Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002
Karin Rehbock-Zureich
22912
(C)(A)
Berichtigung
229. Sitzung, Seite 22751 (C), 1. Absatz, der 4. Satz ist wie folgt
zu lesen: „ Ich frage Sie noch einmal: Warum geben Sie dazu
keine Erklärung ab?“
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22913
(C)
(D)
(A)
(B)
Adam, Ulrich CDU/CSU 18.04.2002
Balt, Monika PDS 18.04.2002
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 18.04.2002
Bohl, Friedrich CDU/CSU 18.04.2002
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 18.04.2002*
Klaus
Caesar, Cajus CDU/CSU 18.04.2002
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 18.04.2002
Herta
Erler, Gernot SPD 18.04.2002
Friedrich (Altenburg), SPD 18.04.2002
Peter
Hofbauer, Klaus CDU/CSU 18.04.2002
Irmer, Ulrich FDP 18.04.2002
Jelpke, Ulla PDS 18.04.2002
Ostrowski, Christine PDS 18.04.2002
Philipp, Beatrix CDU/CSU 18.04.2002
Pofalla, Ronald CDU/CSU 18.04.2002
Reiche, Katherina CDU/CSU 18.04.2002
Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 18.04.2002
Schauerte, Hartmut CDU/CSU 18.04.2002
Schlee, Dietmar CDU/CSU 18.04.2002
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 18.04.2002
Hans Peter
Schur, Gustav-Adolf PDS 18.04.2002
Seehofer, Horst CDU/CSU 18.04.2002
Siemann, Werner CDU/CSU 18.04.2002
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 18.04.2002**
Thiele, Carl-Ludwig FDP 18.04.2002
Weisskirchen SPD 18.04.2002**
(Wiesloch), Gert
Dr. Westerwelle, Guido FDP 18.04.2002
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Erklärung des Abgeordneten Dr. Karl A. Lamers
(Heidelberg) (CDU/CSU) zur namentlichen Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung des Zollfahnungsdienstes (Zoll-
fahndungsneuregelungsgesetz – ZFnrG) (Tages-
ordnungspunkt 5)
In der Abstimmungsliste ist mein Name unter „Enthal-
tung“ aufgeführt.
Mein Votum lautet „Nein“.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Arbeitsrecht flexibili-
sieren – Beschäftigung schaffen
Wolfgang Grotthaus (SPD): Schon im Titel des An-
trages verbirgt sich ein grundlegender Fehler. Es wird ein
Zusammenhang zwischen Arbeitsrecht und Beschäfti-
gungswirkung – sprich Arbeitslosigkeit – hergestellt.
Aber tatsächlich besteht ein solcher Zusammenhang
nicht. Anerkannte Experten kommen in ihren Analysen zu
dem Ergebnis, dass arbeitsrechtliche Schutzbestimmun-
gen nicht als Ursache für eine hohe Arbeitslosigkeit nach-
zuweisen sind. Das sollten auch Sie von der Opposition
einfach mal zur Kenntnis nehmen.
Aber darum geht es Ihnen ja gar nicht. Sie bauen hier
einen Popanz auf „Ausbau von Arbeitnehmerrechten be-
deutet Vermehrung der Arbeitslosigkeit“ –, der im Wahl-
kampf als griffige Formel verkauft werden soll. Dabei las-
sen Sie jeglichen Sachverstand außer Acht. Wäre Ihre
Annahme richtig, wäre die Schlussfolgerung: Die Leib-
eigenschaft in der Feudalzeit hat die meisten Arbeits-
plätze erhalten.
Gleich auf der ersten Seite schreiben Sie, mehr „Be-
schäftigung durch eine Flexibilisierung des Arbeitsrech-
tes“ erreichen zu wollen; dass diese Grundannahme wis-
senschaftlich und ökonomisch falsch ist, habe ich ja
bereits einleitend gesagt.
Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode
das Arbeitsrecht konsequent modernisiert. Der von Ihnen
aufgebaute Reformstau wurde zugunsten einer aktiven
Unternehmenskultur aufgelöst. Flexibilität und Sicherheit
sind in ausgewogener Weise gewährleistet. Trotzdem oder
vielleicht sogar gerade deswegen ist entgegen Ihrer Be-
hauptung die Arbeitslosigkeit zurückgegangen.
Ihnen geht es gar nicht um „Flexibilität in ausgewoge-
ner Weise“; Ihnen geht bei Flexibilisierung um die Aus-
höhlung der Arbeitnehmerrechte.
Ein Beispiel: befristete Arbeitsverträge. Mit dem Teil-
zeit- und Befristungsgesetz setzt die Bundesregierung eine
Vereinbarung der europäischen Sozialpartner um, an deren
Zustandekommen BDA und DGB maßgeblich beteiligt
waren. Danach sollen unbefristete Arbeitsverträge die
Normalform der Beschäftigung bleiben. Ein wesentliches
Anliegen ist es, den Missbrauch von aufeinander folgen-
den Kettenbefristungen ohne Sachgrund zu verhindern.
Sie behaupten, dass die Aufhebung der Befristungsket-
ten ein Einstellungshemmnis darstelle. Das ist schlicht-
weg dummes Zeug. Vielmehr wird Rechts- und Pla-
nungssicherheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
geschaffen. Dies belegt auch die DIHK Studie vom No-
vember 2001. Danach konnte ein angebliches Einstel-
lungshemmnis nicht belegt werden; im Handels- und
Dienstleistungsbereich wurden 76 Prozent aller Befris-
tungen auf Sachgründe gestützt.
Ausnahmen und Sonderregelungen sind ohnehin nach
geltender Gesetzeslage möglich, denn je nach Branche
lassen die Tarifverträge dies zu. Und noch eine ganz an-
dere Frage stellt sich mir: Wie passen Befristungsketten
– wie Sie sich das vorstellen – mit dem Wunsch nach mehr
Mobilität bei Arbeitssuchenden zusammen? Kann bei
diesen Perspektiven, die Sie im Auge haben, beispiels-
weise ein Umzug mit der ganzen Familie in eine andere
Stadt noch gewagt werden? Nein, meine Damen und Her-
ren von der Opposition, auch Arbeitnehmer brauchen Pla-
nungssicherheit. Und wir sorgen dafür.
Noch zwei Beispiele, wo unsere Gesetze den Arbeits-
markt flexibler gestaltet haben:
Erstens. Bei älteren Arbeitnehmern hat unsere gesetz-
liche Regelung die sachgrundlose Befristung erweitert.
Die Altersgrenze, ab der mit Arbeitnehmern befristete Ar-
beitsverträge ohne zeitliche Begrenzung und wiederholt
abgeschlossen werden können, wurde vom 60. auf das
58. Lebensjahr gesenkt, unter gewissen Voraussetzungen
sogar auf das 56. Lebensjahr des Arbeitnehmers.
Zweitens. Die von ihnen geforderte Erweiterung der
sachgrundlosen Befristung für Existenzgründer ist nicht
notwendig, weil nämlich in einem neu gegründeten Un-
ternehmen jede Einstellung eine Neueinstellung ist und so
Existenzgründer alle Arbeitnehmer zunächst bis zu zwei
Jahren ohne Sachgrund befristet einstellen können. Auch
hier stellt sich wieder heraus: Sie haben unsere Gesetze
abgelehnt, ohne die Inhalte gekannt zu haben. Das ist Op-
position um jeden Preis.
Zum Anspruch auf Teilzeitarbeit. Sie behaupten, dies
gehe an den wirtschaftlichen Realitäten vorbei. Ich weiß
nicht, in welcher Realität Sie leben. Die Praxis zeigt, dass
in der Mehrzahl der Fälle Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Teilzeit vereinbaren, wenn der Arbeitnehmer eine Redu-
zierung der Arbeitszeit wünscht. Dabei muss der Wunsch
des Arbeitnehmers in das Organisationskonzept des Ar-
beitgebers passen. Ansonsten kann dieser den Teilzeitan-
spruch ablehnen. Dass dies fast immer unproblematisch
ist, beweist die DIHK-Studie, in der dargestellt wird, dass
in der überwiegenden Mehrheit der Fälle – 70 Prozent der
befragten Unternehmen – den Wünschen der Beschäftig-
ten auf Teilzeitarbeit problemlos zugestimmt wurde. Le-
diglich in 9 Prozent aller Unternehmen erwägen Mitar-
beiter, deren Teilzeitantrag abgelehnt wurde, eine Klage
beim Arbeitsgericht.
Es gäbe noch eine Menge zu sagen, aber dafür reicht
die Zeit nicht.
Festzuhalten ist jedoch: Wir wollen die Gleichrangig-
keit von Human- und Finanzkapital in den Betrieben. Dazu
sind gewisse Voraussetzungen notwendig. Ein Rückfall in
die Zeit, als Arbeitnehmer dankbar zu sein hatten, arbeiten
zu dürfen, egal unter welchen Bedingungen, ist mit uns
nicht machbar. Deshalb wissen auch die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in dieser Republik, was unsere Vor-
stellungen von denen der Opposition trennt. Darauf sind
wir stolz und darauf bauen wir auf.
Anette Kramme (SPD):Mit diesem Entschließungsan-
trag haben Sie, meine Damen und Herren der Union,
einen Griff in ihre Klamottenkiste getan. Gebetsmühlen-
hafte Wiederholungen tragen aber nicht zu einer inhaltli-
chen Verbesserung Ihrer Politik bei. Bereits in der Ära Kohl
sind Sie mit ihrem Ansatz des ständigen Abbaus sozialer
Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Mittel
zum Abbau von Arbeitslosigkeit gescheitert. Sie haben
durch diese Politik eine schwere Erblast begründet, nämlich
eine Rekordarbeitslosigkeit. Darf ich erinnern? 1997 lag die
durchschnittliche Zahl von Arbeitslosen bei 4,38 Millionen
und 1998 immerhin noch bei 4,28 Millionen.
Meine Damen und Herren der Union, Sie sollten mehr
auf Expertenstimmen hören. Namhafte Ökonomen kom-
men in ihren Analysen zu dem Ergebnis, dass arbeits-
rechtliche Schutzbestimmungen als Ursache für hohe Ar-
beitslosigkeit empirisch nicht nachzuweisen sind.
Die Studie des ISG aus dem Jahr 1997, interessanter-
weise in Ihrer Ära durch das Bundesministerium für Wirt-
schaft in Auftrag gegeben, kommt zu folgendem Ergebnis:
Die festgestellten Veränderungen in Hinblick auf die
Schwellenwertänderung im Kündigungsschutzgesetz „be-
wegen sich ... im Wesentlichen im Rahmen der ohnehin
ablaufenden beschäftigungspolitischen Prozesse. Die Wir-
kungen der Anhebung des Schwellenwerts auf die Be-
schäftigungspolitik sind somit sehr gering“.
Der OECD – Beschäftigungsausblick aus dem Jahr
1999 resümiert in Hinblick auf seine Untersuchung von
27 Ländern:
„Wie schon bei früheren Untersuchungen festgestellt
wurde, scheint – wenn überhaupt – nur eine schwa-
che Verbindung zwischen Beschäftigungsschutz-Ri-
gidität und Gesamtarbeitslosigkeit zu bestehen.“
Meine Damen und Herren der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion, Ihr Politikansatz ist sachlich grundlegend falsch.
Ich möchte Sie aber auch loben. Anders als Ihr Kanzler-
kandidat Stoiber agieren Sie nicht als Wölfe im Schafspelz.
Sie sagen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Men-
schen wenigstens offen, was Sie wollen: den Ausbau prekä-
rer Beschäftigungsverhältnisse, den Aufbau von zusätzli-
chen Hemmnissen bei der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie und die Unverbindlichkeit von Tarifverträgen.
Die Inhalte ihrer Politik sind nicht unsere Politik. Wir
als SPD sind mit dem Ziel angetreten, wieder Recht und
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Wir wollen
nicht, dass die Menschen mit Angst und Sorge zur Arbeit
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gehen, sondern als Menschen mit Persönlichkeit und
Würde geachtet werden.
Wir haben deshalb den schlimmsten Missbrauch bei
den befristeten Arbeitsverhältnissen abgeschafft. Wir
wollen nicht, dass Menschen über Jahre immer wieder
sachgrundlos in befristeten Arbeitsverhältnissen beschäf-
tigt werden; denn nur wer einen gewissen Kündigungs-
schutz hat, kann frei und sorglos agieren und auch das eine
oder andere Mal seine Meinung äußern und seine Rechte
durchsetzen.
Die von Ihnen für die befristeten Arbeitsverhältnisse
genannten Zahlen bedürften im Übrigen der Interpreta-
tion. Sie sind nämlich letztlich ohne Aussagekraft. Wenn
50 Prozent der Unternehmen angeben, dass sie Arbeit-
nehmer nicht mehr sachgrundlos einstellen konnten, dann
sagt das überhaupt nichts über die Anzahl der Fälle und
nichts darüber, ob nicht eine Befristung mit Sachgrund
möglich war. Nach der Umfrage des DIHK von Novem-
ber 2001 hätten in Handels- und Dienstleistungsunterneh-
men 76 Prozent aller Befristungen auf Sachgründe ge-
stützt werden können.
Wir – als SPD – berücksichtigen die Lebenskonstella-
tionen gerade von vielen jungen Frauen: Berufsausbil-
dung erfolgreich abgeschlossen; Annahme einer Vollzeit-
tätigkeit; schwanger; 3 Jahre Kinderpause; Wunsch nach
Wiederaufnahme der Arbeit; dabei Schwierigkeiten bei
der Organisation der Kinderbetreuung; Arbeitgeber geht
nicht auf den Wunsch auf Arbeitszeitreduzierung ein,
dann die Eigenkündigung; nach einiger Zeit unter Um-
ständen Hinnahme eines beruflichen Abstiegs bei der Su-
che nach einer neuen Tätigkeit, die mit den familiären An-
forderungen übereinstimmt. – Das ist etwas, was wir nicht
wollen. Deshalb haben wir das Teilzeitgesetz in dieser
Form geschaffen.
Im Übrigen werden nach der von Ihnen angeführten
Untersuchung des DIHK nur unterproportional Teilzeit-
anträge in kleineren und mittleren Betriebe gestellt, bei
denen die organisatorischen Schwierigkeiten sicherlich
größer sind als bei Großbetrieben. Nur 10 bis 20 Prozent
dieser Unternehmen geben an, bereits Anträge auf Redu-
zierung der Teilzeit erhalten zu haben. Mitarbeiter wissen
auch, was sie ihren Betrieben zumuten können und was
nicht. Deshalb stimmen 70 Prozent der befragten Unter-
nehmen nach der von Ihnen zitierten Studie des DIHK
dem Teilzeitantrag auch unproblematisch zu.
Unser Gesetz nimmt eine ausgewogene Interessenab-
wägung zwischen den Belangen der Arbeitnehmer und
denen der Betriebe vor. Wir haben das Betriebsverfas-
sungsgesetz den heutigen Gegebenheiten angepasst und
den Betriebsräten und Betriebsrätinnen neue und hervor-
ragende Arbeitsmöglichkeiten gegeben.
Es war richtig, die Zahl der freizustellenden und zu
wählenden Betriebsratsmitglieder auszudehnen, denn die
Anforderungen an die Gremien sind in den letzten Jahren
durch technische Neuentwicklungen und ständige Um-
strukturierungen ständig angestiegen.
Es war auch richtig, den Betriebsräten mehr Mitbe-
stimmungsrechte gerade im Bereich der Qualifizierung
einzuräumen, denn dies betrifft essentielle Zukunftschan-
cen der Belegschaft, aber letztlich auch der Betriebe.
Das Gesetz ist aber nicht nur ein Gesetz für die Be-
triebsrätinnen und für die Betriebsräte, es ist nicht nur ein
Gesetz für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Es
ist auch Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft. Mo-
derne Unternehmensstrategie ist es, betriebliche Hierar-
chien abzubauen. Genau dies tun wir. Wir sollten auch
nicht außer Acht lassen, dass gerade die Betriebsverfas-
sung wesentlicher Faktor für die Schaffung des sozialen
Friedens in der Bundesrepublik war und ist. Sie ist die Er-
gänzung zur Streitkultur der Tarifvertragsparteien.
Wie sich mit Ihrem Antrag aber feststellen lässt, wol-
len Sie nicht mehr die Streitkultur der Tarifvertragspar-
teien. Sie sind vom Konsens der sozialen Marktwirtschaft
abgerückt. Sie wollen Gewerkschaften auf eine Instanz
der unverbindlichen Meinungsäußerung degradieren.
Sie wollen mehr Entscheidungen auf die Ebene der Be-
triebsräte verlagern. Das hört sich gut an. Das ist es aber
nicht. Jeder Betriebsrat wird vor dem Hintergrund ange-
drohter Kündigungen jeglichen Arbeitsbedingungen vor
Ort zustimmen. Das Erpressungspotenzial vor Ort ist ein
anderes, als wenn mit den Gewerkschaften selber zu ver-
handeln ist. Wenn es Ihnen tatsächlich darum gehen
würde, die Situation von Betrieben in kritischen wirt-
schaftlichen Situationen aufzugreifen, dann würden Sie
auf die in der tagtäglichen Praxis immer wieder abge-
schlossenen Sanierungstarifverträge verweisen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Union, Ihr
Antrag ist unsäglich. Das ist kein Weg für die Zukunft.
Die Aufrechterhaltung und der Ausbau einer leistungs-
fähigen deutschen Wirtschaft ist nur gemeinsam mit so-
zial gesicherten und motivierten Arbeitnehmern und Ar-
beitnehmerinnen möglich.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):Mit dem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zur Flexibilisierung des Ar-
beitsrechts sprechen wir einen Teilbereich der Beschäf-
tigungspolitik an, bei dem dringend Korrekturen der
bisherigen Regierungspolitik und weitergehende Verbes-
serungen notwendig sind. Bei der nach wie vor drama-
tischen Arbeitsmarktsituation ist politisches Handeln an
jeder denkbaren Stellschraube geboten.
Bei über 4 Millionen Arbeitslosen zu Beginn des Jah-
res 2002 gibt es kein Herumreden: Deutschland hat ein
Dauerproblem Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenzahlen
steigen saisonbereinigt seit 15 Monaten. Der jetzige Bun-
deskanzler Schröder hat sein Versprechen nicht erreicht:
Deutschland wird 2002 nicht bei den versprochenen
3,5 Millionen Arbeitslosen landen, die Zahl – regierungs-
amtlich festgestellt – wird in diesem Jahr bei fast 4 Mil-
lionen Arbeitslosen liegen. Das ist eine Bankrotterklärung
der Bundesregierung.
Noch schlimmer: Statt der Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit findet jetzt ein Kampf gegen die Zahlen und die
Statistik statt. All das hilft nichts. Jeder hat begriffen, auch
nach dreieinhalb Jahren Rot-Grün bleibt das Problem der
Arbeitslosigkeit Dauerthema.
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(C)
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Warum gibt es aber keine Lösung? Die Antwort ist
ganz einfach: Die Regierung Schröder hat die Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit nicht wirklich zur zentralen Auf-
gabe ihrer Politik gemacht. Schröder und Riester haben
sich auf den demographischen Effekt verlassen, dass jähr-
lich circa 200 000 ältere Arbeitnehmer mehr aus dem Ar-
beitsleben ausscheiden, als junge Menschen in den Ar-
beitsmarkt eintreten.
Schröder und Riester haben sich auf die Auswirkungen
des Wirtschaftswachstums der USA auf den deutschen
Arbeitsmarkt verlassen. Das ist passive Abhängigkeits-
politik, kein aktives nationales Handeln der Regierung.
Nur durch eine Kombination verschiedener Maßnah-
men lässt sich das Problem der Arbeitslosigkeit wirklich in
den Griff bekommen. Eine der wichtigsten Stellschrauben
ist dabei das Arbeitsrecht. Hat Rot-Grün hier die Chancen
zu einem wirklichen Wandel genutzt? Nein. Schröder und
Riester haben in den letzten dreieinhalb Jahren – statt mehr
Bewegung auf den Arbeitsmarkt zu bringen – nationale
Hürden durch die rot-grüne Gesetzgebung aufgebaut. Statt
die Politik der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes fortzu-
setzen, hat Rot-Grün Reformschritte der Vorgängerregie-
rung rückgängig gemacht und mehr Bürokratie und mehr
Regulierungen eingeführt: zum Beispiel bei 630-DM-
Jobs, mit den Scheinselbstständigkeitsregelungen, mit
dem uneingeschränkten Recht auf Teilzeitarbeit, mit dem
Betriebsverfassungsgesetz. Die Union fordert, die von
Rot-Grün vorgenommene Einschränkung bei den Mög-
lichkeiten des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge
zurückzunehmen. Denn die Einschränkungen haben sich
negativ auf die Einstellungsbereitschaft der Wirtschaft
ausgewirkt.
Weiterhin sollte nach Ansicht der Union der nahezu
voraussetzungslose Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung
wieder rückgängig gemacht werden. Die jetzige Regelung
geht an den betrieblichen Realitäten insbesondere der mit-
telständischen Unternehmen vorbei und hat konsequen-
terweise negative Effekte auf die Einstellung von solchen
Bewerbern, bei denen Arbeitgeber die Umsetzung des
Teilzeitanspruchs vermuten. Sie verhindert insbesondere
die Einstellung von Frauen.
Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes hat nicht
dazu geführt, dass Arbeitsplätze in Deutschland gesichert
oder gar neu geschaffen werden. Mit der Absenkung der
Schwellenwerte bei der Zahl der Betriebsratsmitglieder
und der Freistellungen ist die Wirtschaft mit zusätzlichen
Kosten in Milliardenhöhe belastet worden. Aus diesem
Grund sieht die Union dringenden Korrekturbedarf auch
in diesem Bereich.
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion fordert weiter ge-
hende Flexibilisierungen des Arbeitsrechts, zu denen der
Schröder-Regierung der Mut fehlte. Für die Union bleibt
die Tarifautonomie ein unverzichtbares Element der sozia-
len Marktwirtschaft. Auf dieser Basis gilt es, das Arbeits-,
Tarif- und Sozialrecht weiterzuentwickeln. Ziel muss es
sein, dezentrale Lösungen zu ermöglichen, die auf Be-
schäftigung gerichtet sind. Die Union fordert in ihrem An-
trag weiterhin, den Spielraum für betriebliche Bündnisse
für Arbeit zu erweitern, indem das geltende Tarifvertrags-
gesetz weiter flexibilisiert wird. Wir halten am Prinzip des
Flächentarifvertrages fest, möchten aber betriebsnähere
Vereinbarungen eröffnen, als derzeit möglich sind.
Das Instrument der Zeitarbeit sollte stärker als bisher
zu einer Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und regulärer
Beschäftigung ausgebaut werden. In diesem Bereich hat
die Union eine Gesetzesinitiative gestartet, die von Rot-
Grün abgelehnt worden ist. Das Instrument der Ar-
beitnehmerüberlassung muss weiter ausgebaut werden.
Deshalb ist die Höchstdauer der Überlassung eines Leih-
arbeitnehmers an denselben Entleiher auf 36 Monate zu
erhöhen, das Synchronisationsverbot aufzuheben und der
Verleiher hinsichtlich der Befristungsmöglichkeiten mit
allen anderen Arbeitgebern gleichzustellen.
Befristete Arbeitsverhältnisse haben sich für viele Ar-
beitnehmer als Einstieg ins Berufsleben und als Chance
auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bewährt. Die Be-
fürchtung, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse durch be-
fristete verdrängt werden, hat sich nicht bestätigt. Die
Union fordert, die Möglichkeit des Abschlusses „befris-
teter Arbeitsverhältnisse ohne Sachgrund“ auszudehnen.
Damit hätten wir ein Instrument, das insbesondere Exis-
tenzgründern bei schwer abschätzbaren Neueinstellungen
von Personal helfen könnte. Gleichzeitig wären unbe-
schränkt befristete Arbeitsverhältnisse für ältere Arbeit-
nehmer eine Chance, besser in den ersten Arbeitsmarkt
eingegliedert zu werden.
Unser Antrag zur Flexibilisierung des Arbeitsrechts hat
insgesamt zum Ziel, Beschäftigungshürden abzubauen
und Unternehmergeist zu fördern. Nur dann kann es ge-
lingen, den Arbeitsmarkt zu beleben.
Heinz Schemken (CDU/CSU): „Die Situation am
deutschen Arbeitsmarkt hat sich im Laufe des letzten Jah-
res deutlich eingetrübt und ein weiterer Anstieg der Ar-
beitslosenzahlen bis zum Frühjahr 2002 scheint unaus-
weichlich“, so die Feststellung der Bertelsmann-Stiftung
in einer Studie vom Februar 2002. Wir haben im Monat
März rund 160 000 Arbeitslose mehr als vor einem Jahr.
Hinzu kommt die alarmierende Zahl von 130 000, die wir
weniger an Beschäftigten haben. Des Kanzlers Wort von
Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist deshalb gleich zwei-
mal gebrochen.
Schuld ist die verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Ar-
beitsmarktpolitik von Rot-Grün. Äußerungen des Bun-
deskanzlers auf einen unmittelbar bevorstehenden Auf-
schwung sind reiner Zweckoptimismus; denn das ständig
nach unten korrigierte Wirtschaftswachstum in 2001 setzt
sich auch in einer nie dagewesenen Insolvenzwelle fort
und damit im Verlust von Arbeitsplätzen.
Die Bundesregierung hat auf dem Gebiet der beschäf-
tigungsorientierten Flexibilisierung im Arbeitsmarkt völ-
lig versagt und kann deshalb auch mit den Erfolgen ver-
gleichbarer Länder in Europa nicht mithalten. Kleine und
mittlere Betriebe wurden mit einem nicht mehr durch-
schaubaren Geflecht aus Vorschriften, Verordnungen und
Gesetzen überzogen. Beispiele sind das 630-DM-Gesetz,
das Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit,
der Rechtsanspruch auf Teilzeit. Höhere Steuern und Ab-
gaben tun ihr Übriges.
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Insgesamt wurde durch das Teilzeit- und Befristungsge-
setz der betriebliche Spielraum für Personalentscheidungen
weiter eingeengt, Verfahrensabläufe weiter bürokratisiert
und zusätzliche Rechtsunsicherheit für die Beschäftigten
und Betriebe geschaffen. Durch die Reform des Betriebs-
verfassungsgesetzes wurden den Betrieben zusätzliche
Kosten in Milliardenhöhe aufgebürdet und deshalb konn-
ten Arbeitsplätze in Deutschland nicht gesichert und erst
recht nicht geschaffen werden.
Ausgehend von dem Bekenntnis zur Tarifautonomie als
unverzichtbares Element der sozialen Marktwirtschaft ist
das Arbeits-, Tarif- und Sozialrecht weiterzuentwickeln.
Der Flächentarifvertrag hat sich in seiner befrieden-
den Wirkung bewährt; deshalb muss an ihm festgehalten
werden.
Die praktischen Erfahrungen zeigen aber, dass das gel-
tende Tarifvertragsgesetz zu wenig flexibel ist, um Arbeits-
plätze zu schaffen und zu sichern. Notwendig ist eine tarif-
rechtliche Flankierung, um den Spielraum für betriebliche
Bündnisse für Arbeit zu erweitern.
Mit dem zum 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gesetz
zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wurde
eine nur unzureichende Lockerung des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes vorgenommen. Die Regelung zeigt ge-
rade, dass weiter gehende Handlungsräume erforderlich
sind, um die wirksame Brücke zwischen Arbeitslosigkeit
und regulärer Beschäftigung auszubauen. Gerade Exis-
tenzgründer leiden darunter, kaum abschätzen zu können,
welcher mittel- bzw. langfristige Personalbedarf besteht,
und entscheiden sich vor diesem Hintergrund vielfach ge-
gen Neueinstellungen.
Um auch älteren Arbeitssuchenden wieder bessere
Chancen auf Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu
geben, sollen ältere Arbeitnehmer das Recht erhalten, un-
beschränkt befristetete Arbeitsverhältnisse einzugehen.
Dies ist besser als der Vorschlag der Regierung, „Ältere“
auszugliedern.
In Deutschland wirken sich vor allem im Einstiegslohn-
bereich die hohen Sozialabgaben besonders negativ aus. Es
bleibt einfach zu wenig im Geldbeutel. Der Abstand zwi-
schen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
zu kleineren Einkommen ist so gering, dass viele die Auf-
nahme einer Arbeit als unattraktiv ansehen oder in
Schwarzarbeit abwandern. Der Anteil der Schwarzarbeit
am Brutto-Inlandsprodukt beträgt inzwischen 16,5 Prozent.
An einem Arbeitsmarkt, der Schwarzarbeit in diesem Aus-
maß als Ventil benötigt, stimmt etwas nicht. So hat uns der
Bundesinnungsverband des Gebäudereinigungshandwerks
gestern ein Teilzeitaktivierungsmodell vorgestellt, das ver-
dient hat, sich damit zu befassen. Dies kommt dem „Drei
Säulen“-Modell von CDU/CSU nahe. Wir würden damit
eine weitere Blockade für die Teilzeitarbeit aufheben und
könnten damit im Dienstleistungsbereich über die Gebäu-
dereinigung hinaus in der Saisonarbeit und weiteren einfa-
chen Tätigkeiten bis hin zu Nebenverdiensten wie zum Bei-
spiel der Zeitungszustellung einen Dienst erweisen. Gehen
Sie deshalb im Interesse der Arbeitslosen auf unseren An-
trag ein und lassen Sie uns über weitere Wege der Beschäf-
tigung sprechen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes
(VerblG),
– Entwurf eines Gesetzes zurNeuorganisation des ge-
sundheitlichen Verbraucherschutzes und der Le-
bensmittelsicherheit,
– Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der
Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf
dem Gebiet des ökologischen Landbaus (Öko-
Landbaugesetz – ÖLG),
– Antrag: Obstbauern vor dem Ruin retten – Plan-
tomycin für Notfallmaßnahmen zu lassen,
– Antrag: Pflanzenschutzpolitik neu ausrichten, ein-
heimische Produzenten unterstützen und Verbrau-
cher schützen,
– Antrag: Verbraucherinformationsgesetz effektiv
gestalten
(Tagesordnungspunkt 9 a bis e, Zusatztagesordnungs-
punkt 8)
Heidemarie Wright (SPD): Eine breite Palette ver-
braucher- und landwirtschaftspolitischer Themen steht
zur Debatte und zur ersten Lesung an: Themen, die wir
vorbereitet und bereits miteinander diskutiert haben und
die jetzt in den parlamentarischen Reigen gehen. Nach der
ersten Lesung werden wir uns noch in Anhörungen mit
den einzelnen Gesetzen auseinander setzen.
Heute, mit der ersten Lesung, machen wir deutlich: Wir
wollen und brauchen ein Verbraucherinformationsgesetz,
wir wollen und brauchen ein Gesetz zur Neuorganisation
des gesundheitlichen Verbraucherschutzes und der Le-
bensmittelsicherheit und wir wollen und brauchen ein Ge-
setz zur Durchführung der EG-Öko-Verordnung.
Zum Verbraucherinformationsgesetz: Hier hätte ich
mir gewünscht, dass wir schon weiter wären und dass wir
auch tiefer hätten gehen können. Denn Verbraucherschutz
wird nicht nur durch ein Ressort in einem Ministerium ge-
währleistet, sondern ist eine Querschnittsaufgabe, der
sich immer noch viele, zu viele, entziehen. Der vorlie-
gende Entwurf sieht Informationsrechte der Verbraucher
gegenüber Behörden vor. Der Anspruch auf Informati-
onsrechte gegenüber Unternehmen war vorerst nicht zu
erreichen. Ich bedauere das, nehme jedoch auch den Spatz
in der Hand.
Wie notwendig das ist, will ich wieder mal am Beispiel
des Bayerischen Staatsministeriums für Verbraucher-
schutz beleuchten. Der allseits bekannte Minister Sinner
muss weitere Kontrollpannen bei den BSE-Tests einräu-
men, macht jedoch keinerlei weitere Angaben und be-
nennt insbesondere nicht die betroffenen Labors. Zum ei-
nen ist das schlechter Stil, zum anderen nimmt das alle
die, die ordentlich gearbeitet haben, in Mitverdacht. Vor
allem aber ist das der Beweis dafür, dass wir ein Verbrau-
cherinformationsgesetz brauchen. Dann sind auch bayeri-
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(A)
(B)
sche Behörden und das bayerische Verbraucherschutzmi-
nisterium zur Auskunft verpflichtet.
Das vorliegende Gesetz ist ein Einstieg in mehr Ver-
braucherinformation und es ist auf jeden Fall ausbaufähig.
Wenn nun auch Kollegen der Opposition Weitergehendes
fordern, so kann ich dies nur begrüßen. Ich kann Sie nur
bestärken: Machen Sie mit, machen Sie Stimmung für den
Verbraucherinformationsanspruch auch gegenüber Unter-
nehmen, aber tauchen Sie nicht ab ins europäische Nir-
wana!
Hier wie auch beim Gesetz zur Neuorganisation wer-
den wir über die Anhörung sicherlich noch Anregungen
bekommen, um dann zügig in die weiteren Beratungen zu
gehen.
Weiter sind wir schon beim Gesetz zur Durchführung
der EG-Öko-Verordnung. Der Gesetzesentwurf lag dem
Bundesrat bereits vor und es konnte grundsätzliche Über-
einstimmung erzielt werden.
Diesem Gesetz zur Durchführung der Rechtsakte der
EG auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus geht eine
lange Entwicklung voraus. Die Europäische Gemein-
schaft hat mit der Verordnung 2092/91, der EG-Öko-Ver-
ordnung, dem Ökolandbau eine Basis gegeben.
Diese Basis, wir wissen es, wurde in Deutschland lange
Jahre im Dornröschenschloss vergraben und nur ja nicht
das Dickicht darum entstrüppt. Verbraucher, Biobauern
und die Politik dieser Bundesregierung haben aber doch
diesen Bann gebrochen und den Ökolandbau auch in
Deutschland etabliert. Die nächste Ökosaat ist schon aus-
gesät, die Ökoprodukte werden flächendeckend im Land
angeboten. Mit dem heutigen Gesetz geht es nur um die
Kontrollverfahren, denen sich die ökologischen Betriebe
zu unterwerfen haben.
Die Kontrolle wird im Wesentlichen von Privaten
durchgeführt, also von den Verbänden, und deren Kon-
trolle wiederum durch die Behörden. Kontrolle ist gerade
im Bereich der Ökoproduktion von besonderer Bedeu-
tung. Jeder, der mit falscher Kennzeichnung Missbrauch
betreibt, muss wissen, dass es hier Strafvorschriften nach
§ 11 und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr gibt.
„Und sie bewegt sich doch“, die Pflanzenschutzpro-
blematik, die Lückenindikation. Über kaum ein anderes
Thema wurde im scheinbaren Interessenkonflikt zwi-
schen Pflanzenschutz und Verbraucherschutz, zwischen
Anbauer und Verbraucher so gerungen wie hier. Ich habe
es von dieser Stelle aus schon einmal gesagt: Im Bereich
des Pflanzenschutzes befinden wir uns in Europa und in
Deutschland – im Interesse der Umwelt und der Verbrau-
cher – in einer Phase des Umbruchs durch die Umsetzung
der europäischen Pflanzenschutzrichtlinie. Fakt ist: Zu
lange wähnte man sich nach dem Motto „Es wird schon
nicht so schlimm kommen“ auf der sicheren Seite.
Und richtig: Es kam auch nicht so schlimm. Deutsche
Obst- und Gemüsebauern haben in vielen Regionen vor-
bildliche Produktionsverfahren entwickelt und die BBA,
das UBAund die Politik haben Zug um Zug, und – das will
und muss ich leidgeprüft sagen – unter Ächzen und Stöh-
nen vieles bewirkt. Die 7. Rückstands-Höchstmengenver-
ordnung zum Beispiel ist mächtig forciert worden und
wird am 26. April abschließend im Plenum des Bundesra-
tes behandelt. Dann werden weitere circa 100 Lücken ge-
schlossen werden. Mehr als 500 Lücken wurden bereits
geschlossen. Fakt ist, ein Rest von je 30 Lücken im Obst-
und Gemüsebau bleibt vorerst.
Hierüber wird es weitere Gespräche zwischen der Mi-
nisterin und dem Zentralverband Gartenbau bereits in der
nächsten Woche geben.
Die spannende Frage ist: Was passiert mit Plantomy-
cin? Grundsätzlich gilt: Aus Gründen des vorsorgenden
Verbraucherschutzes haben Antibiotika in Lebensmitteln
nicht zu suchen, auch nicht aus Rückständen aus Pflan-
zenschutzmitteln. Allerdings ist festzustellen, dass zur
Bekämpfung des Feuerbrandes derzeit außer Plantomycin
kein vergleichbar wirksames Mittel zur Verfügung steht.
Deshalb hat die Ministerin auch richtigerweise in einem
Schreiben vom 26. März an die Amtschefs der Länder und
die BBA in Braunschweig mitgeteilt, dass die BBA be-
grenzt auf 2002 und 2003 in die Lage versetzt werden soll,
im Fall eines akuten Feuerbrandrisikos die Zulassung
zeitlich und räumlich begrenzt zu gewähren.
Leider klappt das so wohl nicht. Es ergeben sich neue
Schwierigkeiten. Deshalb wird die BBAvorerst in einigen
Versuchsgebieten die Anwendung von Plantomycin wei-
ter begleiten. Fakt ist: Wir sind weiter auf der Suche nach
der Lösung. Von Bund und Ländern, unter Mitwirkung
der betroffenen Verbände, ist ein integriertes Konzept
über Alternativen zum Einsatz von Antibiotika zur
Bekämpfung von Feuerbrand zu entwickeln.
Es ist jedoch nicht so, dass die Obstbauern in Deutsch-
land allein gelassen werden oder gar vor dem Ruin stün-
den. Ich konnte gerade aktuell für einen Obstbauern mei-
ner Region tätig sein, der sein Anbaugebiet erweitern
möchte.
Dennoch will ich nicht verharmlosen, dass Obstbauern
in unserer europäischen Nachbarschaft bislang nicht mit
einer engen Auslegung der Pflanzenschutzrichtlinie be-
lastet sind. Ich prognostiziere aber, dass vorbildliche deut-
sche integrierte Verfahren auf Dauer nicht zum Wettbe-
werbsnachteil, sondern zu einem Wettbewerbsvorteil
gereichen.
Alles in allem tut Eile gerade im Bereich Pflanzen-
schutz Not. Das Ministerium ist gehalten, unverzüglich
der 7. Rückstands-Höchstmengenverordnung über die
dann noch bestehende WTO-Hürde hinwegzuhelfen.
Denn allemal ist es sinnvoller, ein deutsches, besser noch
ein regionales Obst oder Gemüse zu essen als ein Produkt
der geringen Kontrolle und der längeren Wege.
Pünktlich zur 7. Verordnung bricht sich jetzt auch der
Frühling Bahn, die Vegetation ist in vollem Gange und un-
sere Obst- und Gemüsebauern haben alle Hände voll zu
tun. Wir wollen ihnen die Arbeit nicht erschweren.
Jella Teuchner (SPD): Vor einem Monat haben wir
schon einmal über das Verbraucherinformationsgesetz ge-
sprochen. Wir waren uns alle einig, dass eine verständli-
che und umfassende Information über die Qualität von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222918
(C)
(D)
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(B)
Produkten notwendig ist. Damals wurde – gerade von der
FDP – die Frage gestellt, ob dazu dieses Gesetz notwen-
dig sei. Vorgestern hat die Verbraucherzentrale Bundes-
verband eine Studie zum Auskunftsverhalten von Unter-
nehmen vorgestellt. Ergebnis der Studie: Dieses Gesetz ist
notwendig!
Es gibt keine Antworten auf kritische Nachfragen zur
Qualität von Produkten und zum Verhalten des Unterneh-
mens. Nach Angaben des Instituts für Markt-Umwelt-Ge-
sellschaft beantworten circa 70 Prozent der Unternehmen
solche Anfragen nicht. Die Studie der Verbraucherzen-
trale stützt diese Zahl:
Bekleidungshersteller waren oft nicht zu erreichen; oft
konnten sie keine Aussage zum Nickelgehalt von Jeans-
knöpfen machen. Das heißt: keine Informationen für
Allergiker.
Auch Lebensmittelhersteller reagierten zum Teil nicht
auf Anfragen, die Antworten waren oft unbefriedigend.
Das heißt: keine Informationen zur Tierhaltung.
Wird nach sozialen oder ethischen Kriterien bei der
Geldanlage gefragt, weichen die Unternehmen aus, ver-
weisen auf das Geschäftsgeheimnis oder antworten gar
nicht. Das heißt: keine Information für Anleger.
Wer angesichts solcher Ergebnisse die Informations-
politik der Unternehmen als Wirklichkeit werdende Vi-
sion bezeichnet, der ist kein Verbraucherschützer, der
schützt die Unternehmen vor dem Verbraucher.
Die vorgestern vorgelegten Zahlen zeigen: Ein Teil der
Unternehmen bietet richtige und verständliche Informa-
tionen. Das freut mich. Ein großer Teil informiert aller-
dings nicht; die Verbraucherinnen und Verbraucher haben
keinen Zugang zu den Informationen bei den Behörden,
und auch die Behörden durften nicht von sich aus infor-
mieren. Dies werden wir ändern.
Wir geben den Behörden eine neue Aufgabe, und wir
machen ihr Handeln öffentlich. In Zukunft dürfen die
Behörden Ross und Reiter nennen, die Verbraucher kön-
nen feststellen, was für Ergebnisse die Behörden vorlie-
gen haben. Dies gibt auch den Verbraucherverbänden und
den Medien neue Möglichkeiten an die Hand. Das ist kein
Placebo-Gesetz, das ist ein großer Schritt nach vorn.
Eine verständliche und umfassende Information über
die Qualität von Produkten ist notwendig. Darüber sind
wir uns alle einig. Das Verbraucherinformationsgesetz ist
ein erster großer Schritt, diese Information zu ermögli-
chen. Die Studie der Verbraucherzentrale fordert weitere
Schritte. Wir werden auch diese Schritte machen.
Machen Sie mit uns den ersten Schritt! Gehen Sie den
Weg mit, dann können wir den Informationsanspruch in
Zukunft noch ausweiten.
Albert Deß (CDU/CSU): Wenn man die Gesetzent-
würfe der rot-grünen Bundesregierung zum Verbraucher-
schutz betrachtet, die heute in erster Lesung beraten wer-
den, kann man eines feststellen: Die Bundesregierung
handelt in Torschlusspanik. Anders kann man sich die
Oberflächlichkeit der Gesetze nicht erklären. Nach den
vollmundigen Ankündigungen von Frau Künast sollen
schnell noch einige Gesetzentwürfe durch das Parlament
gedrängt werden, damit man im Hinblick auf den 22. Sep-
tember nicht mit leeren Händen dasteht.
Mit neuen Behörden soll Aktionismus vorgetäuscht
werden. Statt in einer Behörde eine Bündelung von Ver-
antwortung im Verbraucherschutz zu erreichen, spalten
Sie, Frau Künast, die Verantwortung in zwei Behörden.
Reibungsverluste im Informationsfluss sind doch hier
vorprogrammiert.
Nehmen Sie den Gesetzentwurf zur Neuorganisation
des gesundheitlichen Verbraucherschutzes zurück. Lassen
Sie uns in einem zeitgerechten parlamentarischen Verfah-
ren gemeinsam ein Gesetz gestalten, bei dem in einem
Bundesamt für Verbraucherschutz sowohl die Aufgabe
der Forschung und Risikobewertung als auch das Risi-
komanagement zusammengefasst sind. In einem solchen
Bundesamt für Verbraucherschutz kann die breite Palette
des Verbraucherschutzes wahrgenommen werden.
Kollege Ronsöhr hat in seiner Rede die Argumente
festgehalten, warum die CDU/CSU-Fraktion das Gesetz
zur Neuorganisation der Lebensmittelsicherheit in der
vorliegenden Fassung ablehnt. Die CDU/CSU lehnt aber
auch den unausgewogenen Gesetzesentwurf zum Ver-
braucherinformationsgesetz ab. Das Ziel, den Verbrau-
cher in seinen Rechten und in seiner Position zu stärken,
ist zwar zu begrüßen. Auch die Bündelung der Informati-
onsrechte in einem Verbraucherinformationsgesetz ist
dazu der richtige Weg. Der vorliegende Gesetzentwurf der
rot-grünen Bundesregierung ist jedoch unausgegoren und
praxisfremd.
Konkret müssten die bestehenden Gesetze harmoniert
werden. Eine aktive Verbraucherinformationspolitik
müsste gesetzlich verankert werden, die auch ordnungs-
rechtliche Ansätze enthält. In dem Gesetz ist nicht defi-
niert, welche Behörden konkret zuständig sind, über
welche verbraucherrelevanten Informationen Mittei-
lungspflicht besteht. Der vorliegende Gesetzentwurf
birgt für die auskunftspflichtigen Behörden ein erhebli-
ches Haftungsrisiko.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt einen nationalen Allein-
gang im Verbraucherinformationsbereich ab. Wird der
jetzige Gesetzentwurf umgesetzt, bedeutet das in einem
weiteren Bereich einen gespaltenen Rechtszustand für
Unternehmen in Deutschland und Unternehmen, die ihren
Sitz nicht in Deutschland haben. Dieses Gesetz kann wie-
der dazu führen, dass ausländische Unternehmen Wettbe-
werbsvorteile haben, weil die Behörden ihrer Heimatlän-
der nach deren Recht über die dortigen Unternehmen
keine Informationspflichten haben.
Statt in Brüssel eine europäische Regelung zu errei-
chen, schikaniert die rot-grüne Bundesregierung die Un-
ternehmen in Deutschland. Der in § 1 des Gesetzentwurfs
aufgeführte „Zweck des Gesetzes“ ist insgesamt zu allge-
mein gefasst und genügt nicht dem Bestimmtheitsgrund-
satz. Es wird nicht dargelegt, um welche Art von Infor-
mation und Dienstleistung es sich handeln soll. Und es ist
auch nicht klar, wie marktrelevante Sachverhalte definiert
werden sollen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22919
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(B)
Im Ergebnis ist es ein verfassungswidriger Gesetzent-
wurf. Es ist problematisch, dass die Länder und Kommu-
nen verpflichtet werden, Informationen an Verbraucher
herauszugeben, die möglicherweise Auslöser für erhebli-
che Schadenersatzforderungen sind.
An dieser Stelle verweise ich auf die ergangene Rechts-
sprechung im Zusammenhang mit der Warnung des Lan-
des Baden-Württemberg vor Nudeln aus Frisch-Erzeug-
nissen. Riesige Entschädigungssummen mussten damals
an das betroffene Unternehmen bezahlt werden. Wenn die
rot-grüne Mehrheit ein Gesetz beschließt, das Ländern und
Kommunen ein enormes Haftungsrisiko schafft, soll die
rot-grüne Mehrheit dieses Haftungsrisiko übernehmen.
Wie im Steuer- und Sozialbereich wollen Sie von der
rot-grünen Bundesregierung jetzt auch beim Verbraucher-
schutz ihre Pflichten den Kommunen einseitig aufbürden.
Sollte der jetzt vorliegende Entwurf Gesetz werden, fol-
gen mit Sicherheit eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten.
Dies scheint aber die Absicht der rot-grünen Bundesre-
gierung zu sein. Anders kann man sich die Liederlichkeit
des Gesetzentwurfes nicht erklären.
Man sollte das ganze Gesetz statt „Verbraucherinfor-
mationsgesetz“ in „Juristenbeschäftigungsgesetz“ umtau-
fen. Gerade weil so viel im Unklaren gelassen ist, wird
vieles erst endgültig geklärt sein, wenn durch alle Instan-
zen gestritten ist. Das kann nicht im Sinne von notwendi-
ger und sinnvoller Verbraucherinformation sein.
Unerträglich ist auch die Situation für viele Obst- und
Gemüsebauern durch die einseitige Benachteiligung bei der
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Frau Künast hat an-
scheinend noch nicht bemerkt, dass die Vegetation beginnt
und damit dringend Entscheidungen notwendig sind, die
unseren Obst- und Gemüsebauern Rechtssicherheit geben.
Es kann doch auf Dauer nicht sein, dass in einem gemein-
samen europäischen Markt die deutschen Bauern einseitig
von Rot-Grün schikaniert werden, Marktanteile verlieren
und mit zusehen müssen, wie ihre Existenzen vernichtet
werden. Mit Verbraucherschutz hat das Ganze nichts zu tun,
sonst müssten Importe von Obst und Gemüse aus Ländern
verboten werden, die nicht die in Deutschland geltenden
Vorschriften im Pflanzenschutz einhalten. Hier sieht man,
wie unglaubwürdig rot-grüne Verbraucherschutzpolitik ist.
Täuschen, tarnen, tricksen – das sind die Merkmale von
Frau Künast. Ich habe deshalb vollstes Verständnis für die
Äußerung eines SPD-Kollegen, dass weitere vier Jahre ei-
ner Ministerin Künast unerträglich sind.
Am 22. September haben die Wählerinnen und Wähler
die Möglichkeit, eine bessere Alternative auch im Interesse
eines ideologiefreien, sachgerechten Verbraucherschutzes
zu wählen. Die CDU/CSU ist die bessere Alternative.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Die Ein-
bringung der vorliegenden Gesetzentwürfe zum Verbrau-
cherschutz zum jetzigen Zeitpunkt zeigt, dass Sie, Frau
Ministerin Künast, viel Zeit ungenutzt haben verstreichen
lassen. Seit Ihrer Ernennung zur Ministerin unter anderem
für Verbraucherschutz haben Sie immer viel angekündigt,
in die Tat umgesetzt wurde nichts. Jetzt am Ende der Le-
gislaturperiode werden Sie wach und lassen hektischen
gesetzgeberischen Aktionismus erfolgen. Sie legen dem
Parlament nicht nur zwei völlig unausgegorene Gesetz-
entwürfe vor, wie dies auch die vielen Änderungsanträge
des Bundesrates zeigen, sondern lassen ihm auch keine
ausreichende Zeit zur Beratung. Es ist skandalös, wie
diese Gesetzentwürfe in kürzester Zeit durch das Parla-
ment gepeitscht werden sollen. Obwohl die beiden Ge-
setzentwürfe weitreichende Folgen für Verbraucher, Un-
ternehmen und Behörden haben, wird die Legislative
durch den von der Bundesregierung diktierten Zeitplan an
einem ordnungsgemäßen Beratungsverfahren weitgehend
gehindert.
Ich möchte die Akzente auf eine Analyse des Gesetz-
entwurfes zur Neuorganisation des gesundheitlichen Ver-
braucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit setzen.
Frau Ministerin Künast, Ihre Maßnahmen zur behördli-
chen Neuorganisation im nachgeordneten Bereich ihres
Ministeriums sind nicht akzeptabel und misslungen. Statt
Risikomanagement und Risikobewertung institutionell zu
trennen, sollte das neue Bundesamt für Verbraucherschutz
Aufgaben sowohl im Bereich der Erarbeitung und Koor-
dination wissenschaftlicher Standpunkte auf nationaler
Ebene und die Beratung der Bundesregierung wahrneh-
men als auch die Kompetenzen im Bereich des Risi-
komanagements erhalten, soweit nicht ohnehin Länder-
kompetenzen berührt sind. Gerade im Bereich des
Risikomanagements kommt es entscheidend auf schnelle
Reaktionsfähigkeit an.
Die institutionelle Trennung von Risikomanagement
und Risikobewertung bewirkt aber gerade nicht die Ver-
einfachung von Kommunikationswegen und Entschei-
dungsprozessen, sondern schafft lediglich ein neues,
schwerfälliges System, mit dem im Krisenfall nicht effi-
zient reagiert werden kann.
So soll laut Ihrem Gesetzentwurf das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit unter an-
derem die Erhebung von Daten und Erkenntnissen im Be-
reich der Lebens- und Futtermittel sowie des Pflanzen-
schutzes übernehmen. Diese sind aber wesentliche
Voraussetzung für die Arbeit der Risikobewertung und
-kommunikation. Hinzu kommt, dass das Bundesinstitut
für Risikobewertung seinen Sitz in einem Ort bekommen
soll, das Bundesamt für Verbraucherschutz jedoch an ei-
nem anderen Ort eingerichtet wird.
Es ist bereits durch diese Entscheidungen absehbar,
dass dadurch unnötige Barrieren für die schnelle Kom-
munikation der gegenseitigen Erkenntnisse der Ämter ge-
schaffen werden. Wir brauchen aber kurze Entschei-
dungswege, um Effizienz bei der Lebensmittelsicherheit
zu gewährleisten. Darüber hinaus ist im Gesetzentwurf
über die Errichtung des Bundesamtes in keiner Vorschrift
eine Verpflichtung des Bundesamtes zu ersehen, einen re-
gelmäßigen Informationsaustausch und eine Umsetzung
der Erkenntnisse des Bundesinstitutes vorzunehmen.
Auch dem Errichtungserlass ist nicht zu entnehmen, wel-
che der vier neuen Referate des Bundesamtes die Kom-
munikation mit dem Bundesinstitut übernehmen sollen.
Frau Ministerin Künast, Sie hätten aus den jüngsten
Skandalen um die Nichtweitergabe von Informationen in
ihrem Hause Konsequenzen ziehen sollen. Wenn schon
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die Informationswege zwischen Abteilungen einer einzi-
gen Behörde im Krisenfall versagen können, liegt es doch
auf der Hand, dass dieses Problem bei zwei getrennten
Behörden umso stärker auftreten wird – und dies bei ei-
nem so wichtigen Thema wie der Lebensmittelsicherheit.
Wieder einmal zeigt sich: Verbraucherschutz ist bei Ihnen,
Frau Ministerin Künast, nicht in den besten Händen!
Unabhängig von der unnötigen Trennung von Risi-
komanagement und Risikobewertung und der Schaffung
von zwei statt einer Behörde wird nicht ersichtlich, dass mit
dieser Neuorganisation die gesamte Bandbreite des Ver-
braucherschutzes im nachgeordneten Bereich abgedeckt
wird. Wenn Sie, Frau Ministerin Künast, Verbraucher-
schutz als Querschnittsaufgabe ernst nehmen, dann müssen
Sie dafür sorgen, dass dies auch so im nachgeordneten Be-
reich verankert wird. Als gelungenes Beispiel sollten Sie
sich einmal das Gesetz zur Errichtung des Umweltbundes-
amtes ansehen. Das Amt, was Sie jetzt neu errichten möch-
ten, ist weitgehend nur auf Risikomanagement im gesund-
heitlichen Verbraucherschutz beschränkt. Wir benötigen
aber ein Amt, welches beim Verbraucherschutz in die
Breite geht. Dieses neue Amt muss aus unserer Sicht eine
Sensor- und Aufklärungsfunktion für alle Belange des Ver-
brauchers haben. Wir brauchen keine Fortführung des bis-
herigen Schmalspurverbraucherschutzes à la Künast.
Besonders negativ wird sich im Falle einer Errichtung
der neuen Behörde und des Institutes dies auf die Zulas-
sung von Pflanzenschutz- und Tierarzneimitteln auswir-
ken. Das ganze Verfahren wird bürokratisch gestreckt.
Die Kompetenzen von Behörden, die wirklich Sachver-
stand haben, wie die BBA, werden nicht mehr genutzt, nur
weil Ministerin Künast meint, mehr Bürokratie bringe
mehr Verbraucherschutz. Dem kann ich nur widerspre-
chen. Unnötige Schnittstellen und Doppelarbeit sowie in-
effiziente Abstimmungsprozesse, wie im von-Wedel-Gut-
achten gefordert, werden augenfällig nicht vermieden,
sondern im Gegenteil sogar erst geschaffen. Das Gleiche
gilt für die Zulassung von Tierarzneimitteln. Eine Auftei-
lung der derzeit gut funktionierenden Tierarzneimittelzu-
lassung in zwei Behörden widerspricht grundsätzlich dem
Prinzip der Verwaltungseffizienz und dem politischen
Ziel eines schlanken Staates.
Die weitere Folge wird sein, dass international tätige
Unternehmen ihre Zulassungsanträge vermehrt direkt über
die europäische Behörde EMEA bzw. über andere EU-
Mitgliedstaaten stellen werden, um die Unwägbarkeiten
einer aufgesplitterten Zulassungsbehörde zu umgehen.
Frau Ministerin Künast, die Pflanzenschutz- und Tierarz-
neimittelunternehmen in Deutschland werden mit Sicher-
heit ihre Produktionsstandorte ins Ausland verlagern und
dies wird wieder viele Arbeitsplätze kosten. Des Weiteren
wird sich die Problematik bei der Zulassung von Pflan-
zenschutzmitteln, die wir bereits jetzt haben, für unsere
Bauern weiter verschlimmern. Auch zurzeit stehen drin-
gend benötigte Pflanzenschutzmittel nicht zur Verfügung.
Auch die Begründung, dass Kompetenzen und der Auf-
gabenbereich der Europäischen Lebensmittelbehörde na-
tional gespiegelt werden sollten, geht meines Erachtens ins
Leere. Die nationale Spiegelbehörde soll das Bundesinsti-
tut für Risikobewertung sein. Faktisch sind die übertra-
genen Aufgaben jedoch nicht deckungsgleich. So ist der
europäischen Lebensmittelbehörde auch die Aufgabe zur
Datenerhebung, der Betrieb des Schnellwarnsystems für
Lebens- und Futtermittel sowie die Koordinierung der Ri-
sikokommunikation zwischen Mitgliedstaaten und EU-
Kommission übertragen. Dies sind jedoch Aufgaben des
Risikomanagements und werden nach dem Konzept der
Bundesregierung dem neuen Bundesamt zugewiesen und
nicht der eigentlichen Spiegelbehörde.
Ohnehin sind die Aufgabenbereiche auf EU-Ebene so-
wie die dortigen Strukturen nicht eins zu eins auf die na-
tionale Ebene übertragbar. Statt künstlich eine – tatsäch-
lich nicht erreichbare – derartige „genaue Spiegelung“ zu
versuchen, sollte das oberste Leitbild lieber die Effizienz
der Kommunikation und der Entscheidungswege sein. Die
Begründung der Neuorganisation der nachgeordneten
Bundesbehörden des Verbraucherschutzes beruht letztlich
offensichtlich nicht auf sachlichen Erwägungsgründen.
Der Verdacht liegt nahe, dass die Entscheidung in der jet-
zigen Form eher aus Gründen des politischen Aktionismus
erfolgt. Die strukturelle Trennung zwischen den beiden
Aufgabenbereichen Risikomanagement und Risikobewer-
tung und -kommunikation ist daher abzulehnen.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir,
wie auch der Bundesrat, das Gesetz als zustimmungs-
pflichtig sehen.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CDU
und FDPhaben die Verbraucherpolitik jahrzehntelang wie
ein Mauerblümchen behandelt. Erst mit der Einrichtung
des Verbraucherministeriums Anfang letzten Jahres konn-
ten wir die Verbraucherpolitik vom Kopf auf die Füße
stellen. Renate Künast stellt endlich die Verbraucher in
den Mittelpunkt der Politik.
Nach jahrzehntelanger Stagnation haben wir innerhalb
eines Jahres die Konsequenzen aus Lebensmittelskanda-
len und BSE gezogen und den gesundheitlichen Verbrau-
cherschutz so neu organisiert, dass endlich der Verbrau-
cher wirkungsvoll geschützt wird.
Heute bringen wir die gesetzliche Grundlage für eine
umfassende Neuorganisation des staatlichen gesundheit-
lichen Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicher-
heit ein: Risikomanagement einerseits sowie Risikobe-
wertung und -kommunikation auf der anderen Seite sind
jetzt klar institutionell getrennt, wie das auf EU-Ebene
auch der Fall ist.
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmit-
telsicherheit ist künftig zuständig für Risikomanagement
und Krisenmanagement und es ist Zulassungsstelle. Das
Bundesinstitut für Risikobewertung ist die wissenschaft-
liche Stelle für Erkennen und Bewerten von Risiken, Er-
arbeitung von Handlungsoptionen, Öffentlichkeitsarbeit
und Information an Verbraucher und Forschung.
Mit diesser Grundlage kann dann den bayerischen
BSE-Test-Skandalen oder den Problemen der Futtermittel-
kontrolle entgegengewirkt werden.
Aber Verbraucherpolitik für mündige Verbraucher ist
mehr ist als reiner Verbraucherschutz. Dazu gehören mehr
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Information und Transparenz, damit der Verbraucher als
gleichberechtigter Marktteilnehmer agieren kann.
Heute bringen wir deshalb ein zentrales Projekt der
neunen Verbraucherpolitik ein: das Verbraucherinforma-
tionsgesetz. Der jetzt vorliegende Entwurf ist der Ein-
stieg in umfassende Rechte der Verbraucher auf vollstän-
dige Information, mithin die Voraussetzung für die
Verbraucher, sich informiert am Markt entscheiden zu
können.
Die Informationsrechte sollen sich zunächst auf den
Lebensmittel- und Bedarfsgegenständebereich beziehen.
Dazu gehört vom Babyschnuller und Teddybär über Toas-
ter und Fahrradsättel fast alles, was wir im täglichen Le-
ben nutzen. Perspektivisch soll das Recht der Verbraucher
auch auf Informationen über Produkte und Dienstleistun-
gen ausgeweitet werden.
Das Gesetz setzt an zwei entscheidenden Punkten an:
Erstens. Verbraucherinnen und Verbraucher sollen Zu-
gang zu den Informationen erhalten, die bei Behörden
vorhanden sind und sich auf Verbraucherinteressen bezie-
hen. Zweitens. Behörden sollen das Recht erhalten, die
Verbraucher über marktrelevante Vorkommnisse unter
Nennung des Produktherstellers und der Produkte aktiv
zu unterrichten.
Wir werden im parlamentarischen Verfahren ausloten,
wie unser Anliegen, auch Auskunftspflichten für die Wirt-
schaft zu verankern, zu integrieren ist. Das wird auch aus
dem Bundesrat unterstützt. Wir sind gespannt, wie sich
dort die CDU-Länder und Bayern verhalten. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat mit ihrem Ent-
schließungsantrag wieder einmal bewiesen, dass sie keine
effektive Verbraucherinformation will. Die vielen gut ar-
beitenden Unternehmen gewinnen mit dem Verbraucher-
informationsgesetz den Wettbewerb.
Marita Sehn (FDP): Seit etwa einer Woche ist er nun
in Kraft, der öffentliche Aufruf zum zivilen Ungehorsam
des agrarpolitischen Sprechers der SPD, Matthias
Weisheit. Denn entgegen seiner vollmundigen Ankündi-
gungen lässt die Bundesregierung die Obstbauern weiter-
hin im Stich. Während im Süden demnächst eine Obst-
plantage nach der anderen den Kettensägen zum Opfer
fällt und in Flammen aufgeht, schaut die Bundesregierung
weiterhin tatenlos zu.
Die Aufforderung zum zivilen Ungehorsam ist der po-
litische Offenbarungseid der rot-grünen Koalition. Selber
nichts zustande bringen und dann die Bauern zum zivilen
Ungehorsam gegen die eigene Regierung auffordern, ist
mittlerweile die traurige Realität der rot-grünen Agrar-
wende.
Natürlich sind Herrn Weisheit zufolge nur die bösen
Grünen Schuld an der Misere. Aber die SPD kann nicht
in der Bundesregierung die Landwirtschaft zum Bauern-
opfer für die Grünen machen und sich dann aus der po-
litischen Verantwortung stehlen. Auch wenn Sie, meine
Damen und Herren von der SPD, das Verbraucher-
schutzressort wieder für sich fordern: Sie haben das
Kind nicht nur in den Brunnen fallen lassen, Sie haben
es regelrecht hineingeworfen. Die Bauern werden Ihnen
das nicht vergessen: Die Agrarwende ist ebenso grün wie
rot. Was ist das für eine Koalition, in der der kleinere
Partner das Porzellan zerdeppert und der Größere taten-
los zuschaut und jammert. Übt der Bundeskanzler seine
Richtlinienkompetenz eigentlich auch noch in Bezug auf
andere Themen als seine Haarfarbe aus?
Die FDP hat frühzeitig die Wiederzulassung von Plan-
tomycin gefordert und einen entsprechenden Antrag ge-
stellt. Anstatt die Landwirte zu illegalen Handlungen auf-
zufordern, stimmen Sie einfach unserem Antrag zu, Herr
Weisheit. Das ist vollkommen legal und sachdienlicher
obendrein! Das hilflose Agieren der Bundesregierung im
Falle von Plantomycin ist ein eindeutiger Beleg dafür,
dass es hier um Ideologie und längst nicht mehr um die
Sache geht.
Mit unserem Antrag „Pflanzenschutzpolitik neu aus-
richten“ erteilen wir der ideologiegesteuerten Politik der
Bundesregierung eine Absage. Wir haben die zentralen
Forderungen der deutschen Landwirte, Obst- und Gemü-
sebauern aufgegriffen und setzen uns für praxistaugliche
Regelungen im Pflanzenschutz ein. Machen Sie sich nicht
der „unterlassenen Hilfeleistung“, wie Herr Weisheit das
bezeichnet, schuldig und stimmen Sie diesem Antrag zu.
Denn es reicht nicht, nur „regional ist erste Wahl“ zu tö-
nen, man muss auch etwas dafür tun. Mit ihrer derzeitigen
Politik des Zauderns, Wegschauens und Vertröstens set-
zen sie mutwillig Existenzen aufs Spiel.
Machen Sie eine gescheite Agrarpolitik, meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren von Rot-Grün, dann müssen
Sie die Landwirte nicht zum zivilen Ungehorsam gegen
sich selbst auffordern.
Ihre ganze Politik zeigt doch, Sie wollen keinen mo-
dernen, keinen ökologischeren oder unbedenklicheren
Pflanzenschutz, Sie wollen überhaupt keinen. Was ist
denn ein Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel
mit vier beteiligten Behörden anderes als der Stopp von
Neuzulassungen. Welche Firma wird sich denn dem rot-
grünen Zulassungsmonster aussetzen und noch eine Zu-
lassung in Deutschland beantragen? Die Bundesregierung
ist auf dem besten Wege zum Exportweltmeister für In-
novationen und Arbeitsplätze zu werden.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuorga-
nisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes ist
Ausdruck der Wissenschafts-, Fortschritts- und Technik-
feindlichkeit von SPD und Grünen.
Vier Behörden in Produktzulassungsverfahren, das
heißt, vier mal werden Gebühren fällig. Da bedarf es
schon der Naivität einer Frau Künast, um allen Ernstes zu
behaupten, dass das nicht einmal mehr kostet.
Die grüne Milchmädchenrechnung, viele Behörden
gleich viel Verbraucherschutz, geht nicht auf. Nicht nur
die Wirtschaft, gerade die Verbraucher werden die Rech-
nung für die grünen Bürokratieexzesse zahlen müssen.
Viel Bürokratie heißt zunächst einmal hohe Gebühren,
aufgeblähte Verwaltungsverfahren, Kompetenzstreitigkei-
ten und verzögerte Entscheidungen. Bürokratie ist innova-
tionsfeindlich, kostet Steuergelder und wirkt preistreibend.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222922
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Ein schlanker Staat, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, ist bereits eine Form von praktiziertem Ver-
braucherschutz. Genau dafür setzt sich die FDP ein.
Ein glaubwürdiger Verbraucherschutz setzt unabhän-
gige Institutionen voraus. Aber was macht Frau Künast?
Sie stuft die Behörde, welche diese Unabhängigkeit ver-
körpern soll, die so genannte „wissenschaftliche Stelle“,
zu einer Institution zweiter Klasse herab. Während das
Umweltbundesamt entscheidet, darf die „wissenschaftli-
che Stelle“ mitreden. Mit dem jetzigen Konzept wird das
Umweltbundesamt für den Verbraucherschutz die domi-
nierende Behörde.
Auf diese Weise diskreditiert die Ministerin das Bun-
desinstitut für Risikoforschung bereits, bevor dieses über-
haupt seine Arbeit aufgenommen hat. Das künastsche
Konzept bringt deshalb auch nicht mehr Verbraucher-,
nicht mehr Umwelt- oder gar Gesundheitsschutz, es
bringt vor allem mehr Bürokratie.
Das Verbraucherinformationsgesetz weist die gleiche
Richtung auf: mehr Bürokratie, unklare Zuständigkeiten,
mehr Kosten für die Bürger. Die Grünen haben unter dem
Deckmantel des Verbraucherschutzes ein riesiges ABM-
Programm für Ärmelschonerträger angeschoben.
Sagen Sie doch den Verbrauchern bitte auch einmal,
dass der Verbraucherschutz künastscher Prägung die Bür-
ger viel Geld kostet. Wer bezahlt denn die Gebühren, auf
die Sie in ihrem Gesetzentwurf so nebulös verweisen? Es
sind doch die Verbraucher. Anstatt auf ein sinnvolles Mit-
einander von Staat, Wirtschaft und Verbrauchern zu set-
zen, sind die Grünen immer noch einem antiquierten
Obrigkeitsstaatsdenken verhaftet.
Vielleicht darf ich Sie abschließend noch einmal daran
erinnern: Die zentrale Forderung des „Von-Wedel-Gut-
achtens“ lautete „mehr Verbraucherschutz“ und nicht
„mehr Bürokratie“.
Kersten Naumann (PDS):Gut gemeint ist nicht auch
gut gemacht. Das gilt offensichtlich auch für den Entwurf
des Verbraucherinformationsgesetzes. Nun wird er im
Eilverfahren eingebracht. Vorher ist seine Erarbeitung im-
mer wieder verzögert worden. Das hat dem Gesetz nicht
gut getan.
Besonders der nachgiebige Verzicht auf eine Informa-
tionspflicht der Unternehmen mindert seinen Wert. Wer
will, dass Verbraucher rational und selbstbestimmend
Marktentscheidungen treffen können, muss Transparenz
durch ein Optimum an Informationen schaffen. Das geht
nicht, wenn die Unternehmen ausgeklammert werden.
Vor allem: Wer staatliche Aufsicht und Regulierung
zurücknimmt, darf die Informationsansprüche nicht auf
behördliches Wissen beschränken.
In diesem Zusammenhang sollte man sich die Doku-
mentation der Verbraucherzentrale Bundesverband e. V.
über das Auskunftsverhalten der Unternehmen anschauen.
Ich frage mich und ich frage die Koalition: Warum ist
diese Reduzierung vorgenommen worden?
In Umsetzung des „von Wedel-Gutachtens“ wurden
von der Bundesregierung Schritte zur Verbesserung der
Organisationsstrukturen des gesundheitlichen Verbrau-
cherschutzes eingeleitet. Das Bundesinstitut für Risiko-
bewertung und das Bundesamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit befinden sich im Aufbau. Die zü-
gige Umsetzung begrüßen wir ausdrücklich.
Grundsätzlich unterstützen wir die Trennung der Risi-
kobewertung und -kommunikation vom Risikomanage-
ment. Sie muss aber in allen Bereichen konsequent durch-
gesetzt werden. Damit besteht die Möglichkeit, die
Sicherheit und die Effizienz der Verfahren im gesundheit-
lichen Verbraucherschutz zu erhöhen. Dabei sind
unnötige Doppelarbeit und Reibungsflächen zwischen
den Behörden im Interesse einer zügigen und sicheren Be-
arbeitung von Vorgängen zu vermeiden.
Was ich nicht verstehen kann, ist, dass im Zuge der Re-
organisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes
nach wie vor an alten Konzepten festgehalten wird. Ob-
wohl alle Bereiche einer eingehenden Prüfung unterzogen
werden, wird von Standortschließungen in der Bundes-
forschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere, konkret
von Wusterhauen, gesprochen. Im Interesse einer effi-
zienten Forschungsarbeit sollten die alten Pläne schnells-
tens verschwinden und gemeinsam mit der Fachkom-
petenz aus den Instituten selbst tragfähige Konzepte
erarbeitet werden.
Die Ministerin erklärte am 14. März den ursprünglich
umfassenderen Entwurf für besser. Sie freute sich schon,
„dass die Länder, in denen die PDS mitregiert, im Bun-
desrat dafür Sorge tragen, dass möglichst schnell mög-
lichst viel davon durchkommt.“
An der PDS wird es nicht scheitern. Darauf haben Sie
mein Wort, Frau Künast.
Wir werden im weiteren Verfahren folgende Forderun-
gen bzw. Vorschläge einbringen: Erweiterung der Infor-
mationspflicht – über Lebensmittel und Bedarfsgegen-
stände hinaus – für alle Produkte, Auskunftspflicht
gegenüber Unternehmen und Aufnahme der Sammelkla-
gebefugnis für Verbraucherverbände.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Bundesministerin Künast hat bereits in
ihrer Regierungserklärung am 15. März die Gründe ge-
nannt, warum ein Verbraucherinformationsgesetz in
Deutschland mehr als überfällig ist. Es geht kurz gesagt
um nicht mehr und nicht weniger, als den Verbraucherin-
nen und Verbrauchern in Deutschland ein entscheidendes
Stück mehr zu ihren Rechten zu verhelfen.
Informationen sind eine wesentliche Voraussetzung
dafür, dass die Menschen ihr Leben eigenbestimmt führen
und die Märkte aktiv beeinflussen können. Mit dem Ent-
wurf des neuen Verbraucherinformationsgesetzes hat sich
diese Tür ein Stück weit geöffnet. Das Gesetz wird end-
lich den Verbrauchern ein selbstbestimmtes Verhalten als
Marktteilnehmer erleichtern. Das ist auch zum Vorteil der
Wirtschaft, denn es stärkt die ehrlichen, die guten, die zu-
kunftsfähigen Unternehmen. Und es sichert dadurch
Arbeitsplätze.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22923
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Das Gesetz enthält zwei Kernelemente: erstens ein In-
formationsrecht der Verbraucherinnen und Verbraucher
gegenüber Behörden auf Bundes-, Landes- und Gemein-
deebene und zweitens umgekehrt ein Recht der Behörden,
die Öffentlichkeit schon ohne Vorliegen einer konkreten
Gefahrensituation, aktiv und ausführlich über den Sach-
verhalt aufzuklären.
Beide Rechte sind zum Beispiel dann relevant, wenn in
Lebensmitteln Zusätze gefunden wurden, von denen zwar
keine akute Gesundheitsgefahr ausgeht, die aber uner-
laubter Weise mitverarbeitet wurden oder wenn Schad-
stoffe gefunden wurden, die die Grenzwerte fast erreichen
oder für die – warum auch immer – keine Grenzwerte
existieren.
Das ist ein absolutes Novum. So etwas gibt es in
Deutschland bisher noch nicht. Damit ist Schluss mit dem
auferzwungenen behördlichen Schweigen in unserem
Land. Nun können die Behörden Ross und Reiter nennen
und keiner muss mehr herumspekulieren. Wie schnell
kann eine ganze Branche in Verruf geraten, nur weil die
Behörden keine konkreten Auskünfte über die schwarzen
Schafe geben dürfen. Dem wollen wir vorbeugen und da-
mit auch Vertrauen bei den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern schaffen.
Wir fangen bei den Lebensmitteln und Bedarfsgegen-
ständen an, weil es hier besonders dringlich ist. Denn hier
kam es in der Vergangenheit wesentlich häufiger als an-
derswo zu Risikosituationen und anschließenden In-
formationsdefiziten. Das wollen wir abstellen.
In einem späteren Schritt muss die Informationspflicht
dann auf alle Produkte und Dienstleistungen ausgeweitet
werden! Dazu werden uns die Erfahrungen, die wir mit
diesem Verbraucherinformationsgesetz sammeln können,
sehr nützlich sein.
Die Durchsetzung der Verbraucherrechte wird
grundsätzlich das Koordinatensystem des öffentlichen
Bewusstseins verändern. Ja, mehr noch: Unser Ziel ist es,
den europäischen Binnenmarkt zum dynamischsten über-
haupt zu machen. Das geht nur mit den Verbrauchern.
Deshalb mein Appell auch an Sie, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen: Unterstützen Sie uns dabei, den Ver-
brauchern zu ihren Rechten zu verhelfen. Unterstützen
Sie das Verbraucherinformationsgesetz!
Nun zum Pflanzenschutz. Lassen Sie mich hier
zunächst einmal zwei Dinge unmissverständlich klarstel-
len. Erstens. Lebensmittel sind keine Arzneimittel. Des-
halb haben Antibiotika in Lebensmitteln nichts zu suchen.
Da lassen wir uns auf keine Kompromisse ein!
Zweitens. Wir bekennen uns zum Agrarstandort
Deutschland. Wesentlicher Teil davon ist ein nachhaltig
wirtschaftender und wettbewerbsfähiger Obst- und
Gemüsebau.
Beides schließt sich keineswegs aus. Im Gegenteil:
Beides gehört zusammen, denn nur gesunde Lebensmittel
sind verkehrsfähig. Und nur verkehrsfähige Lebensmittel
können überhaupt wettbewerbsfähig sein. Sie, meine Da-
men und Herren, von der Opposition tun nun so, als ob
unsere Pflanzenschutzpolitik den Standort Deutschland
gefährden würde. Aber auch hier sage ich Ihnen: Das Ge-
genteil ist der Fall.
Wir betreiben eine verantwortungsbewusste, nachhal-
tige und zukunftsorientierte Pflanzenschutzpolitik im In-
teresse von Verbrauchern, Landwirten und unserer Um-
welt.
Denn im Gegensatz zur Vorgängerregierung packen
wir die Probleme an. Man glaubt es kaum, aber die Richt-
linie zum Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln in
der EU, auf deren Grundlage wir seit letztem Jahr die In-
dikationszulassung haben, existiert schon seit 1991. Ich
frage Sie: Was ist eigentlich in all der Zeit bis 1998 pas-
siert?
Sieben Jahre hat sich die frühere Bundesregierung, der
bekanntlich auch die FDP angehörte, darum gedrückt, et-
was gegen die sich auftuenden Lücken zu tun. Schlimmer
noch, Sie haben EG-Recht gebrochen, indem Sie die
Richtlinie nicht fristgerecht bis 1993 umgesetzt haben.
Erst nach einer Verurteilung durch den EuGH sind Sie ak-
tiv geworden und haben 1998 das neue Pflanzenschutz-
gesetz mit einer dreijährigen Übergangszeit verkündet.
Anstatt schon 1991 die Probleme gemeinsam mit den
Obst- und Gemüsebauern, mit der Wirtschaft und der For-
schung anzugehen, haben Sie Verschleppungstaktik be-
trieben. Das ist eine Verantwortungslosigkeit ohneglei-
chen. Damit haben Sie unserer Landwirtschaft einen
Bärendienst erwiesen.
Erst nachdem wir 1998 die Sache in die Hand genom-
men haben, tat sich etwas. Wir haben intensiv mit allen
Akteuren Gespräche geführt, nach Lösungen gesucht und
auch Lösungen gefunden.
Und so sieht unsere Bilanz seit 1998 aus: Die Biologi-
sche Bundesanstalt hat bisher für über 900 Anwendungs-
gebiete Anträge erhalten. Die Pflanzenschutzmittelindus-
trie stellte über 510 Anträge, die Länder über 370 und der
Berufsstand, der mit am lautesten schreit und nur in Ein-
zelfällen Geld verfügbar gemacht hat, gerade einmal vier.
Inzwischen sind für über 530 Anwendungsgebiete Ge-
nehmigungen erteilt worden. Am 1. Juli 2001 waren es
noch unter 300. Das zeigt, was die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Biologischen Bundesanstalt leisten. Auch
das sei an dieser Stelle einmal gesagt!
Der Berufsstand hat uns im vergangenen Jahr eine
Liste mit 125 dringlich zu schließenden Lücken im Obst-
und Gemüsebau vorgelegt. Für die meisten dieser Lücken
sind Lösungen bereits verfügbar oder es zeichnen sich
kurzfristig Lösungen ab.
Im Januar haben wir die Rückstands-Höchstmengen-
verordnung zum sechsten Mal aktualisiert und der siebten
Änderung, die die Grundlage für über 100 weitere Ge-
nehmigungen für den Obst- und Gemüsebau schafft, wird
der Bundesrat am 26. April zustimmen.
Sie sehen, wir arbeiten mit Hochdruck. Doch wir kön-
nen beim besten Willen die Versäumnisse unserer Vor-
gänger nicht über Nacht ausbügeln. Deshalb sind wir auch
bereit, in Notfällen Kompromisse einzugehen. Dazu
gehört die Bekämpfung des Feuerbrands im Obstbau.
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Wir sehen, dass es derzeit zu Plantomycin keine Alter-
nativen gibt. Auf der Grundlage eines Beschlusses der
Agrarministerkonferenz prüft die Biologische Bundesan-
stalt, ob bei einem akuten Feuerbrandrisiko unter strengen
Auflagen Plantomycin zeitlich und räumlich begrenzt an-
gewandt werden kann. Gleichzeitig arbeiten wir gemein-
sam mit allen Akteuren intensiv an Alternativen zum An-
tibiotikaeinsatz bei Feuerbrand. Dabei ziehen wir mit
Österreich und der Schweiz an einem Strang.
Es geht hier aber nicht nur um Einzelmaßnahmen. Wir
werden unsere gesamte Pflanzenschutzpolitik weiter mo-
dernisieren, im Sinne von mehr Nachhaltigkeit. Dazu wird
Ende Mai ein Workshop stattfinden, bei dem wir wie-
derum gemeinsam mit allen Akteuren Leitlinien zur
zukünftigen Pflanzenschutzpolitik entwickeln wollen. Das
wird ein elementarer Mosaikstein der neuen Agrarpolitik
sein.
Auf EU-Ebene drängen wir darauf, die Überprüfung
der so genannten Altwirkstoffe möglichst schnell abzu-
schließen. Das ist der eigentliche Grund für die Wettbe-
werbsverzerrungen innerhalb der EU.
Wir haben daher bereits im November 2000 in einem
Memorandum einen Pflanzenschutz-Workshop zur Fort-
entwicklung des EG-Pflanzenschutzrechtes gefordert. Die-
ser Workshop wird nun endlich im Juli dieses Jahres in
Griechenland stattfinden. Dann werden wir hoffentlich
bald eine Lösung finden, die EU-weit den Interessen aller
Verbraucherinnen und Verbraucher und auch aller Obst-
und Gemüsebauern gerecht wird.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratung des Entwurfs eines Gesetzes zurÄn-
derung des Berufsbildungsgesetzes und des Ar-
beitsgerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 10)
Willi Brase (SPD):Ausgangspunkt für den vorliegen-
den Gesetzesentwurf zur Änderung des Berufsbildungs-
gesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes ist die Reform
der Betriebsverfassung und somit die erweiterte Mit-
bestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in den Betrieben gewesen.
Mit den vorliegenden Änderungen sollen junge Men-
schen in außerbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen,
die sonst nicht von betrieblicher Mitwirkung und Mit-
bestimmung erfasst sind, ebenfalls die Chance erhalten,
bei der Durchführung ihrer Ausbildung gemeinsam mit
der außerbetrieblichen Berufsbildungseinrichtung die In-
halte und den Ablauf zu gestalten.
Immer wieder wird in wissenschaftlichen Studien, in po-
litischen Analysen und bei Jugendkongressen die Notwen-
digkeit gesellschaftlicher Mitwirkung der jungen Leute ge-
fordert. Mit dem hier vorliegenden Gesetzesentwurf wollen
wir auch den jungen Menschen, die in öffentlich geförder-
ten Ausbildungseinrichtungen eine qualifizierte Ausbildung
absolvieren, Beteiligung, Verantwortungsübernahme und
Teilhabe ermöglichen.
Dieses ist wichtig, damit sie ihre Ausbildungszeit nicht
als Auszubildende zweiter Klasse ohne direkte Mitwir-
kungsmöglichkeit durchlaufen. Die Erfahrungen in der
beruflichen Ausbildung, in den Betrieben und der Ver-
waltung, zeigen deutlich, dass durch die Jugend- und
Auszubildendenvertretungen die Inhalte und Abläufe so-
wie letztendlich das Qualifikationsniveau vorangetrieben
werden. Dieses muss auch für die circa 130 000 jungen
Menschen in unserem Land, die in öffentlich geförderten
Ausbildungseinrichtungen ihren Berufsabschluss erlan-
gen wollen, möglich sein.
Durch die Einführung einer Regelung zur Interessen-
vertretung im Berufsbildungsgesetz, die sich natürlich in
ihren Möglichkeiten und Aufgabenbereichen an den Be-
stimmungen für Jugend- und Auszubildendenvertretun-
gen orientiert, wird die Beteiligungsmöglichkeit von Aus-
zubildenden in sonstigen Berufsbildungseinrichtungen im
Sinne des § 1 Abs. 5 des Berufsbildungsgesetzes gesetz-
lich verankert. Mit einer Verordnungsermächtigung wird
die Möglichkeit gegeben, die nähere Ausgestaltung der
Interessenvertretung zu regeln.
Der Internationale Bund als freier Träger der Jugend-,
Sozial- und Bildungsarbeit hat in seiner Stellungnahme
zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbil-
dungsgesetzes und weiterer Gesetze ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass die geplanten Ergänzungen zur Schaf-
fung von Interessenvertretungen notwendig und richtig
sind. Nach Auffassung des IBs sind Jugendliche damit im
beruflichen Alltag in der Lage, elementare Grundlagen der
Wahrnehmung eigener Interessen und die Organisation ent-
sprechender Arbeitsschritte zu lernen. Dabei ist besonders
bedeutsam, dass die Zielgruppe, deren Interessenvertretung
Gegenstand dieser Gesetzesänderung ist, in der Regel einen
großen Nachholbedarf hat, weil sie in ihrer Schulzeit ent-
sprechende Erfahrungen kaum machen konnte.
Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozial-
arbeit, kurz BAG JAW, weist auf die Bedeutung der For-
derung nach Partizipation der jungen Erwachsenen in
ihren eigenen Belangen als eine der zentralen Forderun-
gen heutiger Jugendpolitik hin. Beide Arbeitsgemein-
schaften stellen deutlich heraus, dass mit der Tätigkeit in
einer Interessenvertretung Selbstbewusstsein und Moti-
vation der jungen Menschen gestärkt werden. Dieses ver-
bessere ihre Chancen auf ein erfolgreiches Absolvieren
der Ausbildung.
Auf die jungen Gewerkschafterinnen und Gewerk-
schafter der im DGB zusammengeschlossenen Gewerk-
schaften haben für diesen Personenkreis eine entspre-
chende Mitwirkungs- und Beteiligungsregelung gefordert.
Dabei wollte die Gewerkschaftsjugend eine 100-prozen-
tige Übertragung der Mitbestimmungsregelungen analog
zum Betriebsverfassungsgesetz für die zu wählende Inte-
ressenvertretung. Dieses ist aus rechtlichen und system-
immanenten Gründen nicht möglich. Deshalb bleibt es in
Streitfällen beim Letztentscheidungsrecht der Berufsbil-
dungseinrichtung, allerdings muss sie ihre Entscheidung
nochmals schriftlich gegenüber der Interessenvertretung
darlegen. Sollten Vereinbarungen zwischen Berufsbil-
dungseinrichtung und Interessenvertretung dem einzelnen
Auszubildenden Rechte einräumen, so haben wir ebenfalls
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22925
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ein unmittelbares und zwingendes Individualrecht einge-
führt.
Mit diesen Vorschlägen und der Gesetzesreform wollen
wir die Laborsituation dieser jungen Menschen in den öf-
fentlich geführten Ausbildungseinrichtungen ein Stück
weit verändern, um sie noch mehr an die Realitäten einer
betrieblichen Ausbildung heranzuführen. Für die SPD-
Fraktion ist mit dieser Gesetzesergänzung – und der dann
zu verabschiedenden Verwaltungsvereinbarung – die Mit-
bestimmung und Teilhabe junger Menschen auf den rich-
tigen Weg gebracht. Der Forderung, Jugendliche als ei-
genständige Beteiligte im Gemeinwesen zu sehen, sind wir
wieder ein Stück näher gekommen. Man kann sich nicht in
Sonntagsreden über Demokratie, Teilhabe, Pflichten und
Rechte auslassen und diese fordern, wenn man gleichzei-
tig nicht bereit ist, in konkreten Gesetzgebungsinitiativen
die Bedingungen für die jungen Menschen zu verbessern.
Wir freuen uns, dass wir wieder ein weiteres Stück Ge-
rechtigkeit, Chancenwahrnehmung und Teilhabe ermög-
licht haben.
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Der zur Debatte
stehende Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, für Lehrlinge in
einer „die praktische Berufsausbildung nachahmenden
Ausbildungseinrichtung eine befriedigende rechtliche
Absicherung von Beteiligungsmöglichkeiten“ zu schaf-
fen. Lehrlinge, die sich nicht in einem betrieblichen Aus-
bildungsverhältnis befinden und durch einen Betriebsrat
bzw. Jugend- und Auszubildendenvertretung repräsentiert
werden, sollen eine „besondere Interessenvertretung“ er-
halten.
Wenn eine neue gesetzliche Regelung zu diesem Be-
treff vorgelegt wird, drängen sich mir folgende Fragen
auf: Wer soll denn wem gegenüber welche Interessen ver-
treten? Ist das Gesetz für die Betroffenen tatsächlich hilf-
reich? Wo und unter welchen Bedingungen wirkt das Ge-
setz? – Hier sehe ich den Schwerpunkt: Wie kann für die
Einhaltung des Gesetzes gesorgt werden, wenn es tatsäch-
lich sinnvoll ist? Welche Kosten kommen auf Betriebe
bzw. auf Bund und Steuerzahler zu? Dazu einige sicher
unvollständige Aussagen.
Zunächst möchte ich grundsätzlich feststellen, dass in
unserer demokratischen Gesellschaft Interessenvertre-
tungen nicht nur sinnvoll, sondern unverzichtbar sind.
Wenn unterschiedliche Interessen aufeinander treffen,
müssen diese zum Ausgleich gebracht werden. Während
das für Studenten längst selbstverständlich ist – schließ-
lich haben diese in der Regel staatlich finanzierte Ein-
richtungen als Partner –, kümmert sich bei Lehrlingen
kaum jemand um vergleichbare Konditionen. Lehrlinge
– vor allem in den neuen Bundesländern – haben weder
eine mit einem Studienplatz vergleichbare Sicherheit, was
den gewünschten Lernort angeht, noch solch stabile Part-
ner wie Hochschulen und Universitäten. Dafür wird aber
allgemein vorausgesetzt, dass die Lehre zur vollen Be-
rufsfähigkeit und einem Arbeitsplatz führen soll.
Interessant ist im Ergebnis der zum Gesetzentwurf
durchgeführten Anhörung, dass ihn lediglich die Gewerk-
schaftsvertreter für nützlich halten; ansonsten wird auf die
bereits existierenden Möglichkeiten der Interessenvertre-
tung hingewiesen und das Gesetz für überflüssig gehalten.
Wo und für wen besitzt das Gesetz also eigentlich Rele-
vanz? Wo gibt es eigentlich die außerbetriebliche Ausbil-
dung in nennenswerter Größenordnung? Dankenswerter-
weise antwortete mir die Bundesregierung auf meine
entsprechende Anfrage im Februar dieses Jahres:
Danach betrug der Anteil der außerbetrieblich ausge-
bildeten Jugendlichen in den neuen Ländern ein-
schließlich Berlin zwischen 18,7 Prozent in Berlin und
30,6 Prozent in Brandenburg, im Durchschnitt lag er
bei rund 25 Prozent. In den alten Ländern lag der An-
teil der Auszubildenden, die außerbetrieblich ausge-
bildet wurden, zwischen 2,4 in Bayern und 8,6 Pro-
zent in Bremen, im Durchschnitt bei rund 4 Prozent.
Auch, um der Schönfärberei in der Kanzlerecke heute
Morgen konkrete Aussagen gegenüberzustellen, hier genau
dazu Angaben zu einigen Bundesländern: Baden-Württem-
berg 3,9 Prozent, Brandenburg 30,6 Prozent, Bayern
2,4 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern 25,5 Prozent.
Im Durchschnitt gibt es also in den neuen Bundesländern
sechsmal so viele außerbetriebliche Lehrstellen wie in den
alten Bundesländern. Ist das Gesetz damit etwa besonders
hilfreich für die neuen Bundesländer? Dürfen wir dankbar
sein, dass hier endlich etwas Wesentliches auf den Weg ge-
bracht werden soll? – Natürlich geht es hier nicht um die
Schaffung zusätzlicher Lehrstellen.
Aber sehen wir uns doch die aktuellen Arbeitslosen-
zahlen für Jugendliche unter 25 Jahren an – Stand März
2002 –: Baden-Württemberg 5,5 Prozent, Brandenburg
17,1 Prozent, Bayern 6,8 Prozent, Mecklenburg-Vorpom-
mern 16,3 Prozent und – weil es heute Vormittag so oft ge-
nannt wurde – Sachsen-Anhalt 17, 5 Prozent bzw. Bun-
desgebiet West 8,4 Prozent und Bundesgebiet Ost
16,6 Prozent. Das ist auch ein Ausdruck aktueller Famili-
enpolitik.
Natürlich gibt es zwischen den beiden Zahlengruppen
– einerseits Jugendarbeitslosigkeit und andererseits Anteil
außerbetriebliche Lehrstellen in den Bundesländern –
einen ursächlichen Zusammenhang; denn die „außerbe-
trieblichen Ausbildungseinrichtungen als reine Bildungs-
träger“ konnten „den Fachkräften keine Übernahmeange-
bote“ machen.
Ich stelle also noch einmal fest: In den neuen Bundes-
ländern haben wir gegenüber den alten Bundesländern
eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit und den
sechsfachen Anteil an außerbetrieblichen Lehrstellen. Da-
mit zielt der Gesetzentwurf klar zuerst auf die neuen Bun-
desländer.
Die beste Interessenvertretung für Lehrlinge in den
neuen Bundesländern wäre dann gegeben, wenn die Ju-
gendlichen eine Stelle in der dualen betrieblichen Ausbil-
dung fänden und damit eine reale Chance für einen späte-
ren Arbeitsplatz hätten.
Es ist im Übrigen absurd, aus dem Mangel an betrieb-
lichen Lehrstellen in den neuen Bundesländern einen
„Zerfall des dualen Systems“ abzuleiten, wie ihn die Grü-
nen immer wieder verkünden: Ein solcher Fatalismus ver-
hindert zwangsläufig das Nachdenken über Problemlö-
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sungsstrategien zur Sicherung von Nachwuchs und
Lehrstellen und nützt den betroffenen Jugendlichen nicht
im Geringsten.
Es muss uns allesamt extrem beunruhigen, wenn in Ge-
samtdeutschland die Anzahl betrieblicher Lehrstellen
stark zurückgeht, die Anzahl vermittelter Bewerber im-
mer mehr abnimmt und wir bereits circa 500 000 arbeits-
lose Jugendliche zählen müssen. Hier kann man dem
Hauptpartner im Spiel, der mittelständischen Wirtschaft,
nur so lange die gelbe Karte zeigen, wie sie überhaupt
noch auf dem Spielfeld dabei ist. In den neuen Bundes-
ländern haben wir jedoch längst die dreifache Insolvenz-
rate gegenüber den alten Bundesländern. Immer mehr
Spieler verlassen k. o. das Spielfeld.
Das vorgeschlagene Gesetz ist fürwahr ein seltsames
Geschenk für die vielen ostdeutschen Jugendlichen, die
keine betriebliche Lehrstelle bekommen. Sicher wollen
diese auch Mitbestimmung und Interessenwahrnehmung,
doch bitte im Betrieb und unter realen Arbeitsbedingun-
gen! Der vorgelegte Gesetzentwurf ist jedenfalls für die
primär Betroffenen ohne jeden positiven Effekt. Sie, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsko-
alition, bieten hier einen Trockenschwimmerkurs in Sa-
chen Demokratie für Nichtschwimmer an. Es müssen
jedoch mit geeigneten Partnern und durch eine vernünf-
tige Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland Hochleistungs-
schwimmer ausgebildet werden!
Ich wiederhole: Eine sinnvolle Interessenvertretung
für Lehrlinge in den neuen Bundesländern ist nur in be-
trieblichen Lehrstellen im dualen System möglich.
Schließlich setzt eine seriöse Interessenvertretung auch
eine Identifikation der Lehrlinge mit dem Betrieb, der
Ausbildungseinrichtung, voraus. Der erstrebte Effekt des
Gesetzes, nämlich dass Lehrlinge in der außerbetriebli-
chen Ausbildung durch ihre Mitwirkung frühzeitig demo-
kratische Willensbildung „lernen“, wird durch die zu er-
wartenden Schwierigkeiten konterkariert. Verantwortung
im Sinne eines Demokratieverständnisses zu übernehmen
lässt sich nur dort erlernen, wo es die Interessenlage ge-
bietet, mit dieser Verantwortung sorgfältig umzugehen.
Eine echte demokratische Mitwirkung ist nur da möglich,
wo es eine Basis dafür gibt. Durch die mangelnde be-
triebliche Integration der Lehrlinge ist diese hier nicht ge-
geben.
Bei der Umsetzung der vorgesehenen Mitwirkungs-
rechte wird es zu gravierenden Problemen kommen, zum
Beispiel zu einer Spaltung der Jugendlichen bei verschie-
denen Interessen. Selbst wenn Sach- und Verwaltungs-
kosten vom Bund übernommen werden, werden die be-
trieblichen Abläufe zusätzlich verzögert, wird der
Verwaltungsaufwand unnötig erschwert. Gerade für die
neuen Länder kann dies doch niemand wirklich wollen.
Eine wirkliche Interessenvertretung ist nur unter le-
bens- und praxisnahen Arbeits- und Lernbedingungen
möglich. Die CDU/CSU-Fraktion hat zum Beispiel mit
ihrem Antrag 14/5753 „Soziale Partnerschaft stärken –
Betriebsverfassungsgesetz zukunftsträchtig modernisie-
ren“ die für die betriebliche und Berufspraxis unverzicht-
baren Zusammenhänge hergestellt, bei denen auch die Ju-
gendlichen in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten
berücksichtigt werden, aber eben nur „auch“.
Ich fasse zusammen. Erstens. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf ist einer praxisnahen Interessenvertretung
nicht gedient; er ist für die Betroffenen kaum hilfreich,
geht an der eigentlichen Problemlage vorbei. Eine be-
triebliche Interessenvertretung kann außerbetriebliche
nicht oder nur unzureichend trainiert bzw. simuliert wer-
den.
Zweitens. Die politische Flickschusterei in Sachen
Lehrstellen wird fortgesetzt.
Vor der Bundestagswahl 1998 hat die damalige Oppo-
sition allerdings völlig neue Schuhe versprochen. Es
wurde die Illusion genährt, mit Rot-Grün käme es zu einer
völlig neuen, konstruktiven Politik im Sinne der Jugend
und der nächsten Generationen. Ich erinnere mich noch
recht gut an die scharfen Reden der damaligen Sprecherin
der SPD-Fraktion.
Jetzt, ein halbes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl,
ist festzustellen: Die in Aussicht gestellten Ansätze für
eine ganzheitliche Problemlösungspolitik sind nicht zu
erkennen. Eine verantwortungsvolle Berufsbildungspoli-
tik muss jedoch gerade heute und vor allem in den neuen
Bundesländern mehr sein als einseitige Lobbypolitik,
mehr als der Absatz eines geflickten Schuhs, auf dem man
sich beliebig dreht. Berufsbildungspolitik ist zuerst Wirt-
schaftspolitik und nicht zuerst Lobby- oder Sozialpolitik!
Zur nötigen und längst fälligen Integration der Berufsbil-
dungspolitik in eine vernünftige Bildungs-, Wirtschafts-
und Sozialpolitik ist die Schröder-Regierung jedoch of-
fensichtlich nicht in der Lage. Schlimm für die Jugendli-
chen, vor allem in den neuen Bundesländern!
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Am 22. Juni letzten Jahres haben sich die rot-grünen Koa-
litionsfraktionen darauf verständigt, für Jugendliche in
der außerbetrieblichen Ausbildung eine eigenständige In-
teressenvertretung gesetzlich zu verankern. Wir haben
dies im Entschließungsantrag zur Reform des Betriebs-
verfassungsgesetzes formuliert und setzen es jetzt um.
Diese Regelung ist notwendig, da junge Menschen ohne
betrieblichen Ausbildungsplatz, in einer außerbetriebli-
chen Lehre auch ein Recht auf demokratische Mitbestim-
mung haben müssen. Ohne betriebliche Lehrstelle dazu-
stehen ist schon bitter genug. Dann aber die Erfahrung zu
machen, die eigenen Interessen nicht vertreten zu können,
ist in so einer Situation nicht motivationsfördernd. Bisher
sind diese jungen Menschen aus dem Mitbestimmungs-
rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes herausgefallen.
Diese grobe Ungleichbehandlung in der Mitbestimmung
werden wir nun wesentlich verbessern.
Gerade Jugendliche reagieren zu Recht sehr sensibel
auf Ungleichbehandlung. Mit dem vorliegenden Entwurf
regeln wir die Ausgestaltung der Interessenvertretung von
Jugendlichen nun möglichst eng entlang des Betriebsver-
fassungsgesetzes. Besonders die Vorschriften über das
Wahlverfahren, aber auch wesentliche Teile des Aufga-
benkatalogs und der Zugang der vertretenen Gewerk-
schaften sind in der Rechtsverordnung ans Betriebsver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22927
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fassungsgesetz angelehnt. So wird es in Zukunft mehr
Mitbestimmung für junge Auszubildende geben.
Natürlich können wir die Rechte von Jugendausbil-
dungsvertretungen nicht eins zu eins auf Interessenvertre-
tungen in der außerbetrieblichen Ausbildung übersetzen.
Ein entscheidender struktureller Unterschied zur JAV im
Betrieb ergibt sich dadurch, dass Auszubildende in außer-
betrieblichen Ausbildungsstätten keine Arbeitnehmerin-
nen oder Arbeitnehmer dieser Einrichtung sind. Der di-
rekte Ansprechpartner kann also nicht der Betriebsrat
sein, sondern ist aus unserer Sicht die Berufsbildungsein-
richtung selbst.
Wir sind der Auffassung, dass Mitbestimmung und In-
teressenvertretung nicht nur wichtige Rechte sind. Son-
dern sie stärken auch das Vertrauen junger Menschen in
die Demokratie insgesamt. Wir nehmen junge Menschen
ernst und stärken ihre Rechte: Die Interessenvertretung
wird in Zukunft direkt mit der Berufsbildungseinrichtung
verhandeln können. Wir achten aber auch auf Ausgewo-
genheit: Die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten
werden nicht beeinträchtigt und in strittigen Fragen bleibt
es bei einem Letztentscheidungsrecht der Berufsbil-
dungseinrichtung.
Wir räumen der Interessenvertretung hier jedoch ge-
zielt Beteiligungsrechte ein, die über die Rechte von
Schülervertretungen hinaus gehen. Die jungen Auszubil-
denden sollen als Partner auch in der außerbetrieblichen
Ausbildung ernst genommen werden. Dies ist für uns aus
zwei Gründen wichtig: Zum einen stärken wir dadurch
demokratische Beteiligungsmöglichkeiten von Jugendli-
chen. Junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lernen
so, sich für ihre Belange einzusetzen, und werden in der
Ausbildung ernster genommen. Auch hier gilt: Wer die
Zivilgesellschaft stärken will, muss auch junge Menschen
in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld stärken. Zum ande-
ren erwarten wir ein besseres Qualitätsmanagement durch
die Mitwirkung der Jugendvertreterinnen und -vertreter.
Wer, wenn nicht die Auszubildenden selbst, kann Mängel
in der Ausbildung erkennen, konkret benennen und mit-
helfen, sie zu beseitigen?
Zur Stärkung der Demokratie und der Qualität der
außerbetrieblichen Ausbildung brauchen wir die Interes-
senvertretung in außerbetrieblichen Einrichtungen. Des-
halb freue ich mich über eine möglichst breite Zustim-
mung zur Novelle des Berufsbildungsgesetzes und des
Arbeitsgerichtsgesetzes.
Ernst Burgbacher (FDP):Die FDP hat im vergange-
nen Jahr die Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes
aus guten Gründen abgelehnt. Wir halten auch den jetzt
unter Berufung auf diesen Bundestagsbeschluss von den
Koalitionsfraktionen vorgelegten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsge-
richtsgesetzes für unnötig. Die FDP sieht hierfür keinerlei
Notwendigkeit. Die vorgeschlagene Regelung würde zu
noch mehr Bürokratie und höheren Kosten führen, aber
den Jugendlichen keine Verbesserung ihrer Ausbildungs-
chancen bringen. Darauf kommt es aus unserer Sicht an.
Es fehlt in diesen außerbetrieblichen Einrichtungen die
betriebliche Anbindung. Der Auszubildende verlässt nach
Beendigung der Ausbildung die Einrichtung. Deshalb ge-
hen die vorgeschlagenen Regelungen an der Praxis vor-
bei.
Die FDPhat im vergangenen Jahr einen eigenen Antrag
vorgelegt „Mit einem individuellen Ausbildungspass
durchs Leben – für ein liberales, duales und modulares
Berufsausbildungssystem in Deutschland“, das von der
rot-grünen Mehrheit dieses Hauses leider, aber nicht über-
raschend abgelehnt worden ist.
Strukturveränderungen in den Unternehmen, die Ver-
kürzung von Innovationszyklen von Produkten und Leis-
tungen, der schnelle Wandel zur Dienstleistungsgesell-
schaft und die Veränderung von Arbeitsinhalten führen zu
neuen Anforderungen an die Beschäftigten. Die Arbeits-
organisation in den Betrieben verändert sich von einer be-
rufsbezogenen und funktionalen Arbeitsteilung hin zu ei-
nem prozessorientierten kooperativen Arbeiten. Spezielle
fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten werden nur für eine
kurze Phase der Lebensarbeitszeit des Einzelnen benötigt.
Grundlegende fachübergreifende Kenntnisse und Fertig-
keiten sowie eine generelle Disposition der Beschäftigten
werden immer stärker gefordert. Diese sich dynamisch
verändernden Qualifikationsanforderungen in Wirtschaft
und Verwaltung bringen neue Wege hin zu einer moder-
nen Beruflichkeit hervor.
Daher ist die enge Partnerschaft von Wirtschaft und
Staat, von Betrieb und Schule ein sicheres Fundament für
die Ausbildung einer vollen Berufsfähigkeit. Sie ist das
Spiegelbild des Qualifikationsbedarfs der Unternehmen,
ermöglicht ein Lernen in der Arbeitswelt, bietet beste
Chancen für den direkten Übergang in den Beruf, sichert
ein breites Spektrum bei der individuellen Ausbildungs-
wahl, bildet die Grundlage für eine aufbauende Weiterbil-
dung und stärkt die Selbstverantwortung der Wirtschaft.
Aus Sicht der FDP ist es grundsätzlich notwendig, das
Verhältnis von Staat und Wirtschaft neu zu definieren. Die
Verantwortung der Wirtschaft, ihren eigenen Fachkräf-
tenachwuchs primär auch selbst auszubilden, darf nicht
durch staatlich dirigistische Maßnahmen konterkariert
werden. Berufsausbildung ist die zentrale Zukunftsinves-
tition der Wirtschaft, die staatlicher Begleitung bedarf.
Von der Politik verstärkt geförderte außerbetriebliche
Ausbildungsgänge führen in eine Sackgasse, denn diese
Absolventen haben schlechte Übernahmeperspektiven
auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Heute absolvieren rund zwei Drittel aller Jugendlichen
eine Ausbildung im dualen System. Die statische Fest-
schreibung der Berufsprofile birgt allerdings Gefahren in
sich. Sie äußern sich unter anderem in einer ständig sin-
kenden Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft und in der
Abnahme der Zahl jener Unternehmen, die im eigenen
Betrieb das volle Berufsbild vermitteln können. Es ist eine
Tendenz zu erkennen, wonach immer weniger Ausbil-
dungsbetriebe Übernahmeangebote nach Abschluss der
Ausbildung unterbreiten, was zu einer Arbeitslosigkeit
nach Abschluss der Lehre führt.
SPD und Grüne gehen mit ihrem Gesetzentwurf zur
Änderung des Berufsbildungsgesetzes den falschen Weg.
Dies haben auch die Stellungnahmen der Vertreter der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222928
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Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände,
des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, des
Deutschen Industrie- und Handelskammertags und des
Hauptverbands des Deutschen Einzelhandels in der An-
hörung des Ausschusses deutlich gezeigt. Die FDP lehnt
den rot-grünen Gesetzentwurf ab. Es besteht hierfür kein
Bedarf.
Maritta Böttcher (PDS): Wenn es um direkte Mit-
spracherechte geht, haben Sie die PDS immer an ihrer
Seite. Obwohl wir uns die vorgeschlagene Regelung noch
durchgreifender vorstellen können, unterstützen wir den
Gesetzentwurf.
Zu drei kritischen Aspekten:
Erstens. Art und Umfang der Mitwirkung sind in der
Verordnung quasi versteckt. Die Chance, es im Art. 1 des
Gesetzes genauer zu bestimmen, wurde vertan.
Zweitens. Die Verordnung räumt den betroffenen Ju-
gendlichen im Grunde nur Mitwirkungsrechte ein,
während die vom Betriebsverfassungsgesetz erfassten Ju-
gendlichen über den Betriebsrat Mitbestimmungsrechte
haben. Und selbst diese Mitwirkung ist nach § 7 Abs. 3
der Verordnung nicht für alle Situationen sichergestellt.
Drittens. Es fehlt in der Verordnung jegliche Regelung
über die Zusammenarbeit der gewählten Interessenver-
tretung der Auszubildenden und der jeweiligen Bildungs-
einrichtung mit den Gewerkschaften.
Insgesamt bleiben damit Gesetzentwurf und Verord-
nung hinter der Vorgabe des Bundestages vom 22. Juni
2001 zurück. Die Interessenvertretung der Auszubilden-
den in den außerbetrieblichen Einrichtungen muss sich an
den Möglichkeiten und Aufgabenbereichen der Jugend-
und Auszubildendenvertretung in den Betrieben orientie-
ren. Dies ist nicht erreicht.
Mit unserer Zustimmung machen wir aber auch ganz
bewusst deutlich, wo die Linie verläuft zwischen denen,
die grundsätzlich für ein Mitspracherecht sind, und denen,
die gegen ein Mitspracherecht von circa 130 000 Jugend-
lichen in außerbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen
sind.
Es ist doch bezeichnend: Die Arbeitgeberverbände be-
fürchten Effizienzverluste in der Ausbildung, wenn diese
Regelung in Kraft tritt. CDU/CSU und vor allem die FDP
machen sich diese Sicht zu Eigen.
Ich sehe das ganz anders: Wenn es um demokratische
Rechte geht, darf es nicht zuerst um die Frage ihrer öko-
nomischen, auch nicht bildungsökonomischen, Effizienz
gehen. Jugendliche müssen Demokratie aktiv leben kön-
nen. Mehr Mitsprache führt zu größerer Identifikation mit
den Aufgaben und Zielen der Ausbildung. Das wiederum
ist doch eine wesentliche Voraussetzung für Leistungsbe-
reitschaft und gute Ergebnisse in der Ausbildung.
Also: Eine Zustimmung zum Gesetzentwurf ist durch-
aus auch im Sinne der Arbeitgeber. Nur so bekommen sie
einen interessierten und engagierten Facharbeiternach-
wuchs, oder wollen sie politisch desinteressierte „Fachi-
dioten“?
Im Übrigen veranlasst mich der vielversprechende Ti-
tel des Gesetzentwurfs zu einer abschließenden Bemer-
kung: Es ist dringend an der Zeit, dass die Bundesregie-
rung unter einer solchen Überschrift wie „Gesetz zur
Änderung des Berufsbildungsgesetzes“ endlich die not-
wendigen grundlegenden strukturellen Veränderungen
der beruflichen Ausbildung in Deutschland anpackt. Wir
brauchen endlich ein quantitativ ausreichendes, auswahl-
fähiges und qualitativ hochwertiges Ausbildungsangebot!
Wolf-Michael Catenhusen, Parlamentarischer
Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und
Forschung: Wir beraten heute abschließend über den
Gesetzentwurf, der eine Interessenvertretung für Auszu-
bildende in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten ein-
richtet.
Lassen Sie mich zunächst kurz in Erinnerung rufen,
vor welchem Hintergrund der Deutsche Bundestag im
Juni letzten Jahres eine entsprechende Entschließung
verabschiedet hat: Im Gegensatz zu betrieblichen Auszu-
bildenden sind Auszubildende in außerbetrieblichen Aus-
bildungsstätten keine Arbeitnehmer im Sinne des
Betriebsverfassungsgesetzes. Dies hat zwangsläufig zur
Folge – so sieht es auch das Bundesarbeitsgericht –, dass
sie zur Jugend- und Auszubildendenvertretung und zum
Betriebsrat nicht wahlberechtigt sind. Faktisch bedeutet
das, dass bisher über 125 000 Auszubildende – vornehm-
lich in den neuen Bundesländern – keine rechtliche Mög-
lichkeit hatten, sich zu organisieren und ihre Belange kol-
lektiv vertreten zu können. Der Ihnen vorliegende
Gesetzentwurf beendet diesen Missstand.
Angelehnt an die Vorschriften des Betriebsverfas-
sungsgesetzes erhalten Auszubildende in außerbetriebli-
chen Ausbildungsstätten jetzt ein Wahlrecht zu einer In-
teressenvertretung, wenn in dieser Bildungseinrichtung
mindestens fünf Auszubildende beschäftigt werden. Be-
gleitet wird diese Änderung des Berufsbildungsgesetzes
durch eine Anpassung des Arbeitsgerichtsgesetzes, durch
die die besondere Zuständigkeit der Arbeitsgerichte auch
für Angelegenheiten der Interessenvertretung begründet
wird. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das
Bundesministerium für Bildung und Forschung ermäch-
tig, im Einzelnen die Fragen zu regeln, auf die sich die Be-
teiligung der Interessenvertretung erstreckt.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
beabsichtigt, von dieser Verordnungsermächtigung zügig
Gebrauch zu machen, so dass bereits im Hebst diesen Jah-
res die ersten Wahlen zur Interessenvertretung auf neuer
Rechtsgrundlage stattfinden können. Lassen Sie mich
kurz auf einige Punkte dieser Verordnung eingehen: All-
gemeine Aufgaben der Interessenvertretung sollen sein:
Das Antragsrecht für Maßnahmen, die den außerbetrieb-
lichen Auszubildenden dienen, insbesondere in Fragen
der Berufsausbildung, die Überwachung der Einhaltung
von Gesetzen, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschrif-
ten sowie die Verfolgung von Maßnahmen zur Durchset-
zung der tatsächlichen Gleichstellung der außerbetriebli-
chen männlichen und weiblichen Auszubildenden sowie
der Integration ausländischer Auszubildender.
Hierfür werden der Interessenvertretung in folgenden
Angelegenheiten Rechte der Beteiligung durch die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22929
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Berufsbildungseinrichtung eingeräumt: Fragen der Ord-
nung im Arbeitsbereich der Berufsbildungseinrichtung,
Einführung und Anwendung von Fragebögen und Beur-
teilungsgrundsätzen, soweit sie sich auf die außerbetrieb-
lichen Auszubildenden selbst beziehen, Regelungen über
die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankhei-
ten, Gestaltung von Ausbildungsplätzen, Arbeitsablauf
und Arbeitsumgebung, Mitgestaltung sozialer Aktivitä-
ten, Zuweisung und Kündigung von Wohräumen, soweit
sie den Auszubildnden vermietet werden, Fragen des Ver-
haltens der außerbetrieblichen Auszubildenden in der Be-
rufsbildungseinrichtung, Aufstellung allgemeiner Ur-
laubsgrundsätze und eines Urlaubsplanes sowie Fragen
der Verpflegung.
Dem Konfliktmanagement dienen sowohl die Einrich-
tungen einer Vermittlungsstelle als auch die Möglichkeit,
der Interessenvertretung eine Vertrauensperson an die
Seite zu stellen. Die in der Berufsbildungseinrichtung ver-
tretenden Gewerkschaften erhalten ähnliche Rechte wie
im Betriebsverfassungsgesetz. Selbstverständlich sieht
die Verordnung auch ein Benachteiligungs- und Bevortei-
lungsverbot hinsichtlich der Mandatsträger der Interes-
senvertretung vor. Ebenfalls in der Verordnung wird das
Wahlverfahren geregelt sein, durch das insbesondere si-
chergestellt wird, dass das Geschlecht in der Minderheit
entsprechend seinem Anteil in der Interessenvertretung
vertreten ist.
Ich habe eingangs drauf hingewiesen, dass die Auszu-
bildenden, von denen wir hier reden, nicht wahlberechtigt
zum Betriebsrat sind. Wir haben deshalb bei der Erarbei-
tung der Verordnung sorgsam darauf geachtet, dass wir
mit der Einführung der Interessenvertretung die Rechte
eines eventuell in der Berufsbildungseinrichtung vorhan-
denen Betriebsrates nicht beeinträchtigen. Es geht also
nicht darum, dass hier eine Mehrheit von Auszubildenden
eine Minderheit von Ausbildern majorisieren soll. Viel-
mehr setzen wir auf eine partnerschaftliche, vertrauens-
volle Zusammenarbeit zwischen Interessenvertretung,
Betriebsrat und Berufsbildungseinrichtung.
Wir haben sowohl das Gesetz als auch die Verordnung
mit den betroffenen Verbänden diskutiert. Dabei zeigte
sich: Den einen ging der Entwurf zu weit, den anderen
nicht weit genug. Dies ist, was die Spitzenverbände an-
geht, kein ungewöhnliches Bild. Wichtig für mich war
aber, dass die unmittelbar Betroffenen, nämlich die Trä-
ger der Berufsbildungseinrichtungen, sowohl Gesetz als
auch Verordnung einhellig begrüßt haben.
Lassen Sie mich mit einigen über Fachfragen hinaus-
gehende Bemerkungen schließen: So wünschenswert es
auch sein mag, dass alle Auszubildenden einen Ausbil-
dungsplatz im Betrieb finden: Außerbetriebliche Auszu-
bildende sind eine Realität. Außerbetriebliche Auszubil-
dende sind auch keine Auszubildenden zweiter Klasse.
Wir dürfen deshalb unsere Augen vor ihrem Wunsch nach
Mitwirkung nicht verschließen.
Manche sagen: Gegen Mitwirkung haben wir nichts,
aber muss es denn gleich so konsequent sein? Ich meine,
ja! Deshalb waren die Kollegen Brase, Simmert und ich
uns von Anbeginn einig, dass es nicht darum gehen
kann, hier eine „Schülermitverwaltung Light“ zu kon-
struieren. Es gilt, die Auszubildenden in außerbetrieb-
lichen Aubildungsstätten auch über die reinen Aus-
bildungsinhalte hinaus an betriebliche Wirklichkeiten
heranzuführen. Zu betrieblicher Wirklichkeit gehört be-
triebliche Mitwirkung. Ebenso wie der Betriebsrat Ent-
scheidungen des Arbeitgebers inhaltlich beeinflussen
kann und soll, sollen auch die außerbetrieblichen Aus-
zubildenden an der Willensbildung und an den Entschei-
dungen und Maßnahmen der Berufsbildungseinrichtung
teilhaben. Dabei dient die Beteiligung gemeinsamen
Zielen, nämlich dem Wohl der Bildungseinrichtung und
dem Wohl der Auszubildenden.
Dies hat erhebliche Vorteile: Die Argumente der Aus-
zubildenden werden in die Entscheidungen einbezogen,
die Entscheidung wird dadurch „richtiger“. Es bestehen
Begründungszwänge. Für Maßnahmen gibt es mehr Ver-
ständnis, auch wenn sie eventuell nachteilig sind. Maß-
nahmen und Entscheidungen der Berufsbildungseinrich-
tung gewinnen an Plausibilität, Transparenz und
Akzeptanz. Diese Vorteile verdrängen die durch Mitbe-
stimmung nie ganz auszuschließende eventuell aufwendi-
gere oder zeitlich verzögerte Entscheidungsfindung.
Mitwirkung bedeutet nicht einseitiger Ausbau von
Rechten. Mitwirkung bedeutet auch Verpflichtung und
Verantwortung. Mitwirkung bedeutet Eigeninitiative und
gesellschaftliches Engagement. Wir brauchen qualifi-
zierte, motivierte, kreative junge Menschen, die sich für
die Belange anderer einsetzen. Das vorliegende Gesetz ist
deshalb auch eine Aufforderung an die jungen Frauen und
Männer, sich zu engagieren und demokratische Teilhabe
zu leben. Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung zu die-
sem Gesetz.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
(PBefG) (Tagesordnungspunkt 12)
Iris Gleicke (SPD): Wir verabschieden heute eine
Gesetzesänderung, mit der wir ein Stück überflüssiger
Bürokratie beseitigen, vielen Jugendverbänden bei ihrer
alltäglichen Arbeit helfen und gleichzeitig den Verbrau-
cherschutz stärken.
Den Sachverhalt, um den es geht, darf man getrost als
ein wenig bizarr bezeichnen. Wenn etwa ein Jugendverein
in Deutschland eine Ausflugsfahrt oder Ferienzielreise
anbietet und den Teilnehmerkreis nicht auf seine eigenen
Mitglieder beschränkt, verwandelt er sich nach geltendem
Recht automatisch in einen Veranstalter im Sinne des Per-
sonenbeförderungsgesetzes und muss sich die entspre-
chende Genehmigung beschaffen, und zwar auch dann,
wenn der beauftragte Busunternehmer eine solche Lizenz
hat. Die kostet Geld, immerhin einige Hundert Mark, und
das Ganze ist natürlich auch mit bürokratischem Aufwand
verbunden. Insbesondere für kleinere Vereine stellt das
eine erhebliche Belastung dar.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222930
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Dieses Phänomen der doppelten Genehmigungspflicht
bezeichnet man im Fachjargon als „Doppellizenz“, und
genau diese Doppellizenz wollen wir hier und heute ab-
schaffen.
Der schöne Spruch, dass doppelt gemoppelt besser
hält, gilt nämlich nicht immer. Es ist überhaupt nicht ein-
zusehen, dass für ein und dieselbe Fahrt zwei Genehmi-
gungen vorliegen müssen. Denn es geht bei der Geneh-
migung lediglich um den Transport. Wer eine Fahrt mit
dem Bus veranstaltet, sucht sich doch selbstverständlich
einen seriösen Busunternehmer als Partner, der über die
entsprechende Genehmigung verfügt, und mit diesem Un-
ternehmer wird die Fahrt gemeinsam geplant. Das ist ganz
alltägliche und normale Praxis.
Die Doppellizenz gilt wohlgemerkt nur für Busreisen.
Wer als Veranstalter die Bahn oder das Flugzeug benutzt,
braucht sich um eine solche Genehmigung nicht zu küm-
mern. Die Doppellizenz ist eine deutsche Besonderheit
mit schwerwiegenden Folgen nicht nur für die Jugend-
verbände. Es gab auch deshalb Ärger, weil amerikanische
und japanische Veranstalter, die deutsche Unternehmer
einsetzten, selbst nicht im Besitz einer Genehmigung
nach dem Personenbeförderungsgesetz waren.
Man hat zunächst versucht, dem Problem auf der un-
tergesetzlichen Ebene beizukommen. Erleichterungen für
die Jugendverbände im Hinblick auf die Doppellizenz
versprach man sich bis vor einiger Zeit von einer von den
für den Straßenpersonenverkehr zuständigen Länderrefe-
renten abgesprochenen Auslegung des PBefG, nach der
unter bestimmten Voraussetzungen kein genehmigungs-
pflichtiger Personenverkehr angenommen werden sollte.
Die Veranstaltergenehmigung sollte dann entfallen, wenn
die Beförderungen für einen beschränkten Personenkreis,
zum Beispiel als Jugendaustausch, durchgeführt wurden
und wenn ein Feriendienst nach außen hin nicht als Be-
förderer auftrat, sondern deutlich machte, dass ein Dritter
als Unternehmer beauftragt wurde.
Das klingt im Rahmen der leider so weit verbreiteten
bürokratischen Sprache zwar fast einigermaßen elegant,
aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Zum einen
hätten die Vereine in diesem Fall streng genommen nicht
mehr selbst als Veranstalter auftreten dürfen, denn Veran-
stalter wäre der Beförderer, also der Unternehmer gewe-
sen. Zum anderen ist es sehr schwierig zu definieren, was
denn ein beschränkter oder geschlossener Personenkreis
eigentlich ist. Ein beschränkter Personenkreis ist auf je-
den Fall dann nicht mehr gegeben, wenn nicht nur Ver-
einsmitglieder mitfahren und wenn für die Veranstaltung
öffentlich geworben wird.
Das klingt alles sehr kompliziert, und es ist auch wirk-
lich ganz furchtbar kompliziert. Ich will das Ganze des-
halb an einem einfachen Beispiel illustrieren: Ein Ju-
gendzentrum plant einen Besuch im Schwimmbad in der
nächsten Stadt und bestellt einen Omnibus beim örtlichen
Busunternehmer. Gleichzeitig macht man einen Aushang
am Schwarzen Brett, damit sich Jugendlichen zu dieser
Fahrt anmelden können. Das ist ein ganz normaler Vor-
gang, den wir alle kennen und völlig in Ordnung finden.
Wer käme schon auf die Idee, dass man dafür eine beson-
dere Genehmigung braucht. Tatsächlich liegt hier jedoch
ein eindeutiger Verstoß gegen geltendes Recht vor. Ver-
anstalter ist nämlich ganz eindeutig das Jugendzentrum
und nicht der beauftragte Busunternehmer, und von einem
beschränkten Personenkreis kann auch keine Rede sein,
weil für die Teilnahme an der Fahrt öffentlich geworben
worden ist. Demzufolge hätte das Jugendzentrum für
diese Fahrt eine Genehmigung nach dem Personenbeför-
derungsgesetz gebraucht. Das ist ganz einfach bescheuert.
Künftig sind Veranstalter im Gelegenheitsverkehr
– damit auch die anerkannten Träger der freien Jugend-
hilfe – von der Genehmigungspflicht ausgenommen unter
der Bedingung, dass ein lizenzierter Busunternehmer mit
der Beförderung beauftragt wird und dass dies gegenüber
den Teilnehmern deutlich gemacht wird. Konkret heißt
das: Den Teilnehmern an solchen Fahrten muss künftig
mitgeteilt werden, welcher Busunternehmer die Beförde-
rung durchführt. Das ist eine saubere und einfache Lösung
eines komplizierten Problems.
Uns ging und geht es darum, einen unguten und un-
sauberen Rechtszustand zu heilen. Denn das geltende
Recht ist in den verschiedenen Bundesländern durchaus
unterschiedlich Interpretiert worden. Insbesondere in den
alten Ländern hat es offenbar Arrangements gegeben, die
gerne als „liberal“ bezeichnet worden sind und die man
bei genauerer Betrachtung als zumindest überaus „krea-
tiv“ einstufen müsste. Da haben die Behörden offenbar öf-
ters beide Augen zugedrückt.
Irgendwelche mehr oder weniger abenteuerlichen Hilfs-
konstruktionen liegen aber weder im Interesse der Ver-
kehrssicherheit noch des Verbraucherschutzes. Sie liegen
übrigens auch nicht im Interesse der Busunternehmer.
Wenn wir hier keine Klarheit schaffen, werden eine ganze
Reihe von Fahrten nämlich zukünftig mit der Bahn ge-
macht, oder sie fallen schlicht und ergreifend aus. Davon
hätte die Busbranche nun wirklich nichts.
Ich habe mich in diesem Zusammenhang wirklich sehr
über die völlig maßlose und überzogene Kritik der Bus-
unternehmerverbände an unserem Gesetzentwurf geär-
gert. So wurde uns im vergangenen September in der
größten deutschsprachigen Fachzeitschrift für die Touris-
muswirtschaft, FVW, mit fetter Schlagzeile unterstellt,
wir wollten „freie Fahrt auch für schwarze Schafe“. Ich
fand es auch nicht gerade prickelnd, dass der Bundesver-
band Deutscher Omnibusunternehmer einen Monat später
nachgelegt hat und erklärt hat, Reisegäste würden „unzu-
reichend geschützt sein“ und ihre „Sicherheit wäre beein-
trächtigt“, wenn die Gesetzesinitiative durchkäme.
Das ist alles totaler Quatsch, denn wir bekämpfen mit
dem Gesetz den Schwarztourismus, weil künftig mehr
Fahrten als bisher von lizenzierten Omnibusunternehmen
durchgeführt werden. Diese werden künftig die Beförde-
rungen übernehmen können, die ohne Rechtsänderung
von den Vereinen selbst oder von Privatleuten durchge-
führt würden. Wir sorgen damit indirekt für mehr Ver-
kehrssicherheit.
Ich bin überzeugt davon, dass wir hier und heute ein
gutes Gesetz im Interesse aller Beteiligten verabschieden,
ich wünsche mir eine ganz breite Mehrheit für dieses Ge-
setz, und ich bedanke mich bei der Bundesregierung und
ganz ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kolle-
gen von der Opposition für die gute Zusammenarbeit.
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Peter Letzgus (CDU/CSU): In der letzten Zeit erhiel-
ten viele Abgeordnete, speziell die aus unserem Aus-
schuss, Zuschriften von Jugendorganisationen, Trägern
der freien Jugendhilfe und Sportvereinen, die eine Verän-
derung im Personenbeförderungsgesetz forderten.
Das Problem besteht darin, dass Jugenderholungs- und
Jugendbegegnungsfahrten, die für Jugendliche allgemein
zugänglich sind, als Gelegenheitsverkehr unter das Perso-
nenbeförderungsgesetz fallen. Die Veranstalter gelten als
„Unternehmer“ und benötigen für die Durchführung die-
ser Fahrten nach geltender Rechtslage eine Geneh-
migung. Sie benötigen diese Genehmigung auch dann,
wenn die Fahrten von einem Unternehmen des gewerb-
lichen Straßenpersonenverkehrs durchgeführt werden,
das ohnehin schon im Besitz einer solchen Genehmigung
ist. Hier liegt ein doppeltes Genehmigungserfordernis
vor, eine Überregulierung, die in der Praxis vor allem den
kleinen Trägern der freien Jugendhilfe, Jugendorganisa-
tionen und Sportvereine Schwierigkeiten bereitet.
Der vorliegende Entwurf zur Änderung des Personen-
beförderungsgesetzes wird die geltende Gesetzeslage ver-
einfachen. Die Ziele eines geordneten Personenverkehrs
wie die Gewährleistung der Verkehrssicherheit und der
Schutz der Teilnehmer werden nicht eingeschränkt. Sie
sind bereits durch die vorliegende Genehmigung des mit
der Beförderung beauftragten gewerblichen Unterneh-
mens gegeben. Eine Beeinflussung des Marktes ist nicht
zu befürchten.
Die bisherige Verwaltungspraxis auf der Grundlage
des geltenden Rechts führte teilweise zu Rechtsunsicher-
heiten und war mit dem Risiko verbunden, dass die Ver-
anstalter von Jugenderholungs- und -begegnungsreisen
das Risiko eingingen, eine mit erheblichem Bußgeld be-
legte Ordnungswidrigkeit zu begehen, wenn die Fahrten
ohne Genehmigung durchgeführt wurden.
Die vorliegende Änderung zum Personenbeförde-
rungsgesetz beeinträchtigt also nicht die Ziele eines ge-
ordneten Personenverkehrs, sie beseitigt Rechtsunsicher-
heit und das doppelte Genehmigungsverfahren. Die
CDU/CSU ist immer der Ansicht, dass der Staat nur das
regeln muss, was unbedingt notwendig ist. Überregulie-
rungen lehnen wir ab. Demzufolge stimmen wir dem vor-
liegenden Entwurf zur Änderung des Personenbeförde-
rungsgesetzes zu.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen,
den wir heute abschließend beraten, beseitigt die unsi-
chere Rechtslage, nach der ein Veranstalter, wie zum Bei-
spiel ein Sportverein oder Jugendverband, bei der Beför-
derung von Nichtmitgliedern in Zusammenhang mit
Mitgliederreisen nach dem Personenbeförderungsrecht
als Unternehmer behandelt wird und daher eine Lizenz
benötigt. Dies führt gerade bei kleineren Vereinen zu ei-
nem bürokratischen und finanziellen Aufwand.
Wie absurd dieser Passus im Gesetz war, zeigt die Tat-
sache, dass es sogar einer Genehmigung des Veranstalters
bedurfte, wenn der mit der Beförderungsleistung beauf-
tragte Busunternehmer im Besitz einer Genehmigung war.
Eine mit den Ländern abgesprochene Auslegung des
bisherigen PbefG, wonach unter bestimmten Bedingungen
bei den Vereinen kein genehmigungspflichtiger Personen-
verkehr angenommen werden solle, hat sich auf Dauer als
nicht tragfähig erwiesen, weil dieses eine uneinheitliche
Rechtsauslegung zur Folge hatte. Insbesondere die kleinen
anerkannten Träger der freien Jugendhilfe, die einen ge-
setzlichen Auftrag nach dem Kinder- und Jugendhilfe-
gesetz erfüllen, wurden durch eine problematische Geneh-
migungspraxis in ihrer Arbeit behindert. Insofern bin ich
froh, dass sich – auch im Hinblick auf eine aktive Jugend-
politik – die Koalitionsfraktionen entschlossen haben, die-
ser Verunsicherung ein Ende zu bereiten und eine eindeu-
tige Regelung zu schaffen. Ich bin sehr erfreut, dass sich
auch die anderen Parteien des Deutschen Bundestages die-
sem Anliegen anschließen konnten.
Die Kritik der Busverbände an dieser Gesetzesänderung
läuft ins Leere, denn nach wie vor wird die Beförderung
von einem Unternehmer im Sinne des Personenbeförde-
rungsgesetzes durchgeführt. Damit haben die Reiseteilneh-
mer die Garantie, dass die Beförderung tatsächlich von
einem fachlich versierten Busunternehmen durchgeführt
wird. Durch diese eindeutige Regelung wird auch der
von den Verbänden der Busunternehmen so gefürchtete
„Schwarztourismus“ bekämpft, weil klare Verhältnisse ge-
schaffen werden.
Im Gegenteil: Ich glaube, dass die seriösen Busunter-
nehmer mehr Aufträge bekommen werden als bisher, weil
aufgrund der neuen Gesetzeslage mehr Fahrten stattfin-
den können. Im Übrigen wird durch die Gesetzesände-
rung auch der Verbraucherschutz nicht verwässert, wie
manche Busunternehmer befürchten, weil die Reisever-
anstalter weiterhin gesetzlichen Vorschriften, wie bei-
spielsweise dem BGB, unterliegen.
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Mit dem heute zu
diskutierenden Gesetz wird ein langer Streitpunkt zwi-
schen Jugendverbänden, Busunternehmern und dem Ge-
setzgeber vorläufig beendet. Vorläufig deshalb, weil bei
der Beratung im Verkehrsausschuss auf Anregung der
FDP und aufgenommen von den Koalitionsfraktionen
vereinbart worden ist, nach einer Zeit von zwei Jahre
nach In-Kraft-Treten des Gesetzes einen Erfahrungsbe-
richt vorzulegen, der beinhaltet, ob Wettbewerbsverzer-
rungen zwischen den gewerblichen Busunternehmen und
veranstaltenden Jugendverbänden aufgetreten sind.
Wie bereits beim GüKG oder in anderen vergleichbaren
Gesetzen sind Jugendverbänden, die anerkannte Träger
der freien Jugendhilfe sind, bereits Ausnahmeregelungen
eingeräumt worden. Beim vorliegenden Fall geht es da-
rum, dass Jugenderholungs- und Jugendbegegnungsmaß-
nahmen, die als Gelegenheitsverkehre in der Form von
Ausflugsfahrten und Ferienzielreisen für Jugendliche all-
gemein zugänglich sind, bisher als genehmigungspflich-
tige Personenbeförderungen unter das Personenbeförde-
rungsgesetz gefallen sind. Die Veranstalter – das heißt in
aller Regel die Vereine – sind nach der derzeit geltenden
Rechtslage Unternehmer im Sinne des Personenbeförde-
rungsgesetzes und benötigen deshalb eine Genehmigung
nach diesem Gesetz, wenn sie solche Gelegenheitsver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222932
(C)
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kehre ausschreiben und einem nicht geschlossenen Perso-
nenkreis anbieten, also nicht nur Vereinsmitgliedern.
Diese Vorschrift gilt bis jetzt auch dann, wenn die Be-
förderungen von einem Unternehmer des gewerblichen
Straßenpersonenverkehrs, der im Besitz aller Genehmi-
gungen ist, durchgeführt werden. Insbesondere kleine an-
erkannte Träger der freien Jugendhilfe, zum Beispiel
Pfadfindergruppen oder freie Träger der Jugendarbeit, se-
hen sich dadurch zunehmend in ihrer Arbeit behindert, vor
allen Dingen auch durch die entstehenden Kosten.
Offensichtlich ist eine Regelung unter Beibehaltung
des bisherigen Gesetzesrahmens bei flexibler Auslegung
der Länder nicht sicherzustellen. Insbesondere besteht die
Gefahr einer nicht einheitlichen Verwaltungspraxis, was
das Problem eher erschwert als erleichtert. Deshalb hat
die jetzige Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
zum Inhalt, dass Veranstalter, die anerkannte Träger der
freien Jugendhilfe sind, dadurch in ihrer Arbeit unterstützt
werden, dass sie keine weitere Genehmigung als Veran-
stalter benötigen, wenn der mit der Beförderungsleistung
beauftragte Busunternehmer im Besitz einer Genehmi-
gung ist.
Die Ausschussberatungen haben deutlich gemacht,
dass die inhaltliche Lösung in relativ breitem Konsens
aller Parteien möglich ist. Wir Liberalen haben darauf
hingewiesen, dass zumindest auch die Gefahr eines Miss-
brauchs besteht und deswegen die jetzige Gesetzespraxis
im Interesse der gewerblichen Busunternehmerschaft
nach angemessener Zeit zu überprüfen ist. Die Fraktion
der SPD hat erklärt, dass die Auswirkungen der jetzigen
gesetzlichen Änderungen durch Vorlage eines möglichst
genauen Erfahrungsberichts nach Ablauf eines Zeitraums
von zwei Jahren überprüft werden sollen, was auch die
Bundesregierung in der Ausschusssitzung zugesichert
hat. Wir werden diese Prüfpflicht im Rahmen unserer Ver-
antwortung für ein effizientes Arbeiten auch der gewerb-
lichen Busunternehmer im Auge behalten.
Rosel Neuhäuser (PDS): Das Personenbeförde-
rungsgesetz, welches seit einigen Jahren gilt, erfuhr seit
geraumer Zeit eine vermehrte Brisanz.
Im Kern ging es um Folgendes:
Die Organisation und Durchführung von Ferienlagern,
Jugendreisen, Erholungsfahrten und internationalen Be-
gegnungen gehören von jeher zu den Aufgaben der Kin-
der- und Jugendarbeit. Gemeinsame Freizeitreisen haben
neben ihrem Erholungswert auch eine wichtige Bedeu-
tung für das Erleben demokratischer Verantwortung und
dienen der Verständigung, dem toleranten Umgang
miteinander und der Übernahme von Verantwortung.
Leider erklärte das Personenbeförderungsgesetz Kin-
der- und Jugendverbände zu Unternehmen, die sie weder
sind noch sein wollen. An der Wirklichkeit von Jugend-
verbandsarbeit geht das natürlich zwangsläufig vorbei. Es
kann nicht sein, dass ein freier Träger, der für Kinder- und
Jugendliche Ferienaufenthalte organisiert, vom Ord-
nungsamt warnend darauf hingewiesen wird, dass hierfür
eine Genehmigung nach dem Personenbeförderungsge-
setz notwendig ist, obwohl ein Busunternehmen beauf-
tragt wurde. Bekanntlich sind Busunternehmen im Besitz
einer entsprechenden Lizenz.
Die Hauptargumente, die von verschiedenen Seiten ins
Feld geführt wurden, nämlich die Frage der Verkehrs-
sicherheit und der angebliche Verstoß gegen das Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb, überzeugt nicht, mich
jedenfalls nicht. Abgesehen davon ist zu fragen, ob nicht
eine Benachteiligung im Sinne des Gesetzes gegen un-
lauteren Wettbewerb dann vorliegt, wenn der Jugend-
verband bei seinen Reiseangeboten zweimal die – anteili-
gen – Kosten für die Genehmigungen trägt, die des
Busunternehmens und die der eigenen. Bekanntermaßen
werden entstehende Kosten auf den Teilnehmerpreis um-
geschlagen.
Tatsache war bis vor einem Jahr auch noch, dass Ver-
bände bei Missachtung der Genehmigungspflicht mit
Ordnungsstrafen bis zu einer Höhe von 10 000 DM rech-
nen konnten. Die damit häufig in Verbindung stehende
und praktizierte stillschweigende Einigung aller Beteilig-
ten, das Personenbeförderungsgesetz weder zu befolgen
noch zu verändern, halte ich für grob fahrlässig. Zudem
wird die Glaubwürdigkeit von Demokratie und Recht un-
tergraben.
Mehrfach hat die AGJ und viele betroffene Vereine und
Verbände auf Probleme mit dem Personenbeförderungs-
gesetz und der darin enthaltenen „Doppellizenz“ in den
zurückliegenden Jahren hingewiesen und vergeblich ver-
sucht, eine Gesetzesänderung zu erreichen. Die sachliche
Notwendigkeit einer Genehmigungspflicht nach dem Per-
sonenbeförderungsgesetz vermag ich genau wie die AGJ
und viele andere aus genannten Gründen nicht zu sehen.
Nun liegt uns eine Änderung des Personenbeförde-
rungsgesetzes zur Abstimmung vor.
Mit unserem – hoffentlich – einmütigen Abstimmungs-
verhalten leisten wir heute einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit und anerkennen
außerdem ehrenamtliches Engagement.
Zum Schluss komme ich aber nicht umhin, entgegen
einigen Pressemeldungen, zum Beispiel des CVJM, da-
rauf hinzuweisen, das auch meine Fraktion den vorlie-
genden Antrag mit trägt und ich selbst zu den Mitinitiato-
ren, was die Aufarbeitung der Problematik betraf, zähle.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Untätigkeit der Bun-
desregierung gegenüber der Europäischen Kom-
mission im Hinblick auf den Abschluss des
Hauptprüfverfahrens in Sachen Investitionsbei-
hilfen fürLeuna/Minol (Tagesordnungspunkt 13)
Friedhelm Julius Beucher (SPD): Dass wir heute
über diesen Antrag der CDU reden, ist überflüssig wie ein
Kropf. Sie wollen, dass der Deutsche Bundestag die Bun-
desregierung auffordert, darauf hinzuwirken, dass die
EU-Kommission ein Prüfverfahren zügig abschließt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22933
(C)
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(B)
Erstens. Die Bundesregierung hat dies meines Wissens
nach bereits mehrfach in angemessener Weise getan.
Zweitens. Wir werden uns sicher nicht daran beteili-
gen, dass in unangemessener Weise Druck auf die EU-
Kommission ausgeübt wird – schon gar nicht, wenn die
CDU sich hier offenbar in altbewährter Weise allein für
die Interessen eines Investors einsetzen will.
Diesen Einsatz, den die CDU hier an den Tag legt, den
hätten wir uns gewünscht bei der Aufklärung der Leuna-
Affäre. Dann wären wir wohl schon ein Stück weiter. Aber
da hat die Union rein gar nichts beigetragen – im Gegen-
teil, sie hat gemauert, blockiert, geschwiegen und abge-
lenkt.
Der Verdacht, dass hier bestochen wurde, dass hier be-
trogen wurde auf Kosten des Steuerzahlers, ist beileibe
nicht ausgeräumt. Vor dem Untersuchungsausschuss ha-
ben die zentralen Zeugen nicht ausgesagt. Solange
Helmut Kohl, der ehemalige Bundeskanzler, der sich
noch immer außerhalb unserer Gesetze bewegt, die Geld-
quellen für seine schwarzen Kassen nicht nennt, solange
bleibt der Verdacht, dass er sich hat bestechen lassen –
zum Beispiel für das Wohlwollen gegenüber dem Investor
der Leuna-Raffinerie. Dieser Verdacht wird an ihm hän-
gen bleiben und mit ihm an der ganzen CDU.
Das wird auch der Justiziar der CDU-Fraktion,
Andreas Schmidt, nicht verhindern können. Da kann er
auf seinen Pressekonferenzen so viel Nebelkerzen wer-
fen, wie er will, so wie er es zum Beispiel auch gestern
gleich zweimal tat. Aber es liegt ja auf der Hand, warum
er solche Probleme mit der Wahrheit hat: Er will von den
Verfehlungen seiner eigenen Partei ablenken und andere,
die sich um Aufklärung bemühen, mit Dreck bewerfen.
Um das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ich freue
mich, dass die Anlage bei Leuna brummt. Ich freue mich
über die Arbeitsplätze, über das Wachstum, über die so-
ziale Sicherung gerade an diesem Standort. Nie wird auch
nur ein Wort über meine Lippen gehen, das sich gegen die
Mitarbeiter der Raffinerie richtet. Das habe ich den Leu-
ten vor Ort auch gesagt – übrigens weit bevor sich Herr
Schmidt dorthin bewegt hatte. Meine Kritik richtet sich
gegen die alte Bundesregierung, die – wie es die Treu-
handanstalt damals formulierte – „eine sorgfältige, ratio-
nale, am Wirtschaftlichen orientierte Verhandlungs-
führung“ behindere, in dem sie „immer aus ‚Bonn’
politische Vorgaben“ mache. Meine Kritik richtet sich ge-
gen Leute, die sich wie die CDU/CSU-Fraktion mit Hän-
den und Füßen dagegen wehren, dass einer der größten
Skandale der Bundesrepublik aufgeklärt wird.
Vielleicht wird noch mehr Zeit ins Land gehen, viel-
leicht sogar noch Jahre. Aber ich bin sicher, irgendwann
wird es sich herausstellen, dass beim Leuna-Deal die
CDU oder einzelne CDU-Leute sich auf illegale Weise die
Taschen vollgestopft haben. Die Wahrheit mag spät kom-
men, aber sie kommt.
Gerhard Schulz (CDU/CSU): Der Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, über den wir heute bera-
ten, befasst sich mit einem der dunkelsten Kapitel in der
langen Reihe von Tricksereien und Täuschungen der rot-
grünen Bundesregierung. Es geht um ein besonders be-
zeichnendes Beispiel, wie diese Bundesregierung um des
vermeintlichen eigenen politischen Vorteils willen Fakten
verdreht, falsche Anschuldigungen erhebt und Nachteile
für Dritte dabei bewusst in Kauf nimmt.
Besonders bedauerlich ist, dass im vorliegenden Fall
diese Nachteile und Schädigungen einen der erfolgreichs-
ten und zuverlässigsten Investoren in Sachsen-Anhalt be-
treffen.
Der Neubau der Leuna-Raffinerie ist ein Lehrbeispiel
dafür, wie erfolgreich Ansiedlungspolitik in den neuen
Ländern betrieben werden kann. Zur Erinnerung: Es war
Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich – gegen den erklär-
ten Willen der deutschen Chemieindustrie – für den Erhalt
des Chemiedreiecks eingesetzt hat.
Durch den Neubau der Raffinerie haben letztlich fast
10 000 Menschen in einer strukturschwachen Region
sichere und zukunftsfähige Arbeitsplätze erhalten. Es
wurden von Elf in Leuna Investitionen in Höhe von mehr
als 2,4 Milliarden Euro getätigt. Hierfür wurden Beihilfen
von fast 1 Milliarde Euro zugesagt, die nach Investitions-
fortschritt zur Auszahlung kommen sollten. Abgerufen
wurde etwa eine halbe Milliarde Euro.
Die Beihilfeintensität liegt unter 25 Prozent und liegt
damit weit unter dem für die neuen Länder zulässigen
Höchstsatz von 35 Prozent. Seit mittlerweile drei Jahren
werden rund 60 Millionen Euro an fälligen Fördermitteln
für Elf von der EU-Kommission blockiert. Die EU-Kom-
mission hat im Juli 1997 ein beihilferechtliches Haupt-
prüfverfahren zu den bewilligten Investitionsbeihilfen für
den Neubau der Leuna-Raffinerie eröffnet, um zu prüfen,
ob die von Elf geltend gemachten Investitionskosten
künstlich überhöht worden waren, um Subventionen in
nicht gerechtfertigter Höhe zu erhalten.
Eine von der Kommission beauftragte italienische Gut-
achterfirma kam zunächst zu dem Ergebnis, dass die Kos-
ten um circa 360 Millionen Euro zu hoch angesetzt wor-
den seien. Intensive Prüfungen von BMF, BvS und Elf
ergaben jedoch im April 1999, dass die geltend gemach-
ten Aufwendungen tatsächlich erfolgt sind. Das wurde ge-
genüber der Kommission dargelegt und glaubhaft ge-
macht. Diese Stellungnahme, die einen Totalverriss des
Kommissionsgutachtens darstellt, führte dazu, dass der
italienische Gutachter sein ursprüngliches Gutachten und
die darin aufgestellten Behauptungen völlig revidieren
musste. Damit bestand kein rechtlicher Grund mehr für
die Fortführung des Hauptprüfverfahrens!
Obwohl die Bundesregierung das wusste, hat sie es un-
terlassen, gegenüber der Kommission auf einen Ab-
schluss des Hauptprüfverfahrens zu dringen. Sie hat sich
vielmehr wider besseres Wissen aktiv an den um die
Leuna-Privatisierung wuchernden und nie belegten
Schmiergeldspekulationen beteiligt, weil sie sich davon
erhoffte, die frühere Bundesregierung und den ehemali-
gen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in den Schmutz zie-
hen zu können.
Diese Versuche, die ja nicht nur auf die Leuna-Privati-
sierung beschränkt waren, sind bekanntlich mittlerweile
gründlich in die Hose gegangen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222934
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(B)
Einer der herausragenden Täuschungsversuche war da-
bei die der Öffentlichkeit zunächst verborgen gebliebene
Einrichtung der so genannten Sondertaskforce durch das
Finanzministerium im September 2000, die prüfen sollte,
ob der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang
mit der Privatisierung von Leuna/Minol ein finanzieller
Schaden entstanden ist. Nachdem die Tätigkeit dieser
Gruppe, die unter außerordentlich fragwürdigen recht-
lichen Grundlagen agierte und von der Presse als „Dillers
Detektive“ bezeichnet wurde, durch einen Zufall bekannt
wurde, mussten natürlich Ergebnisse her.
So wurde pünktlich zum Auftritt von Herrn Staatsse-
kretär Diller vor dem Untersuchungsausschuss im Mai
2001 unter großem Mediengetöse eine Strafanzeige an die
Staatsanwaltschaft Magdeburg wegen des Verdachts des
Subventionsbetruges gegen Verantwortliche der Leuna-
Raffinerie fabriziert. Behauptet wurde, es hätten sich An-
haltspunkte dafür ergeben, dass angebliche Schmiergel-
der in die Investitionskosten eingerechnet worden seien.
Dass dies in Wirklichkeit nicht der Fall war, hatte die
Bundesregierung aber bereits bei der Erarbeitung ihrer
Stellungnahme an die EU-Kommission im April 1999
festgestellt.
Diese Stellungnahme wurde ebenso wie andere entlas-
tende Unterlagen der Staatsanwaltschaft natürlich nicht
vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hat daher
nach ebenfalls intensiver Prüfung folgerichtig einen An-
fangsverdacht verneint und es abgelehnt, ein Ermittlungs-
verfahren einzuleiten.
Herr Diller hatte zunächst in der Antwort auf eine
Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion behauptet, von
der Stellungnahme der Bundesregierung erst im Juli 2001,
also nach der Anzeigeerstattung durch die Sondertask-
force, erfahren zu haben. Später musste die Bundesregie-
rung dann in einer weiteren Antwort auf eine Kleine An-
frage unserer Fraktion einräumen, dass Herr Diller doch
bereits im Januar 2001 angeblich auszugsweise über die
Stellungnahme unterrichtet worden war.
Irgendwie erinnert mich das an die Vorgehensweise bei
der aktuellen Frage, ob Herr Müntefering die Namen der
Spender bei seiner Befragung im Spendenuntersuchungs-
ausschuss wusste oder nicht.
Zurück zum Thema: Die Handelnden im Finanzminis-
terium wussten, dass bereits unter der Verantwortung der
rot-grünen Bundesregierung durch BMF, BvS und dem In-
vestor Elf nach intensiven Prüfungen festgestellt worden
war, dass Elf die geltend gemachten Investitionskosten
tatsächlich aufgewendet hatte, und haben gleichwohl eine
Strafanzeige erstattet, in der dasGegenteil behauptetwurde.
Inwieweit der Finanzminister darüber unterrichtet war,
sollte er heute vor dem Untersuchungsausschuss darle-
gen. Auch insoweit gibt es dem Vernehmen nach entspre-
chende Anhaltspunkte.
Aber das Scheitern der Strafanzeige war ja nicht Ihr
einziger Fehlschlag. Auch die Akten des Genfer General-
staatsanwalts Bertossa haben nicht den von Rot-Grün lan-
cierten Inhalt gehabt. Hier kam der Generalbundesanwalt
nach Prüfung zu der Erkenntnis, dass es keinerlei Hin-
weise auf strafrechtlich relevante Zahlungen nach
Deutschland im Zusammenhang gibt. Auch der Untersu-
chungsausschuss hat nach intensiven Ermittlungen kei-
nerlei Hinweise auf eine Bestechlichkeit der früheren
Bundesregierung im Zusammenhang mit der Leuna-Pri-
vatisierung festgestellt.
All dies hat die rot-grüne Bundesregierung immer noch
nicht veranlasst, nunmehr auf einen zügigen Abschluss
des Hauptprüfverfahrens zu dringen. Offenbar hat die
Bundesregierung Angst davor, dass die Fragwürdigkeit
ihrer Aktivitäten dann noch deutlicher als bisher wird.
Die rot-grüne Bundesregierung hat bedenkenlos aus
parteitaktischen Motiven versucht, den großartigen Er-
folg der Leuna-Privatisierung in ein schiefes Licht zu
rücken. Das Vorgehen dieser Bundesregierung hat nicht
nur zu erheblichen finanziellen Nachteilen für den Inves-
tor geführt, sondern auch eine massive Rufschädigung des
Standortes Leuna in Kauf genommen. Die Bundesregie-
rung hat dabei auch in Kauf genommen, dass einer der
wenigen positiven Bilanzpunkte der Höppner-Regierung,
die höchste ausländische Direktinvestition in den neuen
Ländern realisiert zu haben – dass das eigentlich Helmut
Kohl war, wird gerne verschwiegen –, in Misskredit ge-
bracht wird. Das sind Parteifreunde! Dass man so jeden-
falls nicht mehr dringend benötigte rentable Arbeitsplätze
in den neuen Ländern schaffen kann, ist klar. Die Bürger
in Sachsen-Anhalt werden am kommenden Sonntag Ge-
legenheit haben, Rot-Grün für diese verantwortungslosen
Spielchen die verdiente Quittung zu geben.
Ich fordere die Bundesregierung daher auf: Werden Sie
endlich im Sinne unseres Antrags tätig, wirken Sie auf ei-
nen zügigen Abschluss des Hauptprüfverfahrens bei der
EU-Kommission hin.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Antragsteller sind fast alle Kollegen und Kol-
leginnen aus der Union, die mit mir im Spendenunter-
suchungsausschuss sitzen. Das macht misstrauisch. Ihre
Absicht ist durchsichtig: Sie wollen mal wieder dem ehe-
maligen Bundeskanzler Dr. Kohl beispringen und der
Bundesregierung Untätigkeit und Beteiligung an einer
„Verleumdungskampagne“ vorwerfen. Angeblich soll sie
den Abschluss eines Prüfverfahrens von Subventionen
verzögern, die bei der Privatisierung von Leuna und Mi-
nol gezahlt wurden.
Hätte sie aber schon zugestimmt, hätten Sie behauptet,
was wir im Ausschuss noch klären wollen, sei schon
geklärt und uns ginge es nur noch um Rufmord gegen
Dr. Kohl.
Nein, die Bundesregierung und auch die EU-Kommis-
sion tun gut daran, den Bericht unseres Untersuchungs-
ausschusses abzuwarten, bevor weitere Schritte erfolgen.
Schließlich geht es bei den zu prüfenden Subventionen
um Steuergelder in beträchtlicher Höhe, nämlich mehr als
1 Milliarde DM. Die Bürgerinnen und Bürger wollen,
dass gründlich geprüft wird, wenn es um den Verdacht
von krimineller Subventionserschleichung geht. Unser
Abschlussbericht wird hierzu die gesammelten Daten und
Fakten zusammenstellen. Vielleicht ist es das, was Sie
fürchten. Das wollen Sie offensichtlich nicht abwarten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22935
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Verdachtsmomente, die jede Bundesregierung zu einer
Prüfung geradezu verpflichten, sind:
Erstens. Akten zum Privatisierungsvorgang Leuna/Mi-
nol aus der Zeit der Kanzlerschaft von Dr. Kohl sind spur-
los verschwunden. Auch Aktenkopien sind nicht mehr da.
Soweit überhaupt schriftliche Unterlagen vorhanden sind,
sind diese lückenhaft. Viele Papiere sind den Untersu-
chungsausschüssen der 12. und 13. Wahlperiode von der
Kohl-Regierung vorenthalten worden. Es ist auch nicht
mehr nachvollziehbar, was dem Parlament überhaupt vor-
gelegt wurde.
Zweitens. Ein zweistelliger Millionenbetrag ist seit Be-
ginn der 90er-Jahre versteckt an die CDU und hohe Funk-
tionsträger dieser Regierungspartei bzw. an Bundeskanz-
ler Dr. Kohl geflossen. Die Herkunft dieser Gelder ist
ungeklärt. Dr. Kohl behauptet, es waren Spenden. Aber
stimmt das? Er sagt nicht, von wem die Spenden stamm-
ten. Die CDU hat mindestens seit Beginn der 80er-Jahre
mysteriöse Konten, Schließfächer und Stiftungen mit so
wohlklingenden Phantasienamen wie „Zaunkönig“ in der
Schweiz unterhalten, über die Gelder in Millionenhöhe
abgewickelt wurden, ohne dass die Herkunft der Gelder
geklärt wurde. Beteiligt hieran waren die ehrenwertesten
Kreise der CDU wie Ihr Bundesschatzmeister himself.
Der war übrigens auch im Rahmen der Privatisierung von
Leuna/Minol höchst aktiv. Könnte es Zusammenhänge
geben zwischen Schweizer Konten und Geschäften? Wa-
ren es Einflussspenden?
Drittens. Des Weiteren ist Ihr ehemaliger Staatssekre-
tär Dr. Pfahls zu nennen. Bei der Leuna/Minol-Privatisie-
rung soll Herr Dr. Pfahls auch dabei gewesen sein, nicht
nur bei dem Fuchs-Panzergeschäft, das den Ausschuss be-
schäftigt. Nach seinem Ausscheiden beim Bundesmi-
nisterium der Verteidigung im April 1992 begann er seine
Lobby-Tätigkeit für Elf Aquitaine. Inzwischen ist er in
Augsburg der Bestechlichkeit und der Steuerhinterzie-
hung angeklagt. Seit April 1999 ist er untergetaucht. Aus
Unterlagen aus der Schweiz ist ersichtlich, dass auf
Konten in Luxemburg, deren wirtschaftlich Berechtigter
Dr. Pfahls war, in den letzten Jahren 1992 bis 1995 circa
13 Millionen DM und 8,5 Millionen FF aus den Elf-Zah-
lungen geflossen sind.
Viertens ist noch der ehemalige Bundeswirtschafts-
minister Dr. Friedrichs anzuführen. Dieser war Interna-
tional Advisor der Investmentbank Goldmann und Sachs,
just jener Bank also, die das Ausschreibungsverfahren für
Leuna/Minol maßgeblich gestaltete. Gleichzeitig war er
zunächst gegen ein monatliches Honorar von 50 000 DM
für Elf Aquitaine tätig, für das Unternehmen also, welches
bei der – von Goldmann und Sachs gestalteten – Ver-
kaufsausschreibung von Leuna/Minol schließlich den Zu-
schlag erhielt. Überdies war er Aufsichtsratsvorsitzender
der beiden Unternehmen, Leuna und Minol, die – wer
mag hier noch an Zufall glauben? – an Elf Aquitaine ver-
kauft wurden.
Fünftens. Es gibt Aussagen der ehemaligen Gewaltigen
von Elf Aquitaine wie des damaligen Präsidenten Le
Floch Prigent über Zahlungen an die CDU. Le Floch
Prigent spricht in seiner Vernehmung am 22. August 2000
von so genannten „Lobbying-Maßnahmen“, Schmiergel-
der also, um 2 Milliarden DM an Subventionen von der
EU, vom Bund und den Ländern zu erreichen. Leider war
Herr P. nicht bereit, seine Aussage vor einem deutschen
Untersuchungsausschuss zu wiederholen.
Sechstens. Auch der Generalbundesanwalt stellt einen
wirren Kreislauf von Geldtransaktionen in Höhe von
256 Millionen FF aus Quellen von Elf Aquitaine ohne
erkennbaren realen wirtschaftlichen Hintergrund fest.
Und 11 Millionen DM sind in bar geflossen. Warum das,
wenn es doch nichts zu verbergen gibt?
Das sind genug Gründe nachzufragen und zu prüfen,
wie dies die Bundesregierung macht. Ihnen geht es auch
nicht um den Standort Leuna, Ihnen geht es darum, end-
lich Schluss zu machen mit „dieser ganzen Aufklärerei“,
die für Ihre Partei und Ihren ehemaligen Ehrenvorsitzen-
den so unangenehm ist. Dafür ist Ihnen fast jedes Mittel
recht.
Deshalb zum Schluss mein Rat: Ziehen Sie Ihren An-
trag zurück und helfen Sie bei der Aufklärung von Her-
kunft und Verbleib der CDU-Gelder.
Jürgen Türk (FDP): Ein politisches Trauerspiel in
mehreren Akten könnte man die Vorgänge um die Inves-
titionsbeihilfen für die Raffinerie Leuna/Minol, eine der
größten Investitionen in den neuen Ländern nach 1989,
mit Fug und Recht nennen.
1997 erhob die EU Einspruch gegen die Höhe der ge-
währten Subventionen und eröffnete ein beihilferecht-
liches Hauptprüfverfahren. Die EU war der Meinung,
dass die Höhe der gewährten Subventionen unangemes-
sen sei, weil die Gesamtkosten für den Raffineriebau aus
ihrer Sicht bewusst und gewollt überhöht worden waren.
Dieser Vorwurf ist, auch aufgrund der Intervention der
Bundesregierung, bereits 1999 abgeschmettert worden.
Trotzdem ist das Hauptprüfverfahren bis heute weder ab-
geschlossen noch eingestellt worden, angeblich aufgrund
noch andauernder staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen,
in Wirklichkeit aber wohl eher, weil es der Bundesregie-
rung politisch nicht in den Kram passt und sie deshalb kei-
nen Finger rührt, um die leidige Sache aus der Welt zu
schaffen. Sie möchte das Süppchen noch ein wenig am
Kochen halten, wenigstens bis zur nächsten Bundestags-
wahl, um CDU und FDPeins auszuwischen. Denn die Ko-
alitionsregierung, namentlich Bundeskanzler Helmut
Kohl, hat sich bekanntlich stark dafür engagiert, dass
diese Investition zustande gekommen ist. Man hat ver-
sucht, Kohl daraus nachträglich einen Strick zu drehen,
indem man ihm Untreue unterstellte und ein Verfahren an-
hängte, das inzwischen eingestellt wurde. Aber die Ver-
leumdungskampagne, die auf eine gezielte Vernichtung
von Leuna-Akten durch die CDU-FDP-Regierung ab-
hebt, schwelt noch immer, und das, obwohl die Staats-
anwaltschaft trotz intensiver Ermittlungen keine straf-
baren Vorgänge fand. Als die Bonner Staatsanwälte das
Verfahren deshalb im September 2001 einzustellen ge-
dachten, kam harsche Kritik aus dem Kanzleramt. Der
Generalstaatsanwalt in Düsseldorf verfügte schließlich,
dass weiter zu ermitteln sei.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222936
(C)
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(A)
(B)
Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung in diesem
Fall offenbar nur um des Skandals willen weder darauf
dringt, dass das Hauptprüfverfahren der EU endlich ab-
geschlossen wird, noch durch kooperatives Verhalten
dazu beiträgt, dass das Verfahren wegen Aktenvernich-
tung eingestellt wird.
Durch ihr bewusst duldendes Verhalten im Falle der
Beihilfenprüfung für Leuna/Minol hat die Bundesregie-
rung der ohnehin Not leidenden ostdeutschen Wirtschaft
erkennbar Schaden zugefügt. Dies hat nämlich dazu ge-
führt, dass der Investor keine Planungssicherheit für die
Investition hat, denn von den ihm zugesagten Beihilfen
stehen noch immer 60 Millionen Euro aus. Zudem wurde
das Image des Standortes Leuna beschädigt. Dies alles ge-
schieht nur, damit der politische Gegner möglichst lange
ein Problem hat und eine schlechte Presse bekommt.
Wenn es noch eines weiteren Beweises dafür bedurft
hätte, dass der rot-grünen Regierung der Aufbau Ost kei-
neswegs so am Herzen liegt, wie sie immer vorgibt: Dies
ist er.
Rolf Kutzmutz (PDS): Die Frage, die sich aus dem
Antrag – mehr noch aus der Begründung – ergibt, ist
schlicht und einfach: Was ist eigentlich das Hauptanliegen
der Antragsteller?
Seit 1997 ist das beihilferechtliche Hauptprüfverfahren
im Gange, seit 1999 wird die Höhe der geltend gemach-
ten Investitionen nicht mehr infrage gestellt.
Die Bundesregierung hat – nach eigenem Bekunden –
nicht auf den Abschluss des Hauptprüfverfahrens drängen
können, weil die Kommission das Verfahren wegen der
noch nicht beendeten staatsanwaltlichen Ermittlungen
noch nicht abgeschlossen hat. Und – wenn ich die Argu-
mentation der Bundesregierung richtig aufgenommen
habe –, dann geht sie auch jetzt noch davon aus, dass sie
keinen Erfolg für den Ausschluss des Hauptprüfverfah-
rens zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht.
Ob das mit den immer noch als verschwunden gelten-
den sieben Original-Leuna-Aktenbänden zu tun hat oder
mit dem Verdacht, dass diese vielleicht „nicht ohne akti-
ves Handeln verschwunden sind“, wie Herr Staatsminis-
ter Bury erklärte, vermag ich nicht zu sagen.
Der Antrag will klar machen, dass bei der „Güterabwä-
gung“ zwischen Kampagne gegen die Bundesregierung
unter Helmut Kohl oder Beförderung von Investitionen
und damit Sicherung von Arbeitsplätzen in der genannten
Region, die Regierung sich für die erste Variante entschie-
den habe. Das ist schwer nachvollziehbar. Schließlich wird
in Sachsen-Anhalt um jeden Arbeitsplatz und damit um je-
den Euro an Investitionen gekämpft. Das Land wird sozi-
aldemokratisch regiert und am Wochenende findet dort die
letzte Landtagswahl vor der Bundestagswahl statt. Würde
also die Vermutung der CDU/CSU-Fraktion Realität sein,
wäre das ein hoher Preis, der zu zahlen ist.
Und noch etwas: Die Behauptung, dass die „zögerliche
Sachbehandlung“ zu einer Rufschädigung des Standortes
Leuna geführt hätte, wird durch nichts belegt. Erst vor ei-
nigen Tagen gingen Meldungen von einer neuen Investi-
tion in Leuna durch die Presse. Dass der Investor ein be-
rechtigtes Interesse daran hat, die noch ausstehenden circa
60 Millionen Euro an zugesagten Investitionsbeihilfen
gezahlt zu bekommen, ist verständlich. Es geht also da-
rum, noch einmal sachlich zu prüfen, welche Möglichkei-
ten die Bundesregierung hat, den Abschluss des Haupt-
prüfverfahrens anzustreben. Wie schnell das erreicht
werden kann, liegt aus meiner Sicht in der Klarheit der
vorzulegenden Beweise, also der Ausräumung des Vor-
wurfs der Inanspruchnahme von Subventionen in unge-
rechtfertigter Höhe. Wenn das eindeutig belegbar ist, darf
es keine Verzögerungen geben, weil das dann tatsächlich
zum Schaden des Investors und zur Schädigung des Stand-
ortes führen würde.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: zu dem Antrag: Fahr Rad – für ein
fahrradfreundliches Deutschland, zu dem An-
trag: Für ein fahrradfreundliches Deutschland,
zu der Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über Maßnahmen zur Förderung des Rad-
verkehrs (Tagesordnungspunkt 14)
Heide Mattischeck (SPD): Das Thema „Förderung
des Fahrradverkehrs“ hat sich wie ein roter Faden durch
die in Kürze zu Ende gehende 14. Legislaturperiode ge-
zogen. Wir können konstatieren, dass wir auf dem Wege
zu einem „Fahrradfreundlichen Deutschland“ ein gutes
Stück vorangekommen sind.
Das hat mehrere Ursachen:
Erstens sind das die parlamentarischen Bemühungen
und Initiativen der Koalitionsfraktionen; zweitens die Be-
geisterung von Minister Bodewig für das Fahrradfahren,
die sich auf die zuständigen Mitarbeiter im Hause positiv
ausgewirkt hat (wenn sie nicht schon ohnehin in der Sa-
che engagiert waren); drittens möchte ich die durchaus
konstruktive Mitarbeit der Opposition nennen in Person
des Kollegen Börnsen vor allem, der sich der Förderung
des Fahrradfahrens durchaus verpflichtet fühlt und vier-
tens die außerordentlich konstruktive, kritische Zusam-
menarbeit mit einschlägigen Verbänden, hier will ich vor
allem den ADFC nennen.
Es hat viele Jahrzehnte oder – nimmt man die Erfin-
dung des Drahtesels als Maßstab – sogar mehr als ein
Jahrhundert gedauert, bis die große Bedeutung des Fahr-
rads für ein integriertes Verkehrssystem in Deutschland
auf höchster politischer Ebene angekommen ist.
Zum ersten Mal beschäftigen sich der Deutsche Bun-
destag und die Bundesregierung ernsthaft und ausführlich
mit dem Verkehrsmittel Fahrrad und der Förderung seines
Einsatzes.
Nur zur Erinnerung: Nachdem die Förderung des Rad-
verkehrs in der 10. und 11. Legislaturperiode gescheitert
war, hat die SPD-Fraktion in der 12. Legislaturperiode, im
April 1992, erneut mit einem Antrag einen Vorstoß unter-
nommen. Es hat damals ein ganzes Jahr gedauert, bis auch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22937
(C)
(D)
(A)
(B)
die CDU/CSU- und FDP-Fraktion das Fahrrad als förde-
rungswürdiges und umweltfreundliches Verkehrsmittel
entdeckte. Allerdings waren die Forderungen sehr allge-
mein und so richtig ernst haben die CDU/CSU-Regierung
und ihr Verkehrsminister Wissmann die Sache nicht ge-
nommen.
Anders die rot-grüne Bundesregierung: Nur ein halbes
Jahr nach ihrem Amtsantritt wurde der erste Fahrrad-
bericht einer deutschen Regierung veröffentlicht. Im
Mai 2000 wurde dieser Bericht im Kabinett verabschiedet
und hier im Bundestag ausführlich diskutiert.
Ebenfalls eine Premiere im Deutschen Bundestag war
die Anhörung des Verkehrsausschusses zum Fahrradver-
kehr, die im Januar 2001 stattfand. Im Zentrum der For-
derungen praktisch aller anwesenden Expertinnen und
Experten stand dort die Verabschiedung eines nationalen
Radverkehrsplans.
Dieses Anliegen haben wir, die Koalitionsfraktionen,
aufgegriffen und in einem Antrag konkretisiert. Das war
ein erster – aber sicherlich nicht der letzte Höhepunkt in
den Bemühungen der Koalition zur Stärkung des Ver-
kehrsmittels Fahrrad.
Ich will noch einmal auf die wesentlichen Schwer-
punkte unseres Antrages hinweisen:
Erstens. Die Potenziale für den Fahrradverkehr sind
bei weitem nicht ausgeschöpft. Nur circa 12 Prozent der
Wege werden in Deutschland mit dem Rad zurückgelegt.
In den Niederlanden sind es im Durchschnitt 27 Prozent;
auch in Deutschland gibt es Städte, in denen der Anteil
30 bis 40 Prozent beträgt.
Zweitens. Radfahren ist gesund. Die Zivilisations-
krankheiten wie Herzinfarkt, Bluthochdruck, hoher Cho-
lesterinspiegel, Diabetes, Übergewicht verursachen ge-
schätzte jährliche Kosten in Höhe von 25 Milliarden Euro.
Hier könnte mehr Bewegung Gesundheit fördern und
Kosten senken. Beispielsweise Erlangen: 30 Prozent
Fahrradverkehr und die höchste Lebenserwartung in
Deutschland.
Drittens. Das Fahrrad als Wirtschaftsfaktor. Rund
4 Milliarden Euro Umsatz im Handel, 6 800 Fachhandels-
betriebe, circa 50 000 Beschäftigte, 4 000 Ausbildungs-
plätze, vor allem auch im Mittelstand, gilt es zu stärken
und auszubauen.
Viertens. Die wichtige Rolle des Fahrrads im Touris-
musbereich. Mehr als 2 Millionen Deutsche haben 2 000
eine Reise mit dem Fahrrad unternommen. Im Freizeitbe-
reich spielt es eine zunehmende Rolle.
Wenn wir besonders das Alltagsradeln, also den Be-
rufs-, Einkaufs- und Ausbildungsverkehr nachhaltig
fördern und den Anteil deutlich erhöhen wollen, dann
muss Deutschland insgesamt ein fahrradfreundliches
Land werden.
Da reicht es nicht, hier und da einen Radweg zu bauen
oder andere Einzelmaßnahmen zu ergreifen, sondern der
Radverkehr muss als Gesamtsystem geplant und durch-
geführt werden; das Fahrrad muss gleichberechtigt von
der Verkehrspolitik berücksichtigt werden; Bund, Länder
und Kommunen müssen und unter der Beteiligung al-
ler gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam diese Aufgabe
lösen.
Lassen sie mich an dieser Stelle noch einmal darauf
hinweisen, dass Länder und Kommunen die Hauptverant-
wortung für die Förderung des Fahrradverkehrs tragen.
Das entspricht unserem bewährten System des Födera-
lismus.
Ich bin aber froh darüber – das will ich noch einmal be-
tonen –, dass sich das Parlament und die Bundesregierung
ausdrücklich zu einer aktiven Rolle als Moderator bei der
Förderung des Fahrradverkehrs bekennen. Das ist ein
wichtiger Fortschritt.
Meine Damen und Herren, lassen sie mich nochmals
auf die zentrale Forderung unseres Antrages zurückkom-
men: Deutschland braucht einen nationalen Radverkehrs-
plan nach dem Vorbild der Niederlande. In ihm sollen
zentrale Ziele entwickelt und die Aktivitäten der ver-
schiedenen Akteure auf der Basis der Freiwilligkeit koor-
diniert werden. Dieser von uns geforderte „Masterplan
Fahrrad“ soll nach unserer Auffassung weniger ein Plan
als ein Prozess sein. Dieser Prozess wird sich natürlich
über viele Jahre erstrecken. Notwendig ist allerdings, dass
konkrete Ziele benannt werden, die auch von Zeit zu Zeit
überprüft werden müssen.
Die wichtigsten Ziele sind:
Erstens den Anteil des Rades am Gesamtverkehr zu er-
höhen. Wir haben als Ziel 27 Prozent genannt. Das muss
man natürlich auf die verschiedenen Ebenen herunterbre-
chen.
Zweitens muss die Sicherheit erhöht werden. An der
Verbesserung der Karosserie von Kfz wird zum Beispiel
auf EU- und deutscher Ebene bereits gearbeitet.
Drittens. Attraktive Radwege-Netze als ein wichtiger
Bestandteil des Systems „Fahrrad“ – das bedeutet nicht
unbedingt separate Radewege.
Viertens. Ausgebaut werden kann und muss die Ver-
netzung von Radverkehr und Öffentlichem Verkehr.
Beide Verkehrsarten sollen sich weniger als Konkurrenz,
sondern eher als Ergänzung betrachten. Stellplätze, Mit-
nahmemöglichkeiten usw. sind wichtige Infrastruktur-
und Dienstleistungsangebote.
Fünftens. Einen wichtigen Beitrag zur Gleichstellung
des Fahrradverkehrs mit den anderen Verkehrsträgern
müssen die StVO und die StVZO leisten. Wir fordern zum
Beispiel die Überprüfung der Radwegebenutzungspflicht,
da die jetzige Regelung nicht die Heterogenität der
Gruppe der Radfahrer berücksichtigt.
Ein anderes Beispiel betrifft den Neukauf von Fahrrä-
dern. Eine nicht geringe Zahl – vor allem Billig-Räder –
weisen oft gravierende Sicherheitsmängel an Bremsen
und Beleuchtung – besonders wichtige Bestandteile des
Rades – auf. Hier muss im Rahmen einer Änderung der
StVZO für mehr Sicherheit gesorgt werden.
Sechstens. Kommen wir zur Finanzierung: Im Bun-
deshaushalt 2002 haben wir – die rot-grüne Bundesregie-
rung – die Haushaltsmittel für Zwecke des Fahrradver-
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kehrs verdoppelt. Das sollte auch als Signal an Länder und
Kommunen verstanden werden, ihre finanziellen An-
strengungen zu verstärken. Zumal ich betonen möchte,
dass der Bund im Rahmen des GFVG auch Radverkehrs-
anlagen, und nicht nur Radwege, sondern auch andere
wichtige Infrastrukturen fördern kann.
Die Verantwortung für die Verteilung liegt bei den Län-
dern. Übrigens wäre es sehr interessant, wenn wir mehr
Transparenz über die Verwendung der GFVG-Mittel all-
gemein hätten und insbesondere natürlich wüssten, wel-
che Mittel Länder und Kommunen insgesamt für den
Fahrradverkehr ausgeben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal betonen,
dass wir sehr zufrieden sind über den politischen Stellen-
wert, den die Förderung des Fahrradverkehrs bei der Bun-
desregierung hat und der uns zu einem fahrradfreundli-
chen Deutschland führen soll.
Dieser Stellenwert drückt sich nicht nur, aber auch,
beim genannten finanziellen Engagement aus.
Ich kann heute feststellen: Wir haben viel erreicht – es
gibt aber noch viel zu tun. Ich habe keinen Zweifel, dass
bereits der nächste Fahrradbericht, der im Jahre 2005 vor-
liegen wird, weitere wichtige Erfolge zum Inhalt haben
wird.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Der
Frühling zieht ein in Deutschland und mit ihm starten wie-
der fast 60 Millionen Deutsche in die Fahrradsaison. Das
ist gut, denn Radfahren ist gesund, umweltfreundlich und
entlastet den Verkehr.
Deshalb wurde Radfahren seit den 80er-Jahren von den
vorangegangenen Bundesregierungen massiv gefördert.
Etwa 15 000 Kilometer Radwege wurden bis heute an
Bundesstraßen gebaut, davon 11 420 Kilometer allein bis
1980. Zwischen 1991 und 1999 wurden rund 3 300 Kilo-
meter Radwege an Bundesstraßen mit einem Betrag in
Höhe von 1,1 Milliarden DM aus dem Bundesfernstraßen-
haushalt realisiert. Mit dieser Bilanz kann Deutschland
sich sehen lassen. Es gibt bereits Bundesländer – wie etwa
Schleswig-Holstein –, in denen 80 Prozent aller Bundes-
straßen mit einem Radweg versehen sind.
Von der ehemaligen Regierung wurde die Straßenver-
kehrsordnung durchforstet und den Bedingungen des
Radverkehrs angepasst. Die Radfahrnovelle von 1997
gehört ebenso dazu wie die Novellierung der StVO in sie-
ben Punkten für den Radverkehr. Die Neuregelung der
Radwegebenutzungspflicht passte die Verordnung den
praktischen Erfahrungen der Radfahrer und Radfahrerin-
nen an. Durch die Schaffung markierter Schutzstreifen
wurde auf Kreuzungen zusätzliche Sicherheit geschaffen.
Die Fahrradstraße ist der einzige Fahrweg, auf dem Rad-
fahrer gegenüber den Autofahrern bevorzugt wurden.
Durch sie war es möglich, attraktive Velorouten neben
den vielbefahrenen Verkehrsadern der Städte zu schaffen.
Die versuchsweise Öffnung von Einbahnstraßen für den
gegenläufigen Radverkehr wurde als so positiv erfahren,
dass diese Initiative der damaligen Regierung von Rot-
Grün übernommen wurde. Generell kam es zu einer groß
angelegten Überprüfung der Radverkehrsanlagen in Städ-
ten und Kommunen, um Raum zu schaffen für mehr Rad-
verkehr. Durch alle diese Maßnahmen sank die Zahl der
Radfahrunfälle von 74 000 Anfang der 90er-Jahre auf
68 879 im Jahr 1998.
Die Kombination von Radverkehr und Bahn wurde ge-
stärkt. Die Fahrradmitnahme hat sich im Personennah-
verkehr von 818 000 im Jahr 1991 auf 1 602 000 in 1998
verdoppelt. In den Fernzügen hat sie sich von 1991 bis
Ende 1998 von 200 000 auf 600 000 sogar verdreifacht.
Im Rahmen eines Umweltverbundes, das heißt in Kombi-
nation mit dem ÖPNV wie dem Schienenverkehr, sind
noch erhebliche Potenziale für eine Verkehrsverlagerung
vomAuto auf das Fahrrad vorhanden. Dafür müssen aber
Maßnahmen getroffen werden: sichere Fahrradparkhäu-
ser, Serviceeinrichtungen und ein radorientiertes Dienst-
leistungsangebot. Alle diese Leistungen wurden von den
damaligen Bundesregierungen in den 90er-Jahren ge-
schaffen.
Umso unfairer ist es, dass die rot-grüne Bundesregie-
rung so tut, als hätte sie das Rad erfunden. Sie schmückt
sich mit fremden Federn. Der Bericht der Bundesregie-
rung ist eine einseitige Bestandsaufnahme. Anerkennung
hätte in dieser Bilanz der Politik für Radfahrer und Rad-
fahrerinnen in den 90er-Jahren gebührt; die damaligen
Entscheidungen wurden in der Regel von allen Fraktionen
getragen.
Einen Meilenstein für den Radverkehr in Deutschland
setzte der Bericht, der 1995 hier im Bundestag in Auftrag
gegeben wurde. Damals war man so visionär, die Bedeu-
tung des Fahrrades für den Straßenverkehr zu erkennen.
Damals hat man mit ganz konkreten Maßnahmen für eine
Verbesserung der Situation gesorgt. Damals wurde durch
konsequenten Radwegebau, durch die Novellierung der
StVO und durch Verbesserungen für Radfahrer bei der
Deutschen Bahn ein Durchbruch für den Radverkehr er-
reicht. Rot-Grün kassiert nun lediglich die Lorbeeren, ohne
tatsächlich neueAkzente zu setzen.Während die alte Bun-
desregierung allein zwischen 1990 und 1998 3280 Kilo-
meter Radwege baute, also rund 364 Kilometer pro Jahr,
kündigt Kurt Bodewig heute an, er wolle zukünftig
300 Kilometer Radwege im Jahr bauen. Das sind etwa
250 Kilometer weniger in der Regierungszeit von Rot-
Grün! Sie betreiben Radverkehrspolitik mit angezogener
Handbremse, Herr Minister!
Unser Antrag wurde im Juni 2000 in den Bundestag
eingebracht. Fast zwei Jahre hat es nun gedauert, bis er
abschließend beraten wird. Er wurde um 22 Monate ver-
zögert. Zuerst hat Rot-Grün ihn blockiert, dann abgelehnt.
Ihr eigener Antrag, der nach unserem Muster gestrickt
wurde, ist aber weniger konkret, weniger innovativ, weni-
ger an Sicherheit orientiert. Er entstand erst ein gutes Jahr
nach dem Antrag unserer Fraktion. Visionär ist Rot-Grün
nicht. Wenn man schon kopiert, dann aber auch den
ganzen Text!
Unsere Forderungen haben an Aktualität nichts einge-
büßt, wie uns der ADFC deutlich bescheinigt hat: Wir
wollen die Realisierung eines tatsächlichen nationalen
Radverkehrsplans. Von den Verbänden gefordert, von
Rot-Grün immer wieder angekündigt, bleiben die bisheri-
gen Ankündigungen unscharf und greifen zu kurz.
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Wir wollen die Schaffung eines Fahrradforums in
Deutschland. Der „Masterplan Fiets“ hat in Holland be-
achtliche Ergebnisse erzielt. Der Radfahranteil beträgt in
diesem Land 27 Prozent. Zum Vergleich: Bei uns sind es
nur 12 Prozent. Steigerungen sind möglich, zumal wenn
fast 50 Prozent aller PKW-Fahrten unterhalb der 5-km-
Grenze liegen. ADFC und andere Verbände fordern des-
halb auch für Deutschland einen Masterplan. Dennoch
gab es bisher noch nicht einmal ein erstes Treffen aller Be-
teiligten. Dabei sollte die Bundesregierung dringend prü-
fen, wie dieses Modell im Föderalstaat Deutschland um-
setzbar ist. Alle Beteiligten – Bund, Länder, Kommunen
und Verbände – müssen dafür an einen Tisch. Das ist bis-
her noch nicht geschehen und das wird es wohl mit dieser
Regierung auch nicht mehr geben. 60 Millionen Radfah-
rer und Radfahrerinnen müssen den Eindruck gewinnen:
gestern versprochen – heute gebrochen!
Wir wollen die Verbesserung der Steuergesetzgebung,
um zu mehr Umstieg auf des Rad zu kommen. Radfahren
ist gut für Deutschland. Es ist gesund und entlastet damit
die Krankenkassen, mindert Fehltage bei den Betrieben.
Es senkt die Umweltverschmutzung und damit die Kos-
ten, die dadurch entstehen. Es entlastet die Straßen und
damit den Stau. Die Europäische Kommission hat festge-
stellt, dass mittlerweile die Kosten von Staus in Deutsch-
land 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen –
mit steigender Tendenz. Wann also werden Radfahrer für
ihr kluges Verhalten auch finanziell belohnt?
Die Entfernungspauschale, angeblich ein großes Ge-
schenk an die Radfahrer, ist ein Trugbild. Trotz Freibetrag
müsste ein Radfahrer täglich fast 15 Kilometer zur Arbeit
fahren, um in den Genuss des Steuerabzuges zu kommen.
Diese Entfernung bleibt Ausnahme, ist keine Regel. Auch
hier müssen 60 Millionen Radfahrer und Radfahrerinnen
den Eindruck gewinnen: gestern versprochen – heute ge-
brochen!
Wir wollen die Anhebung der Mittel nach dem Bun-
desfernstraßengesetz auf den Stand der 90er-Jahre, um
mehr Radwege zu bauen. 300 km Radwege pro Jahr sind
weniger als bisher. Es sind zu wenig! Die CDU/CSU-
Fraktion will, dass heute genauso viele Radwege gebaut
werden wie unter ihrer Regierung. Auch SPD und Grüne
haben in ihrer Zeit als Opposition eine Ausweitung der
Mittel gefordert. Doch geschehen ist nichts. Die angebli-
che Verdoppelung der Haushaltsmittel für Radverkehr
2002 wurde durch einen einfachen Bilanztrick erreicht.
Aus dem Posten „Bau“ und dem Posten „Erhaltung“
wurde der Posten „Bau und Erhaltung“ gemacht. Das ist
keine Verdoppelung der Mittel, das ist übelste Täuschung!
Dabei stehen Gelder, sei es aus den UMTS-Milliarden
oder dem Anti-Stau-Programm, zur Verfügung. 60 Milli-
onen Radfahrer und Radfahrerinnen müssen den Ein-
druck gewinnen: gestern versprochen – heute gebrochen!
Wir wollen die Anhebung der Mittel aus dem Gemein-
deverkehrsfinanzierungsgesetz auf die Höhe der 90er-
Jahre, um Ländern und Gemeinden zu mehr Radwegen zu
verhelfen. 1994 änderte die damalige Bundesregierung
das GVFG und schuf damit weitere Vorraussetzungen für
die Förderung des Rades. Bis 1998 wurden jährlich 1 Mil-
liarde an Bundesmitteln über das GVFG investiert. Rad-
fahrerfreundliche Städte und Gemeinden werden von der
Regierung gerne als Vorbilder herumgezeigt. Nützen tut
ihnen das allerdings wenig. Die Mittel, die sie für den
Ausbau von kommunalen Radwegen und Radverkehrsan-
lagen bräuchten, wurden ihnen von Rot-Grün gestrichen.
Aber als Opposition hat Rot-Grün für mehr Mittel für die
Kommunen mächtig auf den Putz gehauen. 60 Millionen
Radfahrer und Radfahrerinnen müssen den Eindruck ge-
winnen: gestern versprochen – heute gebrochen!
Wir wollen die Verdoppelung der Bundesradtouren
und eine bessere touristische Vermarktung. Ein radfahr-
touristisches Konzept nützt nicht nur den Radfahrern.
Auch die Wirtschaft in Deutschland würde enorm davon
profitieren, wenn ein „Fahrradland Deutschland“ in den
Köpfen der Menschen verankert wäre. Mit so einem Pro-
gramm würden Arbeitsplätze geschaffen, die unser Land
dringend braucht. Doch für diese zukunftsweisenden For-
derungen hat Rot-Grün kein konkretes Konzept. Ironisch
sei angemerkt: Wer lieber in der Toskana radelt, braucht
keine Velorouten in Deutschland.
Wir wollen die Erweiterung der Radmitnahme bei der
Deutschen Bahn auch bei Schnellzügen. In den letzten
Jahren ist die Zahl der Fahrradmitnahmen in Bussen und
Bahnen gestiegen. 1 602 000 sind es jetzt im Personen-
nahverkehr, und in Fernzügen liegt sie bei 600 000. Jetzt
ist es an der Bundesregierung, die Deutsche Bahn AG an-
zuhalten, diese Errungenschaften nicht durch Sparpro-
gramme wieder zu gefährden. Doch die Regierung küm-
mert sich zu wenig. 60 Millionen Radfahrer und
Radfahrerinnen müssen den Eindruck gewinnen: gestern
versprochen – heute gebrochen!
Wir wollen die Optimierung der Verkehrssicherheits-
maßnahmen für Radfahrer. Fast 2 000 Radfahrer starben
in den vergangenen drei Jahren auf Deutschlands Straßen.
Sie nehmen etwa 12 Prozent des Verkehrsanteils ein, aber
rund 15 Prozent der Verletzten. Durch geeignete infra-
strukturelle, rechtliche und präventive Maßnahmen ist die
Zahl der Unfälle mit Radfahrern zu verringern. Radfahrer
haben keine Knautschzone. Ihre Sicherheit muss unser
oberstes Gebot sein. Dennoch haben SPD und Grüne die
Mittel für die Verkehrssicherheit um 4 Millionen Mark
gegenüber 1999 gekürzt. Seit der Zeit wurden 12 Milli-
onen Mark weniger für die Sicherheit ausgegeben als vor-
her. Das nenne ich unverantwortlich. Wir benötigen mehr,
nicht weniger Mittel für die Verkehrssicherheit – eine alte
Forderung, auch von Rot-Grün zu Oppositionszeiten.
Jetzt müssen 60 Millionen Radfahrer und Radfahrerinnen
den Eindruck gewinnen: gestern versprochen – heute ge-
brochen!
Wir wollen die Vernetzung von Radwegen innerhalb
der Bundesrepublik sowie mit unseren Nachbarstaaten.
Velorouten sind in Deutschland notwendig, aber auch da-
rüber hinaus. Mit einem attraktiven Routensystem wird
das Rad als Freizeitvergnügen attraktiv. Für eine europä-
ische Zusammenarbeit müssen auch grenzüberschrei-
tende Radtouren möglich sein. Nicht nur von den Nach-
barn lernen, ist die Devise. Doch von Rot-Grün kommt in
dieser Richtung nichts. Dabei gehörte das zu den Forde-
rungen in ihrer Oppositionszeit. Wieder müssen 60 Milli-
onen Radfahrer und Radfahrerinnen den Eindruck gewin-
nen: gestern versprochen – heute gebrochen!
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Wir wollen ein besseres Dienstleistungsangebot der
Deutschen Bahn AG auf den Bahnhöfen mit einem ge-
sonderten Service rund um das Rad. Für ein funktionie-
rendes Bike & Ride-System müssen die Anlagen an Nah-
und Fernverkehrsknoten verbessert werden. Sicherheit
gilt nicht nur für den Fahrer, sie muss auch für das Rad
gelten. Völlig unberücksichtigt bleibt bei der Regierung
der Sachverhalt, dass es zu circa 420 000 Fahrraddieb-
stählen pro Jahr in unserem Land kommt, bei einer Auf-
klärungsquote von 9 Prozent und einem Versicherungs-
schaden, den wir alle zu tragen haben in Höhe von circa
130 Millionen DM jährlich, legt man einen Fahrradwert
von nur 300 DM zugrunde. Wer Angst haben muss, dass
sein Drahtesel beschädigt oder gestohlen wird, benutzt
ihn nicht. Es müssen 60 Millionen Radfahrer und Rad-
fahrerinnen den Eindruck gewinnen: gestern verspro-
chen – heute gebrochen!
Dieses Zehnpunktekonzept der Union sollte die At-
traktivität des Fahrradverkehrs fördern, die Renaissance
des Rades verstärken, sollte zu mehr Umstieg auf das Rad
beitragen, um die Umwelt zu schonen, die Gesundheit zu
fördern, den Nahverkehr zu entlasten.
Wir, die Union, haben im Verkehrsausschuss dem An-
trag der Sozialdemokraten und Bündnisgrünen zuge-
stimmt, weil er in seinen Grundsätzen mit unserer voran-
gegangenen Initiative identisch ist. Leider sind die
Regierungsfraktionen seit der Ausschussbefassung unse-
rer Auffassung nicht gefolgt, dass ein gemeinsamer An-
trag der Sache hier im Plenum gedient hätte. Durch diese
Nichtbereitschaft zur Kooperation werden wir uns des-
halb für unseren, aber gegen den Antrag der Regierung
entscheiden.
Unseren Antrag lehnen Sie heute ab – deshalb, weil
man nicht bereit ist, über den eigenen Schatten zu sprin-
gen, weil Rot-Grün lieber fahrradfreundlich scheint als
fahrradfreundlich handelt. Wir, von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion halten das für unverantwortliche Bürger-
täuschung.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute ist für Radfahrerinnen und Radfahrer ein großer
Tag. Es gibt etwas zu feiern. Die Radfreunde und -freun-
dinnen aller Fraktionen sind sich einig: Deutschland soll
ein fahrradfreundliches Land werden. Das ist eine gute
Nachricht für alle Radlerinnen und Radler. Das ist gut für
die Umwelt, für die Städte und sehr gut für die Gesund-
heit. Hierzu sollen in den kommenden Jahren verstärkt
Anstrengungen unternommen werden. Ein „Masterplan
FahrRad“ wird nächste Woche vom Bundeskabinett ver-
abschiedet werden. Damit wird aus dem guten Willen und
den schönen Reden ein strategisches Konzept, ein Ar-
beits- und Koordinationsprozess auf zehn Jahre zur För-
derung des Radfahrens.
Das Wichtigste ist, dass alle politischen Ebenen
zukünftig verstärkt zusammenarbeiten zur Verbesserung
der Bedingungen des Radfahrens. Denn es gibt noch al-
lerhand zu tun, bis Deutschland ein wirklich fahrrad-
freundliches Land ist:
Es gilt: das Radwegenetz auszubauen, zu verbessern
und die Lücken zwischen den Wegen zu schließen. Nicht
der teure Extraweg, sondern die preisgünstige Variante
mit weißem Pinselstrich am Straßenrand wird bevorzugt.
Auch das überregionale und bundesweite Radwegenetz
soll ausgebaut werden. Radwege entlang der Bundes-
straßen können zukünftig auch ohne Ausbau der Straße
gebaut werden und sie können ebenfalls abseits der Bun-
desstraße funktional parallel gelegt werden. Wir haben im
Haushalt 2002 hierfür die Mittel verdoppelt. Zum ersten
Mal hat der Radverkehr einen eigenen Haushaltstitel.
Verbessert werden muss auch die Infrastruktur für das
Radfahren: von der Radstation über Mitnahmemöglich-
keiten im ÖPNV bis hin zu sicheren Abstellplätzen.
Abgebaut werden müssen Hemmnisse in der Straßen-
verkehrsordnung, die das Radfahren behindern. So muss
zum Beispiel die Radwegebenutzungspflicht wegfallen
und der Velotaxiverkehr muss dauerhaft rechtlich abgesi-
chert werden, um nur einmal zwei Beispiele zu nennen.
Wir müssen dafür sorgen, dass das Radfahren bei allen
Planungsprozessen inner- und außerhalb von Städten von
Anfang an mit eingeplant wird. Wir brauchen als Leitbild
die fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt.
Wir sollten auf allen politischen Ebenen gemeinsam ein
radfahrerfreundliches Klima schaffen und deutlich ma-
chen, dass das Fahrrad kein randständiges Verkehrsmittel,
sondern ein modernes, intelligentes, schnelles, gesundes
und umweltfreundliches Verkehrsmittel ist. Hierzu brau-
chen wir zielgerichtet Wettbewerbe, die einen positiven
Beitrag in der Lage zu leisten sind, damit sich in Deutsch-
land möglichst viele Schulen, Betriebe, Verwaltungen,
Unternehmen, Gemeinden und Landkreise um das Etikett
„fahrradfreundlich“ bewerben.
Schließlich brauchen wir dauerhaft auf allen staat-
lichen Ebenen in den kommenden Jahren eine finanzielle
Absicherung für die Realisierung zur verstärkten Förde-
rung des Radfahrens.
Wenn das alle tun, wenn alle, die dazu einen Beitrag
leisten können, dies auch wirklich tun, dann können wir
problemlos das ambitionierte Ziel schaffen, den Anteil
des Radverkehrs am Verkehrsaufkommen zu verdoppeln.
Wir beschließen heute einen Antrag der Koalitionsfrak-
tionen, der weitgehend auch die Anliegen der Oppositi-
onsanträge mit aufnimmt und selbst weit darüber hinaus-
geht. Es ist selten, dass man bei der Beschlussfassung
schon sagen kann: Die Regierung hat die Aufforderungen
des Parlamentes umgesetzt. Der „Masterplan FahrRad“,
der nächste Woche im Kabinett verabschiedet werden
wird, liegt rechtzeitig zu Beginn der Radsaison vor. Dank
an das Ministerium, das es so rasch den ersten „Masterplan
FahrRad“ für Deutschland vorgelegt hat.
Ernst Burgbacher (FDP): Radfahren macht Spaß!
Außerdem ist es gesund, leise, schnell, flexibel, sportlich,
ökologisch und kostengünstig. Kein Wunder, dass sich die
unterschiedlichsten Interessengruppen für den Radver-
kehr stark machen. Wir haben uns im Ausschuss seit fast
zwei Jahren intensiv mit dem Radverkehr beschäftigt. Ein
Höhepunkt war sicher die Anhörung im letzten Jahr.
Fahrradfahren hat eine echte Renaissance in Deutsch-
land erlebt. So kommt es auch, dass seit einigen Jahren die
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Fahrradproduktionszahlen in Deutschland deutlich ge-
stiegen sind. Das sichert viele Arbeitsplätze in einer
äußerst innovativen Branche. Gestiegen sind die Durch-
schnittsqualitäten und das aus gutem Grunde, denn die
Kunden legen immer mehr Wert auf eine hervorragende
Ausstattung ihrer Fahrräder. So sind komfortable Fede-
rungssysteme, zupackende Bremsen und leistungsfähige
Lichtanlagen für den echten Biker heute eine absolute
Notwendigkeit. Die Modelle, die von der Fahrradindus-
trie angeboten werden, decken sowohl den Tourenradbe-
reich, den Trekking-, Cross- oder MTB- bzw. Sportive-
Bereich ab. Ja, sogar Rennmaschinen haben Konjunktur,
nachdem sich seit geraumer Zeit auch sportliche Erfolge
in diesem Bereich eingestellt haben.
Millionen einzelne Verkehrsteilnehmer haben sich
längst für das Rad entschieden, da es auf unvergleichliche
Art Sport, Spaß und Schnelligkeit in den Alltag integriert.
Das Fahrrad ist gerade in den Städten und dicht besiedel-
ten Gegenden ein optimales Verkehrsmittel und natürlich
im Bereich des Fremdenverkehrs ein ernst zu nehmender
wirtschaftlicher Faktor. Seitens des Bundes, der Länder
und der Gemeinden sind große Anstrengungen unternom-
men worden, um ein gutes Radverkehrsnetz aufzubauen.
Durch die grundlegende Novellierung der Straßen-
verkehrsordnung im Jahre 1997 sind sehr konkrete
Verbesserungen von der Radwegebenutzungspflicht, der
Radfahrstraße oder der Einbahnstraßenregelung für den
Radfahrer erreicht worden. Diese Schritte waren notwen-
dig, denn der Fahrradfahrer bzw. der Radler ist im Kon-
flikt mit dem motorisierten Verkehr immer der
Schwächere.
Die FDP hat bereits frühzeitig auf das Vorbild der
Niederlande verwiesen, deren Masterplan Fiets hat Ziele
festgeschrieben, die wir in Deutschland ganz einfach
übernehmen sollten: Imageverbesserung fürs Fahrrad,
Diebstahlprävention, Radroutennetze, Fahrradabstell-
anlagen an Haltestellen und Bahnhöfen sowie die Fahr-
radnutzung in der Freizeit.
Ich freue mich, dass wir uns gemeinsam dazu ent-
schlossen haben, dem niederländischen Vorbild nachzu-
eifern. Deshalb begrüßt die FDP ausdrücklich die Auffor-
derung des heute zu verabschiedenden Antrags an die
Bundesregierung, unter anderem ein Bundesradtouren-
netz einzurichten. Was der Masterplan Fiets für die
Niederländer ist, muss der Fahrrad-Master-Plan für
Deutschland sein. Mit diesem Plan verknüpft die FDP fol-
gende Ziele: erstens Umstieg vom Auto auf das Fahrrad in
Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln; zweitens
Sicherheit für Radfahrer, Fahrradparkplätze und Dieb-
stahlprävention; drittens Vernetzung des Radverkehrs mit
den Verkehrs- und Transportplänen des Bundes, der Län-
der und Gemeinden; viertens Nutzung des Wirtschafts-
faktors Fahrrad im Hinblick auf Herstellung, Handel,
Dienstleistung und Tourismus.
In der alten Bundesregierung haben wir bereits zusam-
men mit der CDU/CSU erste fahrradfördernde Maßnah-
men ergriffen, die zu mehr Verkehrssicherheit und zu ei-
ner Steigerung des Fahrradverkehrs insgesamt geführt
haben. Aber das Ende der Fahnenstange ist da sicherlich
noch nicht erreicht. Deswegen begrüßt die FDP, dass in
dem heute vorliegenden Antrag auch die Vernetzung von
Fahrradverkehr und ÖPNV im Mittelpunkt steht.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Seit der erste Bericht über
die Situation des Fahrradverkehrs in der Bundesrepublik
Deutschland vorgelegt wurde, sind knapp vier Jahre ver-
gangen. Im Juni 2001 folgte dann der Antrag von SPD und
Grünen mit dem Titel „FahrRad – für ein fahrradfreund-
liches Deutschland“. Wir haben in der Diskussion in der
ersten Lesung und in den Debatten im Ausschuss deutlich
gemacht, dass wir den Bericht und den Antrag positiv
werten.
Wir stimmen auch darin überein, dass das Verlage-
rungspotenzial von Verkehr auf das Fahrrad – ebenso auf
die Füße und den öffentlichen Verkehr – enorm ist. Es hat
in unserem Land viel zu lange gedauert, bis das Fahrrad
von der Verkehrsstatistik und der Verkehrspolitik neu ent-
deckt wurde. Die Gefahr, die ich im Augenblick sehe, ist
die folgende: Wir delektieren uns an dem schönen Be-
richt, an dem nochmals schöneren Antrag und an der brei-
ten Mehrheit, mit der er in diesem Haus getragen wird.
Doch die Konsequenzen, die Umsetzung einer Politik für
ein fahrradfreundliches Deutschland, sind nicht oder viel
zu schemenhaft erkennbar.
Gestatten Sie mir also, dass ich Wasser in den Wein
gieße und die folgenden drei kritischen Anmerkungen an-
bringe.
Erstens stellt der Antrag im Grunde nur die – wohl be-
gründete, detaillierte und begrüßenswerte – Aufforderung
an die Bundesregierung und an die Landespolitik dar, eine
Wende in der Verkehrspolitik vorzunehmen und dafür zu
sorgen, dass Deutschland zu einem fahrradfreundlichen
Land gemacht und zu diesem Zweck ein Masterplan Fahr-
rad realisiert wird. Ein solcher Plan liegt bis heute nicht
vor und er wird wohl in dieser Legislaturperiode nicht
mehr vorgelegt werden. Will man den „Fahrradfreund-
lichkeitsquotient“ der Verkehrspolitik und dieser Bundes-
regierung jedoch bewerten, dann benötigt man einen sol-
chen Plan. An den dann anerkannten Zielen könnte die
Politik bewertet werden.
Zweitens sind die uns vorliegenden Strukturdaten im
Fahrradverkehr in jüngerer Zeit nicht allzu günstig. Nach
der Publikation von „Verkehr in Zahlen“ stagnieren das
Verkehrsaufkommen und die Verkehrsleistung durch
Fahrräder zumindest bis einschließlich 1999. Da ansons-
ten das Verkehrsaufkommen und die Verkehrsleistung
wachsen, hat der Anteil des Rads an denselben abgenom-
men. Bei den unterschiedlichen Verkehrswegen sank laut
derselben Statistik der Anteil des Rads sogar meist, im
Fall der Berufswege von 9,0 Prozent im Jahr 1995 auf
8,7 Prozent 1999, im Fall der Ausbildungswege von 18,6
auf 18,4 Prozent, im Fall der Einkaufswege von 10,3 Pro-
zent auf 10,1 Prozent. Selbst bei den Freizeitwegen wird
ein solch (geringer) Rückgang von 9,8 auf 9,7 Prozent
ausgewiesen. Leider liegen hier keine neueren Angaben
vor, so wie insgesamt an dieser wichtigsten Verkehrssta-
tistik der Publikation „Verkehr in Zahlen“ zu beklagen ist,
dass das Radfahren und das Zufußgehen noch zu sehr als
„besondere Bewegungsformen“ definiert werden und
diese wichtigen Formen von Mobilität in der Regel nicht
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als Teil der gesamten Mobilität ausgewiesen werden. Hier
werden als „100 Prozent“ immer noch die addierten mo-
torisierten Formen der Mobilität gewertet.
Drittens ist festzustellen: In einem für das Radfahren
wichtigen Bereich erlebten wir in der ablaufenden Legis-
laturperiode eine wesentliche Verschlechterung, und zwar
bei der Fahrradmitnahme im Schienenfernverkehr. Der
zur Debatte stehende Antrag konstatiert dies bereits und
berichtet davon, dass die Zahl der mit der Bahn beförder-
ten Fahrräder von 520 000 im Jahr 1999 auf 490 000 im
Jahr 2000 zurückging. Im Jahr 2001 hat sich dieser Rück-
gang nochmals fortgesetzt. Das hängt vor allem damit zu-
sammen, dass die Bahn die Zuggattung Interregio
zunächst abbaute und nun, im März 2002 auch offiziell er-
klärt hat, dass sie sich von der „Marke Interregio“ verab-
schieden werde. Als Ersatz bietet die Bahn nur den Nah-
verkehr an. Das aber ist in Wirklichkeit kein Ersatz, da in
den RE-Zügen die Radmitnahmemöglichkeiten viel zu
gering sind und vor allem, da sich Nahverkehrszüge auf-
grund der Reisedauer nicht für die Mobilitätszwecke eig-
nen, für die bisher die Interregios genutzt wurden.
Der Antrag von SPD und Grünen fordert, dass die in
den Interregios wegfallenden 3 500 Fahrradstellplätze „in
anderen Zügen des Fernverkehrs zusätzlich angeboten
werden sollten“. Das ist gut so. Doch das schert die Bahn
nicht. Sie tut das Gegenteil und ist dabei, das Rad ganz aus
dem Schienenfernverkehr zu verbannen. Dass die Bahnen
in Österreich, in der Schweiz und sowieso in den Nieder-
landen zeigen, dass Radler im Fernverkehr und als Teil
des Tourismusgeschäfts ein großes, attraktives Potenzial
darstellen, interessiert offensichtlich bei der DB AG nicht.
Wes Geistes Kind Bahnchef Mehdorn ist, wurde deutlich,
als dieser anlässlich der Übernahme der Fahrradvermie-
tung „Call a bike“ durch die DB AG äußerte: „Wir wollen
unseren Kunden nicht zumuten, das Fahrrad zum Bahn-
hof zu schleppen.“ Auf die Idee, dass Radfahrende zum
Bahnhof radeln könnten, kommt der Vorstandsvorsitzen-
de der DB AG erst gar nicht.
Der Antrag zum „fahrradfreundlichen Deutschland“
fordert:
„Die Beförderungspflicht von Personen und Reise-
gepäck, die im Allgemeinen Eisenbahngesetz (§10)
und in der Eisenbahn-Verkehrsordnung (§ 16) gere-
gelt ist, ist auf Fahrräder auszudehnen, sodass für die
Fahrradmitnahme attraktive Verbindungen im Nah-
und Fernverkehr bestehen.“
Die tatsächliche Entwicklung geht in die entgegenge-
setzte Richtung. Nicht nur wird das AEG nicht in diesem
Sinne ausgeweitet. Das am 15. Dezember dieses Jahres
einzuführende neue Bahnpreissystem läuft darauf hinaus,
dass auch die „Beförderungspflicht für Personen und Rei-
segepäck“ faktisch – aufgrund des massiv angehobenen
Anteils von Reservierungen – nicht mehr bestehen wird.
Nimmt man all das zusammen, dann ist nicht feststell-
bar, dass es in dieser Legislaturperiode konkrete Maßnah-
men für den Fahrradverkehr gegeben hätte. Die Anhebung
der Bußgelder für Straßenverkehrsdelikte der Radlerin-
nen und Radler werden SPD und Grüne kaum als positi-
ves Signal werten. Bleibt unsere Hoffnung, dass endlich
den wohl gesetzten Worten des Antrags der konkrete Plan
und die messbaren, fahrradfreundlichen Taten folgen und
dass in diesem Sinne ins Pedal getreten wird.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Förderung der Grenzregionen zu den
Beitrittsländern (Tagesordnungspunkt 15)
Rainer Fornahl (SPD): Der heute zur Beratung vor-
liegende Antrag der CDU/CSU Fraktion ist schon etwas
älter, die Forderungen größtenteils umgesetzt. Dennoch
ist das Thema sehr aktuell, denn der Prozess der Erweite-
rung der EU kommt im Jahre 2002 in seine entscheidende
Phase. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen
hat vor wenigen Tagen in einem Interview mit der „Leip-
ziger Volkszeitung“ den Fahrplan, die aktualisierte „road
map“, wie das heute so neudeutsch heißt, vorgestellt: Ab-
schluss der Beitrittsverhandlungen mit allen zehn aktuel-
len Beitrittskandidaten von Estland bis Zypern Ende
2002; Unterzeichnung des Beitrittsvertrages zwischen
EU-Kommisson und den Kandidaten im Frühjahr 2003;
Ratifizierung des Vertrages durch die Mitgliedstaaten und
die Kandidatenländer bis Ende 2003; Teilnahme der zehn
neuen Mitgliedstaaten an den Europawahlen 2004. Das ist
ein Projekt von Dimensionen, das Verheugen als „größten
diplomatischen Prozess der Weltgeschichte“ ein wenig
überhöht qualifiziert hat.
Nun darüber können unsere Kinder vielleicht einmal
Aufsätze oder Examensarbeiten schreiben. Auf jeden Fall
ist dieser ins Auge gefasste Zielpunkt ein Höhepunkt in ei-
ner Entwicklung Europas, der schon das Attribut histo-
risch verdient; aber wir sind uns sicher einig, dass am
Ende, um bei der Eingangsmetapher zu bleiben, „der
größte diplomatische Erfolg der Weltgeschichte steht“.
Diese Gemeinschaft will jetzt bald größer werden. Die
Stabilitätszone des Friedens, der Demokratie und stabiler
Wirtschaft wird sich nach Westen und Süden ausweiten. Die
EU wächst durch die Beitritte um mehr als 100 Millionen
Menschen zu einem Wirtschaftsraum mit fast 500 Millionen
Verbrauchern. Damit entsteht der größte Binnenmarkt der
Welt.
Darüber hinaus profitiert die EU schon jetzt ganz er-
heblich vom Wirtschaftsaustausch mit den Beitrittslän-
dern. Der gemeinsame Handel entwickelt sich sehr dyna-
misch und hat sich seit 1989 mehr als verfünfacht. Fast die
Hälfte davon entfällt auf Deutschland. Diese Entwicklung
hat in Deutschland, auch in den neuen Ländern, eine Viel-
zahl von neuen Arbeitsplätzen geschaffen und vorhan-
dene gesichert. Insgesamt sind es circa 80 000, wenn ich
die Zahl noch richtig erinnere. Mit dem Abbau von wei-
teren Handelshemmnissen werden die Wachstums- und
Wohlfahrtsgewinne im Zuge der Erweiterung zunehmen.
Dies zeigt: Es ergeben sich aus der Erweiterung auf
längere Sicht günstige Entwicklungschancen. Dass die so
genannte Transformationsdividende für den Übergang in
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22943
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offene Demokratien und in marktwirtschaftliche Struktu-
ren für viele Menschen in den Kandidatenländern aber
noch längst nicht verbucht werden kann, zeigen die Zah-
len und die reale Lage auf den Arbeitsmärkten dort. Dies
ist im Analyseteil des vorliegenden Antrages auch weit-
gehend unstrittig richtig beschrieben. Damit wäre der
Übergang zu den Herausforderungen gegeben. Der An-
trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen „Flankierung der Erweiterung der Europäischen
Union als innenpolitiche Aufgabe“ vom 5. Dezember
2000 zeigt diese sehr deutlich auf. Die Herausforderun-
gen, die mit dem Erweiterungsprozess schon in der seit
Jahren laufenden Vorbeitrittsphase – übrigens auf beiden
Seiten der jetzigen Außengrenze der EU mit Polen und
Tschechien – verbunden sind, haben es durchaus in sich.
Wer wollte das leugnen?! Betroffen von den laufenden
und kommenden Umbrüchen und Veränderungen sind die
Staaten und Regionen, die Volkswirtschaften, nicht zu-
letzt auch die kleinen und mittleren Unternehmen und
Handwerksbetriebe. Letzten Endes sind es die Menschen,
die betroffen sind. In den Kandidatenländern ist seit über
zehn Jahren ein Transformationsprozess mit immensen
Veränderungen in der Gesellschaft und für die Wirtschaft
und die Menschen im Gange, der seinesgleichen sucht.
Ähnliches lief und läuft seit 1990 auch in Ostdeutschland
ab. Auch hier hat dieser Prozess allen aktiv und passiv Be-
teiligten Gewaltiges abverlangt. Er ist, wie wir alle wis-
sen, noch lange nicht bewältigt.
Was sind nun die wesentlichen Probleme und Heraus-
forderungen in den deutschen Grenzregionen? Man muss
dabei meines Erachtens zwei Problemebenen betrachten.
Einmal: Was passiert nach dem Beitritt in erster Linie der
direkten Nachbarn auf dem heimischen Markt? Zum an-
deren: Wie können die deutschen Unternehmen auf den
Märkten der neuen Mitgliedstaaten den Wettbewerb be-
stehen?
Es ist völlig natürlich, dass die daraus resultierenden
Fragestellungen, was passiert ganz konkret und was muss
man tun, um Folgen zu bedenken und Lösungen anzubie-
ten, Sorgen in Teilen der deutschen Bevölkerung auslö-
sen, grade in den strukturschwachen Gebieten und in den
Grenzregionen? Vielfach muss man aber auch feststellen,
dass sich die Diskussionen im Bereich von Befürchtun-
gen, Vermutungen und Spekulationen bewegen. Es wäre
deshalb nicht akzeptabel, wenn der Eindruck entstünde,
die Bundesregierung und die Koaltionsfraktionen gingen
auf diese Sorgen und Befürchtungen nicht ein. Ich kann
aber versichern: Wir nehmen die Sorgen sehr wohl ernst.
Insgesamt muss man festhalten, dass bei der Suche nach
der richtigen Strategie zur Flankierung des Erweiterungs-
prozesses Sachlichkeit, Nüchternheit und auch die Be-
achtung von Zuständigkeiten gefragt ist.
Auf die Vielzahl der Unterstützungs- und Förderpro-
gramme, die die EU-Kommission aufgelegt hat, kann ich
hier nicht im Einzelnen eingehen. Ich verweise an dieser
Stelle auf die Dokumentation „Förderung der Grenzre-
gionen zu den Beitrittsländern“ aus dem Bundesministe-
rium für Wirtschaft und Technologie. Hier sind die Hilfen
von EU, Bund und Ländern für die Grenzregionen aus-
führlich dargestellt. Dass die Kommission insbesondere
auf Druck der Bundesregierung und des Deutschen Bun-
destages ein zusätzliches Programm „Gemeinschafts-
initiative für Grenzregionen“ aufgelegt hat, ist aber doch
der Erwähnung wert.
Das Volumen ist sicher nicht geeignet, alle Wünsche zu
erfüllen. Es bringt aber mit einer Größenordnung von ins-
gesamt 215 Millionen Euro auch zusätzliche Unterstüt-
zung für die Grenzregionen. Schwerpunkt ist die grenz-
überschreitende Verkehrsinfrastruktur im Bereich der
TEN-Förderquote, angehoben auf 20 Prozent mit 150 Mil-
lionen Euro. Dies setzt Investitionen von 750 Millionen
Euro frei. Aber wo sind die Projekte die damit realisiert
werden können? Hier sind die Länder gefordert, für die
Baureife zu sorgen. Bei der Verbindung über die Grenzen
hinweg geht es aber noch viel mehr um die kleinen
Brückenschläge, Radwege, Grenzübergänge nur zum
Beispiel. Das Europäische Parlament hat darüber hinaus
nochmal 65 Millionen Euro bewilligt. Auch der Bund leis-
tet einen erheblichen Beitrag zur Flankierung des Anpas-
sungsprozesses.
Die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ist dabei das wichtigste
Instrument zur Förderung von Investitionen der gewerb-
lichen Wirtschaft und der wirtschaftsnahen Infrastruktur
in struktrurschwachen Gebieten. Allein im Jahr 2002 ste-
hen den vier Grenzländern im Rahmen der Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserungen der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“ Mittel in Höhe von rund 977 Millionen
Euro – Bund, Land – zur Verfügung. Den Sorgen und Be-
fürchungen wegen der Folgen unbeschränkter Arbeitneh-
mer- und Dienstleistungsfreiheit nach dem Beitritt hat die
Kommission, auch hier wieder auf Initiative der Bundes-
regirung, Übergangsregelungen, die bei Bedarf insgesamt
sieben Jahre in Anspruch genommen werden können, mit
den Kandidatenländern ausverhandelt. Das 2+3+2-Mo-
dell lässt dabei eine flexible Umstetzung zu. An dieser
Stelle muss man natürlich darauf hinweisen, nicht zur un-
geteilten Freude unserer Freunde und Partner aus Polen
und Tschechien. Ich bin aber davon überzeugt, sie werden
deshalb auf gar keinen Fall Mitglieder zweiter Klasse
werden. Das waren beispielsweise Spanien und Portugal
damals bei deren Beitritt auch nicht.
Die Wünsche für Übergangsregelungen im freien Ka-
pitalverkehr und beim Grunderwerb oder auch im Um-
weltbereich einer Reihe von Beitrittskandidaten mussten
jetzt im Gegenzuge nach zähen Bemühungen um Kom-
promisse auch akzeptiert werden. Europa ist nicht selten
ein oder der Kompromiss.
Wenn ich das an der Stelle nur ganz kursorisch ein-
flechten darf: Die Schaffung klarerer Regelungen in den
institutionellen Fragen der EU, das Prinzip der Mehrheits-
entscheidungen und die Zuordnung der Kompetenzen
zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und den Regionen
im so geannten Post-Nizza-Prozess ist dringender denn je.
Wir sollten alle den Daumen drücken, dass der so ge-
nannte Verfassungskonvent zur Vorbereitung einer Regie-
rungskonferenz im Jahre 2004 dazu die richtigen Weichen
stellt.
Zurück zu den aktuellen Fragen. Nutzen die Unterneh-
men, die Kammern und Verbände alle die Möglichkeiten
der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der Aus-
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richtung auf die Märkte in den künftigen Mitgliedstaaten
im Osten? Auf einigen Reisen nach Polen und Tschechien,
insbesondere in die Grenzregionen zu Sachsen im Nie-
derschlesischen und im Böhmischen, bei vielen Ge-
sprächen speziell in den Euroregionen, habe ich durchaus
den Eindruck gewonnen, dass man vielerorts mit Tatkraft
und auch Zuversicht die Möglichkeiten der grenzüber-
schreitenden Kooperationen und der Zusammenarbeit
von Unternehmen und Verwaltungen bereits nutzt. Trotz-
dem gibt es noch erhebliche Reserven. Der größtmögliche
Nutzen aus den erheblichen Finanzmitteln, die EU, Bund
und die Länder zur Flankierung des Erweiterungsprozes-
ses in der gegenwärtigen Vorbeitrittsphase zur Verfügung
stellen, wird wohl noch nicht gezogen. Handlungspiel-
räume gibt es durchaus. Am besten können sie vor Ort
ausgeschöpft werden. Dies alles muss in einer dringend
erforderlichen und umfassenden Informations- und Kom-
munikationskampagne den Beteiligten und Akteuren nahe
gebracht werden. Zu diesem Ergebnis kommen auch Stu-
dien des Sächsischen Handwerkstages und der Industrie
und Handelskammer Frankfurt/Oder. Beide Analysen
stellen ein erhebliches Informationsdefizit vor allem bei
den kleinen Unternehmen fest. Gerade diese schlecht in-
formierten Betriebe gilt es, nochmehr für die Chancen der
EU-Osterweiterung zu sensibilisieren. Die Vertreter von
Kammern und Verbänden, Unternehmer, Handwerker und
auch Ministerpräsidenten Professor Dr. Biedenkopf ha-
ben festgestellt: Die Lösung der Probleme in der Vorbei-
trittsphase bedarf nicht in erster Linie mehr Geld, sondern
mehr Intelligenz und Effizienz, die Milliarden richtig für
Infrastruktur und Wirtschaftsförderung zu nutzen. Hierzu
gehört auch, wie eingefordert, die Verbesserung der EU-
Programme wie PHARE CBC, INTERREG III und Än-
derung der Programmstrukturen. Die EU muss schneller
handeln. Der Kommissar Verheugen hat mir das auf
Nachfrage kürzlich in der gemeinsamen Sitzung der Eu-
ropaausschüsse von Bundestag und Bundesrat nochmals
bestätigt. Der Vollzug steht aber immer noch aus.
Was wir brauchen, um die Chancen der EU-Erweite-
rung zu nutzen, dabei die Herausforderungen zu bestehen,
sind Netzwerke über die noch bestehenden Grenzen hin-
weg, Netzwerke der Kammern und Verbände, der Ver-
waltungen und der Unternehmen. Wir brauchen aber auch
die Bereitschaft, die jeweils anderen zu verstehen. Ein
Blick in eine hochinteressante Studie des Warschauer In-
stitutes für öffentliche Angelegenheiten zur jeweiligen
Sicht Deutscher auf Polen und umgekehrt – ich kann sie
zur gründlichen Lektüre wirklich empfehlen, – zeigt: Da
ist ist noch einiges zu tun.
Insgesamt kann man feststellen: Mit den vorhandenen
Mitteln und Instrumenten kann und muss man vor Ort, in
den Ländern und Grenzregionen eine Unterstützung zu-
stande bringen. Der Ruf nach frischem Geld bringt nicht
viel, lediglich eine Aufblähung des EU-Haushaltes, von
Deutschland zu 24 Prozent selbst finanziert. Denken Sie,
die Antragsteller, dabei auch an die Stabilitätskriterien für
die Eurozone. Der Antrag verkleistert, wie gesagt, den
Blick auf die nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des
vorhandenen Instrumentariums. Deshalb werden wir ihn
ablehnen.
Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wir wollen die histo-
rische Chance der anstehenden Osterweiterung der Euro-
päischen Union nutzen. Diese angestrebte Erweiterung
der EU ist im Hinblick auf die Größenordnung und auf das
enorme Wohlstandsgefälle die gewaltigste Herausforde-
rung in der Geschichte des Einigungsprozesses.
Damit die EU-Erweiterung auch langfristig ein Erfolg
wird, müssen allerdings drei Voraussetzungen erfüllt sein:
Erstens: die Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskrite-
rien durch die Kandidatenländer. Hier gibt es Fortschritte,
aber auch große Probleme, insbesondere bei der Korrup-
tionsbekämpfung und der geforderten Umsetzung und
Durchsetzung des Brüsseler Regelungswerkes in den Bei-
trittsstaaten.
Zweitens: die Erweiterungsfähigkeit aufseiten der EU.
Leider hat die Bundesregierung dazu in den vergangenen
Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Die fehlende In-
stitutionenreform und eine klare Kompetenzabgrenzung
der verschiedenen Ebenen ist immer noch nicht in Sicht.
Mit 27 Mitgliedstaaten kann das bisherige System nicht
mehr funktionieren. Der Finanzrahmen für die Osterwei-
terung ist lediglich bis 2006 gesichert. Was danach
kommt, weiß niemand. Die Agenda 2000 war und ist
keine Basis für die Reformen der EU-Agrarpolitik; die
grundlegende Reform der EU-Regionalförderung wurde
ebenfalls nicht angegangen.
Somit wird auf die EU der zukünftigen 25 Mitglied-
staaten ein System übertragen, das für die EU der 15 nicht
zukunftsfähig war und für eine EU mit 25 Mitgliedstaaten
weder sinnvoll noch finanzierbar ist. Allein bei den Struk-
turfonds würden im Jahr 2008 zu den 30 Milliarden Euro
Strukturmittel für die bisherigen 15 weitere 37 Milliarden
Euro für die neuen Mitglieder hinzukommen. Bei der
Agrarpolitik würden 2008 zusätzlich Ausgaben für die
neuen Mitglieder in Höhe von 16,6 Milliarden Euro ent-
stehen.
Drittens: die dritte Voraussetzung für das Gelingen der
Osterweiterung ist die Förderung einer positiven wirt-
schaftlichen Entwicklung der Grenzregionen. Chancen:
Grenzregionen werden von der Randlage innerhalb der
EU ins Zentrum gerückt, was einen Gewinn an Zentralität
in einem erweiterten Wirtschaftsraum mit sich bringt. Ri-
siken: Wettbewerbsnachteile durch Kostenvorteile der
Beitrittsländer: niedrige Löhne, unterschiedliche Kauf-
kraft, niedrige Umwelt- und Sozialstandards und hohes
Fördergefälle.
Angesichts dieser Situation hat der Europäische Rat in
Nizza die Kommission aufgefordert, finanzielle Hilfen
für die Grenzregionen bereitzustellen, um die Benachtei-
ligung durch die Osterweiterung auszugleichen. Das vor-
gelegte Sonderprogramm für Grenzregionen mit 195 Mil-
lionen Euro für 23 EU-Regionen ist allerdings absolut
unzureichend. Die vom Bundeskanzler für die Grenzre-
gionen gegebenen Versprechen wurden nicht eingelöst.
Sollte hier nicht wesentlich nachgebessert werden, be-
steht die große Gefahr, dass es insbesondere in den Grenz-
regionen zu Verlagerungen von Produktion, Investitionen
und Dienstleistungen kommt.
An notwendigen Regelungen, die jetzt angegangen
werden müssen, nenne ich erstens ein geschlossenes
Grenzförderprogramm der EU mit Substanz, zweitens
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einen größeren Spielraum für die eigenständige Förder-
möglichkeit der Mitgliedstaaten und Länder, drittens eine
Anpassung und Verbesserung der bewährten Grenzgän-
gerregelung.
Viertens. Der Bund muss seiner Verantwortung, vor al-
lem im Rahmen des dringend erforderlichen Ausbaus der
Verkehrsinfrastruktur, nachkommen.
Fünftens. Besonderes Augenmerk verdient die mittel-
ständische Wirtschaft und insbesondere die Bauwirt-
schaft. Gerade hier führen Schwarzarbeit und die großen
Differenzen im Arbeits-, Steuer-, Tarif-, Sozial- und Um-
weltrecht zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen.
Sechstens. Wir brauchen die Koordination der ver-
schiedenen Programme.
Siebtens. Wir brauchen die aktive Ausgestaltung der
vereinbarten Übergangsfristen.
Insgesamt wollen wir die Erweiterung optimistisch an-
gehen. Aber wir müssen feststellen, dass die deutschen In-
teressen schlecht vertreten werden. Wie sonst ist es zu er-
klären, dass Bundesaußenminister Fischer an den
Erweiterungsverhandlungen auf Ebene der Minister bis-
her so gut wie nicht teilnimmt? Dieses Projekt allein
würde es rechtfertigen, einen Europaminister der Bundes-
regierung einzusetzen.
Also lassen Sie uns die großen Chancen nutzen, die
Probleme lösen und den Menschen die Ängste nehmen!
Arnold Vaatz (CDU/CSU):Wir benötigen in Deutsch-
land für die Erweiterung der Europäischen Union kein Re-
ferendum. Aber das ist kein Freibrief. Ohne ein Klima der
Zustimmung für diesen Prozess in unserem Land wird das
Unternehmen nicht erfolgreich sein. Ein sorgfältig durch-
dachtes Programm zur gezielten Vorbereitung der jetzigen
EU-Grenzregionen in Bayern, Sachsen, Brandenburg und
Vorpommern auf die Erweiterung wäre eine große Chance
gewesen. Im Falle der EU-Süderweiterung hat man diese
Möglichkeit genutzt: zur Aufwertung besonders betroffe-
ner Regionen und zur Vertrauensbildung für den damali-
gen Erweiterungsprozess. Auch nach der ersten Debatte
über unseren Antrag hier im Hause waren zumindest Ver-
suche der Bundesregierung zu beobachten, ein besonderes
Grenzregionenprogramm auf die Beine zu stellen.
Was ist nun daraus geworden? Für die Grenzregionen
stehen bekanntlich die Mittel von INTERREG III A zur
Verfügung. Auf das Drängen von Sachsen und Branden-
burg hat vor einem knappen Jahr der Bundeswirtschafts-
minister dem Kommissar Barnier geschrieben. Er hat ge-
fordert, die Mittelausstattung für dieses Programm zu
verdoppeln. Die Kommission ist darauf jedoch nicht ein-
gegangen. Sie hat im Juli 2001 ein Grenzregionen-
Aktionsprogramm verabschiedet. Das hat sie mit 195 Mil-
lionen Euro ausgestattet. Diese Summe müssen sich aber
die 23 Grenzregionen in ganz Europa teilen. Was dann für
die Projekte in der deutschen Grenzregion bleibt, kann
sich jeder ausrechnen: zum Leben zu wenig und zum Ster-
ben zu viel.
Man kann keine sachlichen Gründe erkennen, warum
die Bundesregierung nun die Forderungen des Müller-
Briefes nicht weiter verfolgt hat – es sei denn, sie waren
von vornherein nicht ernst gemeint. Was die Bundes-
regierung nicht zustande brachte, das schaffte dann we-
nigstens ansatzweise schließlich das Europäische Parla-
ment: Zusätzlich wurden 65 Millionen Euro bewilligt für
2002 und 2003.
So blamabel es ist, dass die Bundesregierung am Zu-
standekommen der Aufstockung keinen Anteil hat, so
wichtig ist es für die Region selbst: Darunter sind 30 Mil-
lionen für interregionale Strukturförderung, die in die
INTERREG III A-Mittel einfließen und 18 Millionen für
die Unterstützung von kleinen und mittleren Unterneh-
men. Aber auch hier gibt es noch große Unklarheiten: We-
der steht ein Verteilungsschlüssel fest, noch ist klar, für
welche Maßnahmen die Mittel eingesetzt werden können
– und das, obwohl schon klare Projektlisten in den Re-
gionen vorliegen. Dennoch ist auch das aufgestockte Pro-
gramm ein Tropfen auf einen heißen Stein. Die von der
Bundesregierung ursprünglich geforderte Verdopplung
der INTERREG III A-Mittel hätte allein für Deutschland
eine verfügbare Summe von 430 Millionen Euro ge-
bracht.
Die Lücke zwischen dem von der Bundesregierung
selbst angemeldeten Bedarf und der sich abzeichnenden
Ausstattung erklärt sich aber auch durch den geringen fi-
nanziellen Spielraum der Europäischen Union selbst. Da
schlägt nun zu Buche, dass die vollmundigen Versuche,
im Agrarbereich eine französische Kofinanzierung er-
zwingen zu wollen und stattdessen das waigelsche Kap-
pungsprinzip aufzugeben, verhängnisvolle Fehler dieser
Bundesregierung waren: Die Taube auf dem Dach ist
weggeflogen und der Spatz in der Hand auch. Die be-
scheidenere Ausstattung des Grenzregionenprogramms
wird sichtbare Konsequenzen haben: Wenn zum Beispiel
in die transeuropäischen Netze investiert wird, werden die
notwendigen Investitionen in die regionale Verkehrsinfra-
struktur auf der Strecke bleiben. Und für die Zeit nach
2006 gibt es weniger Hoffnung statt mehr, das Infrastruk-
turdefizit auszugleichen. In den Grenzregionen wird man
feststellen, dass der besonderen Beanspruchung der Re-
gionen aus dem Erweiterungsprozess keine besondere
Vorsorge durch die Regierung entgegensteht. Das ist
keine Werbung für die europäische Integration, sondern
unterlassene politische Hilfeleistung. Es sind Grüße aus
jener Sackgasse im europäischen Finanzsystem, in das
uns diese Bundesregierung hineingeführt hat.
Wenn die Skepsis gegen die Erweiterung der EU nun
um sich greift, dann ist das nicht der europäischen Idee
geschuldet, sondern der schlechten handwerklichen
Form, in der ihr diese Bundesregierung zu entsprechen
sucht.
Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Europäische Union steht zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts vor einer riesigen Herausforderung. Die Erweite-
rung der Europäischen Union nach Osten und Südosten ist
eine politische Notwendigkeit und Chance.
Wenn noch vor der nächsten Wahl des Europapar-
lamentes neue Mitglieder aufgenommen werden sollen
– und das haben wir uns alle in der EU vorgenommen –,
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dann müssen die Beitrittsverhandlungen zügig zum Ende
gebracht werden. Jede Verzögerung des Verhandlungs-
prozesses birgt das Risiko in sich, dass damit rückwärts-
gewandte Kräfte innerhalb Ost- und Mitteleuropas ge-
stärkt werden und die vorhandene Zustimmung für einen
Beitritt zur Union geschmälert wird. Die Osterweiterung
der Union darf daher aber auch bei uns nicht zum Spiel-
ball innenpolitischer Opportunitäten werden.
Die Erweiterung der Europäischen Union ist ein
äußerst komplexer Vorgang. Auch wenn längerfristig die
wirtschaftlichen Vorteile überwiegen – niemand zweifelt
daran –, sind Risiken nicht auszuschließen. Je nach Re-
gion, nach Wirtschaftsbereich oder anderen spezifischen
Bedingungen – etwa der Qualifizierung der Menschen –
sind unterschiedliche Effekte denkbar. Ängste, Sorgen
und Skepsis gegenüber Europa sind deshalb verständlich,
weil viele Menschen nicht verstehen, wer warum von wei-
tem in ihren Alltag eingreift. Hier muss sich gewiss man-
ches ändern, um die Akzeptanz für Europa zu erhöhen.
Aber wir sind heute sehr viel weiter als zur Zeit der
Stellung des Antrags, über den wir heute diskutieren. Die
weitgehend ausgehandelten Übergangsfristen werden
mögliche negative Folgen der Erweiterung in besonders
sensiblen Bereichen abfedern können. Wichtig ist für uns,
dass die Übergangsfristen weder von den alten noch von
den neuen Mitgliedstaaten dazu instrumentalisiert wer-
den, einerseits überfälligen Strukturwandel künstlich zu
verhindern oder falsch verstandene Partikularinteressen
zu wahren. Die Übergangsfristen sind, soweit bislang
festgelegt – das ist für uns besonders wichtig – auch hin-
reichend flexibel, um auf mögliche unerwartete Entwick-
lungen reagieren zu können.
Damit sind wir bei den Problemen der Grenzregionen.
Auch in ihnen werden die meisten Menschen von der Er-
weiterung profitieren. Die grenznahen Regionen rücken
aus ihrer Randlage heraus und ihre bisherigen Standort-
nachteile können mittelfristig zu Standortvorteilen wer-
den. Sie werden künftig zu wichtigen und zentral gelege-
nen Standorten im größeren EU-Europa. Hier gibt es
sicherlich Handlungsbedarf für einen Anpassungsprozess
an eine sich im Übrigen schon seit längerem verändernde
Situation. Also Ja zu einer gezielten regionalen Struktur-
förderung.
Aber: Förderung darf nicht der Konservierung alter
Strukturen dienen und keine Belohnung für versäumte
Anpassung und Veränderungsunwilligkeit sein. Jede poli-
tische Ebene muss ihre Verantwortung wahrnehmen und
ihren Teil zur politischen Flankierung des Erweiterungs-
prozesses beitragen. Die regionale Wirtschaftsförderung
ist primär Sache der Länder. Die vorhandenen Mittel müs-
sen mehr als bisher auf die besonders betroffenen Regio-
nen konzentriert werden, wobei die zukunftsweisenden
und innovativen Projekte zu bevorzugen sind.
Auch der Bund leistet durch die Gemeinschaftsaufgabe
„Regionale Wirtschaftsförderung“ bereits jetzt einen Bei-
trag zu diesen Anpassungsprozessen. Gerade bei der Ge-
meinschaftsaufgabe gilt es, künftig stärker noch als bisher
auf eine Konzentration der Mittel zu drängen.
Natürlich ist nicht zuletzt die Europäische Union ge-
fordert, ihren Teil beizutragen. Schon jetzt ist sie mit ih-
rer Struktur- und Regionalpolitik aktiv. In besonderer
Weise versucht sie über ihre Fonds zukunftsträchtige Pro-
jekte zu forcieren. Aber seien wir ehrlich: Wir hatten uns
von dem Aktionsplan der Europäischen Kommission et-
was mehr an Masse versprochen. Aber alle finanziellen
Wünsche können nun einmal nicht wahr werden.
Es geht auch nicht, dass wir das Einkassieren der Vor-
teile des Erweiterungsprozesses als selbstverständlichen
nationalen Anspruch und das Auffangen der Nachteile als
selbstverständliche europäische Aufgabe betrachten.
Umso wichtiger ist es, dass die Verwendung aller Gelder
und die Durchführung aller Maßnahmen zwischen allen
Ebenen gut abgestimmt wird, damit es echte Investitionen
in die Zukunft werden.
Nur eineöffentlicheundehrlicheDebatte überdieChan-
cen und Risiken der Erweiterung kann gewährleisten, dass
eine breite politische Akzeptanz der Erweiterung erhalten
bleibt.OhnediebreiteUnterstützungderBevölkerungwird
die Erweiterung nur schwerlich gelingen.Die Entwicklung
der öffentlichen Diskussion in den EU-Mitgliedstaaten
können wir – so mein Eindruck – daher positiv bewerten.
Das Informationsniveau steigt, das Verständnis für die Zu-
sammenhängewächst unddieÄngsteverringern sich–dies
alles nicht zuletzt aufgrund der Anstrengungen der Bun-
desregierung und der Parteien, besonders in den Grenz-
regionen für die Erweiterung zu werben.
Für uns Bündnisgrüne liegt ein besonderes Augenmerk
auf der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die sich
aber auch nicht auf wirtschaftliche Kooperation be-
schränken darf. Vor allem in der kulturellen, gesellschaft-
lichen und politischen Zusammenarbeit liegt ein enormes
Potenzial für das Gelingen des Erweiterungsprozesses.
Wirtschaftliche Probleme können gerade auch in grenz-
überschreitender Kooperation erfolgreich angegangen
werden. Dafür gibt es bereits viele gute Beispiele. Daran
sollten wird anknüpfen.
Jürgen Türk (FDP): Die Erweiterung der Europä-
ischen Union ist inzwischen in greifbare Nähe gerückt.
Alle demokratischen Parteien in Deutschland wollen sie.
Sie sind sich auch darin einig, dass es notwendig ist, die
deutschen Grenzregionen wirtschaftlich fit zu machen für
die Erweiterung, denn gerade hier wird die Vision vom ei-
nigen Europa zuerst und aufgrund des Anpassungsdrucks
wohl auch am härtesten auf die Probe gestellt.
Brüssel und Berlin haben in diesem Zusammenhang
viel versprochen, aber leider wenig gehalten. Sie lassen
die Grenzregionen weitgehend hängen.
Nach langer Verzögerung hat die EU-Kommission im
Juli vergangenen Jahres endlich eine „Gemeinschaftsak-
tion für Grenzregionen“ aufgelegt, die diesen Namen aber
leider kaum verdient. Es ist Minimalismus pur. Für die 23
Grenzregionen von Finnland bis Italien stellt die Kommis-
sion bis zur Erweiterung ganze 245 Millionen Euro zur
Verfügung, von denen allein 150 Millionen für transnatio-
nale Verkehrsprojekte reserviert sind. Die bescheidene
Restsumme verteilt sich auf ein Sonderkreditprogramm
der Europäischen Investitionsbank, ein Pilotprojekt für
KMU, den Aufbau von Informationsnetzen und Jugend-
austausch- sowie Bildungsmaßnahmen.
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Das ist nicht eben viel und entspricht in keiner Weise
den hohen Erwartungen, die die Kommission im Vorfeld
geweckt hatte. Selbst die Bundesregierung, sonst be-
kanntlich nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen, war
offensichtlich erschrocken und hat Nachbesserungen ge-
fordert. Ende November 2001 wurden dann noch 65 Mil-
lionen Euro von der EU für die Grenzregionen „nachge-
reicht“. Für die große Zahl der Aufgaben, die es vor der
Erweiterung im Grenzbereich zu lösen gilt, ist das aber
immer noch bei weitem nicht ausreichend.
Und das ist auch deutlich spürbar für jeden, der wie ich
in der Grenzregion lebt. Die wirtschaftliche Talfahrt, die ge-
rade die ostdeutschen Grenzregionen im letzten Jahr erlebt
haben, ist beispiellos. Schon lange gab es nicht mehr der-
maßen viele Firmenpleiten, so hohe Arbeitslosenzahlen und
so viele Abwanderer wie in diesem und im vergangenen
Jahr. Dieser Trend muss sich umkehren. Denn nur wenn die
Wirtschaft auf Wachstumskurs ist, kann den Menschen in
der Grenzregion die Angst vor der Erweiterung genommen
werden, nur dann werden sie den Einigungsprozess be-
grüßen. Dazu aber bedarf es eines generellen Umschwen-
kens in der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und
einer Grenzlandförderung, die für alle fühlbar Zeichen setzt
und Entwicklungsschübe auslöst.
Die Brandenburger FDP hat sich auf ihrem kürzlich
stattgefundenen 12. ordentlichen Landesparteitag inten-
siv mit dem Thema „EU-Osterweiterung“ befasst und
dazu einen Leitantrag beschlossen, der deutlich macht,
welche Maßnahmen uns schneller ans Ziel bringen kön-
nen. So fordern wir darin die Einrichtung eines Zentrums,
das alle Aktivitäten zur EU-Erweiterung in Brandenburg
zusammenfasst und koordiniert, die intensivere Förde-
rung von Kooperation von KMU beiderseits der Grenze
und die Vereinheitlichung von Verwaltungsstrukturen in
Deutschland und Polen.
Im Interesse der EU-Erweiterung ist zu hoffen und zu
wünschen, dass Landes- und Bundesregierung diese Vor-
schläge schnell aufgreifen und mit Leben erfüllen.
Uwe Hiksch (PDS):Über den Antrag, der der heutigen
Debatte zugrunde liegt, braucht man nicht mehr viele Worte
zu verlieren. Der Antrag der CDU/CSU ist datiert vom
3. Juli 2001 und mittlerweile überholt. An diesem Antrag
fällt auch auf, dass ermit sehr wenigen konkretenVorschlä-
gen versucht, populistische Stimmung zu organisieren. In-
teressanter verspricht die noch stattfindendeDebatte umdie
GroßeAnfrage der PDS zu diesem Thema zu werden.
Der Antrag der CDU/CSU verfolgt einen völlig
falschen Ansatz. Er fordert einseitig die Schaffung eines
Sonderprogramms für die deutschen Grenzregionen, um
die vorhandenen Probleme durch die Osterweiterung zu
mildern. Er blendet dabei bewusst aus, dass es ein spezi-
elles Förderprogramm nur für die deutschen Grenzregio-
nen im Rahmen der Europäischen Union niemals geben
wird, da ein solches Programm für alle EU-Außengrenzen
notwendig ist. Auch geht er in keiner Weise auf die Not-
wendigkeit von grenzüberschreitenden Initiativen in den
Regionen ein. Der Antrag bezieht sich einseitig auf die
vermeintlichen Wettbewerbsvorteile der Kandidatenlän-
der, auf das Fördergefälle zwischen deutschen und den an-
grenzenden Regionen und die Verdrängungseffekte auf
dem Arbeitsmarkt. Das ist eine falsche Sicht auf die He-
rausforderung der Osterweiterung und auch auf die Sor-
gen der Menschen in den ostdeutschen, aber auch in den
fränkischen und niederbayerischen Grenzregionen. Dort
verbinden die Menschen mit der Osterweiterung auch die
Hoffnung, aus der Randlage im alten Europa in die Mitte
eines neuen Europas zu rücken. Dort schaffen es die Men-
schen jetzt schon, unter schwierigen Ausgangsbedingun-
gen die Chancen eines Zusammenwachsens mit Polen
und der Tschechischen Republik zu nutzen; dort schaffen
es die Menschen jetzt schon, jenseits aller bestehenden
Sprachprobleme miteinander zu reden.
Das Problem aber ist: Sie werden von der Politik der
rot-grünen Regierung alleine gelassen. Die bevorstehende
EU-Osterweiterung lässt viele Menschen in Ostdeutsch-
land und Ostbayern befürchten, dass ihre Regionen zur
reinen Transitstrecke im größeren EU-Binnenmarkt und
zum perspektivlosen Hinterhof westdeutscher Wirt-
schaftszentren werden und sich die ungleiche Wirt-
schaftsentwicklung in der Bundesrepublik weiter zuun-
gunsten Ostdeutschlands verstärkt.
Die PDS setzt sich deshalb für die Schaffung eines spe-
ziellen Förderprogrammes für alle europäischen Grenz-
regionen ein, das als Schwerpunkt die intraregionale
Zusammenarbeit dieser Region setzt. Es müssen Initiati-
ven im kulturellen, wirtschaftlichen, umweltpolitischen
und kommunalen Bereich gefördert werden. Spezielle
Sprachinitiativen, zum gegenseitigen Erlernen der ande-
ren Sprache, müssen zum Zusammenwachsen dieser Re-
gionen beitragen.
Man muss sich die Situation in den einzelnen Regionen
genau anschauen und dann eine gezielte und auf die Pro-
bleme ausgerichtete Infrastrukturpolitik entwickeln, die in
Bayern andere sind als in Mecklenburg-Vorpommern.
Oberstes Prinzip muss dabei sein, nicht in nationalstaatli-
chen Kategorien zu denken, sondern grenzüberschreitende
Projekte und Lösungsansätze zu entwickeln. Gerade im
Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns gibt es auf der an-
deren Seite der Grenze durch die Wirtschaftsregion Stettin
Möglichkeiten für eine gemeinsame Kooperation zum bei-
derseitigen Vorteil. Das Gleiche gilt für bestimmte Dienst-
leistungsbranchen wie Unternehmens- und Rechtsbera-
tung oder Architektur- und Ingenieursbüros, die von einem
Zusammenwachsen der Regionen profitieren können. Das
Problem ist hier allerdings, dass diese Dienstleistungen
bisher zu wenig in den Grenzregionen angeboten werden,
sondern aus den Zentren bedient werden. Hier gilt es, ge-
zielt Unternehmensgründungen zu fördern. Chancen sehe
ich mit vielen Wirtschaftswissenschaftlern zusammen
auch in den Bereichen Aus- und Weiterbildung oder medi-
zinischen Dienstleistungen, also durchaus humankapital-
intensiven Dienstleistungsbranchen.
Aber: Die Zeit für die Vorbereitung der Grenzregionen
ist knapp; deshalb muss sofort damit begonnen werden,
über die bestehenden Grenzen hinaus zu denken. Wir
brauchen schon jetzt sinnvolle Erleichterungen im klei-
nen Grenzverkehr. Wir brauchen jetzt eine auch klein-
räumig durchdachte Planung für ein Verkehrsprojekt
Osterweiterung, weil die Verkehrsbelastung in den Grenz-
orten unerträglich ist. Regionale Wirtschaftsverpflechtun-
gen brauchen regionale Verkehrswege, regionale
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222948
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Knotenpunkte und den regionalen öffentlichen Verkehr
unterstützende Tarife. Vordringlich ist auch eine gemein-
same grenzüberschreitende Bildungsinitiative mit Polen
und Tschechien.
Grenzüberschreitende Kooperationen und Verflechtun-
gen gelingen nur mit den Menschen, nicht gegen die Men-
schen, die in diesen Regionen leben. Eine erfolgreiche
Osterweiterung braucht daher sozialen und kulturellen
Austausch, regionale Offenheit und gegenseitige Kennt-
nis, Besuchs- und Begegnungsprojekte, Mehrsprachigkeit.
Da die Osterweiterung unweigerlich dazu führen wird,
dass mehr Fördermittel in die osteuropäischen Regionen
fließen werden, müssen wir jetzt schon darüber nachden-
ken, wie wir uns eine Neuausrichtung der Regional- und
Strukturpolitik nach 2006 vorstellen. Wir brauchen eine
Weiterentwicklung der Förderprogramme auf europä-
ischer Ebene.
Das von der EU-Kommission vorgelegte „Aktionspro-
gramm Grenzregionen“ verdient diesen Namen jedoch
nicht. Die Grenzregionen müssen eine beträchtliche, sub-
stanzielle Aufstockung im Rahmen dieses Sonderprogram-
mes erhalten. Die Verkehrsinfrastruktur muss vor allem in-
nerhalb der Regionen und nicht nur für die großen
transeuropäischen Netze gefördert werden. Klein- und mit-
telständische Unternehmen brauchen wirksame Anpas-
sungshilfen und vor allem Unterstützung für die Entwick-
lung grenzüberschreitender Kooperation. Dringend
notwendig sind europäische und nationale Strategien zur
Überwindung der extrem hohen Arbeitslosigkeit in den ost-
deutschen Grenzregionen und zur Verringerung der Ab-
wanderung junger Menschen. Wesentlich erhöht werden
müssen die Mittel für den Jugendaustausch, für grenzüber-
schreitende und zweisprachige Bildung und Ausbildung,
für Kontakte zwischen sozialen und kulturellen Initiativen.
Werden die deutschen Politiker darauf angesprochen,
schieben sie sehr schnell die Verantwortung nach Brüssel.
Auch hier werden die Widersprüche nur zu deutlich: Die
Landespolitiker und die CDU/CSU fordern einmütig
mehr Geld aus Brüssel für das Grenzregionenprogramm
der EU. Das ist richtig. Gleichzeitig treten sie gemeinsam
mit Gerhard Schröder für eine Rationalisierung der Struk-
tur- und Regionalpolitik ein.
Die PDS wird ihre Aufgabe darin sehen, die bestehen-
den Probleme deutlich aufzuzeigen, gleichzeitig aber
durch konkrete Lösungsansätze deutlich zu machen, wie
die großen Chancen der Erweiterung für die Menschen in
der Region als Chance genutzt werden kann.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche
und der Bekämpfung der Finanzierung des Ter-
rorismus (Geldwäschebekämpfungsgesetz) (Ta-
gesordnungspunkt 16)
Hans-Peter Kemper (SPD):Der vorliegende Gesetz-
entwurf ist ein weiterer richtiger Schritt zur Bekämpfung
der organisierten Kriminalität und des internationalen
Terrorismus und damit ein wichtiger Beitrag zur weiteren
Verbesserung der inneren Sicherheit.
Organisierte Kriminalität und vor allem internationaler
Terrorismus sind im hohen Maße geeignet, Unruhe in der
Bevölkerung auszulösen und das Sicherheitsempfinden
der Bevölkerung empfindlich zu stören. Sozialdemokra-
ten legen aber seit jeher großen Wert auf die Verbesserung
der inneren Sicherheit. Ein Leben der Menschen in Si-
cherheit zu gewährleisten, ist ein zutiefst sozialdemokra-
tisches Anliegen. Ein Leben ohne Angst, ein Leben in Si-
cherheit ist ein Stück Lebensqualität.
Viele Menschen reagieren in sicherheitspolitisch ange-
spannten Situationen so, dass sie nach Einbruch der Dun-
kelheit ihre Häuser nicht mehr verlassen, bestimmte
Stadtteile meiden und dadurch Kontakte und Besuche bei
Verwandten und Bekannten nicht mehr wahrnehmen. Sie
geben ein Stück persönlicher Freiheit und damit ein Stück
Lebensqualität preis.
Nicht erst seit den verheerenden Anschlägen vom
11. September haben Sozialdemokraten die Bedeutung
der Geldströme für die organisierte Kriminalität und für
den internationalen Terrorismus erkannt und sorgen für
Transparenz und eine nachhaltige Bekämpfung der Geld-
wäsche.
Es ist nach unserer Meinung ein wichtiger Ansatzpunkt
zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, diese
illegalen Geldströme auszutrocknen, denn Finanzmittel
im großen Umfang, sei es legal oder illegal; sind nun mal
die Triebfeder der organisierten Kriminalität, der Lebens-
saft des internationalen Terrorismus. Daher ist es richtig
und wichtig, weitere Schritte in der Bekämpfung der in-
ternationalen Geldwäsche zu gehen, von denen ich hier
nur einige schwerpunktartig aufführen will.
In dem bisherigen Geldwäschebekämpfungsgesetz wa-
ren ganz bestimmte Berufsgruppen nicht oder nicht ausrei-
chendmit einbezogen. Das waren all diejenigen, bei denen
die Gefahr besteht, dass sie ihre berufliche Stellung miss-
brauchen oder dass ihre Dienstleistungen zur Geldwäsche
missbraucht werden, zum Beispiel Finanzmakler, steuer-
beratende und rechtsberatende Berufe. Diese bestehenden
Lücken werden mit dem neuen Gesetz geschlossen.
In diesem Gesetzentwurf wird den neuen Erkenntnis-
sen der EDV-gestützten Finanztransaktionen im europä-
ischen Bereich Rechnung getragen: Die Zeiten, in denen
organisierte Kriminelle mit einer Tragetasche voller Geld
in der Bank erschienen, sind längst vorbei. Heute werden
riesige Geldmengen in Sekundenschnelle über unsere
EDV-Systeme um die ganze Welt transferiert. Insofern
haben wir es bei diesem Gesetz mit einer Anpassung an
neue, sich ständig verändernde Techniken im Bank- und
Kreditwesen zu tun.
Als weiterer, sehr wichtiger Schwerpunkt in diesem
neuen Gesetz ist die Straffung des innerstaatlichen Ver-
fahrens zu nennen. Die Weiterleitung einer Geldwäsche-
anzeige vom Anzeigepflichtigen, also von den Banken
oder Steuerberatern etc. an die zuständigen Strafverfol-
gungsbehörden erfolgt, und das ist sehr wichtig, parallel
dazu an die bestehende Zentralstelle des BKA.
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In der Vergangenheit ist immer wieder insbesondere
von den Finanzermittlern Klage über ein schwerfälliges,
mit unnötigen Zeitverlusten verbundenes Verfahren ge-
führt worden. Die Parallelmeldungen entsprechen inter-
nationalen Vorgaben und stellen eine schnellstmögliche
Verfügbarkeit sämtlicher geldwäscherelevanten Informa-
tionen sicher.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf ergänzt die bereits
im Bereich der Geldwäsche bestehenden Rechtsvorschrif-
ten in sinnvoller Weise und passt sie an die sich wandeln-
den Bedingungen in unserer Gesellschaft an. Er trägt den
Erkenntnissen zur besseren Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus so weit als möglich Rechnung, ohne dabei
in unvertretbarer Weise Datenschutz oder Bürgerrechte zu
beeinträchtigen. Von daher halte ich diesen Gesetzentwurf
für sehr gelungen, weil hilfreich in der Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus, und ich
bin davon überzeugt, dass dieses Gesetzesvorhaben noch
in dieser Legislaturperiode die breite Zustimmung unseres
Parlaments finden wird.
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):
Der Terroranschlag auf die USA hat die Welt verändert:
Wir stehen vor neuen Herausforderungen, die uns zu
neuen Sichtweisen und zu veränderten Schwerpunkten
bei den Aufgaben des Staates zwingen, weil wir die frei-
heitlichste Gesellschaftsordnung, die Deutschland je ge-
kannt hat, erhalten und stärken wollen.
Ein Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der
Geldwäsche und zur Bekämpfung der Finanzierung des
Terrorismus ist notwendiger denn je, weil gerade die fi-
nanziellen Strukturen des internationalen Terrorismus
zerstört werden müssen. Denn nur dadurch kann dem in-
ternationalen Terrorismus die logistische und strukturelle
Grundlage entzogen werden. Insofern ist das Gesetz rich-
tig. Ihre Initiative ist dankenswert.
Aber: Ob Sie dies mit dem vorgelegten Gesetzentwurf
vollständig erreichen werden, ist hier und da leider doch
zweifelhaft. Nicht gut ist zum Beispiel, dass Ihr Gesetz-
entwurf weitere bürokratische Hürden – im Wesentlichen
bei den Banken – schafft. Denn auf die Banken sind wir
ja bei der Identifizierung von terroristischem Vermögen
besonders angewiesen. Gerade ihre Motivation, die ihrer
Mitarbeiter, führt zum Erfolg. Und diese Motivation müs-
sen wir stärken und dürfen die Banken nicht mit überflüs-
sigen Aufgaben belasten.
Deswegen frage ich mich, wieso die im Rahmen einer
Identifizierung zu dokumentierenden Aufgaben um das
„Ende der Gültigkeitsdauer“ ergänzt werden sollen. Denn
dies nützt wenig und kostet Geld. Dies erfordert die Um-
stellung des gesamten Formularwesens der Kreditwirt-
schaft, obwohl bereits nach geltendem Recht gültige Aus-
weispapiere bei der Identifizierung verwendet werden.
Die zusätzlichen Kosten stehen in keinem Verhältnis zu
einem überhaupt vorstellbaren Nutzen.
Problematisch ist unter dem Gesichtspunkt des zusätz-
lichen unnötigen Verwaltungsaufwandes auch die neue
Identifizierungspflicht bei Abschluss eines Vertrages zur
Begründung einer auf Dauer angelegten Geschäftsbezie-
hung. Die Praxis der Kreditinstitute, die erforderlichen
personenbezogenen Daten nach den Vorschriften der Ab-
gabenordnung festzustellen und festzuhalten, hat sich seit
Jahrzehnten bewährt.
Ich wiederhole: Nicht mehr Verwaltungsaufwand, son-
dern die Überzeugung bei den Mitarbeitern der Banken
bestärken, dass die neuen Vorschriften sinnvoll sind und
dass sie zur gemeinsamen notwendigen Bekämpfung von
OK und besonders des Terrors dienen.
Sie hätten eben mehr vorschlagen müssen, um die we-
sentlichen Probleme bei der Geldwäschebekämpfung an-
zupacken. Das Regelwerk hätte erheblich effektiver ge-
staltet werden müssen. Seit 1993 hat es in Deutschland
nur 100 Verurteilungen wegen Geldwäsche gegeben. Was
fehlt, sind effektivere gesetzliche Regelungen. Was fehlt,
ist eine erhebliche Verbesserung der Koordinierung aller
betreffenden Institutionen. Was fehlt, ist Personal. Weil
Sie das nicht regeln, bleibt die Beweisführung lückenhaft,
ist eine Verurteilung wegen Geldwäsche oftmals leider
nicht möglich.
Sie wissen: Ich habe deshalb an dieser Stelle immer
wieder die Umkehr der Beweislast für diesen Bereich ge-
fordert. Dies ist in der Schweiz möglich. Vom CDU-Bun-
desparteitag ist das beschlossen worden. Die Polizei for-
dert dies. Dann wagen auch wir die ernsthafte Diskussion
hierüber.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat aus denselben
Gründen bereits vor dem 11. September 2001 immer wie-
der die Optimierung der Geldwäschevorschriften gefor-
dert. So haben wir unter anderem auch Verbesserungsvor-
schläge für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der
Gewinnabschöpfung vorgelegt. Der Zugriff auf die sehr
hohen Gewinne – damals beschränkt auf die OK – war ei-
nes unserer wichtigsten gesetzgeberischen Ziele bei der
Einführung der Geldwäschegesetzgebung. Es muss näm-
lich die Gewinnabschöpfung auch solcher Vermögensge-
genstände möglich sein, die das Ergebnis eines oder meh-
rerer Geldwaschvorgänge sind.
Darüber hinaus sind Beweiserleichterungen im Ver-
fallsrecht sowie eine deutliche Verlängerung der Fristen
für die – vorläufige – Sicherstellung erforderlich. Das fehlt
hier. Das ist ein Mangel.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang weiter an unse-
ren Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Straftaten der
OK und des Terrorismus, der leider nicht die erforderliche
Mehrheit in diesem Hause bekommen hat.
Es ist unverzichtbar, dass die erwirtschafteten Profite,
die insbesondere für Terrorismus verwendet werden, ent-
zogen werden können. Wenn es auch angesichts der inter-
nationalen Strukturen der Täter schwierig ist, aber es geht.
Wie wir gesehen haben, sind trotz der hohen Zahl auslän-
discher Beziehungsstrukturen der kriminellen Organisa-
tionen im vergangenen Jahr in einem von der Union re-
gierten Land, nämlich in Baden-Württemberg, allein bei
der organisierten Kriminalität Vermögenswerte in Höhe
von rund 10,7 Millionen Euro aufgespürt und beschlag-
nahmt worden – dank dem zuständigen Innenminister
Thomas Schäuble und dem FDP-Justizminister Ulrich
Goll. Nur so – nämlich mit der Abschöpfung der krimi-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222950
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nellen Vermögenswerte – kann die OK, mit der letztend-
lich auch der Terrorismus finanziert wird, an ihrer Le-
bensader getroffen werden.
Nur so wird eine Reinvestition dieser Mittel in weitere
kriminelle und terroristische Verbrechen verhindert. Und
gerade deswegen unterstützen wir, dass alle im Finanz-
sektor tätigen Institute verpflichtet werden, Verdachtsan-
zeigen im Hinblick auf den Terrorismus zu erstatten. Wir
halten diese Regelung im vorliegenden Gesetzentwurf für
zielführend.
Wir begrüßen auch den Ausbau und die Verbesserung
der Funktionalität der im BKA bestehenden Zentralstelle
für Geldwäscheverdacht entsprechend den internationa-
len politischen Anforderungen.
Sie wissen: Wir haben das Geldwäschegesetz seiner-
zeit gegen ihren Widerstand durchgesetzt. Insofern be-
grüßen wir ausdrücklich, dass Sie von der Regierungsko-
alition nunmehr, wenn auch etwas spät, jedenfalls zum
Teil in der Realität angekommen sind. Dennoch: Noch
mehr Mut – auch gegen Grün – wäre nötig gewesen.
Der Terrorismus muss international bekämpft werden,
weil sich kein Land alleine schützen kann; da sind wir uns
doch einig. Warum arbeiten Sie aber nicht daran, die in-
ternationale Zusammenarbeit auszubauen? Es müssen in-
ternationale Standards und ein Verhaltenskodex bei der
Geldwäschebekämpfung geschaffen werden. Das System
weltweiter Schattenbanken muss aufgebrochen werden.
Wir sind hier der Meinung, dass die 40 Empfehlungen zur
Geldwäschebekämpfung der Financial Action Task Force
zwar als Grundlage dienen können. Sie müssen aber im
Hinblick auf die Terrorismusbekämpfung weiterent-
wickelt, erweitert werden. Und vor allem: Die Umsetzung
darf nicht auf die 29 Mitgliedstaaten begrenzt bleiben!
Die nicht ordnungsgemäß beaufsichtigten und mangel-
haft regulierten Finanzplätze liefern vor allem den terroris-
tischen Netzwerken Grundlagen für ihre Finanztransfers.
Sie müssen konsequent ins Visier genommen werden.
Und ein Weiteres: Es müssen vor allem gemeinsame
Sanktionsmöglichkeiten auf internationaler Ebene ge-
schaffen werden. Notwendig sind identische Gesetze, ein
Strafgerichtshof, eine angegliederte einheitliche interna-
tionale Strafvollstreckung. Denn von der Politik, von uns,
ist nach den notwendigen Worten der Bestürzung, Trauer
und Solidarität nunmehr tatkräftiges Handeln gefordert.
Und deshalb: Wie beim Terrorbekämpfungsgesetz: Die
Union wird – bei notwendigen Änderungsanträgen – der
Bundesregierung zur Seite stehen.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
Abend reden wir über ein wichtiges Thema. Ich bedaure,
dass es so weit hinten auf der Tagesordnung steht. Wie
können wir die Geldströme der terroristischen Organisa-
tionen stoppen oder zumindest eindämmen? Der An-
schlag von Djerba zeigt einmal mehr, dass Terroristen in-
ternational vernetzt sind und mit internationalen
Finanztransaktionen ihre Attentate finanzieren.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen wir ei-
nen weiteren Schritt hin zu der effektiven Bekämpfung
der internationalen Finanzströme terroristischer Organi-
sationen. Der Entwurf wird aber auch in einem anderen
Bereich relevant werden: in dem der organisierten Krimi-
nalität. Wir müssen die Finanzbewegungen der organi-
sierten Kriminalität, die zum Teil mit Etats jongliert, die
höher als ein Staatshaushalt sind, eindämmen. Gerade hier
gilt es, möglichst umfassende Kontrollen einzuführen.
Geldwäsche ist kein Kavaliersdelikt. Wir müssen alles
daran setzen, diesem Eindruck entgegenzutreten. Der Ge-
setzentwurf zeigt, wie schnell Europa hier reagiert hat und
wie schnell wir die europäische Richtlinie umsetzen. Das
ist gut so. Gerade im Bereich der Geldwäsche ist die euro-
päische und internationaleKooperation besonderswichtig.
Geldströme machen keinen Halt vor nationalen Grenzen.
Schon das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz hat auf
die Transparenz der Finanzströme abgezielt. Mit dem jetzt
vorliegenden Entwurf intensivieren wir die Transparenz.
Wir tun das, indem wir die an Finanztransaktionen betei-
ligten Unternehmen und Personen verpflichten, stärker
auf illegale Geldbewegungen zu achten.
Es ist deswegen sinnvoll, dass zum Beispiel Versiche-
rungsmakler, seien sie selbständig oder angestellt, jetzt in
den Anwendungsbereich des Geldwäschebekämpfungs-
gesetzes einbezogen werden. Es ist richtig, die Finanz-
institute stärker in die Pflicht zu nehmen. Das bedeutet
auch, dass sich die Finanzinstitute über ihre bisherige
Pflichten hinaus jetzt auch über die Identität einer Person
vergewissern müssen, mit der sie längerfristige Ge-
schäftsbeziehungen planen. Sie dürfen nicht länger davon
ausgehen, dass Geld nicht stinkt.
Allerdings macht mir eine Regelung im Gesetzentwurf
Sorge. Ich denke aber, dass wir hier im weiteren parla-
mentarischen Verfahren zu einer Lösung kommen wer-
den. Ich spreche von den neuen Pflichten, die Rechtsan-
wältinnen und Rechtsanwälten auferlegt werden. Richtig
ist sicherlich, dass sie sich jetzt über die Identität eines
Mandanten vergewissern müssen, wenn sie bestimmte fi-
nanzielle Transaktionen vornehmen. Zu weit geht aber
meines Erachtens die Pflicht der Rechtsbeistände, in be-
stimmten Fällen eine Anzeige erstatten zu müssen.
Das Verhältnis Rechtsanwalt – Mandant ist ein beson-
deres Vertrauensverhältnis. Der Mandant muss die Si-
cherheit haben, dass er seinem Rechtsbeistand umfassend
vertrauen kann. Dieses Vertrauen des Rechtssuchenden ist
auch Ausdruck des Schutzes der Persönlichkeit nach Art. 2
Abs. 1 des Grundgesetzes. Alles, was der Rechtssuchende
seinem Rechtsanwalt anvertraut, ist zunächst von diesem
Schutz umfasst.
Gerade der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“
könnte aber durchbrochen werden, wenn der Rechts-
anwalt verpflichtet wird, Mitteilungen über den Mandan-
ten an die Rechtsanwaltskammer zu machen. Wenn der
Mandant mit der Möglichkeit rechnen muss, dass Anga-
ben, die er gegenüber dem Rechtsanwalt gemacht hat, von
diesem weitergegeben werden, dann besteht die Gefahr,
dass er sich seinem Rechtsanwalt gegenüber nicht umfas-
send offenbart.
Meines Erachtens müssen wir hier den Gesetzentwurf
auch noch einmal unter dem Gesichtspunkt der Wer-
tungseinheit mit §138 StGB betrachten. Dort hat der
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Rechtsanwalt die Pflicht, schwerste Verbrechen anzuzei-
gen. Im Geldwäschebekämpfungsgesetz ist er schon ver-
pflichtet, ein Vergehen, wie es die Geldwäsche gemäß
§ 261 StGB darstellt, anzuzeigen.
Ich denke, dass wir hier im weiteren parlamentarischen
Verfahren noch einmal nachbessern sollten. Auch hier
muss das strucksche Gesetz gelten: Kein Gesetz geht so in
das parlamentarische Verfahren hinein, wie es letztend-
lich verabschiedet wird. Wir haben hier auch noch Hand-
lungsspielraum. Die Geldwäscherichtlinie, die mit dem
heutigen Gesetzesentwurf umgesetzt wird, lässt aus-
drücklich eine Ausnahme für rechtsberatende Berufe zu.
Insbesondere erlaubt sie, dass der Rechtsanwalt der Man-
dantin mitteilen darf, dass er Informationen an die Kam-
mer weitergegeben hat.
Das ist für das Vertrauensverhältnis zwischen Rechts-
beistand und Mandant sehr wichtig. Denn nur so kann der
Mandant das ausreichende Vertrauen zu seinem Rechts-
anwalt aufbauen. Er kann dann gegebenenfalls entschei-
den, ob er das Mandatsverhältnis fortsetzen möchte oder
nicht. Auch für den Rechtsanwalt und die Rechtsanwältin
ist das wichtig: Sie müssen, wenn sie schon zum Ge-
heimnisverrat verpflichtet werden, berechtigt sein, sich
demjenigen gegenüber zu offenbaren, der in der Erwar-
tung des Geheimnisschutzes zu ihnen gekommen ist.
Ich bin mir sicher, dass wir hier noch zu einer vernünf-
tigen Lösung kommen werden. Die anderen Maßnahmen
begrüße ich. Ich möchte zum Schluss noch einmal unter-
streichen, dass der vorliegende Gesetzentwurf ein posi-
tives Beispiel für die schnelle Umsetzung europäischer
Vorgaben und internationaler Initiativen ist, die eine Re-
aktion auf den 11. September sind.
Rainer Funke (FDP): Das vorliegende Gesetz zur
Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und der
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus klingt im
Titel gut. Ob auch der Inhalt des Gesetzes gut und vor al-
lem durchführbar ist und die hier entwickelten Vorhaben
nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen, muss noch
in den anschließenden Beratungen in den Ausschüssen
gründlich untersucht werden. Ich fürchte, dass es sich
hierbei um einen großen Etikettenschwindel handelt.
Natürlich wollen wir alle den internationalen Terroris-
mus bekämpfen, auch durch die Austrocknung illegaler
Finanzströme, die der terroristischen Logistik und Struk-
tur dienen. Man kann auch sagen, auf diesem Gebiet jagt
ein Gesetz das andere: So ist bereits das Terrorismus-
bekämpfungsgesetz seit dem 1. Januar dieses Jahres in
Kraft und das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist ge-
rade vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden.
Ohne auch nur Erfahrungen mit diesen beiden Gesetzen
und den bisherigen §§ 261 ff. StGB gegen Geldwäsche
abzuwarten, wird ein weiteres Gesetz vorgelegt, das in die
Grundstrukturen unserer Rechtsordnung eingreift und da-
rüber hinaus die Kreditwirtschaft tief treffen wird.
Die europäische Richtlinie zur Geldwäsche hat in
einem gerade noch vertretbaren Umfang den Anwen-
dungsbereich der Geldwäscherichtlinie auch auf die An-
wälte ausdrücklich mit erfasst, aber Ausnahmen vorgese-
hen, die noch sicherstellen können, dass ein Anwalt auch
ohne Offenlegung Mandanten die Rechtslage erläutern
und beraten kann. Darüber hinaus unterliegt der Anwalt
keiner Meldepflicht, wenn er den Mandanten vor Gericht
vertritt. Dagegen ist die Formulierung in § 11 Abs. 3 S. 2
des Geldwäschebekämpfungsgesetzes weiter und lässt
befürchten, dass bei den Auslegungen und Anwendungen
des Gesetzes unverzichtbare Rechte der Rechtsuchenden
in einer Weise eingeschränkt werden könnten, wie dies
Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes und Art. 8 MRK wider-
spricht. Der Rang des Geheimnisschutzes bei der Bera-
tung ist ein hohes Gut und ist im Übrigen gemäß § 203
StGB auch strafbewehrt. Es besteht kein Anlass, hier
weiter zu gehen, als in der zweiten europäischen Geld-
wäscherichtlinie.
Auch Art. 3 des Geldwäschegesetzentwurfs schießt in
der Fassung seines neuen § 25 b weit über das eigentliche
Ziel, verdächtige Zahlungen zum In- und Ausland zu er-
fassen, hinaus. § 25 b sieht eine Totalerfassung von allen
Transaktionsdaten vom In- ins Ausland und umgekehrt
vor. Gegebenenfalls fehlende Transaktionsdaten müssen
erforscht werden, und zwar von allen an der Transaktion
beteiligten Kreditinstituten. Dieses Verfahren ist aufwen-
dig, sehr kostenintensiv und wird nicht etwa von den Kre-
ditinstituten, sondern von allen Kunden zu finanzieren
sein.
Die Flut von Daten wird auch dazu führen, dass Er-
mittlungen mehr erschwert denn erleichtert werden. Des-
wegen wird in den Anhörungen zu prüfen sein, ob nicht
einfachere Verfahren zu demselben gewünschten Ergeb-
nis führen können. Entsprechende Vorschläge liegen ja
bereits vor. Diese Totalerhebung folgt der typisch deut-
schen Regulierungswut. Dieser Perfektionismus wird in
keinem Land der OECD umgesetzt. Da es sich um Aus-
landszahlungen handelt, sollten wir uns auch an den Er-
fahrungen im Ausland orientieren.
Für meine Fraktion sage ich eine gründliche und kon-
struktive Mitarbeit in den Ausschüssen zu, denn der Ter-
rorismus muss überall bekämpft werden. Wir dürfen nicht
zulassen, dass sich der Terrorismus auch bei uns einnisten
kann.
Ulla Jelpke (PDS): Im Zusammenhang mit der Dis-
kussion um Terrorismusbekämpfung gab es im vergange-
nen Herbst Stimmen, die für Steuerberater, Anwälte und
Notare schon bei einem schwachen Verdacht auf Geldwä-
sche eine Anzeigepflicht gegen ihre eigenen Mandanten
einführen wollten. Solche extremen Forderungen tauchen
in der jetzigen Vorlage nicht mehr auf. Aber der Eingriff
in das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt bzw. Steuer-
berater und seinem Mandanten ist geblieben.
Schon bei der Debatte um den großen Lauschangriff
haben sich Anwälte, Notare, Ärzte und andere zu Recht
gegen das Belauschen von vertraulichen Gesprächen mit
Mandanten gewehrt. Nun wird erneut darin eingegriffen.
So sollen Anwälte und Steuerberater jetzt verpflichtet
werden, ihre Mandanten anzuzeigen, wenn sie „wissen,
dass der Mandant ihre Rechtsberatung bewusst für den
Zweck der Geldwäsche in Anspruch nimmt“. Im Gesetz
heißt es zwar, dass diese Anzeigepflicht nicht gelten soll,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222952
(C)
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(A)
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wenn nur ein Verdacht auf eine Straftat besteht. Wo aber
verläuft die Grenze zwischen Gewissheit und Verdacht?
In Wirklichkeit wissen doch alle, dass es hier eine breite
Grauzone gibt.
Außerdem hat bisher selbst ein auf frischer Tat ertapp-
ter Straftäter das Recht zu schweigen. Soll das künftig
nicht mehr gelten? Wer zu einem Anwalt oder Steuerbe-
rater geht, offenbart sich diesem. Und ein Anwalt oder
Steuerberater, der nach einem solchen Gespräch seinen
Mandanten anzeigt, ist dann auch Zeuge der Anklage ge-
gen seinen eigenen Mandanten. Anwälte, Notare, Steuer-
berater und andere würden damit zu Hilfspolizisten. Das
ist unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die
Verfolgung und Verurteilung von Verbrechen ist Sache
von Polizei und Justiz und von niemandem sonst. Aufgabe
von Anwälten, Notaren und Steuerberatern ist die rechtli-
che Beratung und auch die Verteidigung von Beschuldig-
ten. Dabei muss es bleiben.
In der Praxis wäre die jetzt geplante Regelung nach
meiner Überzeugung zudem völlig wirkungslos. Zu An-
wälten oder Steuerberatern, die ihre Mandanten anzeigen,
geht niemand mehr hin. Und wenn es um wirklich
schwere Verbrechen geht, kaufen sich solche Banden so-
wieso ihre Anwälte und Berater mit Haut und Haaren. Zu
glauben, ein großer Rauschgift- oder Waffenhändler wäre
mithilfe seiner eigenen Anwälte oder Steuerberater zu
überführen, ist naiv bis zur Lächerlichkeit. Die geplante
Vorschrift ist deshalb auch kürzlich auf dem 26. Strafver-
teidigertag in Mainz von den dort versammelten 500 An-
wältinnen und Anwälten zu Recht als „Sicherheitshyste-
rie“ abgelehnt worden.
Ein zweiter Punkt: Mit der vorliegenden Novelle sol-
len im Finanzsektor tätige Firmen zu Anzeigen verpflich-
tet werden, wenn ihnen Anhaltspunkte für eine Finanzie-
rung von Terrorismus vorliegen. Was Terrorismus ist,
wird dabei nicht gesagt. Verwiesen wird stattdessen auf
§ 129 a und den neuen § 129 b Strafgesetzbuch. Die PDS
lehnt beide Paragraphen entschieden ab. Beide Gesin-
nungsparagraphen werden auch von Strafverteidigern und
Menschenrechtsgruppen schon lange kritisiert.
Wenn in Zukunft auch noch die Deutsche Bank, die
Dresdner Bank, die Allianz AG oder andere Firmen ent-
scheiden sollen, welche Gruppe oder Person in Kolum-
bien oder sonst in Südamerika, im Irak in der Türkei oder
irgendwo sonst im Mittleren Osten oder in einem anderen
Land der Welt als terroristisch einzustufen ist, wird das
vollends grotesk. Es gibt bis heute keine allgemein ak-
zeptierte Definition von Terrorismus. Unter diesen Um-
ständen auch noch Banken und Versicherungen zu Hilfs-
polizisten zu machen ist völlig unhaltbar.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Gegen Geld-
wäsche soll auch nach Ansicht der PDS unbedingt vorge-
gangen werden. Genau hier aber geschieht weiter viel zu
wenig. Das Ermittlungsverfahren gegen den früheren In-
nenminister Kanther wegen Geldwäsche zum Beispiel
wurde vor wenigen Wochen wieder eingestellt, obwohl
dieser Millionenbeträge, die aus bis heute nicht bekann-
ten Quellen in die Kassen der CDU gelangt waren, illegal
in die Schweiz und wieder zurück transferiert hat. Noch
grotesker finde ich die Einstellung des Verfahrens gegen
den flüchtigen CSU-Staatssekretär Pfahls. Gegen ihn
wurde wegen Verdacht auf Geldwäsche im Zusammen-
hang mit der Leuna-Affäre ermittelt. Dabei sollen 39 Mil-
lionen DM Schmiergelder geflossen sein, vor allem über
den Geschäftsmann Dieter Holzer. Herr Pfahls sei Teil der
Geldverteilungsmaschinerie des Herrn Holzer gewesen,
aber er habe Konten in Ländern unterhalten, in denen
Geldwäsche nicht strafbar sei, und deshalb sei das, was
Herr Pfahls getan habe, auch nach hiesigem Strafrecht
nicht strafbar, hat der mit den Ermittlungen befasste
Augsburger Staatsanwalt erklärt.
Ich finde, in diesen beiden Fällen ist Strafverfolgung
wegen Geldwäsche mehr als angebracht, ebenso wie bei
anderen Fällen von illegalem Waffenhandel, Rauschgift-
geschäften und Ähnlichem. Hier aber geschieht auch mit
der heutigen Vorlage nichts. Einen Gesetzentwurf, der ge-
gen solche Taten nichts unternimmt, aber Banken und
Versicherungen zu weltweiten Hilfspolizisten macht und
den Schutz von Mandanten von Anwälten und Notaren
untergräbt, lehnen wir ab.
Fritz Rudolf Körper, Parlamentarischer Staatssekre-
tär beim Bundesminister des Innern:Mit den Anschlägen
vom 11. September 2001 hat die terroristische Bedrohung
eine neue und bisher unbekannte Dimension erreicht.
Hinter solchen Gräueltaten stecken Logistik und vor al-
lem große finanzielle Ressourcen. Im Konsens mit der
internationalen Staatengemeinschaft ist es gemeinsame
Aufgabe aller innerstaatlichen Kräfte, diese Strukturen zu
zerschlagen. Ein entscheidender Aspekt dabei ist der
Kampf gegen die Finanzierung des Terrorismus. Illegale
Finanzströme müssen entschlossen bekämpft und die fi-
nanziellen Quellen des Terrorismus wirkungsvoll ausge-
trocknet werden.
Zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes
sind bereits entscheidende administrative und legislative
Schritte eingeleitet worden. Mit dem Geldwäsche-
bekämpfungsgesetz werden nun in engem funktionalen
Zusammenhang mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft ge-
tretenen Terrorismusbekämpfungsgesetz weitere notwen-
dige Voraussetzungen zur effektiven Bekämpfung der Fi-
nanzströme des internationalen Terrorismus geschaffen.
Deutschland wird mit dem vorliegenden Gesetz als einer
der ersten Staaten in der Europäischen Union die am
28. Dezember 2001 in Kraft getretene EU-Geldwäsche-
richtlinie umsetzen.
Ein Schwerpunkt der Gesetzesänderungen liegt zum
einen in der vom führenden internationalen Gremium
„Financial Action Task Force an Money Laundering“
– FATF – vorgegebenen Nutzung des vorhandenen Geld-
wäscheinstrumentariums auch zur Aufdeckung von Ter-
rorismusfinanzierung. Zum anderen geht es um die Um-
setzung der Vorgabe einer verbesserten Transparenz des
Zahlungsverkehrs. Um die Finanzierung des Terrorismus
zu unterbinden, werden beispielsweise die ldentifizie-
rungs- und Anzeigepflichten bei verdächtigen Transaktio-
nen verschärft.
Entsprechend den Vorgaben der europäischen Geldwä-
sche-Richtlinie wird außerdem der vom Geldwäschege-
setz verpflichtete Personenkreis um neue Berufsgruppen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22953
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erweitert. Bislang unterliegen der Dokumentations- und
Identifizierungspflicht ab 15 000 Euro nur Banken und
Versicherungsunternehmen. Künftig sollen auch Steuer-
berater und Wirtschaftsprüfer identifizieren und doku-
mentieren. Anwälte und Notare müssen dies nur dann tun,
wenn sie bestimmte Geschäfte für ihre Klienten ab-
wickeln.
Entsprechend den europäischen Vorgaben ist zudem
vorgesehen, dass die vier Berufsgruppen ebenfalls der
Pflicht zur Verdachtanzeige unterliegen. Davon gibt es aus
verfassungsrechtlichen Gründen allerdings eine Aus-
nahme für Angehörige freier Berufe, wenn sie Informatio-
nen im Zusammenhang mit ihrer Prozessvertretung oder
im Rahmen ihrer rechtsberatenden Tätigkeit erlangen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs ist die Straf-
fung des innerstaatlichen Verfahrens der Weiterleitung ei-
ner Geldwäscheanzeige vom Anzeigepflichtigen an die
zuständigen Strafverfolgungsbehörden sowie parallel
dazu an die bestehende Zentralstelle im BKA.
Zur Verbesserung der Zusammenarbeit mit den „Fi-
nancial Intelligence Units“ – FIU – im Ausland wird zu-
gleich die bestehende Zentralstelle personell und organi-
satorisch entsprechend den internationalen Vorgaben
ausgebaut. Die deutsche Zentralstelle für Verdachtsanzei-
gen – „Financial Intelligence Unit“ – soll interdisziplinär
zunächst mit rund 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern –
Strafverfolger, Staatsanwälte und Finanzexperten – be-
setzt werden. Durch diese Maßnahmen wird die schnellst-
mögliche Verfügbarkeit sämtlicher geldwäscherelevanter
Informationen in der Zentralstelle sichergestellt.
Schließlich werden mit dem Entwurf die bisherigen Er-
fahrungen mit dem geltenden Geldwäschegesetz umge-
setzt: Hierzu gehören insbesondere die Berücksichtigung
der verstärkten Nutzung der neuen Medien bei der Durch-
führung von Finanztransaktionen, aber auch der Abbau
von bürokratischen Hemmnissen. Elektronisches Geld
wird Bargeld gleichgestellt. Das ist insbesondere für die
effektive Arbeit der Zollbehörden von Bedeutung.
Die Bundesregierung steht mit dem vorliegenden Ent-
wurf an der Seite der internationalen Staatengemein-
schaft. Wir verfolgen international wie national einen
multidisziplinären Ansatz im Kampf gegen die Finanzie-
rung des Terrorismus. In diesem Sinne führt der Gesetz-
entwurf polizeiliche, strafverfolgungs- und bankenauf-
sichtsrechtliche Maßnahmen zusammen.
Die Bundesregierung wird auch diese neue Maßnah-
men einer kontinuierlichen und kritischen Evaluierung
unterziehen: Effektivität und Kohärenz mit den interna-
tionalen Standards sind hierfür die entscheidenden Krite-
rien. Dies gilt nicht zuletzt für die Ausgestaltung und
Struktur der deutschen „Financial Intelligence Unit“. Vor
dem Hintergrund der internationalen Anforderungen an
die Organisation einer Zentralstelle und der Entwicklun-
gen im Verdachtsanzeigewesen wird diese drei Jahre nach
Inkrafttreten des Gesetzes überprüft werden.
Lassen Sie mich abschließend auf Folgendes hinwei-
sen: Um eine Verabschiedung des Gesetzentwurfs vor der
Sommerpause zu erreichen, ist uns ein enger Zeitplan ge-
steckt. Wir müssen dieses Ziel erreichen: Das auf interna-
tionaler Ebene führende Gremium der Geldwäsche-
bekämpfung, die Financial Action Task Force an Money
Laundering, hat seine Mitgliedstaaten dringlich aufgefor-
dert, die aktuellen Vorgaben zur Terrorismusfinanzierung
bis Mitte dieses Jahres umzusetzen. Deutschland wird im
Sommer für ein Jahr die Präsidentschaft in diesem Gre-
mium übernehmen. Die Verabschiedung des vorliegenden
Gesetzentwurfs ist dafür die wichtigste Startvorlage.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzie-
rung der Sanierung von Rüstungsaltlasten in der
Bundesrepublik Deutschland (Rüstungsaltlas-
tenfinanzierungsgesetz – RüStAltFG)
– des Antrags: Sofortmaßnahmen des Bundes bei
der Rüstungskonversion einleiten
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Vor über einem
Jahr habe ich zum ersten Mal zu diesem Thema hier im
Plenum gesprochen. Heute haben wir als Folge der dama-
ligen Debatte einen Gesetzentwurf des Bundesrates zu be-
raten.
Was hat sich seit dieser Zeit getan? Zum einen muss ich
als Brandenburger Abgeordnete aus der besonders betrof-
fenen Region Oranienburg ganz deutlich sagen, dass sich
die Situation nicht entspannt, sondern im Gegenteil wei-
ter verschärft hat. Die Gefährdung 57 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs ist immer noch allgegen-
wärtig.
Erst vor einer Woche wurde eine 250-kg-Bombe ame-
rikanischer Bauart mitten in der Innenstadt entschärft.
Über 10 Stunden lang mussten 2 600 Oranienburger ihre
Wohnungen verlassen, Schulen, Kitas und Verwaltungen
wurden geschlossen und der Verkehrsfluss durch die Stadt
kostete noch mehr Nerven und Zeit als ohnehin üblich.
Dies wiederholte sich zum 85. Mal in Oranienburg und für
die nächste Woche ist Gleiches bereits angekündigt. Ein
Ende ist noch nicht absehbar.
Wir können aufgrund massiver Bombenangriffe in der
Vergangenheit davon ausgehen, dass von den 20 000 ab-
geworfenen Bomben durch Flugzeuge der Alliierten, circa
10 bis 20 Prozent ihre Wirkung nicht entfaltet haben und
als Blindgänger im Erdreich, im Wasser, unter Straßen
und Häusern liegen und damit eine permanente Bedrohung
für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger darstellen.
Die Experten gehen also auch nach den Auswertungen der
in den letzten Jahren erworbenen alliierten Luftbildauf-
nahmen von 1 500 bis 2 000 Vermutungsflächen auf rund
350 Quadratkilometern allein in meiner Heimatregion
aus. Das verpflichtet zum Handeln. Auf die anderen Ge-
fährdungsregionen über Brandenburg hinaus, in Sachsen,
Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen, kann ich schon aus Zeitgründen
nicht eingehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222954
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Ich glaube, jeder von uns kann nachvollziehen, wie be-
drückend diese permanente Gefährdung für die Bürger
solcher Regionen ist und welche wirtschaftlichen Nach-
teile daraus entstehen. Investoren ziehen sich zurück,
auch weil sie die finanziellen Belastungen weder kalku-
lieren noch tragen können. Die Städte und Gemeinden
können dieses drückende Erbe nicht allein tragen. Ihre Fi-
nanzlage kann dem verstärkten Druck nach Bergung und
Vernichtung der Munitionsaltlasten nicht standhalten.
Leider hat auch das Land Brandenburg in der Vergan-
genheit von der Möglichkeit eigener landesrechtlicher
Regelungen bisher Abstand genommen. Hintergrund wird
hier wohl auch die fehlende Finanzkraft sein. Branden-
burg ist wie andere Länder mit dieser Aufgabenerfüllung
hoffnungslos überfordert.
Und so liegt uns heute ein Ergebnis der Überlegungen
der Länder, wie man dieses Problem der Kriegsaltlasten
grundlegend lösen könnte, zur Beratung auf dem Tisch.
Ich habe mich, wie am 8. Februar letzten Jahres in meiner
Rede versprochen, an den Innenminister des Landes
Brandenburg mit der Bitte gewandt, gemeinsam mit den
betroffenen Regionen und mit dem Landtag Brandenburg
einen generellen neuen Lösungsansatz in der Kampfmit-
telberäumung zu finden. Diese Initiative wurde aufgegrif-
fen und mündete in einen Gesetzentwurf des Bundesrates.
Dass Brandenburg mit den anderen Ländern nun auf
den Bund zugegangen ist, ist aus den voran genannten
Gründen nachvollziehbar. Zielstellung dieser Gesetz-
initiative ist es, eine veränderte Lastenteilung zwischen
Bund und Ländern bei der Finanzierung von Maßnahmen
zur Sanierung von Rüstungsaltlasten zu erreichen. Die für
die Länder bisher gültige so genannte „Staatspraxis“ des
Bundes soll verändert werden. Der Bund soll künftig nach
dem Willen der Länder sowohl die Aufwendungen für die
Kampfmittelräumung auf bundeseigenen Liegenschaften
und für die Bergung und Vernichtung so genannter „reichs-
eigener Munition“ auf sonstigen Flächen und zusätzlich
jetzt auch die Bergung und Vernichtung alliierter Muni-
tion aus dem Zweiten Weltkrieg sowie Rüstungsaltlasten
aus der Zeit des Kalten Krieges erstatten.
Dass dies nicht so ohne weiteres vom Bund zu schul-
tern sein wird, ist selbst den „Nicht-Haushältern“ in die-
sem Hause bewusst. Dennoch müssen wir gemeinsam
nach Lösungen suchen, der Bund, die Länder und die in
diesem Hause beteiligten Ausschüsse.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch daran erin-
nern, dass wir in dieser Frage den dritten Anlauf des Bun-
desrates seit 1992 haben. Es lohnt sich noch einmal den
Blick auf die bisherigen Entscheidungen zu werfen.
1992 – beim ersten Versuch, den Bund in die alleinige
Verantwortung zu schicken – waren sich nicht alle Länder
einig und insbesondere den neuen Ländern der enorm ver-
stärkte Handlungsdruck nicht bewusst. Die CDU-/CSU-
Regierung lehnte 1993 das Ansinnen ab.
1997 – beim zweiten Versuch – berief sich die gleiche
CDU/CSU-Regierung auf die bestehende Kostenregelung
und die Staatspraxis zwischen Bund und Ländern, die sich
bewährt hätte und die deshalb beibehalten werden sollte,
so der Originalton. Als nicht gerechtfertigte Forderung
der Länder lehnte die CDU/CSU-Regierung ohne große
Aussprache 1997 erneut die Forderung des Bundesrates
nach Neuregelung der Finanzierung von Rüstungsaltla-
sten ab.
Wie gehen wir nun mit diesem erneuten Antrag des
Bundesrates um? Ausgehend davon, dass der Antrag des
Bundesrates grundlegende verfassungsrechtliche Fragen
aufwirft und selbstverständlich auch erhebliche finanzi-
elle Auswirkungen auf die Haushaltssituation des Bundes
haben wird, ist der eingeschlagene Weg der intensiven
Erörterung nur gutzuheißen.
Der von der CDU/CSU-Fraktion beantragten An-
hörung zu ihrem vor einem Jahr eingereichten Antrag
„Kriegsfolgen- und Kriegslastenbeseitigung in den neuen
Ländern“ haben wir unter der Prämisse zugestimmt, dass
sich die Anhörung prioritär mit dem Entwurf des Rüs-
tungsaltlastenfinanzierungsgesetz detailliert auseinander
setzt.
Die nun am 15. Mai stattfindende öffentliche An-
hörung werden wir mit Experten durchführen, die mit der
Thematik bestens vertraut sind und ihre Erfahrungen aus
unterschiedlichen Regionen unserer Republik einbringen
können. Im Mittelpunkt werden die Erörterung der ver-
fassungsrechtlichen Möglichkeiten, die Einschätzung der
Gefährdungssituation, die von den Rüstungsaltlasten aus-
geht, und natürlich auch die finanzpolitischen Auswir-
kungen für Bund und Länder stehen.
Bis heute kann mir noch keiner sagen, welches Fi-
nanzvolumen hinter einem geforderten fünfjährigen Fi-
nanzierungsprogramm, das jährlich fortgeschrieben wer-
den soll, stehen wird.
Eine ernsthafte und solide Neuregelung in der Frage
der Rüstungsaltlastenfinanzierung verlangt eine gründli-
che Klärung der offenen Fragen. Denn nur so haben wir
die Chance, eine für alle Beteiligten angemessene Lösung
zu finden.
Ich will mich dieser Herausforderung stellen. Lassen
Sie uns gemeinsam an die Arbeit gehen!
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rüstungsaltlasten sind ohne Zweifel Hinterlassenschaften
von Kriegen, Rüstungsindustrie oder Truppenübungs-
plätzen, die von Nachfolgegenerationen schwer zu tragen
sind.
Auch ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende gehen
erhebliche Gefahren von Fliegerbomben und anderer
Kriegsmunition aus. Aber auch auf Truppenübungsplät-
zen, ob in Betrieb oder aufgelassen, lauern Gefahren für
Mensch und Umwelt in Form von Explosionsgefahren,
Gewässerverschmutzung oder Bodenvergiftungen.
Die Beseitigung von Rüstungsaltlasten erfordert er-
heblichen Aufwand, vor allem auch finanzieller Art. In
vielen Fällen sind die betroffenen Kommunen, private
Grundstücksbesitzer oder die Länder finanziell überfor-
dert. Wichtige Sanierungsaufgaben bleiben unerfüllt, da
sie schlichtweg nicht finanzierbar sind. Die Gefährdun-
gen für Mensch und Umwelt bleiben aber bestehen. Da-
bei gibt es Regionen, die besonders von Rüstungsaltlasten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22955
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betroffen sind, beispielsweise Brandenburg, wo mit
40 0000 Hektar weit mehr als die 240 000 Hektar ehema-
lige Militärflächen belastete Fläche sind. Gerade die Ge-
gend um Oranienburg ist besonders betroffen.
Die Probleme der Rüstungsaltlasten sind nicht neu. Be-
reits 1992 und 1997 hat der Bundesrat Initiativen für
ein Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz beschlossen,
die jeweils vom Deutschen Bundestag abgelehnt wurden.
Begründet wurden diese ablehnenden Beschlüsse der
liberalkonservativen Regierungen damit, dass den Län-
dern ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stünden.
Um die Folgen des Truppenabbaus auszugleichen, wurde
ab 1993 eine Erhöhung des Länderanteils am Umsatz-
steueraufkommen um 2 Prozent vorgenommenen. Damit
waren nach Auffassung der alten Regierungen auch künf-
tige Lasten der Konversion berücksichtigt. Der Einsatz
dieser Mittel liegt ausschließlich in der Verantwortung der
Länder.
Mit der Bundeswehrreform unter der rot-grünen Re-
gierung, mit der ein erneuter Truppenübungsplatzabbau
einhergehen wird, ist die Diskussion um Militärkonver-
sion erneut entfacht. Ich möchte an dieser Stelle erinnern,
dass die Bundeswehrreform in den 90er-Jahren eine Re-
duzierung der Mannschaftsstärke um 700 000 Soldaten
zufolge hatte. Die heutige Bundeswehrreform sieht eine
Reduzierung um etwa 90 000 Soldaten vor. Daher ist die
Konversionsnotwendigkeit heute erheblich geringer als
wegen der unter der schwarz-gelben Regierung verein-
barten Truppenreduzierung.
Dennoch lässt die rot-grüne Bundesregierung die be-
troffenen Kommunen nicht alleine. Zurzeit besteht bereits
ein Instrumentarium, das zur Finanzierung des Anpas-
sungsprozesses in den von den Reduzierungen oder
Schließungen betroffenen Standorten eingesetzt werden
kann. Hierzu gehören insbesondere die Bundesländerge-
meinschaftsaufgabe ,,Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“, die europäischen Strukturfonds sowie
Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, um nur einige we-
nige zu nennen.
Insofern ist die Bundesregierung dem Anliegen der
PDS, Sofortmaßnahmen des Bundes bei der Rüstungs-
konversion einzuleiten, längst nachgekommen. Im Übri-
gen kommt die PDS mit ihrem Antrag zu Sofortmaßnah-
men reichlich spät. Union und FDP hatten dieses Thema
bereits in dieser Wahlperiode im Bundestag zur Sprache
gebracht. Aufgrund der bereits in Angriff genommenen
Konversionshilfen der Bundesregierung und der finanzi-
ellen Möglichkeiten, die die Länder seit der Erhöhung des
Umsatzsteueranteiles 1993 haben, waren die Anträge der
CDU/CSU und FDP von der Mehrheit des Deutschen
Bundestag für überflüssig gehalten worden und wurden
abgelehnt.
Der Gesetzesentwurf des Bundesrates zur Finanzie-
rung der Sanierung von Rüstungsaltlasten greift ja, wie
ich eingangs in meinem Redebeitrag ausführte, wichtige
Fragen der Altlastensanierung auf.
Bei der entscheidenden Frage jedoch, wer die durch
den Gesetzesentwurf induzierten Mehrkosten zu tragen
hat, macht es sich der Bundesrat zu einfach, indem er dem
Bund einseitig höhere Ausgabenlasten zuschieben will.
Vor allem in der entscheidenden Frage, wie hoch denn die
tatsächlich auf den Bund entfallenden Mehrkosten sein
werden, schweigt der Bundesratsantrag.
Wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen es uns aber
nicht, wie die alte Regierung, einfach machen und mit
dem Verweis auf die Erhöhung des Mehrwertsteueranteils
von 1992 den Bundesratsantrag einfach ablehnen. Nein,
wir wollen uns ernsthaft um das berechtigte Anliegen des
Bundesrates kümmern, vor allem, da die hohen Kosten
der Altlastensanierung in einzelnen Regionen tatsächlich
Probleme bereiten.
Wir schlagen daher vor, den Gesetzentwurf in die zu-
ständigen Ausschüsse zu überweisen und dort über umfas-
sende Anhörungen vor allem zu klären, wie hoch denn
überhaupt die finanziellen Lasten sind, die auf Bund, Län-
der und Gemeinden zukommen werden. Erst mit dieser
Kenntnis kann seriös über die beiden vorliegenden Anträge
entschieden werden, da sie erhebliche Haushaltsrelevanz
entfalten werden. In dieser Vorgehensweise sind wir uns
auch mit unserem Koalitionspartner von der SPD einig.
Jürgen Koppelin (FDP): Dieses Thema ist von
großer Relevanz sowohl für die neuen als auch für die
alten Bundesländer. Ich bedauere sehr, dieses Thema
nicht zu einer besseren Tageszeit im Plenum debattieren
zu können. Ich denke allerdings, den tieferen Grund für
diesen weit nach hinten geschobenen Tagesordnungs-
punkt zu kennen.
Der Gesetzentwurf des Landes Brandenburg ist nicht
der erste seiner Art, der über den Bundesrat vorgelegt
wird. Denn schon im Jahr 1992 hat es ein Gesetz zur
Finanzierung der Rüstungsaltlasten aus dem Bundesrat
gegeben. Dabei hervorgetan hat sich das Land Nieder-
sachsen unter rot-grüner Regierung. Unter einem Minis-
terpräsidenten Schröder war es seinerzeit der jetzige Um-
weltminister Jürgen Trittin, der sowohl für das Land
Niedersachsen als auch stellvertretend für die Länder
Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Hol-
stein den damaligen Gesetzentwurf im Bundesrat feder-
führend vorgestellt hat. Wenn ich mich heute umschaue
und den Debattenzeitpunkt berücksichtige, bleibt mir
nichts anderes, als festzustellen, dass die Herren Schröder
und Trittin von ihrem damaligen Ansinnen nichts mehr
wissen wollen.
Dabei ist die Entsorgung von Fliegerbomben und
anderer Kriegsmunition sowohl für Länder als auch für
Privatpersonen von besonderer Bedeutung. Gerade Rüs-
tungsaltlasten verursachen – da kann ich die Stadt Ora-
nienburg in Brandenburg beispielhaft für viele andere
Städte in der Bundesrepublik nennen – schwer wiegende
Probleme.
Immer wieder hört man von Blindgängern, die gefun-
den werden und entsorgt werden müssen. Dabei müssen
selbstverständlich Bewohner ganzer Straßenzüge oder
Stadtviertel evakuiert werden. In einem Fall musste sogar
das Wohnhaus einer Familie wegen einer darunter liegen-
den Bombe abgerissen werden.
Damit kommen wir zum Wesentlichen, nämlich zu der
Frage der Kostenübernahme. Die gängige Praxis ist, dass
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222956
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(B)
eine Kostenübernahme durch den Bund nur dann erfolgt,
wenn es sich um reichseigene Munition handelt. Diese
Praxis soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geändert
werden.
Doch muss hier jedem klar sein, dass sowohl die Fi-
nanzierungsabwicklung und die Ausweitung der Kos-
tenträgerschaft als auch die Errichtung einer Rüstungs-
belastungsdatei beim Umweltbundesamt zu erheblichen
zusätzlichen Ausgaben beim Bund führen. Wenn das ge-
wollt ist, dann sollten Sie von der Koalition das Gespräch
mit dem Bundeskanzler führen und ihn in seiner heutigen
Eigenschaft an sein Vorgehen als Ministerpräsident in
Niedersachsen erinnern.
Ich kann mir allerdings das Ergebnis dieses Ge-
spräches sehr genau vorstellen. Er wird Ihnen mit dem
Hinweis auf die zu erwartenden Kosten eine Absage er-
teilen. Daher sollte überlegt werden – das sage ich hier als
Vertreter der FDP –, ob nicht im Rahmen des Finanzaus-
gleichsgesetzes und einer – wie ich meine – notwendigen
Finanzreform der Weg der Kostenverteilung über dieses
Instrument beschritten werden sollte.
Uns allen ist klar: Die Beseitigung von Kriegslasten
und Kriegsgefahren aus dem Zweiten Weltkrieg ist keine
teilungsbedingte Sonderlast der neuen Länder, sondern
eine Aufgabe, die in ganz Deutschland zu leisten war und
weiterhin zu leisten ist. Von daher geht der Gesetzentwurf
des Landes Brandenburg weiter als der Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den wir im letzten Jahr
im Plenum beraten haben. Ich begrüße dies für meine
Fraktion ausdrücklich; denn es darf hier keine Unter-
scheidung zwischen alten und neuen Ländern geben, wo-
bei ich anerkenne, dass die Probleme in den neuen Län-
dern weit größer sind als in den alten.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch kurz auf den
PDS-Antrag eingehen. Er ist wohlgemeint und geht in An-
sätzen auch in die richtige Richtung. Doch eine Fraktion,
die wie die FDP für die Verschlankung des Staates eintritt,
kann einen Antrag nicht unterstützen, der zur Schaffung
eines weiteren Amtes bzw. einer Behörde auffordert. Dies
lehnen wir strikt ab.
Rolf Kutzmutz (PDS): Ich möchte mit zwei Zitaten
beginnen:
Erlöse aus der Veräußerung ehemals militärischer
Liegenschaften, die über den Haushaltsansatz hi-
nausgehen, fließen in einen Konversionsfonds. Aus
dem Fonds werden Kosten für Konversionsmaßnah-
men in den betroffenen Regionen getragen.
Und:
Zusätzlich legt der Bund ein Konversionsprogramm
für die Förderung von Regionen auf, die von der
Konversion besonders betroffen sind.
Sie könnten aus dem heute hier debattierten PDS-An-
trag stammen, tun sie aber nicht. Ich habe aus einem Ent-
schließungsantrag von Rudolf Scharping und Kollegen
zitiert – allerdings vom 6. November 1996.
Wenn auf solche Vorhaltungen immer nur kommt, mit
der Verantwortung für die Kasse würden sich auch die
Einsichten ändern, so ist mir das buchstäblich zu billig.
Alle großen Parteien – von Herrn Stoiber bis zu Herrn
Eichel – beschwören in diesen Tagen, nach der Wahl zur
so genannten „Entflechtung“ der Mischfinanzierung von
Bund und Ländern schreiten zu wollen. Meine Herren,
hier, bei den Konversionskosten, haben Sie ein geeignetes
Objekt zur Umsetzung dieses lautstark bekundeten Wil-
lens. Den kalten und den davor stattgefundenen heißen
Krieg haben nicht die Länder und Kommunen, die haben
der Bund bzw. seine Rechtsvorgänger geführt. Wer anders
als der Bund sollte also für die Folgekosten aufkommen?
Deshalb ist es auch im Sinne der stoiber-eichelschen
Logik nur konsequent, einen Bundesbeauftragten zu benen-
nen, der – natürlich in Abstimmung mit den Betroffenen,
also Hardthöhe, Länder und Kommunen – ein Sofortpro-
gramm für Konversion erarbeitet und ein Konversionsge-
setz vorbereitet, um langfristig einen fairen Lastenaus-
gleich zwischen Bund und Ländern bei der Bewältigung
des militärisch bedingten Strukturwandels sicherzustel-
len. Mehr verlangt auch die PDS mit ihrem Antrag nicht.
Was hören wir stattdessen von der Regierung: Nichts
weiter als ständige Verweise auf die Wirtschaftsstruktur-
Gemeinschaftsaufgabe – eine GA, deren Mittel nicht ein-
mal für die originären Aufgaben reicht und Sie ja erklär-
termaßen auch noch abschaffen wollen. Vollends absurd
wird das Ganze mit der rigorosen Ablehnung des Bundes-
rat-Gesetzentwurfes für ein Rüstungsaltlastenfinanzie-
rungsgesetz, wie sie der Stellungnahme der Bundesregie-
rung zu entnehmen ist. Letztlich verschanzt sie sich hinter
dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht, also
bleibt es auch künftig dabei – hochtrabend „Staatspraxis“
genannt.
Diese Praxis aber ist es ja, die gerade den Kommunen
finanziell das Leben schwer macht. Ich rede dabei nicht
nur von Oranienburg; auf die 30 000-Einwohner-Stadt
fielen 20 000 alliierte Bomben. Ich meine auch solche All-
tagsfälle wie jetzt in Schwerin, wo nach einem Granaten-
fund wegen unverzichtbarer Sondierungen nun mög-
licherweise für Wochen eine Hauptschlagader des Verkehrs
gesperrt werden muss.
Die Bundesratsinitiative zielt schließlich nicht auf eine
Bereicherung der Länder zulasten des Bundes, sondern,
wie jeder nachlesen kann, auf die Entlastung der kommu-
nalen Haushalte um die Kosten für Gefahrenabwehr und
Wiederherstellung, die künftig die Länder tragen wollen.
Wer so oft von künftig verlässlichen Finanzierungsgrund-
lagen für die Kommunen spricht, wie Kanzler, Finanzmi-
nister und ihr Herausforderer, der darf sich dem Ziel die-
ses Gesetzentwurfes eigentlich nicht verschließen – wenn
er denn noch ernst genommen werden will.
Jörg Schönbohm,Minister (Brandenburg): In weni-
gen Wochen liegt das Ende des Zweiten Weltkrieges
58 Jahre zurück. Dennoch müssen wir uns hier und heute
mit einem Problem befassen, das unmittelbare Folge des
Zweiten Weltkrieges ist und heute noch zu Gefährdungen
von Personen und Sachen führt.
Gegenstand unserer Debatte ist der Entwurf eines Ge-
setzes über die Finanzierung der Sanierung von Rüs-
tungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland, das der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22957
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(B)
Bundesrat auf Antrag des Landes Brandenburg be-
schlossen und in den Bundestag eingebracht hat. Mit dem
Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz soll der bisher un-
befriedigende Zustand einer Staatspraxis des Bundes
beendet werden, wonach der Bund den Ländern nur die
Aufwendungen für die Kampfmittelräumung auf bundes-
eigenen Liegenschaften sowie für die Bergung und Ver-
nichtung so genannter reichseigener Munition erstattet.
Diese – von der Bundesregierung in ihrer Stellung-
nahme als „angemessen“ bezeichnete – Staatspraxis ver-
nachlässigt jedoch, dass das heutige Gebiet der Bundes-
republik Deutschland während des Zweiten Weltkrieges
Ziel ungezählter Bombardierungen durch die alliierten
Streitkräfte war. In vielen Gegenden unseres Landes ge-
hen noch heute von im Boden befindlichen, oft noch un-
entdeckten Blindgängern erhebliche Gefahren aus.
Die betroffenen Länder und Kommunen arbeiten unter
erheblichem personellem und finanziellem Aufwand da-
ran, die Gefährdungspunkte zu ermitteln und zu beseiti-
gen. Besonders stark betroffene Länder, Kommunen und
private Grundstückseigentümer sind durch finanzielle
Mehrbelastungen infolge der notwendigen Räumung von
Rüstungsaltlasten und der damit verbundenen Maßnah-
men überfordert. Ich verweise hier auf die notwendigen
Begleitmaßnahmen wie Evakuierung von Personen, Be-
wachung der Fundstelle, Verlegung von Medien usw.
Als eines von vielen Beispielen möchte ich an dieser
Stelle die im Land Brandenburg gelegene Stadt Oranien-
burg nennen. Die Luftbildauswertung für die Stadt Ora-
nienburg hat circa 2 000 Bombenblindgängerverdachts-
punkte auf überwiegend bebauten Grundstücken ergeben.
Das heißt, mitten in der Stadt, unter Wohnhäusern, befin-
den sich noch zahlreiche mögliche Bombenblindgänger.
Während der Kriegshandlungen sind bei den alliierten
Luftangriffen auch vielfach Bomben mit einem chemi-
schen Langzeitzünder eingesetzt worden. Circa 15 Pro-
zent dieser Bomben detonierten nicht. Die Besonderheit
dieser Bomben besteht in der Gefahr der Selbstdetona-
tion, die im Zuge der fortschreitenden Korrosion ständig
zunimmt.
In der Zeit von 1977 bis 1994 kam es in Oranienburg
zu sechs Selbstdetonationen. In einem Fall sind Personen
verletzt worden.Wir müssen nach Lage der Dinge froh
sein, dass bisher keine weiteren Personenschäden zu ver-
zeichnen sind.
Auch in anderen Ländern gibt es ähnliche Bedrohun-
gen, die nicht länger hingenommen werden können. Ich
nenne hier ein Beispiel vom 7. April 2002 aus Nieder-
sachsen. In Langenhagen sind drei alliierte 5-Zentner-
Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft worden,
die zuvor bei der Auswertung von Luftbildaufnahmen
entdeckt worden waren. Auch hier waren erhebliche Be-
gleitmaßnahmen zu veranlassen. Circa 1 500 Menschen
haben ihre Häuser verlassen müssen. Für die Dauer der
Entschärfung wurden die Autobahn 2 sowie eine Bahn-
strecke gesperrt.
Die Kosten für Bombenbergung betragen im Einzelfall
bis zu 50 000 Euro. Hierzu kommen Kosten für Begleit-
maßnahmen, die abhängig vom Einzelfall ebenfalls meh-
rere 10 000 Euro betragen können. Unter Berücksichti-
gung des bereits dargelegten Umfangs der Problematik
verdeutlichen diese Zahlen, dass die Belastungen nicht
länger durch Länder und Kommunen allein getragen wer-
den können.
Neben den bereits skizzierten Gefahren für unsere Bür-
ger, die teilweise buchstäblich gezwungen sind, auf Bom-
ben zu leben, verhindert die hohe Munitionsbelastung da-
rüber hinaus in beachtlichem Maße die wirtschaftliche
Entwicklung nutzbarer Bodenflächen. Es gibt zahlreiche
Fälle, in denen die Munitionsverdachtsflächen schon aus
haftungsrechtlichen Gründen gegen den Zugang des Pu-
blikums gesperrt werden mussten.
Dieser Umstand mit allen seinen Folgen verursacht
einen volkswirtschaftlichen Schaden, der gerade in der
jetzigen gesamtwirtschaftlichen Situation unakzeptabel
und in seiner Höhe gar nicht zu beziffern ist. In Anbetracht
des Ausmaßes dieser Belastung ist trotz größter Anstren-
gungen der bundesweit zuständigen Stellen ein Ende der
aufgezeigten Situation nicht absehbar. An dieser Stelle ist
auch die Bundesregierung gefordert.
Der Bund ist nach der entsprechenden Regelung des
Art. 120 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes verpflichtet, alle
Aufwendungen zur Beseitigung von Kriegsfolgelasten zu
tragen, nach Maßgabe entsprechender bundesgesetzlicher
Regelungen. Bezüglich der alliierten Munition kommt
dies bislang nur deswegen nicht zum Tragen, da eine bun-
desgesetzliche Regelung fehlt. Genau diese bundesge-
setzliche Regelung soll das Rüstungsaltlastenfinanzie-
rungsgesetz innerhalb des vom Grundgesetz gesteckten
Rahmens bringen. Das Gesetz regelt klar die Verteilung
der Kosten unter Einbeziehung des Bundes.
Bislang trägt der Bund zwar die Kosten für die Be-
seitigung reichseigener Munition, beteiligt sich aber
überhaupt nicht an den Aufwendungen zur Beseitigung
alliierter Bomben. In ihrer Stellungnahme hat die Bun-
desregierung dies als eine ausgewogene Verteilung der
Kosten zwischen Bund und Ländern dargestellt. Dies
vermag ich nicht nachzuvollziehen, da mit den Kosten-
aufwendungen zur Beseitigung alliierter Munition aus-
schließlich die Länder und Kommunen belastet sind.
Im Übrigen führt diese Staatspraxis zu einer Situation,
die insbesondere den Bürgern nicht mehr erklärbar ist. Ein
Zufall, nämlich die Herkunft der Bombe, entscheidet da-
rüber, ob der Bund für die Räumungskosten einsteht oder
ob der belastete Bürger bzw. die belastete Kommune
selbst die Kosten zu tragen hat. Da die Gefährdungen je-
doch immer gleich sind, egal welchen Ursprungs die
Bombe einmal war, ist diese unterschiedliche Handha-
bung nicht vermittelbar, schon gar nicht einem privaten
Grundstückseigentümer.
Der Aufwendungsersatz des Bundes wird im vorlie-
genden Gesetzentwurf in § 3 auch klar umrissen. Nur für
die dort genannten Maßnahmen soll der Bund in die
Pflicht genommen werden. Alle anderen Kosten bleiben
Ländersache; dies trifft insbesondere Personalkosten so-
wie die Ausgaben für die erforderlichen Liegenschaften,
Sachmittel und Sicherungsmaßnahmen. Auch unter die-
sem Aspekt erweist sich die angestrebte Kostenverteilung
als sachgerecht, vor allem mit Blick auf die Haushaltslage
in Bund und Ländern.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222958
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Freigesetzte Finanzmittel der Länder sollen in erster
Linie an die Landkreise und Kommunen weitergeleitet
werden, um so eine wesentliche Entlastung von den er-
heblichen Begleitkosten zu erreichen und eine Intensivie-
rung der Suchmaßnahmen zu ermöglichen. Letzteres ist
unbedingt erforderlich. Nach Schätzungen von Experten
würde die Beseitigung der Rüstungsaltlasten in besonders
stark belasteten Gegenden erst in einem Zeitraum von
weiteren 100 Jahren oder mehr beendet sein, wenn sie im
bisherigen Umfang weitergeführt werden würde.
Fast 58 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrie-
ges muss es nationale Aufgabe sein, die hoch gefährlichen
Hinterlassenschaften vergangener Zeiten wesentlich
schneller zu beseitigen und nicht das Problem auf nach-
folgende Generationen durchzureichen. Wie ich bereits
erwähnte, würde eine gerechtere Verteilung der Lasten
auch für eine schnellere, intensivere Munitionsberäu-
mung sorgen und damit die Anzahl wirtschaftlich nutzba-
rer Flächen erheblich erhöhen.
Auch unter diesem Aspekt ist die zögerliche Haltung
der Bundesregierung für mich unverständlich. Auch die
jetzige Bundesregierung hat es sich auf die Fahnen ge-
schrieben, die wirtschaftliche Situation in den neuen Bun-
desländern, die zum Teil besonders stark von Rüstungs-
altlasten betroffen sind, zu verbessern. Nutzen Sie, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, die Ihnen
hier gebotene Chance zur Stärkung des auch von Ihnen oft
im Munde geführten „Aufschwung Ost“.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Menschenrechte und
Entwicklung in Tibet (Tagesordnungspunkt 18)
Volker Neumann (Bramsche)(SPD): Wenn wir jetzt
nach 1996 erneut einen interfraktionellen Antrag zu Tibet
in den Bundestag einbringen, dann wollen wir gemeinsam
dreierlei deutlich machen. Erstens: Die Lage der Tibeter
in der Volksrepublik China hat sich seit unserem letzten
gemeinsamen Antrag von 1996 nicht verbessert, sondern
eher verschlechtert. Zweitens: Die Mitglieder des Deut-
schen Bundestages haben die Not der Tibeter nicht ver-
gessen. Und drittens: Die derzeitige Tibet-Politik der chi-
nesischen Regierung wird in einer Sackgasse enden, wenn
die chinesische Führung nicht endlich bereit ist, einen
Dialog mit dem Dalai Lama und seinen Vertretern aufzu-
nehmen.
Selbstverständlich begrüßen wir die Freilassung von
drei politischen Häftlingen seit Beginn dieses Jahres, da-
runter der Musikwissenschaftler Ngawang Choephel. Er
lebte ursprünglich im Exil und war 1995 zu Forschungs-
zwecken nach Tibet gereist. Sonst hatte er sich nichts zu-
schulden kommen lassen. Dennoch warfen ihm die chi-
nesischen Behörden „konterrevolutionäre Aktivitäten“
vor und verurteilten ihn zu 18 Jahren Haft. Er kam dank
der Bemühungen der Regierungen und Parlamente eini-
ger Staaten und Nichtregierungsorganisationen kürzlich
frei. Das Gleiche gilt für den 76-jährigen Jigme Sangpo,
der nach über 40 Jahren Haft Ende März von den chine-
sischen Behörden aus „medizinischen Gründen“ aus der
Haft entlassen wurde.
Aber damit geben wir uns nicht zufrieden. Wir sind
nach wie vor besorgt angesichts der hohen Zahl tibetischer
politischer Häftlinge in der Volksrepublik China, die von
Menschenrechtsorganisationen auf etwa 250 beziffert
wird. Drei Viertel dieser Gefangenen sollen Mönche und
Nonnen sein. Der Sonderberichterstatter der VN weist
außerdem auf mehrere Fälle von Misshandlungen an Tibe-
tern in Gefängnissen der Autonomen Region Tibet hin.
Tibeter können nach wie vor ihre Religion nicht frei
ausüben. Ich erinnere hier an die Vertreibung von Tausen-
den tibetischen und chinesischen Nonnen und Mönchen
aus einem buddhistischen Kloster – Serthar-Institut – in
der Provinz Sichuan durch bewaffnete Sicherheitskräfte
im vergangenen Jahr. Den Nonnen und Mönchen wurde
nach Berichten des „Tibet Information Network“ mit Haft
gedroht, sollten sie in das Kloster zurückkehren. Ihre Un-
terkünfte wurden zerstört.
Einer der höchsten Würdenträger der tibetischen
Buddhisten, der vom Dalai Lama als Reinkarnation
des Panchen Lama benannte 12-jährige Junge Gedhun
Choekyi Nyima bleibt weiter verschollen. Bereits in un-
serem gemeinsamen Antrag 1996 hatten wir nach seinem
Verbleib gefragt. Seitdem ist nichts passiert. Der Junge
und seine Familie sollen von den chinesischen Behörden
festgehalten werden, seitdem er zusammen mit seiner Fa-
milie im Mai 1995 aus ihrem Haus in Lhari in der Auto-
nomen Region Tibet verschwunden ist.
Angesichts dieser traurigen Bilanz fühlen wir uns he-
rausgefordert, wenn das chinesische Außenministerium
bei der in Genf tagenden Menschenrechtskommission in
Genf erklärt, Minderheiten genössen in der Volksrepublik
China „angemessene Menschenrechte und grundlegende
Freiheiten“. Denn genau diese grundlegenden Freiheiten
bleiben den Tibetern nach wie vor verwehrt. Und „ange-
messene Menschenrechte“ darf es in Tibet schon gar nicht
geben.
Menschenrechte müssen für jeden in demselben Maße
gelten und sind deshalb auch nicht zu relativieren.
Angesichts dieser fortgesetzten Unterdrückung ist es
nicht verwunderlich, dass durchschnittlich jährlich etwa
4 000 Tibeter ins Ausland fliehen. Dies ist Ausdruck der
Hoffnungslosigkeit, die viele Tibeter empfinden. Warum
sonst schicken Eltern jedes Jahr bis zu 600 Kinder auf die
lebensgefährliche Flucht über die eisigen Höhen des
Himalaja nach Nepal und schließlich Indien? Selbst für
Tibeter, die verdiente Funktionäre der kommunistischen
Partei sind, und für von den chinesischen Behörden an-
erkannte religiöse Würdenträger ist oft die Flucht der ein-
zige Ausweg aus dieser Hoffnungslosigkeit.
All dies macht deutlich: Die nunmehr ein halbes Jahr-
hundert andauernde Unterdrückung der Tibeter in der
Volksrepublik China, der Versuch, eine Jahrtausende
alte, religiös geprägte Kultur gewaltsam zurückzudrängen
– und dazu gehört auch die Kampagne gegen das religiöse
Oberhaupt der Tibeter, den Dalai Lama –, all das hat die
Tibeter gegenüber der chinesischen Führung misstrauisch
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gemacht. Das offizielle China sollte endlich seine Verbal-
attacken gegenüber dem Dalai Lama einstellen und den
Dalai Lama und seinen aufrichtigen Wunsch nach einem
Dialog anerkennen. Nur so wird die chinesische Führung
das Vertrauen der Tibeter gewinnen und tatsächlich die
Früchte seiner Bemühungen um wirtschaftliche Entwick-
lung in Tibet ernten können.
Um die Unterschiede zwischen den reicheren Gebieten
an der Ostküste und den ärmeren westlichen Regionen
auszugleichen, wurden in der vergangenen Planperiode
gut 8 Milliarden Yuan gezielt nach Tibet gelenkt. Diese
Leistungen verdienen Respekt und Anerkennung. Wir se-
hen aber mit Besorgnis, dass im Zuge dieser Anstrengun-
gen immer mehr ethnische Chinesen gezielt in der Auto-
nomen Region angesiedelt werden. Auch dies bedroht die
religiöse und kulturelle Identität der Tibeter und wird das
Misstrauen gegenüber der chinesischen Führung weiter
steigern. Bereits heute sollen über die Hälfte der Einwoh-
ner Lhasas ethnische Chinesen sein. Die chinesische
Führung sollte sicherstellen, dass ihre Bemühungen auch
tatsächlich den Tibetern zugute kommen. Ansonsten wird
man auch Vorhaben wie den Bau einer Eisenbahnverbin-
dung nach Lhasa mit Misstrauen betrachten müssen.
Wir stehen zu dem Ein-China-Prinzip in der deutschen
Außenpolitik und wir erkennen die gewaltigen Anstren-
gungen Chinas für die wirtschaftliche Entwicklung in der
Autonomen Region Tibet an. Auch das haben wir in un-
serem Antrag deutlich gemacht und auch das ist unsere
Botschaft an den Nationalen Volkskongress der Volks-
republik China.
Wir sind – und auch das kann nur das Interesse des chi-
nesischen Volkskongresses sein – an Stabilität in diesem
großen, mächtigen Land interessiert, das sich in vielen
Bereichen – auch bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus – als zuverlässiger Partner erwiesen hat und
inzwischen Mitglied der WTO geworden ist. Aber die
verlässlichste Grundlage für Stabilität und Frieden ist
die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit, auch und erst recht nach den Terror-
anschlägen vom 11. September, wie unser Außenminister
in seiner Rede vor der Menschenrechtskommission betont
hat.
Wir gehen mit dem Antrag einen neuen Weg und ap-
pellieren direkt an die Mitglieder des chinesischen Volks-
kongresses, ihrer Verantwortung nachzukommen und
eine Debatte über die gegenwärtige Lage und politische
Zukunft in der Autonomen Region Tibet (TAR) und den
von Tibetern besiedelten Regionen zu führen. Die Mit-
glieder des chinesischen Volkskongresses sollten sich
dafür einsetzen, dass ein direkter Dialog mit dem Dalai
Lama aufgenommen wird mit dem Ziel, für das tibetische
Volk weit gehende Autonomierechte auszuhandeln. Wir
sprechen von Abgeordneten zu Abgeordneten, wenn wir
uns an den chinesischen Volkskongress wenden, aber wir
rufen auch die Bundesregierung sowie die EU und ihre
Mitgliedsländer auf, sich bei allen Kontakten mit der
Volksrepublik China für eine baldige Aufnahme des Dia-
logs zwischen dem Dalai Lama und der chinesischen
Führung einzusetzen.
Auch der von der Bundesregierung initiierte Rechts-
staatsdialog muss, wenn er Teil der Menschenrechtspo-
litik der Bundesregierung ist, für die Diskussion der Lage
in Tibet genutzt werden.
Nur auf diesem Wege kann eine dauerhafte politische
Lösung für Tibet erreicht werden und politische Appelle
wie diese in Zukunft überflüssig machen.
Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU):Men-
schenrechte sind unteilbar. Menschenrechte sind nicht das
Gut einer Kultur auf dieser Welt – sie sind ein gemein-
sames Gut der verschiedenartigsten Kulturen und Zivili-
sationen. Zu den Menschenrechten bekennen sich eine
Vielzahl von Völkern und Nationen aus fast allen Kultur-
kreisen dieser Welt.
Und jene Nationen, welche Mitglied der Vereinten Na-
tionen sind, haben mit der Charta der Vereinten Nationen
auch besondere Verpflichtungen übernommen zur Einhal-
tung dieser Menschenrechte. Zu diesen Nationen gehört
auch die Volksrepublik China als das völkerreichste Land
der Erde und als ein bedeutendes Mitglied der Völkerge-
meinschaft, selber auch wichtiges Mitglied des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen. Seit vielen Jahren ha-
ben wir hier ein besonders schwieriges Problem: Seit dem
Einmarsch der chinesischen Armee nach Tibet im Jahre
1950 gibt es gewaltsame Unterdrückung in Tibet und sei-
nes Strebens nach politischer, ethnischer, kultureller und
religiöser Selbstbestimmung. Der Deutsche Bundestag
hat auf diese sich mehr und mehr verschlechternde Situa-
tion im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte immer wie-
der hingewiesen. So zum Beispiel in seinem Beschluss
vom 15. Oktober 1987, durch die Veröffentlichungen der
Ergebnisse des Hearings im Auswärtigen Ausschuss vom
19. Juli 1995, durch seinen wegweisenden Antrag „Men-
schenrechtssituation in Tibet verbessern“ vom 23. April
1996. Anschließend ist der Menschenrechtsausschuss
zweimal nach China gefahren und führte Dialoge. Dies
war bereits eine Verbesserung des gegenseitigen Verste-
hens, da der Dialog beim zweiten Mal bereits große Fort-
schritte gemacht hat; aber zu einer Verbesserung der Le-
benssituation der Menschen in Tibet hat es kaum geführt.
Man muss im Gegenteil eine Tendenz feststellen, die auf
verschiedensten Gebieten zu gravierenden Verschlechte-
rungen geführt hat:
Die Zahl der politisch Inhaftierten in Tibet ist offen-
sichtlich nicht kleiner, sondern größer geworden.
China hat die Konvention gegen Folter ratifiziert; den-
noch starben seitdem etwa 70 Tibeter an Folgen von Fol-
terbehandlungen.
Seit 1996 wurden über 12 000 Mönche und Nonnen aus
ihren Klöstern vertrieben.
Der 11. Panchen Lama ist immer noch im Gewahrsam
der chinesischen Regierung.
Es erfolgt eine systematische gezielte Ansiedlung von
Chinesen in Tibet, sodass auf diese Weise die Tibeter
mehr und mehr zur Minderheit im eigenen Land werden.
Bereits heute stellen Chinesen mehr als 50 Prozent der
Bevölkerung in Lhasa.
Wir haben uns in dem Antrag bemüht, nicht einseitig
zu urteilen, sondern auch positive Entwicklungen aufzu-
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zeigen: dass die Volksrepublik China große Anstrengun-
gen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Tibet unter-
nimmt, dass die Unterschiede zwischen reicheren Gebie-
ten an der Ostküste und ärmeren westlichen Regionen
auszugleichen versucht werden, dass eine große Zahl von
Investitionen in Tibet unternommen werden, um Infra-
struktur, Landwirtschaft, Technologie, Bildung und Um-
weltschutz zu vervielfachen; wir haben auch vermerkt,
dass sich teilweise der Lebensstandard der Bevölkerung
verbessert hat. Diese Leistungen verdienen durchaus Res-
pekt und Anerkennung, aber sie können nicht das kom-
pensieren, was durch fortgesetzte Unterdrückungsmaß-
nahmen an seelischen, kulturellen und materiellen
Schäden in Tibet angerichtet wird. Dieses wird auch vom
Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, wie es in
dem Antrag festgestellt ist, bestätigt.
Es mag sein, dass die Chinesen zuweilen guten Willens
sind und nicht begreifen, dass diese materiellen Wohlta-
ten nicht mit größter Dankbarkeit akzeptiert werden, dass
die Lebensqualität und das Wertegerüst eines Tibeters an-
ders aussieht als sich das die Chinesen vorstellen. Es
gehört eine gewisse Reife dazu, wenn eine materiell ent-
wickelte Zivilisation wie die chinesische gegenüber
„zurückgebliebenen“ Kulturen der Versuchung von Arro-
ganz und Überlegenheit widersteht. Atheisten und Mate-
rialisten, die heute aus ihrem eigenen Selbstverständnis
heraus das Land regieren, haben eben zuweilen keine Ah-
nung davon, was für Dinge es zwischen Himmel und Erde
gibt, auch nicht zwischen den hohen tibetischen Gebirgen
und den religiösen Riten frommer Tibeter. Tatsache ist,
dass der religiöse Glaube, die eigene Meinung und das
Menschenrecht jedes einzelnen Menschen nach eigenem
Willen und Rechtsanspruch gestaltet werden können und
von keinem Staat und seinen politischen Führern in Zwei-
fel gezogen werden dürfen. Wir müssen feststellen, dass
vor unseren Augen eine der ältesten und einzigartigsten
Kulturen dieser Welt unter dieser materialistischen Dog-
matik leidet und mehr und mehr versinkt. Wenn dem nicht
Einhalt geboten wird, wird diese Kultur in absehbarer Zeit
der Vergangenheit angehören. Manche mögen dies als
Fortschritt feiern. Diejenigen, die Achtung und Ehrfurcht
vor der Vielgestaltigkeit des Lebens auf dieser Welt ha-
ben, werden Trauer und Leid empfinden und sie werden
den unterworfenen Menschen beistehen.
Solange die Tibeter ihren eigenen Willen behalten und
ihre eigene Kultur formen, hat keiner, auch nicht die chi-
nesische Regierung, das Recht, diese kulturellen und reli-
giösen Traditionen zu schmälern oder gar zu beenden. Das
ist auch gegen die eigene Verfassung und gegen den Au-
tonomiestatus von Tibet gerichtet, der von den chinesi-
schen Führern endlich ernst genommen werden muss. Da
wir nach unserer Erfahrung nicht davon ausgehen können,
dass unsere Regierungen den Mut haben, dieses offen und
unzweideutig der chinesischen Regierung zu vermitteln,
wenden wir uns diesmal an unsere Kolleginnen und Kol-
legen im chinesischen Volkskongress: Haltet ein und be-
endet diesen Zerstörungsprozess und bewahrt die Beson-
derheit des Lebens der Tibeter als einen Ausdruck des
Reichtums unserer Schöpfung, den zu bewahren wir alle
auf dieser Welt aufgerufen sind. Das gilt für ökologische
Reichtümer in gleicher Weise wie für geistige und reli-
giöse Reichtümer. Beachten wir das chinesische Sprich-
wort: „Ein einfacher Zweig ist dem Vogel lieber als ein
goldener Käfig“. Der Dalai Lama hat es sehr treffend mit
seinen eigenen Worten gesagt: „Das Geschäftemachen
und der Reichtum kann den Menschen nicht die volle Zu-
friedenheit geben. Und jene, die in einem gewissen Le-
bensabschnitt ihre ganze Energie ins Geldmachen
stecken, werden eines Tages merken, dass dies nicht die
Antwort auf ihr Leben ist.“ Wenn wir die Äußerungen
chinesischer Funktionäre hören, welche die materiellen
Errungenschaften preisen und die religiösen Traditionen
der Tibeter als eine rückständige Form einer Sklavenherr-
schaft beschreiben und sich selber als Befreier dieser
Sklavenherrschaft sehen, so kann man nur feststellen,
dass hier zwei Welten aufeinander prallen, die nicht dia-
logfähig sind. Und so sehen wir ja auch prompt, dass von
chinesischer Seite der Dialog mit dem Dalai Lama stets
abgelehnt wird, obwohl der Dalai Lama mehr als einmal
sowohl in privaten Gesprächen als auch öffentlich bekun-
det hat, dass er die chinesische Verfassung bei der Beach-
tung der Autonomie Tibets keineswegs überschreiten will.
Tibet soll weiterhin Bestandteil der Volksrepublik China
bleiben. Doch die chinesische Seite glaubt ihm nicht.
Hier sind offensichtlich nur Machtkategorien in der Poli-
tik bekannt und deshalb kann sie nicht glauben, dass es
Menschen gibt, deren Wertekategorien jenseits dieser
Machtkategorien stehen.
Auf der anderen Seite darf man allerdings vom Dalai
Lama auch nicht verlangen, dass er sich und sein Volk in
seiner kulturellen und religiösen Existenz aufgibt.
Die Idee, uns an die Vertreter des Volkskongresses zu
wenden, beruht auf der Erfahrung, dass wir mit Abgeord-
neten des Volkskongresses sehr viel bessere Gespräche
führen konnten als mit den meisten Vertretern der Exeku-
tive. Gerade bei den jüngeren Abgeordneten entsteht zu-
nehmend die Weltsicht gemeinsamer Rechtsordnungen
und damit auch gemeinsamer Verpflichtungen zur Erhal-
tung von Demokratie, Freiheit und Frieden. Der chinesi-
sche Staatspräsident, Jiang Zemin, hat anlässlich seiner
Reise nach Deutschland in einem „Spiegel“-Interview er-
klärt: „Den Konfuzianismus gibt es seit 78 Generationen.
Für den Aufbau des Sozialismus benötigen wir mindes-
tens ein paar Dutzend Generationen, wir stehen immer
noch am Anfang.“ Bei allem Respekt vor der Dauer chi-
nesischer Dynastien: China ist heute Teil einer globali-
sierten Welt, welche durch Informations- und Kommuni-
kationstechnologien bestimmt ist. Die Rasanz der
Zeitenwende ist gewachsen und die dynamischen Ent-
wicklungen dauern nicht mehr so lange wie in früheren
Jahrhunderten. Im 20. Jahrhundert war es schon lange ge-
nug, wie viele Jahre oder Jahrzehnte Diktaturen einen
falschen Weg gehen konnten und damit für Millionen und
Millionen von Menschen unendliches Leid verbreitet ha-
ben. Auch China wird in den Genuss schnellerer Ent-
wicklungen kommen und die Notwendigkeit von Korrek-
turen immer deutlicher sehen, wie wir alle entsprechende
Strukturänderungen vornehmen müssen. So wird auch die
Frage der Menschenrechte und auch der Autonomie Ti-
bets nicht eine Frage der Jahrhunderte, sondern eine Frage
der nächsten Jahre der Volksrepublik China. Gerade sol-
che Nationen und Kulturen, die krampfhaft an überholten
Vorstellungen festgehalten haben, sind nach unseren
Erfahrungen am Ende des 20. Jahrhunderts sehr viel
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schneller zerbrochen als sie es selbst für möglich gehalten
haben. Beschwörungen, dass man am Anfang stehe und
Entschuldigungen für Fehlentwicklungen mit einem sol-
chen Argument zählen im geschichtlichen Ablauf der ver-
gangenen Jahrzehnte nicht mehr. Je mehr man sich als un-
fähig erweist, strukturellen Wandel nachzuvollziehen und
entsprechenden Mut zur Reform zu haben, desto schnel-
ler gehen Staaten ihrem Ende entgegen. Im Übrigen
haben wir dieses in Europa gerade auch in den letzten
Jahrzehnten mit unglaublichen Erschütterungen und Ver-
lusten bezahlen müssen. Dieser Entwicklung kann keine
Nation entkommen. Und so rufen wir unsere Kollegen in
Peking auf: Ergreift die Initiative, habt Mut, beachtet die
Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen, macht
durch entsprechende Änderungen eurer Gesetze Platz für
ein modernes China mit demokratischen und freiheitli-
chen Errungenschaften im Respekt vor Kultur und Reli-
gion der Völker in diesem Land und der Menschen über-
all in China.
Aber auch wir hier dürfen die eigene Regierung nicht
aus der Verpflichtung entlassen, sich mit allen Kräften für
die weitere Durchsetzung der Menschenrechte einzuset-
zen. Was hier von der heutigen Koalition geboten wird, ist
wirklich mehr als bedauerlich. So viel Feigheit und Angst
vor einer großen Nation wie China, die selbstverständlich
ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor ist, hat man nach den
Ankündigungen des Stellenwertes der Menschenrechte
bei der rot-grünen Koalition wirklich nicht vermuten kön-
nen. Hier kann ich nur feststellen: Die chinesische Seite
wird eine solche Leisetreterei mit Sicherheit nicht als
Glanzleistung einschätzen. Das Gleiche gilt für die
Schwäche der Europäischen Union, welche auch dieses
Jahr wiederum in Genf jedem ernsthaften Dialog mit
China und entsprechenden Entschließungen ausgewichen
ist. Die Frage wird also mit noch größerer Vehemenz spä-
ter auf uns zukommen. Und wer meint, die Chinesen hät-
ten einen besonderen Respekt vor Drückebergern, der
wird noch eines Besseren belehrt werden. Es war auch
keine Glanzleistung, diese Debatte in diesem Parlament
möglichst nach dem Besuch des Staatspräsidenten zu ver-
anstalten. Die chinesische Regierung war natürlich längst
über diese Resolution informiert und kann durch diese
Absichten nur selber befriedigt feststellen, wie sehr sich
die Bundesrepublik Deutschland vor ihrer eigenen Cou-
rage fürchtet. Ich möchte hier auf dieses Trauerspiel, das
ja auch offensichtlich durch die Plazierung unserer De-
batten in mitternächtliche Stunden eine besondere Facette
erhält, nicht näher eingehen. Ich kann nur hoffen, dass
unsere Kolleginnen und Kollegen in Peking mutiger sind
und eine solche Debatte bei Tageslicht und offenen Auges
nicht scheuen.
Ich möchte hier zum Abschluss den großen Völker-
rechtslehrer Hugo Grotius zitieren, der einmal geschrie-
ben hat: „Omnibus viribus huic saeculo in peius ruenti
sese opponere – Wir müssen uns ständig mit allen Kräften
dem Drange dieser Welt entgegenstellen, ins Schlimmere
abzugleiten“. Nur wenn es uns gelingt die heutige und
künftige Generationen mehr denn je in diesem Geiste wal-
ten zu lassen, dann werden wir als Vertreter unserer Ge-
neration unseren Beitrag für die Menschenrechte und für
Frieden und Freiheit auf dieser Welt geleistet haben.
Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der vorliegende fraktionsübergreifende Antrag zur Lage
der Menschenrechte und zur Entwicklung in Tibet setzt
die schon vor mehreren Legislaturperioden begründete
gute interfraktionelle Arbeit des Deutschen Bundestages
zu Tibet erfolgreich fort.
1991, zu Beginn der 12. Legislaturperiode, hatte sich
ein kleiner Kreis von Abgeordneten beider großen Volks-
parteien sowie der Liberalen und der Bündnisgrünen in ei-
ner kontinuierlich arbeitenden Fachgruppe zu der sich
schon damals dramatisch verschärfenden Menschen-
rechtssituation in Tibet zusammengefunden, um die poli-
tische Debatte zu Tibet auch auf der Ebene des deutschen
Parlamentes voranzubringen.
Damals waren die Widerstände und der Druck der chi-
nesischen Seite noch zu groß. Aber 1995 gelang es
schließlich, eine im In- und Ausland viel beachtete ganz-
tägige Anhörung zu Tibet unter Beteiligung des religiösen
Oberhauptes der Tibeter, des Dalai Lama, im Bundestag
in Bonn zu veranstalten. Als Resultat der Ergebnisse die-
ser Anhörung mündete das Engagement des Bundestages
schließlich in einen interfraktionellen Antrag zu Tibet, der
gegen heftigen Widerstand der damaligen Bundesregie-
rung im Sommer 1996 mit überwältigender Zustimmung
verabschiedet werden konnte.
Leider hat sich die Menschenrechtslage seitdem in Ti-
bet nicht durchgreifend verbessert. Nach wie vor gibt es
massive Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Bevölke-
rung. Tausende Personen fliehen jährlich ins Ausland,
werden Menschen inhaftiert und äußerst harten Haftbe-
dingungen unterworfen. Nach Berichten von Amnesty In-
ternational gibt es in der autonomen Republik Tibet kaum
einen politischen Gefangenen, der nicht gefoltert oder
misshandelt wurde.
Auf einer Delegationsreise unseres Ausschusses nach
China vom 18. bis 27. April letzten Jahres konnte sich die
Delegation beim Besuch der westlich gelegenen Provin-
zen Gansu und Qinghai auch einen Eindruck von der Lage
der Minderheiten in beiden Gebieten machen – besonders
der Tibeter und der muslimischen Hui – sowie über die
Möglichkeiten gerade auch der tibetischen Buddhisten,
ihre Religion auszuüben. Die Delegation führte Ge-
spräche mit den stellvertretenden Provinzgouverneuren,
besuchte die buddhistischen Klöster Labrang und Kum-
bum und traf Vertreter der nationalen Minderheiten.
Seit 1996 versuchen die Behörden im Rahmen einer
„patriotischen Erziehungskampagne“ die Kontrolle über
die Klöster zu verstärken, was zu einer Vielzahl von wei-
teren Festnahmen geführt hat. Die „abschreckende Wir-
kung“ dieser Maßnahmen ist ersichtlich: Offensichtlich
verfügen sowohl das Kloster Labrang (Gansu) als auch
das Kloster Kumbum (Qinghai) nur noch über einen
Bruchteil der Mönche, die sie früher ausbildeten. Im
Kloster Kumbum wurde der Delegation ein Gespräch mit
den Äbten und Mönchen verwehrt.
Auf unsere Fragen nach dem Verbleib des seit Mai
1995 als verschwunden geltenden von der ersten Fin-
dungskommission als Reinkarnation des Panchen Lama
benannten Gendun Choekyi Nyima wurde uns geantwor-
tet, dem Jungen gehe es gut. Sein Aufenthaltsort wurde
uns nicht genannt.
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Immerhin ist es mittlerweile möglich, offen mit allen
Stellen diese Fragen strittig zu erörtern. Insofern sind der
Menschenrechtsdialog der EU mit China und der Rechts-
staatsdialog zwischen China und Deutschland, der auf
eine Idee von Antje Vollmer zurückgeht, sehr wichtig und
fruchtbar. Aber diese neue Offenheit läuft ins Leere, wenn
als Konsequenz sogar allzu oft Antworten ausbleiben. So
gab es auf unseren Vorschlag, Peking solle wenigstens
Menschenrechtsorganisationen oder ausländischen Di-
plomaten Zugang zu dem heute 12-jährigen Jungen eröff-
nen, keine Antwort.
Auf unsere Frage, warum der Folterberichterstatter der
UN – trotz einer seit Anfang 1999 vorliegenden Einla-
dung – noch keinen Besuchstermin erhalten habe und dem
Internationalen Roten Kreuz der Zugang zu chinesischen
Gefängnissen nicht gestattet werde, bekamen wir Ausre-
den zu hören.
Von schrecklichen Zuständen hat kürzlich auch der
chinesische Dissident Harry Wu in einer öffentlichen Sit-
zung unseres Ausschusses berichtet. Auch zwei sehr of-
fene Gespräche unseres Ausschusses mit dem Minister im
Rechtsamt des Staatsrates, Jingyu Yang, anlässlich seiner
Deutschlandbesuche im Juni und Oktober letzten Jahres
ließen keine Veränderungen in diesen Fragen erkennen.
Deshalb ist der heute vorgelegte Antrag so wichtig und
notwendig.
Der Antrag wendet sich an die nationalen Parlamente
in Europa und an das Europäische Parlament, um Dialoge
auf allen nur möglichen Ebenen mit der chinesischen
Seite anzuregen. Allerdings, wenn die neue Gesprächsbe-
reitschaft und Offenheit der chinesischen Regierung und
Administration nicht endlich auch in konkrete Umset-
zungsschritte mündet, hätten die Menschenrechtsorgani-
sationen mit ihrer Sorge Recht behalten, die Rechtsstaats-
dialoge könnten nur Makulatur bleiben.
Mit dem Antrag wenden wir uns, was den Forderungs-
katalog angeht, darüber hinaus direkt an das Partnerparla-
ment in China, den nationalen Volkskongress. Das gibt
unserer Hoffnung Ausdruck, dass demokratische parla-
mentarische Entscheidungsstrukturen im China der Zu-
kunft eine Chance haben werden, auch und gerade wenn
es um die elementaren Belange der vielen Minderheits-
kulturen des Riesenreiches geht.
Ich bin sehr froh darüber, dass dieser Antrag, der die
reale Situation in Tibet in aller kritischen Offenheit be-
schreibt, der aber gleichzeitig bemüht ist, die Tür gegen-
über den chinesischen Partnern nicht zuzuschlagen, nach
anfänglichen Schwierigkeiten nun doch noch in der zu
Ende gehenden Legislaturperiode verabschiedet werden
kann. Die Regierenden in Peking müssen begreifen: Ge-
rade das moderne China, das sich in einer ungeheuren
Umbruchphase befindet, wird nur dann eine dauerhafte
gute wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung
haben, wenn es die Menschenrechte beachtet.
Carsten Hübner (PDS): Das Anliegen des vorliegen-
den Antrags, sich für die wirtschaftliche Entwicklung
Tibets im vollen Einklang mit den Menschenrechten ein-
zusetzen, findet unsere ausdrückliche Unterstützung. Wir
teilen die Analyse des Antrags in weiten Teilen. Insbe-
sondere halten wir es für begrüßenswert, dass neben den
unbestrittenen gravierenden menschenrechtlichen Pro-
blemfeldern auch die positiven Schritte Chinas gewürdigt
werden, so die Ratifizierung des Paktes über wirtschaft-
liche, soziale und kulturelle Rechte sowie die großen An-
strengungen, die China unternimmt, um die wirtschaft-
liche Entwicklung in Tibet voranzutreiben. Dass wir dem
Antrag dennoch nicht zustimmen können, sondern uns
enthalten werden, liegt vor allem daran, dass wir das Ver-
fahren in Bezug auf diesen Antrag für eine Farce halten.
Dass sich der Antrag nicht an die Bundesregierung,
sondern an den chinesischen Volkskongress richtet,
könnte man noch als eine zwar unübliche, aber doch in-
teressante und originelle Vorgehensweise betrachten, um
so einen neuen Impuls in den deutsch-chinesischen Dis-
kurs über Menschenrechtsfragen und insbesondere die
Situation in Tibet zu bringen. Stutzig werden muss man
jedoch angesichts der Tatsache, dass der chinesische Prä-
sident vor nicht einmal zwei Wochen in Deutschland zu
Gast war. Dass der Antrag erst nach der Abreise des chi-
nesischen Staatschefs eingebracht und der Besuch mit
keinem Wort erwähnt wird, lässt nur den Schluss zu, dass
das Parlament hier bereitwilligst eine Alibifunktion für
das Verhalten der Bundesregierung während des Staats-
besuchs einnimmt: Schließlich hätten all die erwähnten
Punkte auch in den Gesprächen mit Jiang Zemin an-
gesprochen werden können. Dies war jedoch mitnichten
der Fall. Im Gegenteil: Die Bundesregierung setzte alles
daran, den chinesischen Gast von Menschenrechtsgrup-
pen und Demonstrierenden abzuschirmen. Es gab weite
Absperrungen, Sichtblenden wurden errichtet, Transpa-
rente wurden entfernt. Der Besuch stand ausschließlich
im Zeichen der auszubauenden deutsch-chinesischen
Wirtschaftsbeziehungen, bei denen die Erwähnung von
Menschenrechten nur hinderlich gewesen wäre. Dieses
Vorgehen der Bundesregierung wird im Nachhinein durch
den Antrag stillschweigend gebilligt, da er nicht einmal
für die Zukunft ein verändertes Verhalten der Bundes-
regierung einfordert.
Um keine Missverständnis aufkommen zu lassen:
Natürlich sind wir für den Ausbau guter wirtschaftlicher
Beziehungen mit China. Wir sind auch der Auffassung,
dass Einführungsvermögen und Sensibilität unverzicht-
bar für jeden Dialog sind, der positive Wirkungen zeitigen
soll. Dies gilt selbstverständlich und in besonderem Maße
auch für die Frage der Menschenrechte. Allerdings darf
dies nicht dazu führen, dass Menschenrechtspolitik mit
verteilten Rollen betrieben wird: Die Bundesregierung
setzt auf ungetrübte Kontaktpflege und betreibt Wirt-
schaftspolitik und das Parlament frischt im Anschluss das
leicht angekratzte Menschenrechtsrenommee wieder auf.
Eine solche Arbeitsteilung, in der das Parlament zum
Steigbügelhalter für die Regierungspolitik wird, beschä-
digt die Menschenrechte in ihrer Bedeutung und Wichtig-
keit. Sie kann nicht unsere Zustimmung finden.
Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Der Bundestag hat heute mit großer Einmütigkeit
seine Sorge über die Lage in Tibet zum Ausdruck ge-
bracht. Auch wenn wir uns über jüngst erfolgte Freilas-
sungen einzelner tibetischer Langzeithäftlinge freuen:
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Nach wie vor prägen massive Beschränkungen der Reli-
gionsfreiheit, die Verweigerung substanzieller Autono-
mierechte und ein hoher Assimilierungsdruck das Leben
der Tibeter in China. Bundesminister Fischer hat deshalb
in seiner Rede vor der Genfer Menschenrechtskommis-
sion am 20. März im Namen der Bundesregierung China
aufgefordert, die Unterdrückung der tibetischen Minder-
heit zu beenden.
Es geht dabei nicht darum, die Zugehörigkeit Tibets
zum chinesischen Staatsverband infrage zu stellen – diese
wird weder von der Bundesregierung noch in diesem
Hause bestritten. Wohl geht es aber darum, gegenüber der
chinesischen Regierung deutlich zu machen, dass die Ge-
währung der Menschenrechte in Tibet und der Erhalt ei-
ner einzigartigen lamaistisch-buddhistischen Kultur eine
Grundvoraussetzung für die Bewahrung von Stabilität
nicht nur in China, sondern in der gesamten von Krisen
ohnehin schon genug bedrohten Region ist.
Die Sorge vor einer Ausbreitung des Terrorismus ist
auch in China berechtigt. Der gemeinsame Kampf gegen
den internationalen Terrorismus darf aber nicht zum Vor-
wand für die Einschränkung internationaler Menschen-
rechtsstandards gemacht werden. Dies hat die Bundesre-
gierung beim gerade zu Ende gegangenen Staatsbesuch
Präsident Jiang Zemins gegenüber der chinesischen Seite
unmissverständlich deutlich gemacht. Einen wirksamen
Schutz gegen separatistischen Terrorismus bietet nicht die
Repression, sondern nur die Gewährung wirklicher Auto-
nomierechte, angefangen bei der Chancengleichheit in
Entwicklung und Bildung bis hin zur Freiheit der Religi-
onsausübung.
Die chinesische Regierung würde einen Fehler bege-
hen, wenn sie glaubte, das Gespräch mit dem Dalai Lama
nicht suchen zu müssen. Noch vermag der Dalai Lama alle
Tibeter hinter seinem gewaltlosen Einsatz für die Rechte
des tibetischen Volkes zu vereinen; wir wissen, dass sein
Ansehen auch unter den innerhalb Chinas lebenden Tibe-
tern ungebrochen ist. Dies könnte sich aber ändern, wenn
eines Tages das religiöse Oberhaupt der Tibeter als Inte-
grationsfigur wegfällt. Anzeichen für eine Radikalisierung
kleinerer tibetischer Gruppen gibt es bereits.
Auch wenn das Misstrauen auf beiden Seiten nach wie
vor groß ist: Die Bundesregierung fordert gemeinsam mit
ihren Partnern in der EU die chinesische Regierung und
den Dalai Lama dazu auf, in einen substanziellen Dialog
mit dem Ziel einer Lösung des Tibet-Problems einzutreten.
Wir maßen uns dabei keine Vermittlerrolle an; wohl aber
sind wir bereit, gute Dienste zu leisten, wo dies gewünscht
ist – und sei es nur, wenn es zunächst darum geht, auf bei-
den Seiten ein Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Weltoffenheit als
Chance für die Hochschulen (Tagesordnungs-
punkt 20)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): „Weltoffenheit
als Chance für die Hochschulen“ – diese Intention des
vorliegenden Antrags der PDS trifft auf breiteste Zustim-
mung im Plenum dieses Bundestages. Aus dem Parlament
heraus hat es mehrere Initiativen in dieser Legislaturpe-
riode gegeben, dieses angesprochene Ziel konkret zu un-
termauern. Die SPD-Fraktion hat zusammen mit Bünd-
nis 90/Die Grünen bereits in einem Antrag vom 1. Juni
2001 eine umfangreiche Agenda entwickelt, wie die
internationale Attraktivität und Leistungsfähigkeit des
Wissenschafts- und Forschungsstandortes Deutschland
für ausländische Studierende und junge Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden kann.
Wenn die PDS im Anschluss an diese umfangreichen
und weitgehend von Konsens getragenen Beratungen und
Initiativen aus dem Parlament heraus hier jetzt noch einen
eigenen Antrag einbringt, dann begründet sie dies mit
den furchtbaren Terroranschlägen in New York und
Washington vom 11. September 2001 und ihren Befürch-
tungen, dass die bisher eingeleiteten Schritte zur Interna-
tionalisierung der Hochschulen grundsätzlich in Frage
gestellt werden könnten, wie es in ihrem Antrag auf
Seite 2 heißt.
Jetzt, ein halbes Jahr nach den entsetzlichen Terror-
anschlägen in Amerika, dürfen wir im Bundestag zusam-
men feststellen: Diese Schritte zur Internationalisierung
der Hochschulen wurden und werden nicht in Frage ge-
stellt. Eine ausländerfeindliche Stimmung und Abschot-
tung der Hochschulen gegenüber ausländischen Studie-
renden hat nicht stattgefunden und wird in diesem Lande
auch nicht stattfinden. Es ist ein gutes Zeichen, dass der
Appell, nach dem die PDS in ihrem Antrag verlangt, dass
Hochschulleitungen, Studierendenvertretungen und alle
Hochschulangehörigen pauschalen Verurteilungen von
Menschen anderer Nationalität und Religionszuhörigkeit
entgegentreten sollen, in dieser Weise noch nicht notwen-
dig ist. Die Hochschulen erweisen sich nach wie vor als
Orte der Toleranz, der Weltoffenheit, der internationalen
und interkulturellen Verständigung und des freien Gedan-
kenaustausches.
Wir beobachten zur allgemeinen Freude und Zustim-
mung, dass Deutschland sich zunehmend wieder als
weltweit attraktiver Studienstandort für junge Menschen
aus aller Welt etablieren kann. So haben wir bei der Zahl
ausländischer Studierender eine Steigerung um 21 Pro-
zent vom Wintersemester 1997/98 zum Wintersemester
2000/2001 verzeichnen können. In absoluten Zahlen: von
rund 104 000 auf jetzt rund 126 000. Und diese Entwick-
lung schreitet voran. Nach ersten Schätzungen ist im
vergangenen Jahr die Zahl nochmals um gut 15 Prozent
auf jetzt 140 000 ausländische Studierende gestiegen.
Deutschland ist damit seinem Ziel, 10 Prozent ausländi-
sche Studenten in Deutschland zu haben, aus den mittel-
und osteuropäischen Staaten, aber auch aus Ländern der
Russischen Föderation, aus wichtigen Schwellenländern
wie Indien und Indonesien zu verzeichnen.
In ihrem Antrag spricht die PDS einige Vorschläge an,
wie dieses gemeinsame Ziel noch effektiver erreicht wer-
den kann. Erlauben Sie den Hinweis, dass viele dieser an-
gesprochenen Maßnahmen schon in früheren vom Parla-
ment beschlossenen Anträgen enthalten sind, dass sie vor
allen Dingen aber schon Regierungsinitiativen und Re-
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gierungspraxis umfassen und sich die PDS deshalb bei
vielen Vorschlägen hinter der Realität bewegt.
Zwei Beispiele dazu: Die PDS fordert eine Reform
des Hochschuldienstrechtes ein, um Hemmnisse für die
Tätigkeit ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler in Deutschland zu beseitigen, zum Beispiel
mit der international unüblichen Habilitation. Wir alle in
diesem Hause wissen, dass die erfolgreiche Verabschie-
dung des neuen Hochschuldienstrechtes genau dies be-
reits in die Praxis umgesetzt hat.
Ein weiteres Beispiel: In Ziffer 5 des PDS-Antrags
wird die Bundesregierung aufgefordert, durch spezielle
Förderprogramme des Bundes dafür aktiv zu werden, die
Hochschulen weiter zu internationalisieren und auslän-
dische Studierende in ihren besonderen Belangen beson-
ders zu unterstützen. Darf man an die Adresse der PDS
fragen, ob sie eigentlich die zahlreichen und – wie ja aus
den Zuwächsen bei ausländischen Studierenden zu ver-
zeichnen ist – offensichtlich erfolgreichen Maßnahmen
der Bundesregierung vollkommen ausgeblendet hat? Da-
bei sollte es doch auch der PDS nicht entgangen sein, dass
aus den UMTS-Zinserlösen zusätzlich 170 Millionen DM
speziell für die Gewinnung von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern sowie Studierenden aus dem Ausland
bereit gestellt worden sind.
Weitere Stichworte für die eingeleiteten erfolgreichen
Bemühungen sollen hier nur sein: das vom BMBF ini-
tiierte und finanzierte Modellprogramm international
ausgerichteter Studiengänge mit zurzeit 62 Modellstudi-
engängen, das vom DAAD und von der Deutschen For-
schungsgesellschaft durchgeführte Programm „Promo-
tionen in Deutschland“. Die Bundesregierung förderte im
Jahr 2000 allein über den DAAD den Aufenthalt von
über 21 000 Studierenden und Graduierten sowie von
5 262 Wissenschaftlern in Deutschland mit circa 207 Mil-
lionen DM. Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung konn-
te Gleiches für die wissenschaftliche Arbeit von insge-
samt 1 440 internationalen Forschungsstipendiaten aus
90 Ländern tun. Dies wurde auch durch die deutsche Ver-
besserung der Mittel in diesem Bereich möglich.
Schließlich: Im Rahmen der Zukunftsinitiative Hoch-
schule hat das BMBF in der Internationalisierung der
Hochschule mit etwa 90 Millionen Euro einen deutlichen
Schwerpunkt gesetzt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Nicht zuletzt auch in Beachtung der besonderen sozia-
len Bedingungen hat es Fortschritte gegeben: mit erleich-
tertem Zugang in Sprachprogrammen schon im Hei-
matland, mit kompletten, von den Studentenwerken
angebotenen Servicepaketen, die die Module Wohnen,
Semesterbeitrag und Versicherung anbieten, mit zusätz-
lichen Initiativen, die gerade auch das kulturelle und ge-
sellschaftliche Umfeld für ausländische Studenten an den
Hochschulen verbessern. Dass es hier gleichwohl Pro-
bleme gibt, soll nicht verschwiegen werden. Speziell das
Wohnheimangebot für ausländische Studenten muss im
Auge behalten werden. Die gemeinsamen Anstrengun-
gen, ausländische Studierende vor Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus auch an den Hochschulen aktiv zu unter-
stützen, müssen uns ein gemeinsames Anliegen sein.
Ob es in der gemeinsamen Zielsetzung, mehr Weltof-
fenheit an den Hochschulen zu schaffen, allerdings hilf-
reich ist, mit derartigen Forderungen aufzuwarten, wie sie
die PDS in ihrem Antrag formuliert, sei – wohlwollend
ausgedrückt – sehr kritisch dahingestellt. Wir halten es für
unverhältnismäßig und auch nicht zu rechtfertigen, wenn
die PDS in der Ziffer 4 fordert, dass mit einer Änderung
des BAföG-Gesetzes ausländische Studierende mit deut-
schen gleichgestellt werden sollen, wenn sie sich recht-
mäßig in Deutschland aufhalten und einen Studienplatz
vorweisen können. Es hilft keiner Seite, wenn die PDS
fordert, dass allen, die an einer Hochschule in Deutsch-
land ein Studium aufnehmen möchten, einen individuel-
len Rechtsanspruch auf Einwanderung gegeben werden
soll. Zusätzlich soll es hier dann noch die Sonderregelung
geben, dass Finanzierungsnachweise für die Erteilung ei-
ner Aufenthaltsgenehmigung für ausländische Studie-
rende vollkommen abzuschaffen sind. In Verbindung mit
der PDS-BAföG-Forderung kann sich jeder schnell vor-
stellen, welche Entwicklung damit eingeleitet würde.
Die SPD zieht es deshalb vor, mit Augenmaß und Ba-
lance und über viele konkrete Maßnahmen die Unterstüt-
zung für mehr Internationalisierung der Hochschulen und
mehr ausländische Studenten in Deutschland voranzutrei-
ben. Gerade in letzter Zeit konnten wir mit der erfolgrei-
chen Verabschiedung des neuen Zuwanderungsgesetzes
in Bundestag und Bundesrat hierbei einen weiteren nach-
haltigen Erfolg erreichen. In dem neuen Gesetz ist in Ab-
schnitt 3 ein spezieller Aufenthalt zum Zweck der Ausbil-
dung definiert. Die dort in den §§ 16 und 17 enthaltenen
Vorschriften tragen der Bedeutung des Studienstandortes
Deutschland im internationalen Vergleich Rechnung und
ermöglichen es im Gegensatz zur geltenden Rechtslage,
ausländische Studenten- und Studienbewerber unter er-
leichterten Bedingungen und besseren Perspektiven für
einen Aufenthalt in Deutschland zu gewinnen. Hierbei
sind deutliche Erleichterungen in den bisherigen Bestim-
mungen vorgesehen.
Nicht zuletzt durch weitere Initiativen aus dem Parla-
ment heraus hat es auch deutliche Verbesserungen für den
Arbeitsmarktzugang ausländischer Studenten während
des Studiums gegeben. Denn wir wissen: Ein großer Teil
der Studenten aus dem Ausland muss sich sein Studium in
Deutschland selbst finanzieren. Eingeweihte wissen: Die
Veränderung der bisherigen Regelung, nach der auslän-
dische Studierende an bis zu 90 Tagen im Jahr studen-
tische Nebentätigkeiten ausüben konnten, hatte zur Folge,
dass jeder Tag auch dann als vollständiger Tag angerech-
net wurde, wenn die Studenten nur stundenweise be-
schäftigt waren. Die Aufenthaltserlaubnis soll nach der
nun beschlossenen Regelung zur Ausübung einer Be-
schäftigung an insgesamt 90 Tagen oder 180 halben Tagen
berechtigen, wobei die nur stundenweise ausgeübte Tätig-
keit verrechnet oder die Mehrbeschäftigungen addiert
werden können. Was hier so hölzern daher kommt, ist in
Wirklichkeit eine deutliche Verbesserung und macht es
für ausländische Studenten erheblich leichter, auch ohne
Stipendien und großen finanziellen Rückhalt aus ihrem
Herkunftsland in Deutschland eine erfolgreiche Finanzie-
rung und damit auch Durchführung ihres Studiums be-
treiben zu können.
Schließlich werden auch die Möglichkeiten, nach ei-
nem erfolgreichen Studium einen Aufenthalt zum Zweck
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der Erwerbstätigkeit wahrzunehmen oder jedenfalls aus-
reichend Zeit für die Arbeitsplatzsuche zu gewinnen, aus-
drücklich und deutlich erweitert. In der Verbindung mit
dem neuen § 19 – Aufenthalt zum Zweck der Erwerbs-
tätigkeit –, der speziell eine Niederlassungserlaubnis für
Hochqualifizierte bestimmt, sind hier dem wissenschaft-
lichen Nachwuchs aus dem Ausland deutliche und attrak-
tive Chancen eröffnet.
Dies alles sind konkrete Verbesserungen, dies ist hart
erkämpfte praktische Reformpolitik. Dies ist die beste
Antwort auf die Forderungen der PDS, der wir nur sagen
können: Gut gemeint muss nicht immer gut sein. Der
PDS-Antrag erfüllt nicht die Bedingung, ein guter Antrag
zu sein, und wird deshalb nicht die Zustimmung der SPD
finden können.
Thomas Rachel (CDU/CSU): Heute beraten wir den
PDS-Beitrag „Weltoffenheit als Chance für die Hoch-
schulen“ im Deutschen Bundestag, nachdem wir im Ple-
num des Parlaments bereits mehrfach intensiv über die In-
ternationalisierung des deutschen Hochschulstandortes
diskutiert haben. Der PDS-Antrag enthält eine Reihe von
sinnvollen Gesichtspunkten, allerdings auch einige voll-
kommene Fehlschlüsse.
Mit Verweis auf die Terroranschläge in New York und
Washington vom 11. September 2001 wendet sich die
PDS gegen die Rasterfahndung im Bereich ausländischer
Studierender und behauptet, dass alle ausländischen Stu-
dierenden unter Generalverdacht gestellt würden. Die
PDS verharmlost die nun leider nachweislich vorhandene
Gefährdung, die von einzelnen ausländischen Terroristen,
die an deutschen Hochschulen eingeschrieben waren,
ganz real für viele Tausend Menschenleben ausgegangen
ist. Dies rundweg abzuleugnen, erscheint keineswegs als
differenzierter Umgang mit dieser schwierigen Materie.
Krönung des politischen Unsinns ist die Forderung der
PDS nach einem „individuellen Rechtsanspruch auf Ein-
wanderung“ für „alle, die an einer Hochschule in
Deutschland ein Studium, eine wissenschaftliche Qualifi-
kation oder eine Forschungstätigkeit aufnehmen möch-
ten“. Wenn jeder ausländische Studierende einen Rechts-
anspruch auf Einwanderung in die Bundesrepublik
Deutschland hätte, würden wir aus allen Ländern der Welt
überrannt werden – nicht um qualifizierte ausländische
Studenten zu bekommen, sondern weil es verständlicher-
weise in allen Teilen der Welt den Wunsch nach Einwan-
derung nach Deutschland gibt. Diesem millionenfachen
Wunsch wird Deutschland aber natürlich nicht entspre-
chen können. Mit einem solchen Antrag an den Deutschen
Bundestag derartige Hoffnungen zu wecken, ist zutiefst
unseriös und gefährlich.
Im Übrigen ist es äußerst unglaubwürdig, wenn die
SED-Nachfolgepartei PDS nun gerade ihr Interesse an
Ausländern und ausländischen Studierenden entdeckt.
Faktum ist nämlich, dass in der damaligen DDR Auslän-
der nicht erwünscht waren. Dies sieht man noch heute an
den außerordentlich niedrigen Ausländerzahlen in den
neuen Bundesländern. Demgegenüber war die frühere
Bundesrepublik Deutschland bereits immer ein auslän-
derfreundliches Land und hat viele Hunderttausend aus-
ländische Bürger in unser Land aufgenommen und ihnen
hier eine neue Zukunft gegeben.
Nun zum eigentlichen Thema – der Internationalität,
Offenheit und Qualität der deutschen Hochschulen.
Das Hochtechnologieland Deutschland verliert seine
Koryphäen regelmäßig an ausländischen Konkurrenten.
Außerdem hat Deutschland in letzter Zeit größte Schwie-
rigkeiten, den geeigneten akademischen Nachwuchs, aber
auch ausreichend qualifizierte Fachkräfte aus den eigenen
Reihen hervorzubringen. Es fehlt an geeignetem akade-
mischen Nachwuchs in Deutschland. Dies ist eine alar-
mierende Diagnose. Denn die Wettbewerbsfähigkeit und
die Innovationsfähigkeit eines Landes hängen entschei-
dend vom Potenzial hoch qualifizierter Arbeitskräfte ab.
Deutschland droht an dieser Herausforderung einer wis-
sensbasierten Industriegesellschaft zu scheitern.
Die Reform des Bildungssystems wird darüber ent-
scheiden, ob Deutschland in der globalisierten Welt des
21. Jahrhunderts international wettbewerbsfähig sein
wird. Das Ausland hält uns kritisch den Spiegel vor Au-
gen. Aus US-Sicht verfügt Deutschland zurzeit über keine
einzige Universität von Weltrang. Das Problem wird so
beschrieben: Es gibt eine breite Grundlage und eine solide
Mitte. Aber es fehlt eine Spitze. Mit anderen Worten:
Deutschland braucht Spitzenuniversitäten im Weltmaß-
stab als Ergänzung und als leistungsstimulierendes Vor-
bild.
Deutschland ist auf dem globalen Bildungsmarkt un-
terrepräsentiert. Dies ist ein Fehler. Denn es handelt sich
um einen Wachstumsmarkt mit intensivem Wettbewerb.
Man muss sich nur vor Augen führen, dass die USA auf
diesem internationalen Bildungsmarkt einen Erlös von
12 bis 18 Milliarden US-Dollar pro Jahr erwirtschaften
und damit mehr als die amerikanische Filmindustrie.
Die letzte unionsgeführte Bundesregierung hat bereits
entscheidende Weichenstellung zur Internationalisierung
vorgenommen. Mit der Novelle zum Hochschulrahmen-
gesetz wurden die international anerkannten Abschlüsse
Bachelor und Master eingeführt. SPD und Grüne haben
damals versucht, die Reform zu kippen. Gott sei Dank ist
ihnen das nicht gelungen. Denn sonst hätte sich in den
letzten drei Jahren an den deutschen Hochschulen nichts
bewegt. Seit 1998 haben aber die deutschen Universitäten
und Fachhochschulen bereits über 1 100 neue Bachelor-
und Master-Studiengänge und über 600 Studiengänge, die
man auch in einer Fremdsprache studieren kann, etabliert.
Dies ist eine Erfolg der christdemokratischen Hochschul-
politik.
Die unionsgeführte Bundesregierung hat 1997 ein För-
derprogramm zum Aufbau international ausgerichteter
Studiengänge aufgelegt. Diese sind ein großer Erfolg. Die
neue Bundesregierung setzt dieses Programm zwar fort,
aber die finanzielle Ausstattung stagniert. Das sind die
Realitäten rot-grüner Bildungspolitik.
Der Hochschulstandort Deutschland muss internatio-
naler werden. Der Anteil der in Deutschland studierenden
Ausländer beträgt nur rund 7 Prozent der Studenten. Die
ausländischen Studierenden von heute sind die Freunde
und Botschafter unseres Landes von morgen. In den US-
Hochschulen sind 50 Prozent der Graduierten und Post-
graduierten in den technischen Fächern keine Amerika-
ner, sondern Ausländer – darunter viele Deutsche. Es darf
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die Bundesregierung nicht zufrieden stellen, dass deut-
sche Hochschulabsolventen mit öffentlichen Mitteln ihre
Grundausbildung in Deutschland erhalten, im Endergeb-
nis aber schließlich für die USA forschen und lehren.
Wir müssen besser werden – für die deutschen Studen-
ten, aber auch für die aus dem Ausland. Nicht Abwehr und
Provinzialismus sind gefragt. Wir brauchen in Deutsch-
land vielmehr eine neue Offenheit für qualifizierte Nach-
wuchskräfte aus dem Ausland und die besten Köpfe. Des-
halb müssen Barrieren im Aufenthalts- und Arbeitsrecht
beseitigt werden.
Viele Bildungsausländer können ihren Studienaufent-
halt in Deutschland nur realisieren, wenn ihnen die
Chance gegeben wird, mit Einnahmen aus eigener Tätig-
keit in Deutschland den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Deshalb ist es richtig, die so genannte 90-Tages-Frist zu
verändern und die so genannte Vorrangprüfung zumindest
bei studiennahen Tätigkeiten zu beseitigen.
Ausländische Studenten sollen in Zukunft nach ihrem
Studium in Deutschland bleiben dürfen. Sie brauchen eine
Arbeitserlaubnis, damit sie Berufserfahrung in Deutsch-
land sammeln können. Es macht keinen Sinn, das hoch
qualifizierte Akademiker das Land verlassen müssen,
wenn Deutschland mit seinen eigenen Fachkräften in den
gleichen Bereichen den Bedarf nicht decken kann.
Die Sondererhebung zur 16. Sozialerhebung des
Deutschen Studentenwerks zum Thema „Internatio-
nalisierung des Studiums“ zeigt zwar viele Fort-
schritte, aber einen ebenso großen Handlungsbedarf,
um Deutschland für ausländische Studierende attrak-
tiver zu machen.
Das hat der Präsident des Deutschen Studentenwerkes,
Professor Dr. Hans-Dieter Rinkens, betont. Zur Steigerung
der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Studien-
standortes Deutschland sei es – so Rinkens – dringend er-
forderlich, die Rahmenbedingungen des Studienaufent-
haltes für die Gäste aus dem Ausland zu verbessern.
So haben 43 Prozent der Bildungsausländer in Deutsch-
land Schwierigkeiten mit der Arbeitserlaubnis, 37 Prozent
mit der Beantragung des Visums bzw. der Aufenthaltsge-
nehmigung und ebenso viele mit der Finanzierung des
Studiums.
Ein zusätzlicher wichtiger Baustein für bessere Rah-
menbedingungen sei auch der Ausbau des von den Studen-
tenwerken angebotenen Servicepakets für ausländische
Studierende. Zusätzlich zu einem attraktiven Gesamtpreis
für Wohnen, Verpflegung, Semesterbeitrag und Betreuung
können insbesondere auch Nicht-Stipendiaten von ihrem
Heimatland aus der Start an einer Hochschule in Deutsch-
land erleichtert werden.
In vielen Städten hat sich nach einer Entspannungsphase
die Suche nach bezahlbarem Wohnraum leider wieder als
ein großes Problem herausgestellt, wie das Studentenwerk
richtigerweise feststellt. Nur die neuen Bundesländer
haben hier einen klaren Standortvorteil. Das Wohnen ein
einem Studentenwohnheim ist für ausländische Studie-
rende die beliebteste Wohnform. Zurzeit wohnen circa
50 000 ausländische Studenten in den Wohnheimen der
Studentenwerke. Dies zeigt, wie unersetzlich die Studen-
tenwerke sind. Der Präsident des Deutschen Studenten-
werks, Prof. Rinkens, hat aber betont, dass „wir ... circa
20 000 neue Wohnheimplätze“ benötigen. Wo ist die Ini-
tiative der Bundesregierung?
Interessante Erkenntnisse hat auch die Studie des Deut-
schen Städtetages zum Thema „Ausländische Studierende
in deutschen Hochschulstädten: Fakten, Probleme und
Handlungsfelder“ hervorgebracht. Zu begrüßen ist vor al-
lem der Empfehlungskatalog des Deutschen Städtetages,
der eine Reihe von sinnvollen Anregungen enthält.
So schlägt der Städtetag vor, dass vor Ort Kommuni-
kations- und Projektnetzwerke aufgebaut werden mit dem
Ziel, neue und verbesserte Betreuungskonzepte und Ser-
viceangebote für ausländische Studierende zu entwickeln.
Die Netzwerke sollten in ihrem Kern aus Vertretern jener
Einrichtungen bestehen, die die Studierenden in ihrem
Lebens-, Arbeits- und Studienalltag begleiten, das heißt
Hochschulen, Studentenwerken und Stadtverwaltungen.
Der Städtetag weist auf die vielfältigen Möglichkeiten
der Kommunen hin, über eine Empfangspolitik und ei-
gene Angebote die Studier-, Wohn- und Lebensbedingun-
gen der ausländischen Bildungsgäste zu verbessern und
somit entscheidend zu einem „Klima für Gastfreund-
schaft“ in den deutschen Hochschulstädten beizutragen.
Hierzu gehören beispielsweise die Verbesserung der In-
formationsangebote für die Zielgruppe „ausländische Stu-
dierende“, die Entwicklung eigener Begrüßungsangebote,
die Verbesserung der Serviceangebote der Ausländer-
behörde, Willkommens-Pakete, Patenschaftsprogramme,
und Aufrufe der Stadt an private Vermieter wegen Wohn-
raummangels.
Wichtig ist auch die Unterstützung der Kommunen für
die Studentenwerke bei der Schaffung neuen Wohnraums,
zum Beispiel über die städtischen Wohnungsbaugesell-
schaften, bei der Einrichtung von Service-Points und
Info-Cafés bzw. bei der Suche nach entsprechenden Lie-
genschaften. Außerdem können die Kommunen die
Hochschulen bei der Suche nach Praktikumsplätzen für
ausländische Studierende durch Herstellung von Kontak-
ten zur Wirtschaft unterstützen.
Deutsche Studierende sind zudem offensichtlich viel-
fach in sich gekehrte Muffel. Denn nach der Studie des
Deutschen Studentenwerkes hat eine sehr große Gruppe der
Gäste aus dem Ausland ihren mangelnden Kontakt mit
deutschen Studierenden beklagt. Von Studierenden aus
Entwicklungsländern äußern sogar 41 Prozent diese Klage.
Insofern hat der Präsident des Deutschen Studenten-
werks, Prof. Rinkens Recht, wenn er auch an die deutschen
Studenten appelliert, „sich verstärkt dem interkulturellen
Dialog zu stellen“. Dem können wir uns wohl nur ge-
meinsam anschließen. Davon profitieren alle – die Hoch-
schulen, aber auch unsere Gesellschaft in der Bundesre-
publik Deutschland insgesamt.
Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eines der zentralen Elemente bündnisgrüner Hochschul-
politik ist die Vernetzung und Einbindung des Studien-
und Forschungsstandorts Deutschlands. Die Bundeslän-
der und Hochschulen haben bereits Erhebliches geleistet,
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um Deutschland als internationalen Hochschulstandort at-
traktiver zu gestalten. Einige Verbesserungen im Arbeits-
und Aufenthaltsrecht für ausländische Studierende und
Hochschulabsolventen haben wir bereits im Zuge der Ein-
wanderungsdebatte erreicht.
Ausländischen Absolventen der neu eingerichteten Ba-
chelor- und Masterprogramme sowie hoch qualifizierten
Wissenschaftlern und ihren Familien muss in Deutsch-
land eine dauerhafte Bleibeperspektive gegeben werden.
Sonst gehen sie nach Kanada oder in die USA.
Wir fordern daher weitere arbeitsrechtliche Erleichte-
rungen im Bereich der studentischen Nebenjobs und die
Abschaffung der so genannten Vorrangprüfung. Danach
können ausländische Studierende erst dann einen Neben-
job antreten, wenn keine geeigneten deutschen Bewerber
oder EU-Bürger für die Stelle zur Verfügung stehen. Ohne
Nebenjobs können Studierende aus Asien oder Afrika
ihren Aufenthalt aber nicht finanzieren.
Wichtig ist auch, die soziale Situation von ausländi-
schen Studierenden zu berücksichtigen. Insbesondere
brauchen wir eine bessere Versorgung mit öffentlich ge-
fördertem Wohnraum für ausländische Studierende. Der
Bedarf an Wohnheimplätzen steigt kontinuierlich und
wird in den Ballungsgebieten, in denen die Mieten beson-
ders hoch sind, zum entscheidenden sozialen Auswahlkri-
terium.
Aus unserer Sicht umfasst die Internationalisierung des
deutschen Hochschulsystems aber mehr als nur das An-
werben von Studierenden aus anderen Ländern – und
diese Dimension fehlt dem hier zu diskutierenden Antrag
völlig. Internationalisierung bedeutet auch, endlich die
Bereicherung zu sehen, die von den Bildungsinländern
– also Studierenden ohne deutsche Staatsangehörigkeit,
aber mit deutscher Hochschulzugangsberechtigung – aus-
geht. Deutschland kann es sich als Einwanderungsland
nicht länger leisten, auf die Kompetenzen der Bildungs-
inländer zu verzichten. Sie spielen eine Schlüsselrolle bei
der Integration neuer Migrantinnen und Migranten und
sollten deshalb verstärkt in pädagogischen Berufen, im
Gesundheitsbereich und in der öffentlichen Verwaltung
eingestellt werden.
Die internationale Einbindung des deutschen Bil-
dungssystems bedeutet aber auch, dass die Mobilität deut-
scher Studierender sowie Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler beratend und finanziell unterstützt wird. Ein
erster wichtiger Schritt ist hier das seit letztem Jahr ins
Ausland übertragbare BAföG.
Ob BAföG- oder Dienstrechtsreform: Rot-Grün stellt
die Weichen auf Internationalisierung an den deutschen
Hochschulen.
Ulrike Flach (FDP): Ein schöner Titel macht noch
keinen schonen Antrag. Die weltoffene und international
orientierte Hochschule wollen wir natürlich auch, aber
schon die Beschreibung des Ist-Zustandes teile ich nicht.
Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Behaup-
tung, die „ausländerfeindliche Stimmung, insbesondere
gegen Migrantinnen und Migranten“ habe zugenommen,
macht diese Aussage nicht richtiger. Ich sehe auch nicht,
dass hochschulpolitische Betätigung ausländischer Stu-
dierender unter einen „Generalverdacht“ gestellt würde
oder dass an unseren Hochschulen eine „Atmosphäre des
Verdachts, der Denunziation und der Denktabus“ herr-
sche, wie Sie es beschreiben.
Fakt ist: Unsere Hochschulen müssen internationaler
werden. Sie brauchen finanzielle und organisatorische
Unterstützung dabei, im Ausland um Studierende und
Wissenschaftler werben zu können. Wir müssen mehr
fremdsprachige und virtuelle Studiengänge einrichten.
Hochschulen brauchen finanzielle Spielräume, um Spit-
zenwissenschaftler aus dem Ausland auch bezahlen zu
können. Und sie brauchen die Unterstützung des Bundes
beim Bau von Wohnheimen für ausländische Studieren-
de – hier fehlen uns circa 21 000 Plätze.
Die schleppende Anerkennung ausländischer Hoch-
schulzugangsberechtigungen, die Bürokratie in den deut-
schen Auslandsvertretungen, unser – noch – antiquiertes
Aufenthalts- und Arbeitsrecht – das alles hindert uns da-
ran, mehr ausländische Studierende zu gewinnen. Ich sage
bewusst „gewinnen“; denn es ist keine Gnade, in Deutsch-
land studieren zu dürfen, sondern ein Gewinn für unser
Land.
Was mich an Ihrem Antrag ärgert und warum wir ihn
ablehnen werden, sind zwei Punkte.
Erstens: Bei aller politischen Korrektheit, die ja gerade
die PDS immer anmahnt, kommt im Antrag dreimal der
Begriff „unterentwickelte Länder“ vor. Das ist ein
Sprachgebrauch, der völlig unpassend ist und das Anlie-
gen, sich für mehr Studierende aus der so genannten Drit-
ten Welt einzusetzen, konterkariert.
Zweitens: Was schlagen Sie vor? Sie überziehen die
Hochschulen mit Aufgaben. Sie sollen ein bedarfsgerech-
tes Angebot an Sprachkursen bereitstellen, interkulturelle
Kommunikation fördern, unentgeltliche studienbeglei-
tende Betreuungen für Ausländer anbieten und anderes
mehr.
Das ist alles wünschenswert, aber es fehlen konkrete
Finanzierungskonzepte. Und es ist bei Ihnen immer der
Staat, der den Hochschulen alles vorschreibt, der alles re-
geln will. Lassen Sie doch den Hochschulen die Freiheit,
sich selbst zu organisieren. Sie können das besser als die
PDS-Fraktion.
Sie könnten wirklich etwas tun, indem Sie in den Län-
dern, in denen Sie mitregieren, die Landeshochschulge-
setze ändern und den Hochschulen volle Personal, Tarif
und Organisationshoheit geben.
Weltoffenheit kann man nicht verordnen. Unsere
Hochschulen müssen von staatlichen Korsetten entfesselt
werden. Wir werden in den anstehenden Beratungen zum
Sechsten HRG einen Antrag vorlegen, der zu einer deut-
lichen Reduzierung staatlicher Eingriffe führt. Damit
können wir das erreichen, was wir alle wollen: eine inter-
nationale, wettbewerbsfähige und attraktive Hochschul-
landschaft in Deutschland.
Maritta Böttcher (PDS): Das Thema Internationali-
sierung der Hochschulen hatte bis vor kurzem politische
Hochkonjunktur. Doch seit dem 11. September hat sich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 200222968
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auch in dieser Frage die Atmosphäre verändert. Das Un-
wort von den Hochschulen als „Ruheraum“ für Terroris-
ten machte schnell die Runde. Ausländische Studierende
insbesondere aus arabischen Herkunftsstaaten sehen sich
mit Vorurteilen konfrontiert. Die Zimmersuche auf dem
freien Wohnungsmarkt ist für sie fast aussichtslos gewor-
den. Die in etlichen Bundesländern durchgeführten Ras-
terfahndungen stellten ausländische Studierende unter ei-
nen Generalverdacht – was in einigen Fällen rechtswidrig
war, wie jüngste Gerichtsentscheidungen gezeigt haben.
Ich bin hochpolitischen Akteuren wie der Hochschulrek-
torenkonferenz oder den Studierendenvertretungen dank-
bar, dass sie durch ihre Erklärungen unmissverständlich
deutlich gemacht haben, dass die Angst vor Terroranschlä-
gen nicht für Angriffe gegen die Weltoffenheit der Hoch-
schulen instumentalisiert werden darf.
Die PDS-Fraktion möchte mit ihrem Antrag dazu bei-
tragen, dass weltoffene Hochschulen in Zukunft nicht als
Bedrohung, sondern als Chance verstanden werden. Auch
die kürzlich erfolgte Verabschiedung des Zuwanderungs-
gesetzes ist kein Grund, das Thema ad acta zu legen. Zwar
ist anzuerkennen, dass sich die rechtlichen Rahmenbedin-
gungen für ausländische Studierende in einem Punkt ver-
bessert haben: Die Genehmigung von Nebentätigkeiten
ausländischer Studierender wird erleichtert, unter ande-
rem durch eine flexiblere Anwendung der so genannten
90-Tage-Regelung. Doch die größten ausländerrechtli-
chen Restriktionen bleiben unverändert. Bei der Jobsuche
gilt weiterhin die Bevorrechtigtenregelung des Sozialge-
setzbuchs: Studierende aus Nicht-EU-Staaten dürfen nur
beschäftigt werden, wenn keine Kommilitone aus einem
EU-Mitgliedstaat zur Verfügung steht. Ausländische Stu-
dierende müssen auch in Zukunft einen Finanzierungsnach-
weis erbringen, um überhaupt eine Aufenthaltsgenehmi-
gung zu erhalten. Das heißt, sie müssen nachweisen, dass
sie für ein Jahr über Mittel in Höhe des BAföG-Regelsat-
zes verfügen. Die PDS bleibt bei ihrer Forderung nach ei-
ner Gleichstellung von in- und ausländischen, EU- und
Nicht-EU-Studierenden.
Obwohl das Zuwanderungsgesetz – ohne den von der
PDS geforderten Rechtsanspruch auf Einwanderung für
ausländische Studierende mit Studienplatz – verabschie-
det ist, sind nicht alle Würfel gefallen. Sobald der Bundes-
präsident das Gesetz unterzeichnet hat, hat die Bundesre-
gierung im Zusammenwirken mit dem Bundesrat die
Allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Durchführungs-
bestimmungen zu dem neuen Gesetz zu beschließen. Ich
warne die Bundesregierung davor, einfach die alten Be-
stimmungen zum Ausländergesetz abzuschreiben. Fragen
wie der Finanzierungsnachweis könnten ohne erneute
Gesetzesänderung im Interesse der Betroffenen besser ge-
regelt werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, den
Sachverstand von Organisationen wie dem Deutschen Stu-
dentenwerk sowie Vertreterinnen und Vertretern der auslän-
dischen Studierenden in die Ausarbeitung der neuen Vor-
schriften einzubeziehen.
Das Kuratorium des Deutschen Studentenwerks hat
übrigens bereits im November 2001 einstimmig Bund
und Länder aufgefordert, sich an einem Förderpro-
gramm für den Bau von 20 000 Wohnheimplätzen, ins-
besondere auch für ausländische Studierende, zu beteili-
gen. Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für
ausländische Studierende gehört eben weit mehr als eine
Liberalisierung des Ausländerrechts. Ausländische Stu-
dierende sind sehr viel mehr als ihre inländischen Kom-
militonen auf ein ausreichendes Angebot von Wohn-
heimplätzen in öffentlicher Trägerschaft angewiesen. In
unserem Antrag fordern wir daher die Bundesregierung
ausdrücklich auf, die Studentenwerke darin zu unterstüt-
zen, mehr integrationsfördernde Wohnheimplätze anzu-
bieten. Dass diese Aufforderung dringend erforderlich
ist, macht die vorige Woche geäußerte Kritik des DSW-
Kuratoriumsvorsitzenden und HRK-Präsidenten Profes-
sor Landfried deutlich. Bund und Länder konnten sich
bislang nicht auf eine Finanzierung von neuen Wohn-
heimplätzen verständigen, die Engpässe in der Wohn-
raumversorgung vor allem für ausländische Studierende
sind ungebrochen. Das passt nun wirklich nicht zusam-
men: Dass das BMBF auf der einen Seite eine konzer-
tierte Aktion ins Leben ruft, die weltweit für den Stu-
dienstandort Deutschland werben und ausländische
Studierende nach Deutschland locken soll, auf der ande-
ren Seite aber geizt, wenn es um die Schaffung ange-
messener Studienbedingungen geht.
Ich wünsche mir eine vorbehaltlose Diskussion im
Ausschuss über unsere Vorschläge zur Stärkung der
Weltoffenheit der Hochschulen, die ich Ihnen aus Zeit-
gründen nicht alle im Detail vorstellen kann. Bestehende
Barrieren für eine Internationalisierung von Forschung,
Lehre und Studium sind zu beseitigen: etwa bei der Aner-
kennung von im Ausland erbrachten Hochschulzugangs-
berechtigungen, Studien- und Prüfungsleistungen sowie
Abschlüssen oder bei der Berufung und Einstellung aus-
ländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Darüber hinaus bedarf es aktiver Fördermaßnahmen –
etwa in Form von Stipendien- und Gastdozentenprogram-
men, wobei Entwicklungs- und Transformationsländer
sehr viel stärker als bisher berücksichtigt werden müssen.
Abschließend ist mir wichtig zu betonen, dass über die
ausländerrechtlichen und infrastrukturellen Fragen hinaus
die soziale und kulturelle Dimension nicht zu kurz kom-
men darf. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist
schon von seinem Grundverständnis her auf eine interna-
tionale Kommunikation, Kooperation und Konkurrenz
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausge-
richtet. Dies sollte sich an jeder einzelnen Hochschule wi-
derspiegeln: Die Hochschulpolitik hat daher den interna-
tionalen und interkulturellen Dialog auf dem Campus zu
fördern; Hochschulen, Studierendenschaften, Studenten-
werke und Kommunen sind bei entsprechenden Projekten
zu unterstützen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2002 22969
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin