklenburg-Vorpommern erstellt wurde. Es liegt in
        unserer Verantwortung als Parlament, das aufzugreifen,
        was unter anderem der Schleswig-Holsteinische Landtag
        unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokra-
        ten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor mehr als
        zweieinhalb Jahren beschlossen hat. Dort wurde, wie
        2001 in Schwerin, eine Grundgesetzänderung gefordert,
        um zu einer einheitlichen Lösung beim Seekatastrophen-
        schutz zu kommen. Diese Anregungen aus Kiel und
        Schwerin, fachlich und sachlich begründet, sind von der
        Bundesregierung nicht aufgegriffen worden.
        Delegiert von den beteiligten Behörden wird im Kata-
        strophenfall beim Havariekommando nur auf Zeit. Jeder
        bleibt in seiner Uniform. Die Abgabe von Kompetenzen
        kann kurzfristig widerrufen werden. Auch wechseln viele
        der verantwortlichen Personen erst im Notfall ihre Posi-
        tion unter das Dach des Kommandos. Eine Kontinuität der
        Zusammenarbeit ist trotz vorgesehener Trainingsperioden
        schwer erkennbar.
        Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben mit
        der Zielrichtung einer konsequenten, unmittelbaren See-
        Katastrophen-Abwehr zahlreiche Initiativen ergriffen.
        Das gilt auch für die CDU/CSU-Landtagsfraktionen in
        Kiel und Schwerin. Als Berliner Anträge sind die Große
        Anfrage der Union von 1999 mit dem Titel „Schaffung ei-
        ner deutschen Küstenwache“, die Kleine Anfrage aus dem
        Jahr 2000 „Sicherheits- und Notfallkonzept für Nord- und
        Ostsee“, 2001 die erst heute auf der Tagesordnung ste-
        hende Initiative „Bildung einer Leitstelle für Seesicher-
        heit“, unser Antrag „Optimierung der Ostseesicherheit im
        Bereich der Kadetrinne“ sowie aktuell aus diesem Jahr
        der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
        über die Untersuchung von Seeunfällen“ und die heute zu
        debattierende überfraktionelle Initiative „Maritime Si-
        cherheit auf der Ostsee“ zu erwähnen.
        Alle Initiativen der Opposition wurden von der Regie-
        rungsbank bisher abgeschmettert, stattdessen das umstrit-
        tene Havariekommando ins Leben gerufen. Selbst in des-
        sen Struktur eingebundene Einrichtungen wissen bis
        heute nicht, was ihre Aufgaben und Kompetenzen inner-
        halb des Kommandos sind, wie ich erst diese Woche von
        Petenten erfahren musste.
        Jährlich nehmen 90 000 Schiffe Kurs auf die Deutsche
        Bucht. Täglich sind folgenschwere Unfälle auf See mög-
        lich. In den letzten zehn Jahren kam es zu über 100 schwe-
        ren Schiffsunfällen in Nord- und Ostsee, über 20 alleine
        in dem nur 50 Quadratkilometer großen Bereich der Ka-
        detrinne. Sie ist eine der meistbefahrenen Schifffahrts-
        wege in der Ostsee. Täglich passieren drei bis vier Tanker,
        dazu circa fünf Massengutfrachter, diese Strecke, jährlich
        etwa 50 000 Schiffe. Die Kadetrinne hat teilweise nur eine
        Tiefe von 18 Metern, was sie extrem risikoreich für tief
        liegende 100 000-Tonnen-Tanker macht.
        Da es sich um ein internationales Gewässer handelt,
        gibt es hier weder eine Lotsannahmepflicht noch eine Ra-
        darüberwachung, noch ist es ein Verkehrstrennungsge-
        biet.
        Die Gefahr einer Ölpest ist täglich gegeben, wie das
        Tankerunglück der „Baltic Carrier“ vom 29. März letzten
        Jahres zeigte. Hier ist vom Bundesverkehrsminister erst
        nach öffentlichen Protesten, aber bisher nicht ausreichend
        gehandelt worden. Eine Risikolücke besteht weiterhin.
        Sie soll offenbar sogar vergrößert werden: Es ist auf-
        merksamen Gewerkschaftern zu verdanken, dass im Spät-
        sommer des vergangenen Jahres die Geheimpläne des
        Bundesministers über einen radikale Stellenabbau von
        6 200 Planstellen im Bereich der See- und Wasserbehör-
        den bekannt wurden.
        Durch Privatisierung von Diensten, Ausgabenverlage-
        rung und Abbau von Arbeitsplätzen will Bodewig sein
        ehrgeiziges Ziel durchsetzen. Zwar hat ihn der Protest der
        Personalräte derzeit einknicken lassen, doch die Gutach-
        ten haben ihre Aktualität nicht verloren. Die jetzt begin-
        nende personelle Entleerung der Seeämter wird von Ge-
        werkschaftern als Anfang des größten Personalabbaus in
        der Geschichte des Bundesverkehrsministeriums gesehen
        und auch als einen Verlust von Sicherheit. Auch wenn die
        Bodewig-Pläne in die Schublade zurückgelegt wurden,
        haben sie doch zu Unruhe, Besorgnis und Ängsten bei
        Tausenden von Familien und bei den Seesicherheitsver-
        bänden an der Küste geführt.
        Eine ganze Legislaturperiode ist nichts Grundlegendes
        geschehen, sieht man einmal davon ab, dass sich jetzt be-
        reits ein dritter SPD-Verkehrsminister einarbeiten musste.
        Jetzt einen Bericht der Bundesregierung zur „Maritimen
        Sicherheit auf der Ostsee“ zu fordern, ist für vier Jahre
        Regierungsbilanz mehr als mager, aber immer noch bes-
        ser als gar nichts. Eine weitere Bestandsaufnahme wird
        keine zusätzliche Sicherheit bringen, wird aber auch kei-
        nen weiteren Schaden anrichten, wie das vor wenigen Wo-
        chen radikal und undemokratisch geänderte Seeunfallun-
        tersuchungsverfahren.
        Deshalb werden wir heute dem überfraktionellen An-
        trag zustimmen und auf interessante Anregungen für un-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223274
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        sere Regierungszeit nach dem 22. September hoffen. Das
        vor wenigen Wochen von der Regierung geänderte See-
        unfall-Untersuchungsgesetz schließt in Zukunft die Öf-
        fentlichkeit von Seeamtsverhandlungen aus. Es verlagert
        die Fachaufsicht in die Bundesbehörde. Es ermöglicht die
        Weitergabe aller personengestützten Daten. Es schafft das
        Widerspruchsverfahren ab. Es verzichtet auf die Einbezie-
        hung von ehrenamtlichen Fachleuten. Ich greife bewusst
        noch einmal unsere Hauptkritikpunkte aus der 1. Lesung
        auf:
        Erstens. Damit verstößt das Gesetz gegen den Grund-
        satz von Transparenz bei Seeunfalluntersuchungen, in de-
        nen der Staat oder seine Verwaltung eine Mitschuld trägt.
        Der Angeklagte ist in Zukunft sein eigener Richter.
        Zweitens. Damit verstößt das Gesetz gegen die Presse-
        freiheit, weil aus den bisher öffentlichen Seeamtsver-
        handlungen jetzt behördeninterne Verfahren werden. Den
        Journalisten und Angehörigen von Unfallopfern ist es in
        Zukunft verboten, an 90 Prozent aller Seeamtsverhand-
        lungen teilzunehmen.
        Drittens. Damit verstößt das Gesetz gegen den Persön-
        lichkeitsschutz. Kommt es zu einem Seeunfall, wird ein
        Matrose oder Offizier beschuldigt, können sie sich nicht
        mehr öffentlich dagegen wehren.
        Die Verhandlungen erfolgen hinter verschlossenen
        Türen. Und ist der Beschuldigte auch schuldlos, der Ma-
        kel bleibt, dem Rufmord sind Tor und Tür geöffnet. Recht
        hat nur noch die Behörde. Das Gesetz verstößt gegen eine
        Reihe grundsätzlicher Prinzipien unserer Demokratie.
        Deshalb kämpften aufrechte Demokraten und nahezu alle
        Fachleute von Nord- und Ostsee sowie Verbände gegen
        das Kritik-Verhinderungsgesetz von Rot-Grün.
        Gewerkschafter und Greenpeace protestierten dagegen,
        die Lotsenkammer, die Reeder, die nautischen Vereine, die
        Schiffsingenieure, die Schutzgemeinschaft deutsche Nord-
        seeküste, die Seglerverbände, die Wasserschutzpolizei, Be-
        triebs- und Personalräte aus der maritimen Wirtschaft, Um-
        weltschützer, Fischer, auch der schleswig-holsteinische
        Journalistenverband.
        Obwohl sich unter dieser geballten Front der Küsten-
        kritiker Sympathisanten der Koalition befinden, ließ Bun-
        desminister Kurt Bodewig dieser Protest kalt. Diese Kalt-
        schnäuzigkeit im Umgang mit kritischen Bürgern gilt
        auch für Teile der SPD und der Bündnisgrünen. „Keine
        Anregung, kein Ratschlag von uns“, so ein Sprecher der
        Aktionskonferenz Nordsee, „wurde von Bodewigs Minis-
        terium oder von SPD und Grünen akzeptiert. Zwei Mal
        standen wir als Bittsteller vor verschlossenen Türen.“
        Dieser außergewöhnliche Vorgang lässt nach den Be-
        weggründen von Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig
        fragen, warum hier ein im Ansatz undemokratisches Ge-
        setz mit der Brechstange durchgeboxt worden ist. Da geht
        es zuerst einmal um das Reform-Image des Ministers. Mit
        diesem Gesetz werden die Seeämter von Emden, Bremer-
        haven, Hamburg und Rostock im Prinzip aufgelöst und
        das Seeamt Kiel verkleinert.
        Es bleibt das Oberseeamt in Hamburg. Dieses wird in
        Zukunft allein für die Seeamtsverhandlungen zuständig
        sein, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Aufsicht
        über dieses Amt übt das Bundesverkehrsministerium aus.
        Verwaltungstechnisch ist das Hamburger BSU beim
        Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie angesie-
        delt. Auch diese Behörde ist wiederum Berlin unterstellt.
        „Reformziel erreicht“, kann Kurt Bodewig melden, „mehr
        Zentralisierung, weniger Personal und doppelte Abhän-
        gigkeit der neuen Behörde vom eigenen Ministerium.“
        Einen weiteren Beweggrund dieser eiskalten Seeamts-
        reform sehen die Küstenkritiker in der Tatsache, dass sich
        nach der Havarie der „Pallas“ Seeämter – also Behörden-
        vertreter – erdreistet haben, ebenso wie viele Fachleute
        Kritik an dem dilletantischen Krisenmanagement von
        Rot-Grün in Kiel, aber auch am Berliner Ministerium zu
        üben. Der schleswig-holsteinische Journalistenverband
        spricht mit Recht von einer „Lex-Pallas“, die verabschie-
        det worden ist. Gleichzeitig baut man mit diesem Transpa-
        renz-Verhinderungsgesetz eine Mauer des Schweigens um
        das zukünftige Havariekommando und verhindert so, dass
        mögliche Behördenfehler aufgedeckt werden, wie Green-
        peace es öffentlich anprangert.
        Noch nie zuvor hat diese Bundesregierung eine so
        klare Aussage zu ihrem politischen Grundverständnis ge-
        troffen, wie in ihrer Begründung für das neue Seeunfall-
        untersuchungsverfahren.
        Sie erklärt darin wörtlich, dass eine öffentliche Ver-
        handlung, Ausdruck, und jetzt kommt es, „einer von alters
        her überkommenen, ... Streitkultur“ ist.
        Ich wiederhole noch einmal: Die Bundesregierung hält
        ein transparentes öffentliches Verfahren für das Instru-
        ment einer überkommenen Streitkultur. Das nenne ich
        antidemokratisch! Dieses Politikverständnis setzte sich
        am 22. März im Bundesrat fort. Die Küstenländer hatten
        sich in einer einheitlichen Empfehlung gegen das
        Bodewig-Gesetz ausgesprochen und wollten den Vermitt-
        lungsausschuss anrufen. Der Auszug der Union aus dem
        Bundesrat hat eine klare Entscheidung verhindert. Doch
        die verbliebenen rot-grünen Regierungen haben das Vo-
        tum der betroffenen Küstenländer missachtet und die
        Lage genutzt, das heißt missbraucht, um Bodewigs Wil-
        len durchzusetzen.
        Die Abstimmung hätte zurückgestellt werden müssen,
        als nach der kontroversen Entscheidung über das Zuwan-
        derungsgesetz im Bundesrat nur noch eine Minderheit
        anwesend war; das wäre fair gewesen. Doch Rot-Grün
        missachtete den Willen der Betroffenen und setzte ein un-
        demokratisches Gesetz auf undemokratische Weise durch.
        Diesen Kollisionskurs für die Seesicherheit werden wir
        nach dem 22. September korrigieren und dabei auf das be-
        währte, transparente und demokratische Verfahren unter
        Einbindung der ehrenamtlichen Fachkräfte von der Küste
        setzen.
        Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
        CDU/CSU, Ihr heute in zweiter und dritter Lesung zu be-
        ratender Antrag zum Thema „Seeunfalluntersuchung“ hat
        es natürlich schwer, unsere Zustimmung zu finden. Das
        liegt nicht zuletzt daran, dass bereits vor über zwei
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23275
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        Monaten, am 21. Februar diesen Jahres, der Koalitions-
        antrag hierzu eine Mehrheit des Hauses erzielen konnte.
        Seien Sie mir bitte nicht böse, aber das Gesetz, auf den
        sich Ihr Antrag bezieht, gibt es schlichtweg in der von Ih-
        nen dargestellten Form nicht mehr. Aber auch inhaltlich
        greift Ihr Antrag gegenüber den von uns eingebrachten
        Neuerungen nicht weit genug.
        Unser Gesetzentwurf sieht daher unter anderem eine
        Reform der Seeunfalluntersuchung nach internationalem
        Standard vor. Er trennt erstmals die objektiven Ermittlun-
        gen der Unfallursachen – zuständig ist hierfür zukünftig
        eine unabhängige und weisungsungebundene Bundes-
        stelle – von der individuellen Verantwortlichkeit und dem
        damit unter Umständen verbundenen Entzug der Patente;
        hierfür sind weiter wie bisher die Seeämter zuständig.
        Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist in erster Linie die Un-
        fallverhütung. Die Bevölkerung und die Natur der Küsten
        soll zukünftig so effektiver geschützt werden können als
        bisher. Darum müssen die Fragen der persönlichen Vor-
        werfbarkeit für einen Unfallhergang von der systemati-
        schen Unfalluntersuchung und den Lehren, die daraus zu
        ziehen sind, strikt getrennt werden.
        Die weisungsunabhängige Behörde soll neben der um-
        fassenden Unfalluntersuchung auch Vorschläge – das ist
        das Entscheidende – zur zukünftigen Unfallvermeidung
        unterbreiten. Der Bericht, den die Bundesstelle erstellt,
        hat den Sinn und Zweck, die Öffentlichkeit über Unfall
        und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu unterrich-
        ten. Er soll Fakten liefern, die in erster Linie die Politik
        unterstützen soll, unter Umständen geeignete Gegenmaß-
        nahmen zu beschließen. Der Gesetzentwurf entspricht
        dem 1998 einstimmig verabschiedeten Flugunfall-Unter-
        suchungsgesetz!
        Die IMO – International Maritim Organisation – hat
        das Verfahren des Luftverkehrs auf den Seeverkehr über-
        tragen. Dazu gibt es meines Erachtens keine stichhaltige
        Alternative.
        Auch der Antrag der CDU/CSU bezüglich der Bildung
        einer Leitstelle für Seesicherheit kann nicht unsere Zu-
        stimmung finden. Die Bundesregierung hat in den letzten
        drei Jahren intensiv an der Verbesserung des Küsten-
        schutzes gearbeitet. Eine Reihe von Arbeitsgruppen prüft
        die Vorschläge der Grobecker-Kommission und hat zu
        vielen Punkten auch bereits konkrete Maßnahmen vorge-
        legt. Dazu zählt auch der sehr konkrete Vorschlag zur Ein-
        richtung eines Havariekommandos, mit dem eines der
        großen strukturellen Probleme nach der Havarie der „Pal-
        las“, nämlich das Kompetenzgerangel, durch die Bünde-
        lung der Entscheidungsstrukturen behoben werden soll.
        Bei schweren Seeunfällen wird das neu zu errichtende
        Havariekommando unter der Leitung eines Bundesbeam-
        ten eine einheitliche Einsatzleitung über alle infrage kom-
        menden Einsatzkräfte des Bundes und der Länder sichern.
        Dessen Kern ist ein in 24-Stunden-Bereitschaft gehalte-
        nes maritimes Lagezentrum. Es wird aus dem Bereich der
        Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den
        Wasserschutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut. Dort
        werden zukünftig alle relevanten Informationen zusam-
        menlaufen. Bei einer Havarie übernimmt der Leiter des
        Havariekommandos die Führung des Einsatzes. Eine Än-
        derung des Grundgesetzes brauchen wir, im Gegensatz zu
        Ihnen, dafür allerdings nicht.
        Die Verabschiedung des interfraktionellen Antrages zur
        maritimen Sicherheit auf der Ostsee halte ich hingegen für
        geboten. Die Offenlegung der grundsätzlichen politischen
        und fachlichen Positionen durch die Bundesregierung zu
        Fragen der maritimen Sicherheit im Ostseeraum ist vor
        dem Hintergrund der bevorstehenden 11. Konferenz der
        Ostseeparlamentarier angezeigt. Nur durch noch stärkeres
        und weiter gehendes gemeinsames Handeln der Ostseean-
        rainerstaaten kann der besonderen Gefährdung der Ostsee
        und ihrer Küsten durch Schiffshavarien effektiv begegnet
        werden.
        Michael Goldmann (FDP): Noch einmal steht heute
        das Seeunfalluntersuchungsgesetz auf der Tagesordnung.
        Es ist schon wirklich dreist, mit welchen Halbwahrheiten
        die Regierungskoalition versucht, den Menschen an der
        Küste Sand in die Augen zu streuen. In den letzten Wo-
        chen wurde immer wieder von Ihrer Seite vorgebracht,
        dass die Seeämter doch erhalten blieben und der Vorwurf,
        es handele sich künftig nur noch um Briefkastenämter,
        aus der Luft gegriffen sei.
        Sie wissen aber ganz genau, dass die Seeämter künftig
        nur noch in Fällen von Patententzugsverfahren tätig wer-
        den und dass dies nur circa 10 Prozent der bisherigen Ver-
        fahren sind. Das Seeamt Kiel soll das einzige Seeamt mit
        Personal bleiben und dieses dann gegebenenfalls nach
        Bremerhaven oder Emden oder Rostock schicken. Ich
        frage Sie: Wie würden Sie ein Amt nennen, das nur noch
        ein Schild an der Wand hat, damit das ab und an auftau-
        chende Personal das Amt auch findet?
        Das Schöne ist, dass Sie, meine lieben Kolleginnen und
        Kollegen von Rot-Grün, sich mit nahezu jeder Äußerung
        zu diesem Thema an der Küste lächerlich machen. Alle In-
        teressierten kennen den wahren Sachverhalt und sie las-
        sen sich von Ihnen kein X für ein U mehr vormachen. Am
        22. September werden Sie dafür die verdiente Quittung
        bekommen.
        Doch auch die CDU/CSU hat sich unter Führung ihres
        Kanzlerkandidaten Stoiber in der Bundesratssitzung am
        22. März skandalös verhalten. Nachdem es vielen enga-
        gierten Menschen durch unermüdlichen Einsatz gelungen
        war, die Ablehnungsfront im Bundesrat entgegen allen
        Anfeindungen aus dem Bundesverkehrsministerium auf-
        rechtzuerhalten, und die Mehrheit zur Anrufung des Ver-
        mittlungsausschusses in Sachen Seeunfalluntersuchung
        feststand, stellt sich die CDU/CSU ein Armutszeugnis
        aus. Wie beleidigte Kinder hat sie den Saal zu verlassen.
        Das war ein Skandal, wegen dieses einstudierten Theaters
        kann nun ein Gesetz in Kraft treten, das niemand an der
        Küste will. Damit hat die CDU/CSU der Sache einen
        Bärendienst erwiesen und ich hoffe, dass Sie, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen der CDU/CSU, Ihren Ministerpräsi-
        denten ordentlich die Meinung gesagt haben, denn auch
        Ihre Arbeit wurde damit zunichte gemacht.
        Am 22. November 2001 haben die fünf Küstenländer
        eine gemeinsame Empfehlung verabschiedet, die eine so
        genannte kleine Lösung vorsieht. Die CDU hat diese
        Empfehlung aufgegriffen und als eigenen Antrag einge-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223276
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        bracht. Leider hat die Regierungskoalition keinerlei Ein-
        sehen gezeigt, sodass auch dieser Kompromissvorschlag
        verpufft ist.
        Ein Gesetz, das wie das SUG der Regierung dazu dient,
        „Mauscheleien“ von Behörden zu ermöglichen und die
        Verantwortung für Seeunfälle zu vernebeln, darf keinen
        Bestand haben.
        Nach dem 22. September werden die Karten neu ge-
        mischt und dann wird die FDP die notwendigen Korrek-
        turen an der Seeunfalluntersuchung vornehmen.
        Heute geht es aber nicht nur um die Seeunfalluntersu-
        chung, sondern auch um die künftige Sicherheit auf der
        Ostsee. In dem gemeinsamen Antrag fordern wir zu Recht
        einen Bericht der Bundesregierung an. Die Ostsee ist
        schließlich der wichtigste Verkehrsweg zu den baltischen
        Staaten und mit einer weiteren Zunahme des Schiffsver-
        kehrs ist in den nächsten Jahren zu rechnen. Ich freue
        mich, dass wenigstens auf diesem Gebiet die Regierungs-
        koalition auf den Weg zum gemeinsamen Handeln
        zurückgefunden hat. Die FDP unterstützt den Antrag.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung
        – des Antrags: Afrikas neues Denken unter-
        stützen
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
        dem Antrag: Afrika darf nicht zu einem ver-
        gessenen Kontinent werden
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
        den Anträgen:
        – EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte
        Partnerschaft mit großer Zukunft
        – Reform der EU-Entwicklungszusammen-
        arbeit ist bislang Stückwerk und muss kon-
        sequent vorangetrieben werden
        – der Großen Anfrage: Afrikapolitik der Bun-
        desregierung
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
        dem Antrag: Für eine europäische Ausrich-
        tung der deutschen Afrikapolitik
        (Tagesordnungspunkt 13 a bis d und Zusatz-
        tagesordnungspunkt 8)
        Joachim Günther (Plauen) (FDP): Seit dem Ende
        der Ost-West-Konfrontation haben sich neue Ansätze für
        einen nachhaltigen Strukturwandel durch Reformen und
        für einen intensiven politischen Dialog mit den afrikani-
        schen Staaten ergeben. Mit unserem Antrag „Für eine eu-
        ropäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“ legen
        wir ein politisches Rahmenkonzept für Stabilität und Si-
        cherheit, nachhaltiges Wachstum, regionale Kooperation
        und Förderung der Innovationsfähigkeit vor.
        Wir fordern auch, endlich die Vorgaben des Amsterda-
        mer Vertrages umzusetzen und eine gemeinsame europä-
        ische Afrika-Strategie im Rahmen der gemeinsamen
        Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Der Hin-
        weis der Bundesregierung darauf, dass regionale Kon-
        zepte nicht mehr zeitgemäß seien, darf nicht zur Untätig-
        keit führen. In diesen Kontinent darf nicht weiter so
        hineingestolpert werden, wie das bei den letzten Afrika-
        Besuchen des Bundesaußenministers geschah.
        Konzepte hin oder her: Das von der Bundesregierung
        wortreich angekündigte Afrika-Engagement muss finan-
        ziert werden. Es ist da schon ein Trauerspiel, dass wir nun
        schon im vierten Jahr nach dem Amtsantritt von Rot-Grün
        zusehen müssen, wie die deutsche Entwicklungspolitik an
        Substanz und – was fast noch schlimmer ist – an Glaub-
        würdigkeit verliert. Allen Sonntagsreden zum Trotz ist die
        Bundesregierung inzwischen zum entwicklungspoliti-
        schen Schlusslicht in der Europäischen Union geworden.
        Auch bei der Außenpolitik ist Afrika im Streichkonzert
        der Botschaften besonders bedacht worden. Vier Bot-
        schaften, drei Goethe-Institute und mehrere Außenstellen
        fielen dem Rotstift zum Opfer. Wir haben im mittleren
        Afrika praktisch eine botschaftsfreie Zone erreicht. Ist es
        nicht gerade die Perfektion der Abstimmung zwischen
        den Ministerien, wenn in einem Schwerpunktland der
        Entwicklungshilfe, Burundi, die Botschaft geschlossen
        wird? Diese Unkoordiniertheit muss endlich beendet wer-
        den.
        Lassen Sie mich noch einige Punkte anschneiden, bei
        denen Anspruch und Realität weiter auseinander klaffen
        als das Maul eines Krokodils. In erster Linie wäre hier die
        vollmundige Ankündigung der Bundesregierung auf dem
        Millenniumgipfel in New York zu nennen, aktiv an der
        weltweiten Armutsbekämpfung mitwirken zu wollen. Tat-
        sache ist, dass die KfW ihre Finanzierungszusagen unter
        anderem für Armutsbekämpfungsprojekte wegen sinken-
        der Bundeszuschüsse radikal zurückfahren muss. Da
        nutzt auch nicht der lautstark propagierte Rückgriff auf so
        genannte Marktmittel. Entwicklungsländer, die sich auf
        den internationalen Finanzmärkten zu Marktkonditionen
        finanzieren können, sind auf die KfW nicht angewiesen
        und gehören daher im Zweifel auch nicht zu der Ziel-
        gruppe der Ärmsten.
        Wenn die Bundesregierung, wie von Ministerin
        Wieczorek-Zeul öffentlich angekündigt, nicht einmal
        Mittel zur Kofinanzierung des Internationalen Fonds für
        Aids-Hilfe zur Verfügung stellt, dann muss sie sich schon
        fragen lassen, wie sie überhaupt entwicklungspolitisch in
        Afrika noch eine Rolle spielen will. Da hilft auch nicht die
        auf der Konferenz in Monterrey überstrapazierte Forde-
        rung nach einer Tobinsteuer als Wunderwaffe gegen
        knappe Kassen. Wir brauchen keine neuen Steuern, son-
        dern intelligente Konzepte für eine Entwicklungspolitik,
        deren Erfolg nicht nur an der Höhe der Transferleistungen
        messbar ist.
        Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kann
        zur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenzten
        Beitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen,
        die Armut in Afrika durch Finanztransfers oder großange-
        legte Entschuldungsaktionen allein beseitigen zu können.
        Deutsche Entwicklungspolitik darf nicht als Politik der
        Grundbedürfnisbefriedigung systematisch missverstanden
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23277
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        werden. Die FDP-Bundestagsfraktion bekennt sich dazu,
        auch in Zukunft den Menschen in Afrika in Notsituatio-
        nen, zum Beispiel durch Lieferung von Nahrungsmitteln
        und Medikamenten, zu helfen. Dies trifft gerade auch auf
        die Krisenregionen am Horn von Afrika, im Gebiet um die
        Großen Seen und in Westafrika zu. Nachhaltige Entwick-
        lungspolitik muss aber über diese notwendige Form karita-
        tiver Hilfe hinausgehen. Entwicklungshilfe muss dazu
        beitragen, politische, ökonomische und gesellschaftliche
        Strukturen aufzubauen, die es den Menschen vor Ort er-
        möglichen, sich auf Dauer selbst zu helfen.
        Eliten in Afrika müssen ihre Märkte vom staatlichen
        Dirigismus befreien, Landreformen zulassen und für klare
        Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht gelingt, eine
        solche Entwicklungsstrategie für die ländlichen Räume
        zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nicht mehr
        lenkbaren großstädtischen Agglomerationen und damit
        zur Landflucht und mit allen damit verbundenen Proble-
        men noch weiter verstärkt.
        Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwick-
        lung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz markt-
        wirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Linie
        die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors. We-
        sentliche Elemente sind unter anderem der Zugang zu
        Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbankensystemen, die
        Ausbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitik
        der Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanz-
        wesen. Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen
        unserer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teil-
        nahme am freien Welthandel. Nach wie vor gilt: Handel
        ist besser als Hilfe.
        Gerade angesichts rückläufiger Mittel für die Außen-
        und Entwicklungspolitik wird eine zukünftige deutsche
        Afrikapolitik nur im Rahmen einer europäischen Aus-
        richtung erfolgreich sein können. Deshalb muss die Bun-
        desregierung sich vorrangig dafür einsetzen, dass die
        bilaterale Afrikapolitik der EU-Mitgliedstaaten und der
        Europäischen Union zu einer wirksamen gemeinsamen
        Politik zusammengeführt wird. Die hierfür von dem
        Kairoer Gipfel festgelegte Frist bis zum Jahre 2003 muss
        die Bundesregierung dringend nutzen, um einen aktiven
        Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Afrikapolitik
        zu leisten. Wir haben dafür ein Konzept ausgearbeitet und
        dem Deutschen Bundestag als Antrag für eine europä-
        ische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik vorgelegt.
        Carsten Hübner (PDS): Es ist an Symbolwirkung
        kaum zu überbieten, wenn vom Bundestag kurz vor dem
        Ende der Legislaturperiode als Botschaft in die Welt geht:
        Wir nehmen uns ganze 45 Minuten Zeit für Afrika und das
        zu nachtschlafender Zeit. Eigentlich sagt das schon so
        ziemlich alles, was zum deutschen Engagement für Afrika
        zu sagen wäre.
        Dabei ist – oberflächlich betrachtet – das Interesse für
        Afrika auch hierzulande gestiegen: So hat der Bundes-
        kanzler zum Beispiel persönlich den Afrika-Wirtschafts-
        tag vor wenigen Tagen eröffnet. Es gibt mit Frau Dr. Eid
        eine persönliche Afrikabeauftragte, es gibt neue konkur-
        rierende Strategiepapiere zur Afrikapolitik aus dem BMZ
        und dem Auswärtigen Amt sowie zahlreiche Bekundun-
        gen und eine erklärte Aufbruchstimmung.
        Bei genauerem Hinschauen aber sieht es weiterhin trüb
        für Afrika aus, insbesondere trüb an Ideen, wie wir mit
        den Menschen in Afrika und ihren immensen Problemen
        umgehen sollen. Genau das spiegelt auch ein Teil der An-
        träge wider. Dabei stimmt die Analyse der meisten An-
        träge durchaus: Afrikas Anteil an den „Segnungen“ der
        Globalisierung beschränkt sich weit gehend auf die Län-
        der Südafrika und vielleicht noch Nigeria, die mit mehr
        als 50 Prozent den größten Anteil an den minimalen Aus-
        landsdirektinvestitionen in Afrika haben. Deren Volumen
        beläuft sich allerdings gerade mal auf 1,6 Prozent der glo-
        balen Auslandsdirektinvestitionen. Hier gibt es 80 Pro-
        zent der weltweit HIV/Aids-Infizierten. Hier gibt es in
        mehr als 16 Ländern gewaltsame Konflikte und Bürger-
        kriege. Hier müssen fast 50 Prozent der Bevölkerung mit
        weniger als 1 Euro täglich auskommen, leben also in bit-
        terster Armut. Hier gibt es circa 6 Millionen Binnen-
        flüchtlinge, die größten Wüstengebiete, die längsten Dür-
        rekatastrophen usw. Afrika ist Spitzenreiter auf der nach
        oben offenen Katastrophenskala.
        Trotz alledem scheint für die deutsche Wirtschaft aus
        Afrika aber noch einiges herauszuholen zu sein – so zu-
        mindest der Tenor der vorliegenden Anträge, die selbst
        Mittel der Entwicklungszusammenarbeit nicht etwa für
        die Basisversorgung der Bevölkerung, sondern für Pro-
        jekte der privaten Wirtschaft in Afrika mobilisieren wol-
        len. Alles andere sollen die Afrikaner gefälligst selbst fi-
        nanzieren.
        Das stellt die NePAD-Initiative, also die „Neue Part-
        nerschaft für Afrikas Entwicklung“ geradezu auf den
        Kopf. Afrika braucht keine forcierte Implementierung der
        Wirtschaftsinteressen des Nordens nun auch durch die
        Entwicklungszusammenarbeit. Afrika braucht – und das
        sagt NePAD ganz deutlich – Hilfe zur Selbsthilfe, das
        heißt, Hilfe bei der Grundversorgung mit Bildung, Nah-
        rung und in der Gesundheitsfürsorge, für die Bekämpfung
        von Seuchen und Krankheiten, für den Aufbau eigener
        Kapazitäten und Potenziale in Verwaltung und Manage-
        ment. Das heißt, Afrika endlich die Chance auf eine ei-
        genständige Entwicklung eröffnen; nach Sklaverei, Kolo-
        nialismus und postkolonialer Abhängigkeit.
        In keinem der vorliegenden entwicklungspolitischen
        Anträge finden sich die Forderungen des Südens, insbe-
        sondere der dortigen Zivilgesellschaft wieder, zum Bei-
        spiel die Forderung nach umfassenden Entschuldungs-
        initiativen, die über eine HIPC-Initiative hinausgehen und
        auch nach der Legitimität der Schulden fragen, zum Bei-
        spiel im Fall Südafrikas.
        Dies gilt auch für Forderungen nach dem Fall der EU-
        Zollbarriere und einem besseren Zugang zu den Märkten
        des Nordens, zum Beispiel für Zucker, Mais und verar-
        beitete Produkte und Fertigerzeugnisse, oder die Forde-
        rung nach Streichung der EU-Agrarsubventionen und
        nach einem wirksamen Schutz lokaler und regionaler
        Märkte des Südens gegen das freie Spiel ungleicher
        Kräfte im so genannten Freihandel.
        All dies findet man in den vorliegenden Anträgen
        nicht. Im Gegenteil, im Mittelpunkt steht bei Ihnen die
        Frage: Wie können wir über neue Instrumente der EZ, wie
        etwa die Public Private Partnership, die Marktzugänge für
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223278
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        deutsche Unternehmen weiter ausbauen und verdeckt
        staatlich subventionieren lassen?
        Das ist genau die falsche Konsequenz aus den Fehlern
        der Vergangenheit. Deshalb kann ich Sie nur dringend
        auffordern, in der afrikanischen Zivilgesellschaft, in afri-
        kanischen Frauenvereinigungen und den Intellektuellen
        endlich einen ernst zu nehmenden Partner zu sehen. Ihre
        Erfahrungen und Ansätze müssen sich in der deutschen
        und europäischen Afrikapolitik niederschlagen, nicht die
        Interessen von Shell, de Beers und anderen Konzernen.
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur
        Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigun-
        gen in einem Getto und zur Änderung des Sechs-
        ten Buches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungs-
        punkt 14)
        Claudia Nolte (CDU/CSU): Heute beraten wir über
        den „Entwurf eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von
        Renten aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Än-
        derung des SGB VV“. Hinter diesem doch recht techno-
        kratischen Titel verbergen sich zwei Regelungsbereiche,
        die die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        finden. Bei allen Grabenkämpfen in dieser Wahlperiode
        zum Thema Rente begrüße ich ausdrücklich, dass wir uns
        in beiden Bereichen zu einem interfraktionellen Gesetz-
        entwurf haben verständigen können.
        Kurz zum Inhalt des Gesetzentwurfs: Zunächst geht es
        um Regelungen zur Zahlung von Renten an ehemalige
        Beschäftigte in einem Getto. Damit ist endlich eine bisher
        bestehende Lücke bei der Wiedergutmachung nationalso-
        zialistischen Unrechts geschlossen worden. Kritiker des
        Gesetzentwurfs mögen einwenden, mit dem Gesetz werde
        nur das umgesetzt, was das Bundessozialgericht dem Ge-
        setzgeber ohnehin vorgeschrieben hat. In der Tat hat uns
        – wie im Übrigen auch viele andere – die Rechtsprechung
        des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1997 sehr über-
        rascht. Denn in der Vergangenheit war man überwiegend
        davon ausgegangen, dass innerhalb eines Gettos Zwangs-
        arbeit aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltver-
        hältnisses geleistet wurde und deshalb wegen der er-
        zwungenen Arbeitsleistung keinBeschäftigungsverhältnis
        und damit auch keine Rentenzahlung aus der gesetzlichen
        Rentenversicherung in Betracht kam. Eine Lösung für die
        Betroffenen innerhalb der gesetzlichen Rentenversiche-
        rung war deshalb nicht erwogen worden.
        Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat al-
        lerdings nunmehr den Weg vorgezeichnet, dass die Be-
        troffenen eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversiche-
        rung erhalten müssen. Das ist sicher auch ein gangbarer
        Weg.
        Allerdings gerät dabei nach meiner Einschätzung ein
        wichtiger Aspekt aus dem Blickfeld, nämlich dass es sich
        bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Un-
        rechts um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt.
        Wenn eine Lösung innerhalb des Systems der gesetzli-
        chen Rentenversicherung gewollt ist, wäre es aus meiner
        Sicht auch wichtig, für die gesetzliche Rentenversiche-
        rung eine entsprechende Erstattungsregelung vorzusehen.
        Denn warum sollen nur die Beitragszahler diese gesamt-
        gesellschaftliche Aufgabe bezahlen? Eine Erstattungs-
        regelung zugunsten der Rentenversicherung, wie sie im
        Übrigen ursprünglich auch vom Bundesarbeitsministe-
        rium erwogen wurde, ist aber leider an den Widerständen
        des Bundesfinanzministeriums gescheitert.
        Das bedaure ich sehr. Ich sage Ihnen jetzt schon vo-
        raus: In naher Zukunft, wenn im Zusammenhang mit der
        angespannten finanziellen Situation der gesetzlichen Ren-
        tenversicherung wieder von den so genannten versiche-
        rungsfremden Leistungen die Rede ist, wird man unwei-
        gerlich auch auf diese Aufwendungen zu sprechen
        kommen. Und das wäre alles andere als angebracht.
        In diesem Zusammenhang noch eine weitere Anmer-
        kung: Bei den Betroffenen handelt es sich ausschließlich
        um ältere Personen. Deshalb ist es besonders wichtig, si-
        cherzustellen, dass auch alle zu ihrem Recht kommen. Ich
        weiß, dass bei den Rentenversicherungsträgern eine Viel-
        zahl von Anspruchsberechtigten unter Hinweis auf die
        Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ihre Ansprüche
        bereits geltend gemacht haben. Gleichwohl muss gewähr-
        leistet werden, dass auch wirklich alle anspruchsberech-
        tigten Personen die für die Rentenleistung erforderlichen
        Anträge stellen. Weil sich die betroffenen Personen im
        Ausland aufhalten, muss über das Gesetz ausreichend in-
        formiert werden. Diese Forderung richtet sich an die Ren-
        tenversicherung und an die Politik gleichermaßen.
        Zum zweiten Regelungsbereich des Gesetzentwurfs:
        Für ehemalige Bezieher von Invalidenrenten oder Blin-
        den- und Sonderpflegegeld nach dem Recht der ehemali-
        gen DDR werden nunmehr bei der Rentenberechnung
        Beschäftigungszeiten vor Erreichen der Altersgrenze 65
        als Beitragszeiten anerkannt. Bisher bestandene Nachteile
        bei der Regelaltersrente, bei der sich diese Beschäftigungs-
        zeiten nicht ausgewirkt haben, werden damit beseitigt.
        Auch diese Änderung wird von der CDU/CSU-Bun-
        destagsfraktion begrüßt. Wichtig ist vor allem, dass von
        dieser Neuregelung auch Personen profitieren, die bereits
        einen Rentenbescheid erhalten haben, in dem solche Zei-
        ten auf der Grundlage der bisher geltenden Rechtslage
        noch nicht berücksichtigt sind, und die diesen Bescheid
        haben bestandskräftig werden lassen. Auch wenn man
        nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Au-
        gust 2001 in dieser Frage wohl keine andere Wahl hatte,
        erscheint mir die gefundene – für alle Betroffenen und
        rückwirkend ab 1. September 2001 geltende Lösung ver-
        nünftig. Zumal es auch für die Menschen einen Unter-
        schied macht, ob sie einen Anspruch gemäß Richterrecht
        haben oder kraft Gesetzes.
        Aber auch in diesem Zusammenhang habe ich eine kri-
        tische Anmerkung. Zwar ist die Neuregelung für die be-
        troffenen Personen sicher äußerst positiv. Auf die Schul-
        tern sollten wir uns deshalb aber nicht klopfen. Denn
        viele Fragen im Zusammenhang mit dem Recht der
        Rentenüberleitung bleiben nach wie vor ungelöst. Das
        führt zu einem Verdruss bei den Menschen in den neuen
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        Bundesländern. Diese gewinnen allmählich den Ein-
        druck, der Gesetzgeber wird nur dann aktiv, wenn ihm
        nach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
        oder – wie hier – des Bundessozialgerichts keine andere
        Wahl bleibt. Und wenn der Gesetzgeber dann etwas tut,
        dann immer nur die Minimallösung.
        Das war so beim Zweiten Gesetz zur Änderung und
        Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber-
        führungsgesetzes von Mitte letzten Jahres, und auch bei
        dem heute zu beschließenden Gesetz ist es nicht anders.
        Ich möchte hier und heute nicht alte Schlachten aus dem
        letzten Jahr schlagen. Sie kennen meine Forderungen im
        Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren zum
        Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des An-
        spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und die
        Anträge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Allerdings
        möchte ich ganz nachdrücklich auf die nach wie vor un-
        befriedigende rentenrechtliche Situation der Menschen in
        den neuen Bundesländern aufmerksam machen. Viele
        Personen sind nach wie vor unzufrieden, viele Fragen sind
        und bleiben regelungsbedürftig. Angesichts der zahlrei-
        chen Briefe, die wir von den Bürgern aus den neuen Bun-
        desländern erhalten, wissen wir dies alle. Deshalb richtet
        sich an dieser Stelle meine Kritik an die Bundesregierung,
        der es in dieser Wahlperiode nicht gelungen ist, den Bür-
        gern aus den neuen Bundesländern zu vermitteln, dass
        ihre rentenrechtlichen Probleme ernst genommen werden.
        Allerdings bin ich mir sicher, dass der Rechtsstreit wei-
        tergehen wird, zumal wir heute in meinen Augen einen
        Präzidenzfall schaffen: Bei der Beratung zum 2. AAÜG-
        Änderungsgesetz wurde bei den Reichsbahnern und den
        Beschäftigten der Post der 1,5-prozentige Steigerungssatz
        in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zuerkannt
        mit dem Argument, dass dafür keine individuellen Bei-
        träge gezahlt wurden. Allerdings wurde dafür damals sei-
        tens der Betriebe sehr wohl im Umlageverfahren Beiträge
        an die Sozialversicherung abgeführt – also eine analoge
        Situation wie bei der Personengruppe, über die wir heute
        reden. Wenn nunmehr eine rentenwirksame Anerkennung
        erfolgt, dann werden wir uns sicher auch noch einmal über
        die Reichsbahner und Postler verständigen müssen.
        Aber genug der Kritik. Ich möchte so versöhnlich
        schließen wie ich begonnen habe. Der Gesetzentwurf ist
        eine gute Sache und weist den Weg in die richtige Rich-
        tung. Deshalb findet er die volle Unterstützung der CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion.
        Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
        dem Getto-Renten-Gesetz wird endlich eine weitere
        Lücke im Entschädigungsrecht geschlossen. Ich bin froh
        darüber, dass wir diese Verbesserung hier einmütig mit
        Zustimmung aller Fraktionen auf den Weg bringen kön-
        nen. In dieser Wahlperiode ist es gelungen, die Stiftung
        „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädi-
        gung von NS-Zwangsarbeit zu errichten. Damit wurde
        endlich dieses Unrecht offiziell anerkannt und eine hu-
        manitäre Geste für die noch lebenden Zwangsarbeiterin-
        nen und Zwangsarbeiter ermöglicht.
        Bei dem heute vorliegenden Getto-Renten-Gesetz geht
        es um einen Personenkreis, der nicht unter die Regelun-
        gen der Zwangsarbeiter-Stiftung fällt, dem aber dennoch
        schweres Unrecht geschehen ist. Es betrifft Personen, die
        von den Nazis in ein Getto gezwungen wurden und die
        dort in dieser Zwangssituation, um überleben zu können,
        einer entlohnten Beschäftigung nachgingen. Wir alle wis-
        sen, in welch schrecklichen Zuständen die Menschen le-
        ben mussten, die von den Nazis ins Getto gepfercht wur-
        den, in Warschau, in Lodz und an vielen anderen Orten.
        Durch das neue Gesetz kann dieser Personenkreis nun
        für die Arbeitszeit im Getto Rentenzahlungen erhalten. Es
        ist dabei sichergestellt, dass die Zahlungen die Betroffenen
        rasch erreichen. Rentenrechtliche Hürden wurden beseitigt.
        So müssen die Betroffenen nicht nachträglich noch
        Beiträge zur Rentenversicherung entrichten. Der Anspruch
        gilt zudem rückwirkend ab dem Stichtag 18. Juni 1997. Es
        ist sehr erfreulich, dass es – aufbauend auf den Urteilen des
        Bundessozialgerichts – gelungen ist, diese unbürokratische
        Lösung zu finden, damit die Betroffenen auch wirklich
        zeitnah Leistungen empfangen können.
        Das Getto-Renten-Gesetz zeigt auch: Einen bisweilen
        geforderten Schlussstrich unter die Aufarbeitung der
        NS-Vergangenheit kann und darf es nicht geben. Immer
        wieder werden wir auch heute noch mit Verfolgungs-
        schicksalen konfrontiert, für die das Entschädigungsrecht
        noch keine Regelung parat hat. Immer noch gibt es
        NS-Verfolgte, die keine oder keine ausreichende Entschä-
        digung für das ihnen angetane Unrecht erhalten haben.
        Wir setzen uns dafür ein, die Anliegen von NS-Verfolgten
        sehr genau zu prüfen und wo immer möglich Abhilfe zu
        schaffen. Hier gibt es noch einiges zu tun. Das Getto-Ren-
        ten-Gesetz ist dabei ein wichtiger Schritt.
        Noch ein Wort zur Änderung des SGB IV: Auch diese
        neue Regelung dient dazu, mehr Gerechtigkeit zu schaf-
        fen. Bisher bestehende rentenrechtliche Nachteile für die
        Bezieherinnen und Bezieher von Invalidenrente oder
        Blinden- und Sonderpflegegeld nach dem Recht der ehe-
        maligen DDR werden damit beseitigt. Hier wird ebenfalls
        eine Lücke geschlossen.
        Lassen Sie mich noch abschließend zum Verlauf der
        Beratungen sagen: Über alle Fraktionsgrenzen hinweg ist
        es gelungen, mit diesem Gesetz sehr einmütig Verbesse-
        rungen zu erreichen. Dafür danke ich allen daran Betei-
        ligten im Parlament und in der Bundesregierung. Das ist
        ein schöner Erfolg.
        Dr. Irmgard Schwaetzer (FDP): Über ein halbes
        Jahrhundert nach dem Ende der Naziherrschaft in
        Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg wird heute einer
        Personengruppe genüge getan, die immer im Schatten an-
        derer Opfergruppen gestanden hat, aber unendliches Leid
        zu tragen hatte: Menschen, die als Verfolgte in Gettos zur
        Arbeit gezwungen wurden, aber nach dem Krieg nie oder
        nur kurze Zeit in Deutschland gelebt haben. Zu keiner Zeit
        haben sie für ihre Arbeit eine angemessene Entlohnung,
        nie eine Rente erhalten. Nachdem nun durch erhebliche
        Anstrengungen der Bundesregierung, des gesamten Bun-
        destags und der deutschen Industrie die Entschädigung
        der Zwangsarbeiter, nicht zuletzt durch das Verhand-
        lungsgeschick von Graf Lambsdorff ermöglicht wurde,
        muss dieses Problem dringend gelöst werden.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223280
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        Es handelt sich bei diesem Gesetzentwurf um eine an-
        gemessene Regelung, die für viele zu spät, aber hoffent-
        lich für viele noch eine Genugtuung für die erlittenen Lei-
        den darstellt. Hier wird eine Rechtslücke geschlossen, die
        durch ein Urteil des Bundessozialgerichts erst offensicht-
        lich gemacht worden ist, denn bis 1997 wurde davon aus-
        gegangen, dass Arbeit in einem Getto Zwangsarbeit sei
        und damit rentenrechtlich nicht in Betracht komme. 1997
        und dann in einem weiteren Urteil 2001 hat das Bundes-
        sozialgericht die Grundlage für eine neue Bewertung die-
        ser Arbeit geschaffen, die mit diesem Gesetz nun in
        tatsächliche Rentenansprüche umgesetzt wird, die auch
        ins Ausland zahlbar sind.
        Wir sind einen weiten Weg gegangen, um diesen Men-
        schen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist zutiefst
        bedauerlich, dass mehrere Jahrzehnte ins Land gehen
        mussten, bis Politik und Rechtsprechung eine für die Be-
        troffenen nutzlose Grundsatzdebatte über die Bewertung
        der Arbeit im Getto in einer sehr pragmatischen Weise po-
        sitiv beendet haben. Dabei ist Arbeit auch außerhalb des
        Gettos von diesem Gesetz umfasst, wenn sie Ausfluss der
        Beschäftigung im Getto war. Auch andere Unklarheiten,
        die sich im Wesentlichen auf Verfahrensfragen bezogen,
        konnten ausgeräumt werden. Natürlich können diese Ren-
        ten auch ins Ausland gezahlt werden! Wartefristen entfal-
        len. Auch Hinterbliebene erhalten diesen Rentenanspruch,
        wenn der Verfolgte nach dem 18. Juni 1997, dem Datum
        des Gerichtsurteils, verstorben ist. Es ist gut, dass heute
        dieses Gesetz mit großer Mehrheit verabschiedet wird.
        Das Gesetz enthält aber auch eine Regelung, die Bezie-
        her von Invaliden- oder Blindenrenten aus der ehemaligen
        DDR nun einen zusätzlichen Rentenanspruch zuspricht,
        wenn sie gleichzeitig eine Beschäftigung ausgeübt haben.
        Auch damit wird eine Rechtslücke geschlossen, die für die
        Betroffenen schmerzlich war.
        Rentenrecht ist nicht nur kompliziert, sondern auch
        häufig ungerecht. Es ist gut, dass wir einige der Unge-
        rechtigkeiten heute beseitigen können.
        Dr. Ilja Seifert (PDS):Mehr als 50 Jahre nach Ende des
        Nationalsozialismus wird dem Anspruch der Beschäftig-
        ten des Gettos Lodz auf wohlverdiente Rente endlich
        nachgekommen. Nach dem Motto „besser spät als nie“ ist
        eine neue, dringend gebrauchte Regelung der Rente von
        Beschäftigten in einem Getto auf den Weg gebracht wor-
        den. Vielleicht kann diese Tatsache angesichts des hiermit
        behobenen Unrechts Bürgerinnen und Bürger im Nach-
        hinein wenigstens etwas versöhnen. Es kommt nicht so oft
        vor, dass es Einigkeit innerhalb dieses Hohen Hauses gibt,
        und darüber können wir uns auch freuen. Endlich liegt ein
        langerwartetes Gesetz auf dem Tisch. Aber richten Sie ein-
        mal Ihre Blicke hinter die Kulissen! Was das Ansehen des
        gesamten Bundestages – ja, Deutschlands – nach innen
        und außen – hätte aufwerten können, wird von kleingeisti-
        gem, parteitaktischem Kalkül und durch Ausgrenzung ent-
        würdigt. Die PDS wurde absichtlich – das nicht zum ers-
        ten Mal – von einem überparteilichen Gesetzesantrag
        ausgeschlossen. Wenn sachliche Argumente fehlen, blüht
        der Opportunismus und werden – im anachronistischen
        Denken verhaftet – realitätsabgekehrt und höchst unde-
        mokratisch immer wieder ideologische Barrieren aufge-
        richtet oder ideologische Ressentiments bemüht.
        Wir werden trotz alledem weiterhin kritisch-konstruk-
        tiv und sachbezogen Politik zum Nutzen und im Interesse
        der betroffenen Menschen betreiben. Die PDS hat sich im
        Bundestag stets für Rentengerechtigkeit und gegen Über-
        führungslücken eingesetzt. Wir sind die einzige Fraktion,
        die Anträge zum Abbau der Überführungslücken in der
        gesetzlichen Rentenversicherung gestellt hat. Das gilt
        auch für die Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten von
        DDR-Invalidenrentnern und Blinden- oder Sonderpflege-
        geldempfängern.
        Elf Jahre lang haben Betroffene und Behindertenver-
        bände eine gesetzliche Regelung eingefordert. Elf Jahre
        lang haben diverse Bundesregierungen „geprüft“ und vor
        allem eine solche Regelung verzögert. Elf Jahre lang hat
        die PDS diese Forderungen im Bundestag mit parlamen-
        tarischen Initiativen unterstützt. Noch 2001 lehnte die rot-
        grüne Mehrheit im Bundestag mit Unterstützung von
        CDU/CSU einen entsprechenden PDS-Antrag – Drucksa-
        che 14/4041 vom 6. September 2000 – ab.
        Jetzt – nach unzähligen Klagen vor den Sozialgerich-
        ten bis hin zum Bundessozialgericht, unter anderem auch
        von mir selbst – legt die rot-grüne Regierung kurz vor
        Ende der Wahlperiode eine Änderung zum SGB VI vor,
        mit der endlich die rentenrechtlichen Zeiten von DDR-In-
        validenrentnern und Blinden- oder Sonderpflegegeld-
        empfängern anerkannt werden. Die Verbesserungen kön-
        nen ab 1. September 2001 in Anspruch genommen
        werden, denn seit dem 30. August 2001 liegt eine ent-
        sprechende Entscheidung des Bundessozialgerichts vor.
        Damit – das sei hier ausdrücklich angemerkt – wird aber
        verhindert, dass betroffene Menschen ihre berechtigten
        Ansprüche rückwirkend seit 1992 geltend machen kön-
        nen. Ihnen gehen so auch entsprechende Dynamisierun-
        gen verloren.
        Trotzdem sind diese lange überfälligen Regelungen
        eine Verbesserung. Viele der Betroffenen wurden mit der
        Nichtanerkennung ihrer rentenrechtlichen Ansprüche für
        eine Regelung bestraft, die sie nicht beeinflussen konnten.
        In der DDR konnten sie eine Erwerbstätigkeit ausüben,
        waren aber von der Zahlung ihres Anteils zur Rentenver-
        sicherung freigestellt. Dieser Nachteilsausgleich wurde
        mit der Überführung in bundesdeutsches Rentenrecht
        ohne einen wirklich vernünftigen Grund zu ihrem Nach-
        teil ungemünzt.
        Die Beseitigung dieser Ungerechtigkeit wäre bei ent-
        sprechendem politischen Willen von schwarz-gelb oder
        rosa-grün schon lange möglich gewesen. Stattdessen ha-
        ben viele der betroffenen Menschen Jahre lang Zeit, Geld
        und Nerven aufwenden müssen, um ihr Recht zu erstrei-
        ten. Wenn jetzt SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
        und FDP unter Ausschluss der PDS einen „fraktionsüber-
        greifenden“ Gesetzentwurf vorlegen, so ist das offenbar
        ein Ausdruck des schlechten Gewissens und der Hoff-
        nung, dass die Wähler im Osten vergesslich wären. Aber
        solche Spekulationen sind bekanntlich gefährlich.
        Schließlich verlangten viele Betroffene schon seit ver-
        gangenem Herbst – nicht zuletzt mit Verweis auf die von
        mir vor dem Bundessozialgericht erstrittene Anerkenntnis
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23281
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        meiner rentenrechtlichen Zeiten durch die Bundesversi-
        cherungsanstalt für Angestellte – eine Neuberechnung ih-
        rer Rente.
        Vielleicht deutet diese positive Änderung des SGB VI
        auf ein neues Verhalten in Richtung zu mehr Rentenge-
        rechtigkeit hin. Das würde vielen Menschen Mut und
        Hoffnung geben, denn es gibt noch viel zu tun, so zum
        Beispiel: die Umsetzung der Forderungen zum AAÜG,
        das Schließen der immer noch existierenden Über-
        führungslücken bei der Rentenüberleitung von An-
        sprüchen ehemaliger DDR-Bürger in das bundesdeutsche
        Recht oder die Angleichung der Renten im Osten an das
        Westniveau.
        Ob oder inwieweit die rot-grüne Regierung sowie die
        CDU/CSU- und FDP-Fraktion diese Punkte vernünftig
        umsetzen werden, kann ich nicht sagen. Aber Folgendes
        kann ich mit Sicherheit versprechen: Die PDS wird sich
        als Partei des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit
        auch weiterhin für die ureigensten Interessen ihrer Mit-
        bürgerinnen und Mitbürger einsetzen.
        Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
        minister für Arbeit und Sozialordnung: Mit den rege-
        lungsgleichen fraktionsübergreifenden Gesetzentwürfen
        soll einerseits der Rechtsprechung des Bundessozialge-
        richt BSG, zu so genannten Getto-Beitragszeiten von Ver-
        folgten des Nationalsozialismus Rechnung getragen wer-
        den und andererseits ein sich in den neuen Ländern
        stellendes rentenrechtliches Problem für die früheren
        Empfänger von Blinden- und Sonderpflegegeld gelöst
        werden.
        Für Menschen, die zwischen 1939 und 1945 in einem
        Getto, zum Beispiel in Lodz, beschäftigt waren, war es in
        der Vergangenheit nicht möglich, eine Anerkennung die-
        ser Zeiten als Beitragszeiten in der Rentenversicherung zu
        erreichen. Bisher waren die Rentenversicherungsträger
        im Regelfall davon ausgegangen, dass innerhalb eines
        Gettos Zwangsarbeit aufgrund eines öffentlich-rechtli-
        chen Gewaltverhältnisses geleistet wurde. Allein wegen
        dieser erzwungenen Arbeitsleistung kam eine Anerken-
        nung als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversiche-
        rung nicht in Betracht.
        1997 hat das Bundessozialgericht eine entscheidende
        Weichenstellung vorgenommen: Auch eine Tätigkeit in
        einem Betrieb im Getto Lodz kann die Voraussetzung für
        eine rentenrechtlich relevante Beschäftigung erfüllen und
        diese Tätigkeitszeiten sind dann als Beitragszeiten der ge-
        setzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. Wir wollen
        für Menschen, die alle bereits ein hohes Alter erreicht ha-
        ben und gewöhnlich im Ausland leben, eine Lücke im
        Recht der Wiedergutmachung schließen. Bisher kann eine
        Rente, die sich aus einer Beschäftigung in einem Getto er-
        gibt, nicht ins Ausland gezahlt werden, weil keine Bei-
        tragszeiten aus Beschäftigung im Gebiet der Bundesrepu-
        blik im erforderlichen Umfang vorliegen.
        In der Vergangenheit war Verfolgten des Nationalso-
        zialismus durch verschiedene Regelungen zur Wiedergut-
        machung nationalsozialistischen Unrechts die Möglich-
        keit eröffnet worden, Beiträge nach dem vor 1992
        geltenden Recht nachzuzahlen. Heute würde die Eröff-
        nung neuer Nachzahlungsmöglichkeiten mit dem Ziel, für
        Beschäftigungszeiten in einem Getto auch Leistungen ins
        Ausland zahlbar zu machen, insbesondere im Hinblick
        auf das Alter der Betroffenen und dem seit 1992 gelten-
        den Auslandsrentenrecht vergleichsweise hohe Vorleis-
        tungen erfordern, die den Betroffenen angesichts ihres Al-
        ters nicht zugemutet werden sollen.
        Wir wollen jetzt die Zahlbarkeit dieser Renten aus
        Getto-Beschäftigungszeiten dadurch erreichen, dass diese
        Beschäftigungszeiten für die Erbringung der Leistung ins
        Ausland als Beitragszeiten im Bundesgebiet gelten.
        Damit unabhängig von der jeweiligen geographischen
        Lage des Gettos und den an diesen Orten jeweils gege-
        benen sozialrechtlichen Verhältnissen einheitliche
        Grundsätze für die Berechnung der Rente aus Getto-Be-
        schäftigungszeiten Anwendung finden, wird darüber hi-
        naus bestimmt, dass für die Berechnung der Rente Getto-
        Beschäftigungszeiten als Beitragszeiten nach den
        Reichsversicherungsgesetzen außerhalb des Bundesge-
        biets zu behandeln sind.
        Abstellend auf die im Juni 1997 ergangene Rechtspre-
        chung des BSG ist eine rückwirkende Rentenzahlung ab
        dem 1. Juli 1997 vorgesehen. Außerdem wird bestimmt,
        dass bei Vorliegen der durch die Rechtsprechung des BSG
        nunmehr anerkannten Versicherungszeiten für die Be-
        rechnung einer Rente davon auszugehen ist, dass die Vor-
        aussetzungen für einen Rentenanspruch bereits mit Voll-
        endung des 65. Lebensjahres vorgelegen haben.
        Diejenigen Getto-Beschäftigten, die das 65. Lebensjahr
        bereits vor dem 1. Juli 1997 vollendet haben, erhalten da-
        mit nach den allgemeinen Grundsätzen der Rentenbe-
        rechnung für jeden Monat des „Nichtbezugs“ der Rente
        vom vollendeten 65. Lebensjahr bis zum 1. Juli 1997 ei-
        nen Zuschlag in Höhe von 0,5 Prozent. Somit ergibt sich
        für jedes Jahr des „Nichtbezugs“ der Altersrente vor dem
        1. Juli 1997 ein Zuschlag zur Rente von 6 Prozent. Für den
        Fall, dass der Verfolgte bereits verstorben ist, wird für
        Hinterbliebenenrenten auf den Todestag abgestellt, womit
        Rentennachzahlungen an die Hinterbliebenen sicherge-
        stellt sind.
        Mit den Vorschriften des Art. 2 des Gesetzentwurfs
        wird ein Problem gelöst, das nach der Überleitung des ein-
        heitlichen Rentenrechts des Sechsten Buches Sozialge-
        setzbuch auf die neuen Bundesländer bei der Berechnung
        von auf Invalidenrenten folgenden Alters- und Hin-
        terbliebenenrenten zu unbefriedigenden Ergebnissen ge-
        führt hat.
        Die Bewertung von Beschäftigungszeiten insbeson-
        dere während des Bezuges von Blinden- und Sonderpfle-
        gegeld in der ehemaligen DDR war in der Vergangenheit
        wiederholt Gegenstand von parlamentarischen Anträgen
        und Anfragen. Parlamentarische Mehrheiten für eine po-
        sitive Lösung des Problems hat es in den vergangenen Le-
        gislaturperioden nicht gegeben. Die SPD hat jedoch im-
        mer ein Bedürfnis für die Korrektur des geltenden
        Rentenrechts für diesen Personenkreis gesehen. Es ist nun
        besonders erfreulich, dass wir in einer fraktionsübergrei-
        fenden Initiative doch noch eine dem Sachverhalt gerecht
        werdende Lösung gefunden haben.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223282
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        Nach dem Sozialversicherungsrecht der ehemaligen
        DDR waren Bezieher einer Rente der Sozialversicherung
        für neben der Rente erzielte Arbeitsentgelte grundsätzlich
        von der persönlichen Beitragszahlung zur Sozialpflicht-
        versicherung-Arbeitnehmeranteil – befreit. Invaliden-
        rentner waren berechtigt, neben der Rente in einem Lohn-
        drittel Hinzuverdienst zu erzielen. Das Lohndrittel wurde
        von dem vor dem Rentenbezug erzielten Arbeitsverdienst
        abgeleitet. Bei monatlichen Arbeitsverdiensten bis zu
        1 200 DM lag die Hinzuverdienstgrenze einheitlich bei
        400 DM. Für Bezieher von Blinden- und Sonderpflege-
        geld galten darüber hinaus Besonderheiten. Anders als in
        den alten Bundesländern galten sie ab 1. September 1972
        automatisch als Invalide und durften im Unterschied zu
        anderen Beziehern einer Invalidenrente neben ihrer Inva-
        lidenrente und dem Blinden- oder Sonderpflegegeld un-
        eingeschränkt hinzuverdienen. Der von Rentnern – Al-
        ters- und Invalidenrentner – erzielte Hinzuverdienst war
        für die Arbeitgeber beitragspflichtig zur Sozialversiche-
        rung; die Arbeitnehmer waren jedoch – ebenfalls ab dem
        1. September 1972 – für einen Arbeitsverdienst bis zu
        600 DM monatlich von der persönlichen Beitragszahlung
        befreit. Anders als „normale“ Invalidenrentner mit Hin-
        zuverdienst im so genannten Lohndrittel waren Bezieher
        von Blinden- und Sonderpflegegeld jedoch berechtigt, der
        freiwilligen Zusatzrentenversicherung, FZR, beizutreten.
        Bei der Berechnung von Renten nach dem geltenden
        Recht werden diese zwischen dem 1. September 1972 und
        dem 31. Dezember 1991 zurückgelegten Beschäftigungs-
        zeiten wegen der fehlenden Zahlung des Arbeitnehmer-
        anteils am Sozialversicherungsbeitrag nicht als Beitrags-
        zeiten berücksichtigt. Zeiten, in denen Bezieher von
        Blinden- und Sonderpflegegeld Beiträge zur FZR gezahlt
        haben, werden zwar als Pflichtbeitragszeiten anerkannt;
        es wird aber nur der tatsächlich versicherte Verdienst
        oberhalb von 600 DM monatlich bei der Rente berück-
        sichtigt. Dies hat zur Folge, dass sich aus der dem Grunde
        nach versicherungspflichtigen Beschäftigung je nach
        Lage des Falles keine oder nur eine sehr geringfügige Er-
        höhung der ab dem 65. Lebensjahr zu zahlenden Alters-
        rente ergibt.
        Die Auswirkungen auf die Rentenhöhe sind je nach in-
        dividueller Versicherungsbiografie unterschiedlich. Be-
        sonders nachteilig wirkt sich das geltende Recht bei
        Personen aus, die – vor Einführung des einheitlichen Bei-
        tragsrechts ab 1. Januar 1992 – eine Beschäftigung noch
        nach Vollendung des 55. Lebensjahres ausgeübt haben,
        weil Zurechnungszeiten wegen des Bezuges einer Er-
        werbsminderungsrente bislang nur bis zum vollendeten
        55. Lebensjahr und die Zeit zwischen dem 55. und 60. Le-
        bensjahr zu einem Drittel anrechenbar waren.
        Mit der geplanten Rechtsänderung sollen die sich nach
        dem bisherigen gesamtdeutschen Rentenrecht ergeben-
        den Nachteile bei der Berechnung von Folgerenten für In-
        validenrentner und Bezieher von Blinden- und Sonder-
        pflegegeld aufgrund der besonderen beitragsrechtlichen
        Vorschriften des DDR-Rechts beseitigt werden. Insbeson-
        dere die Anerkennung von Pflichtbeitragszeiten nach dem
        vollendeten 55. Lebensjahr wird zur Erhöhung dieser Fol-
        gerenten führen.
        Die Verbesserungen sollen rückwirkend für die Zeit ab
        dem 1. September 2001 gezahlt werden.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Bündnisfall aufheben
        (Tagesordnungspunkt 15)
        Markus Meckel (SPD): Bevor ich auf den Antrag der
        PDS im Einzelnen eingehe, möchte ich die Vorgeschichte
        des hier zur Debatte stehenden NATO-Beschlusses in Er-
        innerung rufen. Die schrecklichen Terroranschläge vom
        11. September 2001 haben nicht nur New York und Wa-
        shington getroffen, sondern sie haben die gesamte freie
        Welt erschüttert. Der Schock sitzt noch immer tief. Skru-
        pellose Attentäter ermordeten über 3 000 unschuldige Zi-
        vilisten. Menschen aus über 80 Nationen starben in den
        Trümmern des World Trade Centers in New York. Zu-
        gleich richtete sich der Angriff gegen Symbole der Welt-
        macht USAund der liberalen internationalen Wirtschafts-
        und Gesellschaftsordnung. Das konnten wir nicht tatenlos
        hinnehmen!
        Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft war
        eindeutig und unmissverständlich. Der Sicherheitsrat der
        Vereinten Nationen verurteilte schon am 12. September in
        der grundlegenden Resolution 1368 die Anschläge von
        New York und Washington einmütig, also mit chinesi-
        scher und russischer Zustimmung. Er stellte erstmals fest,
        dass terroristische Anschläge eine Bedrohung des Welt-
        friedens und der internationalen Sicherheit darstellen. Der
        Weltsicherheitsrat hat damit eine Weiterentwicklung des
        bisherigen Völkerrechts vorgenommen und die Voraus-
        setzungen für ein entschiedenes, auch militärisches Vor-
        gehen gegen den Terrorismus geschaffen, das auf dem
        Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung
        beruht.
        Der NATO-Rat signalisierte den Vereinigten Staaten
        noch am gleichen Tag die Bereitschaft, erstmals den Bünd-
        nisfall nach Art. 5 des Washingtoner Vertrages zu erklären.
        Am 4. Oktober 2001 stellte der NATO-Rat fest, dass die
        Anschläge ihren Ursprung im Ausland hatten, und be-
        schloss den Bündnisfall. Über 50 Jahre hatten die USAdie
        Sicherheit in Europa garantiert und alle waren davon aus-
        gegangen, dass im Zweifelsfall die USAden europäischen
        oder kanadischen Verbündeten beistehen würden. Nun
        zeigte sich: Die transatlantische Solidarität gilt in beide
        Richtungen. Dies war eine wichtige Erfahrung für unsere
        amerikanischen Verbündeten. Auf dieser Grundlage ge-
        lang es der US-Administration in den Wochen nach dem
        Anschlag, eine globale Koalition gegen den Terrorismus
        zu schmieden, der sich weit über 100 Staaten, neben Russ-
        land und China auch beinah alle muslimischen Staaten, an-
        schlossen.
        Nachdem das Taliban-Regime mehrere Ultimaten hatte
        verstreichen lassen, den Drahtzieher der Anschläge,
        Osama Bin Laden, auszuliefern und die terroristische In-
        frastruktur im Lande zu zerstören, begannen die USA am
        7. Oktober mit der militärischen Operation „Enduring
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23283
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        Freedorm“. Zunächst handelten hauptsächlich US-Trup-
        pen allein. Nur britische Verbände baten sie, sich zu be-
        teiligen. Die Beiträge anderer Verbündeter und Partner
        beschränkten sich anfänglich auf logistische Unterstüt-
        zung, die Bereitstellung von Militärbasen und Überflug-
        rechte. Später wurden selektiv bestimmte Kapazitäten an-
        derer Alliierter angefragt. Der Deutsche Bundestag hat am
        16. November 2001 der Entsendung von bis zu 3 900 Sol-
        daten zugestimmt, die überwiegend logistische und de-
        fensive Aufgaben übernehmen. Die effektive Kombina-
        tion von US-Luftangriffen und Bodenoperationen der von
        Russland seit Jahren unterstützten oppositionellen Nord-
        allianz führte unerwartet schnell zum Zusammenbruch
        des Taliban-Regimes. Damit wurde dem terroristischen
        Netzwerk Bin Ladens die wichtigste Operationsbasis ent-
        zogen. Der Freudentaumel der Bevölkerung in Afghanis-
        tan zeigte, dass die Mehrheit das Ende des tyrannischen
        Regimes als Befreiung empfindet.
        Die militärischen Operationen bahnten den Weg für ei-
        nen politischen Neuanfang in Afghanistan nach 22 Jahren
        Bürgerkrieg. Einen ersten Schritt bildete das unter UN-
        Vermittlung und mit maßgeblicher Unterstützung der Bun-
        desregierung am 5. Dezember 2001 zustande gekommene
        „Bonn Agreement“. Die wichtigsten politischen Kräfte ha-
        ben sich dabei auf eine zweijährige Übergangsphase zur
        Normalisierung des politischen Lebens und die Bildung
        einer multiethischen, parteiübergreifenden Übergangsre-
        gierung unter Hamid Karzai verständigt. Angesichts der
        zahlreichen Kriegsherren und verbliebener Taliban-An-
        hänger wird die Übergangsregierung durch die Internatio-
        nal Security Assistance Force in der Hauptstadt Kabul ge-
        schützt. Die ISAF wurde auf der Basis eines UN-Mandates
        gebildet und steht bis Mai 2002 unter britischer Führung.
        Danach leitet die Türkei die Operation. Deutschland hat im
        März das taktische Kommando über die in Kabul operie-
        rende multinationale Brigade erhalten und zur Führung ei-
        nen integrierten multinationalen Stab gebildet. Die Frie-
        denstruppe soll der Stabilisierung der Lage dienen und die
        Voraussetzungen für den Beginn des Wiederaufbaus schaf-
        fen. Eine internationale Geberkonferenz in Tokio hat zur
        Unterstützung Afghanistans in den nächsten fünf Jahren
        bereits 5 Milliarden Dollar zugesagt. Deutschland allein
        wird dazu in den nächsten vier Jahren Millionen von Euro
        beitragen. Die Lage im Land ist aber weiterhin instabil und
        es zeigen sich starke Wiederstandsnester von al-Qaida-
        und Taliban-Kämpfern.
        Ist die Gefahr damit gut acht Monate nach den An-
        schlägen vom 11. September gebannt? Die Antwort lautet
        leider: Nein. Die Bedrohung durch den internationalen
        Terrorismus dauert an. Der schreckliche Selbstmordan-
        schlag auf die Synagoge von Ghirba auf der tunesischen
        Insel Djerba vom 11. April sollte reichen, um jedem von
        uns in Erinnerung zu rufen, dass sich diese Bedrohung
        auch gegen uns richtet. 16 Menschen kamen bei der Ex-
        plosion eines Tanklastzuges in den Flammen um. Über-
        wiegend waren die Opfer deutsche Touristen. Die bisheri-
        gen Ermittlungen weisen darauf hin, dass es sich bei den
        Tätern um Mitglieder einer islamistischen Organisation
        handelt, die über Verbindungen zu al-Qaida verfügt. Auch
        wenn sich derzeit noch nichts Abschließendes über die
        Urheber und ihre Ziele sagen lässt, zeigt dieser Anschlag,
        dass Warnungen vor weiteren Anschlägen in den USAund
        andernorts ernst zu nehmen sind. Wir können nicht ein-
        fach die Hände in den Schoß legen.
        Die Urheber der Anschläge vom 11. September sind
        noch nicht dingfest gemacht worden. Mit dem Sturz des
        Taliban-Regimes wurde zwar die Operationsbasis al-Qai-
        das in Afghanistan weitgehend zerstört, aber das interna-
        tionale terroristische Netzwerk besteht fort. Das zeigt die
        Festnahme einer Reihe von Mitgliedern der Gruppe Al-
        Tawhid in dieser Woche in Deutschland. In Afghanistan
        ist selbst die militärische Phase in der Auseinanderset-
        zung mit dem Terrorismus noch nicht abgeschlossen. Af-
        ghanistan ist ein Testfall für die Glaubwürdigkeit der Ko-
        alition gegen den Terror. Zu den vorrangigen Aufgaben
        gehört eine Stabilisierung der Übergangsregierung und
        das Anlaufen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Aber
        noch immer leisten bis zu 5 000 Kämpfer al-Qaidas und
        der Taliban im Land Widerstand beziehungsweise for-
        mieren sich in Pakistan neu. Sie sind auszuschalten. Nur
        dann kann der Wiederaufbau des Landes dauerhaft erfolg-
        reich verlaufen und können die Wurzeln des Terrorismus
        gekappt werden. Der Einfluss der Übergangsregierung
        beschränkt sich bislang weitgehend auf den Raum Kabul,
        wo die Regierung von ISAF geschützt wird. In den ande-
        ren Regionen häufen sich in den letzten Monaten die Aus-
        einandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen
        Gruppen und lokalen Führern, die um die Vormachtstel-
        lung ringen. Da eine Ausweitung des ISAF-Mandats über
        Kabul hinaus aufgrund der notwendigen Vergrößerung
        des Umfangs der Truppe keine Chance hat, ist es wichtig,
        die Übergangsregierung beim Aufbau einer nationalen
        Armee zu unterstützen. In der Zwischenzeit werden Ver-
        bände der USA und ihrer Verbündeten im Rahmen der
        Operation „Enduring Freedom“ auch Aufgaben bei der
        Gewährleistung der Sicherheit außerhalb Kabuls über-
        nehmen. Auch hier ist also noch kein Zeichen zur Ent-
        warnung in Sicht. Das Militär kann zwar nur einen be-
        grenzten Beitrag zur Bekämpfung des internationalen
        Terrorismus leisten; aber dieser Beitrag ist essenziell.
        Wie ich bereits zuvor ausgeführt habe, war die Er-
        klärung des Bündnisfalls nach Art. 5 ein wichtiges Zei-
        chen transatlantischer Solidarität. Am Ende Ihres Antra-
        ges räumt auch die PDS ein, der Antrag habe keine
        NATO-Operation nach sich gezogen. Mithin gibt es auch
        rechtlich keine Maßnahme, die außer Kraft zu setzen
        wäre. Militärisch würde sich also gar nichts ändern. Kein
        einziger deutscher Soldat müsste zurückgezogen werden.
        Der Antrag ist also eigentlich gegenstandslos. Aber ich
        möchte nicht nur formal argumentieren. Was wären die
        politischen Folgen, wenn wir uns derzeit im Bündnis für
        eine Aufhebung einsetzen würden? Angesichts der fort-
        dauernden Bedrohung durch den internationalen Terroris-
        mus – selbst durch die konkrete Organisation aI-Qaida –
        würde der Vorstoß bei unseren Verbündeten auf absolutes
        Unverständnis stoßen. Wir wären isoliert. Man würde da-
        ran zweifeln, dass wir wirklich eine gemeinsame Haltung
        im Kampf gegen den Terrorismus einnehmen. Unsere
        amerikanischen Verbündeten würden dies nicht nur als
        Zeichen von Unentschlossenheit, sondern als Misstrauen-
        serklärung gegenüber ihrer Führung, der internationalen
        Koalition gegen den Terrorismus und der Operation
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223284
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        „Enduring Freedom“ werten. Dies würde die Beziehun-
        gen zu unserem wichtigsten Partner auf lange Sicht be-
        lasten. Daher müssen wir einen solchen Vorstoß mit
        Nachdruck ablehnen. Wir werden als SPD-Fraktion gegen
        den Antrag der PDS stimmen.
        Im Übrigen möchte ich Sie daran erinnern, dass die Er-
        klärung des Bündnisfalls keine Generalermächtigung dar-
        stellt. Jedes Mitgliedsland entscheidet souverän, welchen
        Beitrag es zur Abwendung einer Bedrohung leistet und an
        welchen konkreten Operationen der NATO es sich betei-
        ligt. Diese Aussage gilt analog für die US-geführte Ope-
        ration „Enduring Freedom“.
        Abschließend möchte ich auf Folgendes hinweisen:
        Wenn die Sicherheitslage dies zulässt, ist es jederzeit im
        Konsens aller NATO-Mitglieder möglich, den Bündnis-
        fall durch einen neuerlichen Beschluss des NATO-Rates
        zu beenden. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, wird
        dies sicherlich geschehen.
        Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Befreit man den
        Antrag der PDS zur Aufhebung des Bündnisfalles von sei-
        nem juristischen Pulverdampf und schaut man auf die in-
        haltliche Substanz, so wird eins deutlich: Es geht der PDS
        nicht um eine korrekte Anwendung völkerrechtlicher
        Normen, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen
        mag. Wie egal ihr völkerrechtliche Normen und
        Grundsätze sind, hat sie ja eindrucksvoll bewiesen, als
        Gregor Gysi Slobodan Milosevic hofierte. Die PDS will
        nur eins: die Solidarität mit den USA aufkündigen und
        Deutschland international isolieren. Dazu ist ihr offen-
        sichtlich jedes Mittel recht und kein Preis zu hoch. Ihren
        antiamerikanischen Ressentiments freien Lauf lassend ist
        die PDS auch bereit, den Kampf gegen den internationa-
        len Terrorismus aufzugeben und weitere Opfer dieses Ter-
        rorismus hinzunehmen. Von Anfang an war die PDS ge-
        gen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und das
        Bündnis mit den USA. Und nun versucht sie, auf juristi-
        schen Schleichwegen ihr Ziel zu erreichen.
        Ich werde mich mit der in dem Antrag enthaltenen ju-
        ristischen Argumentation nicht weiter auseinander setzen,
        sondern mich auf die zentralen Aussagen Ihres Papiers be-
        schränken.
        Ihre Behauptung, eine reale Verteidigungssituation ge-
        gen einen gegenwärtigen Angriff auf die USA oder ihre
        Verbündeten sei nicht mehr gegeben, ist falsch. Gerade
        die Ereignisse der letzten Tage und Wochen müssen doch
        auch Ihnen deutlich gemacht haben, wie konkret und ge-
        genwärtig die von islamistischen Terroristen ausgehende
        Bedrohung für uns alle ist. Ich will Ihnen noch einmal die
        wichtigsten Ereignisse nennen und empfehle künftig den
        Blick in die Tageszeitung.
        In Frankfurt stehen mutmaßliche Terroristen vor Ge-
        richt, die ein Attentat auf die jüdische Synagoge in Straß-
        burg geplant haben. Ein Angeklagter hat ausgesagt, er
        habe zuvor ein Jahr in afghanischen Lagern verbracht.
        Drei Monate Glaubensschule der Taliban und neun Mo-
        nate Militärlager waren seine Schulung.
        Vor wenigen Tagen wurden zwölf palästinensische Is-
        lamisten in Deutschland verhaftet. Es besteht der begrün-
        dete Verdacht, dass mindestens diese zwölf Männer terro-
        ristische Anschläge in Deutschland geplant haben. Auch
        ein Kontakt zur al-Qaida Osama bin Ladens wird nicht aus-
        geschlossen: Der Generalbundesanwalt hat mitgeteilt, dass
        die Gruppe durch die gemeinsame Ausbildung in Lagern in
        Afghanistan entstanden sei. Wörtlich sagte er: „Da diese
        Lager überwiegend von al-Qaida finanziert werden, ist es
        nahe liegend, dass hier auch Verbindungen bestehen.“
        Der Name der Organisation, der diese Männer an-
        gehören, ist Al Tawhid. Er bedeutet Einheit Gottes und ist
        für Fachleute Programm. Nicht die friedliche Missionie-
        rung ist das Ziel, sondern die Missionierung mit Feuer
        und Schwert. Die westliche Kultur und die angeblichen
        Feinde des Islam sollen vernichtet werden. Und dafür ste-
        hen die USA, Israel und deren Verbündete. Auch Deutsch-
        land steht also auf der „Schwarzen Liste“.
        Die Ermittler decken jeden Tag neue, internationale
        Netzwerke von Terroristen auf. Und immer wieder stoßen
        sie auf die Begriffe Afghanistan, Taliban oder al-Qaida.
        Internationale Truppen, die Truppen, die Sie zurückrufen
        wollen, sind bei der Suche nach al-Qaida- und Tali-
        bankämpfern in Afghanistan auf weitere Waffenlager ge-
        stoßen. Im Südosten des Landes haben die Soldaten Depots
        mit Handfeuerwaffen, Raketen und Munition gefunden.
        Auch die Befürchtung, dass Terroristen in der Lage sind,
        Massenvernichtungswaffen herzustellen, besteht weiter.
        Was jetzt ans Licht kommt, ist nur die Spitze des Eis-
        bergs. Viel zu lange hatten die Terroristen Zeit, Pläne zu
        schmieden und ein weltweites Verbindungsnetz aufzu-
        bauen, ungestört und in aller Ruhe. Und da wagen Sie zu
        behaupten, eine Bedrohung bestehe nicht mehr. Wollen
        Sie das tatsächlich den Opfern des Terroranschlages auf
        Djerba und deren Angehörigen erklären? Die Terroristen
        tragen Angst, Mord und Unglück bis vor unsere Haustür
        und Sie wollen allen Ernstes behaupten, es bestehe keine
        Gefahr mehr?
        Sie behaupten weiter, die UNO habe mit der Entsen-
        dung der ISAF nach Kabul alle notwendigen Maßnahmen
        im Sinne von Art. 51 der UNO-Charta ergriffen. Folge sei,
        dass das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Art. 5
        des NATO-Vertrages verdrängt werde. Dies ist falsch.
        Art. 5 des NATO-Vertrages bestimmt, dass Maßnahmen
        der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung ein-
        zustellen sind, wenn der UN-Sicherheitsrat seinerseits
        Maßnahmen zur Wiederherstellung des internationalen
        Friedens und der internationalen Sicherheit eingeleitet
        hat. Um solche Maßnahmen zur Wiederherstellung des in-
        ternationalen Friedens und der internationalen Sicherheit
        handelt es sich bei der Entsendung der ISAF nach Kabul
        aber gerade nicht. Und das wissen Sie auch. Denn Sie sa-
        gen selber, dass der Auftrag der ISAF darauf beschränkt
        ist, der afghanischen Interimsregierung bei der Herstel-
        lung und Aufrechterhaltung der Sicherheit in und um Ka-
        bul beizustehen. Es handelt sich um nationale Friedenssi-
        cherung. Der internationale Frieden und die internationale
        Sicherheit werden hingegen ausschließlich durch den
        Einsatz von „Enduring Freedom“ gesichert. Und wie sehr
        der internationale Frieden und die internationale Sicher-
        heit gefährdet sind, habe ich an anderer Stelle ja bereits er-
        wähnt.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23285
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        Sie berufen sich auf Kofi Annan. Mir ist nicht bekannt,
        dass Kofi Annan den von der NATO ausgerufenen Bünd-
        nisfall und den Einsatz von NATO-Truppen im Rahmen
        von „Enduring Freedom“ kritisiert und als völkerrechts-
        widrig abgelehnt hätte. Es ist vielmehr so, dass „Enduring
        Freedom“ in Übereinstimmung mit UN-Resolutionen statt-
        findet.
        Da Sie ja schon mit der Erinnerung an Ereignisse der
        jüngsten Vergangenheit Schwierigkeiten zu haben schei-
        nen, können Sie sich sicherlich auch nicht so gut an die
        Geschehnisse aus dem September und Oktober des ver-
        gangenen Jahres erinnern. Daher noch einmal eine kurze
        Darstellung der Ereignisse. Bereits am 12. September
        2001 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolu-
        tion 1368 (2001), in der die Anschläge als Bedrohung für
        den internationalen Frieden und die internationale Sicher-
        heit qualifiziert werden. Die Resolution bestätigt die Not-
        wendigkeit, alle erforderlichen Schritte gegen solche Be-
        drohungen zu unternehmen, und unterstreicht das Recht
        zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung.
        Ebenfalls am 12. September 2001 beschloss der NATO-
        Rat, dass die Terrorangriffe, sofern sie von außen gegen
        die USA gerichtet gewesen seien, als Angriffe auf alle
        Bündnispartner im Sinne der Beistandsverpflichtung des
        Art. 5 des NATO-Vertrages zu betrachten seien.
        Mit der Resolution 1368 vom 28. September 2001 hat
        der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Bekämp-
        fung des internationalen Terrorismus mit allen politi-
        schen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberi-
        schen Maßnahmen aufgerufen. Sprecher der al-Qaida
        haben öffentlich weitere Angriffe auf die USA angekün-
        digt und andere dazu aufgerufen. Wie dieser Aufruf um-
        gesetzt wurde und, wenn wir nicht aufpassen, auch künf-
        tig umgesetzt werden wird, habe ich an anderer Stelle ja
        bereits ausgeführt.
        Am 2. Oktober 2001 legten die USAim NATO-Rat dar,
        dass die Angriffe nachweislich von außen gegen die USA
        gerichtet waren. Daraufhin bekräftigte und präzisierte der
        NATO-Rat am 4. Oktober 2001 die Beistandsverpflich-
        tung aus Art. 5. Damit ist auch die Bundesrepublik
        Deutschland aufgefordert, im Rahmen der kollektiven
        Selbstverteidigung zu Maßnahmen der Bündnispartner
        gegen den Terrorismus beizutragen. Am 7. Oktober 2001
        unterrichteten die USA und das Vereinigte Königreich
        von Großbritannien und Nordirland den Sicherheitsrat der
        Vereinten Nationen über ihre Maßnahmen zur Bekämp-
        fung des Terrorismus gemäß Art. 51 der Satzung der Ver-
        einten Nationen im Rahmen der Operation „Enduring
        Freedom“. In seiner Presseerklärung vom 8. Oktober
        2001 würdigte der Präsident des Sicherheitsrats der Ver-
        einten Nationen die Unterrichtung durch diese beiden
        Staaten und bekräftigte die Entschlossenheit, die Resolu-
        tion 1368 (2001) und die ergänzende, am 28. September
        2001 verabschiedete Resolution 1373 (2001) vollständig
        umzusetzen.
        Deutschland beteiligt sich damit an einer Koalition aus
        vielen Staaten der Welt, die dem Aufruf des Sicherheits-
        rates der Vereinten Nationen gefolgt sind. Zur Bekämp-
        fung des Terrorismus bedarf es eines langfristigen, strate-
        gischen Ansatzes. Der Einsatz militärischer Mittel ist
        unverzichtbar, um die terroristische Bedrohung zu
        bekämpfen und eine Wiederholung von Angriffen wie am
        11. September 2001 nach Möglichkeit auszuschließen.
        Natürlich handelte es sich bei der Ausrufung des Bünd-
        nisfalls auch um eine politische Solidaritätserklärung. Sie
        versuchen, Deutschland als willigen und unkritischen Ge-
        folgsmann der Vereinigten Staaten darzustellen. Das ist
        falsch. Was die europäischen NATO-Partner gemacht ha-
        ben, war, die Solidarität zu leisten, die sie von den USA
        in den Dekaden des Kalten Krieges erwartet und um ein
        Vielfaches erhalten haben. Dies gilt auch und gerade für
        Deutschland, dessen Freiheit und Wohlstand ohne das
        Engagement der Vereinigten Staaten undenkbar gewesen
        wäre. Folgerichtig waren es auch nicht die USA, die im
        Nordatlantikrat die Bündnissolidarität einforderten. Die
        Initiative ging stattdessen von Generalsekretär George
        Robertson aus. Diese Solidarität kann man von einer Par-
        tei, die ihre Herkunft aus der SED ableitet und damit für
        die Teilung Deutschlands und Europas mitverantwortlich
        ist, natürlich nicht erwarten.
        Sie wollen nur eins: Sie wollen politisches Kapital
        schlagen aus einer vorgezogenen Diskussion um die wei-
        tere Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan.
        Nachdem Sie durch ihre Verweigerungshaltung in der ers-
        ten Entsendedebatte bereits gehofft hatten, die Pazifisten
        abzugrasen, die sich bei den Grünen nicht mehr zu Hause
        fühlen, versuchen Sie nun, dieses Thema für den Wahl-
        kampf zu nutzen. Dies ist unredliches Spiel.
        Hildebrecht Braun (Augsburg) (FDP): Normaler-
        weise wäre ich unglücklich, weil ich nur dreieinhalb Mi-
        nuten habe, um die Stellungnahme für die FDP abzuge-
        ben. Heute reicht diese Zeit üppig aus. Die Stellungnahme
        ist nämlich kurz und bündig.
        Wir werden dem Antrag der PDS nicht folgen.
        Die Gründe in aller Kürze: Dass die NATO nach dem
        11. September des vergangenen Jahres erstmalig den
        Bündnisfall beschlossen hat, war nicht nur nachvollzieh-
        bar, sondern notwendig. Der Bundestag hat sich dieser Er-
        klärung der Regierungschefs nahezu einmütig ange-
        schlossen.
        Die Gründe für die Erklärung des Bündnisfalls waren
        primär die, dass alle NATO-Staaten die Bedrohung durch
        internationalen Terrorismus als nicht nur gegen die USA,
        sondern gegen den nicht moslemischen Teil der Welt ins-
        gesamt gerichtet wahrgenommen haben.
        In erster Linie ging es den NATO-Staaten darum, ihre
        Solidarität mit den USA auszudrücken, zugleich wurde
        aber auch erklärt, dass die NATO-Staaten den Kampf ge-
        gen al-Qaida und vergleichbare terroristische Strukturen
        gemeinsam führen wollen.
        Es hat sich nun gezeigt, dass die USA die Unterstüt-
        zung der NATO als Institution gar nicht in Anspruch ge-
        nommen haben. Vielmehr schallt uns der Spruch noch im
        Ohr: „We will call you, when we need you.“ Die NATO,
        die bis zum 11. September 2001 als das Machtzentrum der
        Welt angesehen wurde, wurde von den Amerikanern gar
        nicht gefordert, da die USA das Thema selbst zu lösen
        trachteten.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223286
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        In der Zwischenzeit sind zwar Soldaten aus verschie-
        denen NATO-Staaten im globalen Zusammenhang der
        Terrorismusbekämpfung aktiv geworden. So sind deut-
        sche Soldaten nicht nur in Afghanistan, sondern in Dschi-
        buti, in Kenia und in Kuwait tätig. Das Mandat für diese
        Auslandseinsätze beruht aber nicht auf dem NATO-Bünd-
        nisfall, sondern auf entsprechenden Beschlüssen des Si-
        cherheitsrates der Vereinten Nationen, die den Deutschen
        Bundestag zu entsprechenden Ermächtigungsbeschlüssen
        veranlasst haben.
        Ich will es in aller Deutlichkeit ausdrücken: Die USA
        haben auch weiterhin unsere Solidarität. Wir sehen uns im
        gemeinsamen Kampf gegen die neue Bedrohung der Frei-
        heit der Menschen in der Welt, die mit dem Stichwort
        Terrorismus umschrieben wird. Gerade die NATO als eine
        Wertegemeinschaft fühlt sich den USA hier nach wie vor
        besonders verbunden. So wird es auch in der nahen Zu-
        kunft bleiben.
        Es gibt keinen Grund, weder einen politischen noch ei-
        nen rechtlichen, weswegen ausgerechnet der Deutsche
        Bundestag darauf drängen sollte, den Solidaritätsbeschluss
        der NATO aufzuheben. Ein solcher Beschluss wäre ein Si-
        gnal, das nirgends in der Welt verstanden würde. Er ist von
        der Sache her nicht geboten. Ganz im Gegenteil: Er würde
        nur Probleme schaffen, die wir nicht wollen.
        Es mag sein, dass die PDS noch immer nicht die Be-
        deutung der weltweiten Bedrohung durch Terrorismus er-
        kannt hat. Der Bundestag hat oft zu diesem Thema disku-
        tiert. Es ist zwar betrüblich, wenn Kollegen im Bundestag
        die Botschaft, hinter der immerhin vier von fünf Fraktio-
        nen stehen, nicht verstehen wollen oder können. Wir müs-
        sen wohl weiter mit der Wahrnehmung leben, dass die
        PDS in der Welt von heute noch nicht angekommen ist.
        An diesem Umstand werden wir heute Nacht auch nichts
        ändern können. Deutschland ist sich seiner Verantwor-
        tung für den Frieden bewusst. Dies wollen wir auch heute
        nochmals klarstellen.
        Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
        Amt: Am 11. September sind schlagartig Albträume zur
        Wirklichkeit geworden. Ein zu allem bereiter Terrorismus
        hat die Menschen und die Regierung der Vereinigten Staa-
        ten von Amerika angegriffen, aber es hätte auch jede an-
        dere offene Gesellschaft treffen können. Vom ersten Au-
        genblick an war klar, dass dieser Angriff auf unseren
        wichtigsten Bündnispartner uns allen galt, unserer Vor-
        stellung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten,
        und dass die USA unserer Solidarität bedurften, dass
        Deutsche und Europäer in der Pflicht waren, die Solida-
        rität jetzt unsererseits zu leisten. Wir müssen uns gemein-
        sam der Gefahr stellen.
        Allen Beteiligten war zum Zeitpunkt dieser Entschei-
        dungen klar, dass die Bekämpfung der terroristischen
        Strukturen der al-Qaida eine ungewohnte Herausforde-
        rung ist, die einen langen Atem erfordert: Der Gegner ist
        nicht ein Staat, sondern eine international organisierte und
        weltweit agierende Gruppierung von Terroristen. Das
        Netzwerk dieser Terrorgruppe in Afghanistan konnte
        zwar weitgehend zerschlagen werden.
        Insbesondere konnte das Taliban-Regime, das dieser
        Gruppierung Beherbergung und Schutz bot, abgelöst
        werden. Das Ziel einer nachhaltigen Zerschlagung der al-
        Qaida Strukturen ist aber noch nicht erreicht. Die al-Qaida
        verfügt weiter über Stützpunkte in Afghanistan, Mitglie-
        der des Netzwerks haben in anderen Regionen Basen so-
        wie Führungs- und Ausbildungseinrichtungen. Sprecher
        der al-Quaida haben sich nicht nur zu den Anschlägen
        vom 11. September bekannt, sondern öffentlich weitere
        Angriffe gegen die USA angekündigt und andere dazu
        aufgerufen. Dies nicht ernst nehmen zu wollen, wäre völ-
        lig verantwortungslos.
        Ich erinnere daran: Schon der Anschlag auf den Nord-
        turm des World Trade Centers in New York 1993 hatte das
        Ziel, den Nord- und den Südturm zum Einsturz zu brin-
        gen. Auf diese versuchten Attentate haben die USA da-
        mals lediglich politisch und strafrechtlich, nicht jedoch
        militärisch reagiert. In den USAwird nun eine Debatte da-
        rüber geführt, ob das nicht ein Fehler war. Nach den
        jüngsten Androhungen der al-Quaida werden weitere An-
        schläge folgen, wenn wir sie nicht verhindern können,
        wenn wir den Terroristen nicht das Handwerk legen.
        Unsere Gesellschaften bleiben verwundbar. Die kon-
        krete Bedrohung, so die gemeinsame Überzeugung der
        NATO-MS, ist nicht beendet. Das zeigen nicht nur aktu-
        elle Ermittlungen der Bundesanwaltschaft. Auch die To-
        ten und Verletzten auf Djerba sind Opfer des Terrorismus.
        Die Ihrem Antrag zugrunde liegende Behauptung, die
        Bedrohung bestehe nicht mehr, ist vor diesem Hinter-
        grund völlig realitätsfern. Sie suggerieren eine Illusion,
        der wir uns nicht hingeben können, auch wenn die USA
        mit ihren Bündnispartnern an der Seite ohne Zweifel
        wichtige Erfolge erzielt haben. Es besteht daher kein An-
        lass, die Grundlagen für die Aufrechterhaltung des Art. 5
        infrage zu stellen.
        Das deutsche militärische Engagement ist legitimiert,
        berechenbar und verhältnismäßig. Es hält sich in jeder
        Einzelheit an das Völkerrecht. Es kommt für uns nicht in
        Frage, uns in militärische Abenteuer hinein ziehen zu las-
        sen. Unsere militärische Beteiligung an der Terrorismus-
        bekämpfung hält sich strikt an die Aufgaben, die durch die
        einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrates im
        Zusammenhang mit den Terrorangriffen auf die USA,
        durch die Anrufung des Art. 5 des NATO-Vertrages und
        durch den Beschluss des Bundestages vom 16. November
        2001 vorgegeben sind.
        Auch die in Kuweit eingesetzten deutschen Streitkräfte
        sind selbstverständlich an das vom Deutschen Bundestag
        am 16. November 2001 erteilte Mandat gebunden. Die
        Bundesregierung wird diese Kräfte auch weiterhin nur
        nach Maßgabe dieses Mandats einsetzen. Schon deshalb
        steht die Präsenz deutscher ABC-Abwehrkräfte in Kuweit
        in keinem Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion
        über die auch von der EU geteilten Aufforderung an die
        irakische Führung, ihre Verpflichtungen aus den einschlä-
        gigen Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Na-
        tionen – insbesondere die Wiederzulassung der Inspektio-
        nen gemäß SR-Resolution 1284 – zu erfüllen.
        Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat festge-
        stellt, dass das Recht auf individuelle und kollektive
        Selbstverteidigung gegeben ist und in seiner Resolution
        1373 von 28. September die Mitgliedstaaten der VN zur
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23287
        (C)
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        (A)
        (B)
        Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit politi-
        schen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgebe-
        rischen Maßnahmen aufgerufen.
        Das Atlantische Bündnis hat die Feststellung getroffen,
        dass die Beseitigung dieser Bedrohung gemeinsame An-
        gelegenheit ist. Dabei beschränkt sich das Engagement des
        Bündnisses nicht auf politische Rückendeckung. Die
        NATO ist zum Beispiel auf Bitten der USAzum Schutz des
        amerikanischen Luftraumes seit Oktober 2001 engagiert.
        Der Deutsche Bundestag hat dies bei mehreren Gele-
        genheiten, am 19. September 2001 und bei der Entschei-
        dung über die Beteiligung der Bundeswehr an den Opera-
        tionen von „Enduring freedom“ am 16. November 2001,
        mit Nachdruck unterstützt.
        Bei all dem bleibt klar: Deutschland wird weiterhin
        keine Chance ungenutzt lassen, um mit politischen Mit-
        teln an der Bewältigung der Ursachen für Hass und damit
        an den Ursachen des internationalen Terrorismus zu ar-
        beiten. In Afghanistan hat die entschlossene Strategie der
        politischen Stabilisierung, die von Deutschland maßgeb-
        lich mitgestaltet wurde, eine Umkehr der Entwicklungen
        bewirkt. Noch ist der Erfolg der Befriedung Afghanistans
        und seiner Befreiung vom Terrorismus nicht gesichert,
        doch haben die Bildung einer Übergangsregierung in Ka-
        bul und der Beginn des Wiederaufbaus wichtige Voraus-
        setzungen geschaffen, dass das Land seinen Weg zurück
        in die Staatengemeinschaft findet.
        Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist von Verläss-
        lichkeit, Zielstrebigkeit und von Ausdauer gekennzeich-
        net. Sie wollen Sprunghaftigkeit, Kurzatmigkeit und
        Selbsttäuschung einziehen lassen. Damit das nicht ge-
        schieht, muss dieser Antrag abgelehnt werden. Darum
        bitte ich das Haus.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 200223288
        (C)(A)
        Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin