Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
19790
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Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19791
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Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ 15.11.2001
DIE GRÜNEN
Bierwirth, Petra SPD 15.11.2001
Bulmahn, Edelgard SPD 15.11.2001
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15.11.2001
Friedrich (Altenburg), SPD 15.11.2001
Peter
Griefahn, Monika SPD 15.11.2001
Hohmann, Martin CDU/CSU 15.11.2001
Dr. Höll, Barbara PDS 15.11.2001
Lengsfeld, Vera CDU/CSU 15.11.2001
Lippmann, Heidi PDS 15.11.2001
Schlee, Dietmar CDU/CSU 15.11.2001
Schmidt (Aachen), SPD 15.11.2001
Ulla
Dr. Spielmann, Margrit SPD 15.11.2001
Strebl, Matthäus CDU/CSU 15.11.2001
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 15.11.2001
Dr. Thomae, Dieter FDP 15.11.2001
Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 15.11.2001
Volquartz, Angelika CDU/CSU 15.11.2001
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 15.11.2001
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der Entwürfe:
eines Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfort-
bildungsförderungsgesetzes (AFBG-ÄndG)
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Auf-
stiegsfortbildungsförderungsgesetzes (1. AFBG-
ÄndG)
(Tagesordnungspunkt 16)
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit der Novelle des
Meister-BAföGs nicht nur die dringend notwendige
Qualifizierungsoffensive in der beruflichen Bildung fort,
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
sie fördert vor allem angehende Existenzgründer und Exis-
tenzgründerinnen nachhaltig. Wir weiten die Förderung
aus und bessern in wesentlichen Punkten nach.
Dabei ist es grundlegend wichtig, die Finanzierungs-
grundlage für den Lebensunterhalt und die Lehrgangskos-
ten für die Fortbildungskurse bereitzustellen. Auch für die
Existenzgründer gilt unser Grundverständnis der Zu-
gangsgerechtigkeit.
Durch die Novelle wird konkrete Mittelstandsförde-
rung nachhaltig betrieben, das sie mit der Schaffung von
Arbeits- und Ausbildungsplätzen gekoppelt ist. Wir he-
ben den Darlehenserlass von 50 Prozent auf 75 Prozent.
Dies ist ein deutlicher Anreiz für Existenzgründer. Die
Frist für die Existenzgründung ist vor allem auf Drängen
von Bündnis 90/Die Grünen von zwei auf drei Jahre ver-
längert worden, um den Gründerinnen größeren Spiel-
raum zu verschaffen. Ebenfalls ist die Frist für die
Einstellung von zwei Beschäftigten auf zwei Jahre he-
raufgesetzt worden. Mit der Koppelung deutlicher staat-
licher Förderung und der Schaffung von Arbeitsplätzen
ist zukünftig einerseits von einer erhöhten Zahl von An-
tragstellern und Antragstellerinnen auszugehen; anderer-
seits erwarten wir langfristig Entlastungseffekte auf dem
Arbeitsmarkt.
Um angespartes Vermögen der Existenzgründer zu
schonen, wird der Vermögensbeitrag für Alleinstehende
deutlich auf 70 000 DM angehoben. Für die Ehefrau und
jedes Kind werden zusätzlich 3 500 DM angerechnet.
Liebe Damen und Herren von der CDU/CSU, ich for-
dere Sie auf, sich an dieser Stelle den Realitäten des Sub-
sidiaritätsprinzips wieder anzuschließen. Der Staat muss
aus grüner Sicht dann fördern, wenn es für die Teilnehmer
notwendig ist. Wer mehr als den angesetzten Freibetrag
auf der hohen Kante hat, ist in der Lage, sich selbst zu fi-
nanzieren. Wir wollen mit der Novelle des Meister-
BAföGs keine Subventionspolitik betreiben.
Die Aufstiegsfortbildung wird aber auch wieder ein
zentrales Förderinstrument zur gezielten beruflichen Wei-
terbildung. Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit die-
ser Novelle ein deutliches Zeichen. Mehr Menschen mit
Kindern haben durch die Novelle die Chance, sich zu qua-
lifizieren. Familien mit Kindern und Alleinerziehende er-
halten nämlich künftig bessere Förderkonditionen bei
Vollzeit- und Teilzeitfortbildungen. Wir erhöhen den Kin-
derzuschlag beim Unterhaltsbetrag von 250 auf 350 DM
und den Kinderbetreuungszuschuss auf 250 DM. In Här-
tefällen wird das Darlehen für Alleinerziehende gestundet
oder sogar erlassen. Das Kindergeld wird nicht auf das
Einkommen angerechnet. An dieser Stelle berücksichtigt
Rot-Grün ganz gezielt die Lebensumstände von Familien
und Alleinerziehenden und erhöht ihre Beteiligungsmög-
lichkeit in der beruflichen Weiterbildung. Es kann nicht
um Kind oder Karriere gehen. Wir wollen Eltern beides
ermöglichen.
Des Weiteren werden ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer inländischen gleichgestellt und können
in verstärktem Maße gefördert werden. Das bedeutet, dass
sie bereits nach dreijähriger Erwerbstätigkeit gefördert
werden können. Wir begreifen Migrantinnen und Migran-
ten als Teil der Gesellschaft und wollen an dieser Stelle ei-
nen Beitrag zur Integration leisten. Diese, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, meinen Bündnis 90/Die Grünen mit
der Beseitigung von Zugangshindernissen.
Darüber hinaus werden die geförderten Berufsfelder
deutlich erweitert. Gesundheits- und Pflegeberufe und die
Abschlüsse an staatlich anerkannten Ergänzungsschulen
werden uneingeschränkt in die Förderung einbezogen.
Teilzeitfortbildung und die Fortbildung über Softwarege-
stützte Lernmodule werden ermöglicht.
Rot-Grün gestaltet die Förderung der Aufstiegsfortbil-
dung analog zur BAföG-Reform. Wir erhöhen den Unter-
haltsbetrag für Alleinstehende um rund 10 Prozent.
Wir machen mit dieser Novelle des Meister-BAföGs
deutlich, dass sich die Koalition ihrer Verantwortung und
der Modernisierung sowohl der beruflichen Bildung als
auch des Mittelstandes stellt. Die Förderung von Fach-
kräften bei der Aufstiegsfortbildung wird so zu einer zen-
tralen Bildungsaufgabe, bei der der einzelne Mensch mit
seinen Möglichkeiten wieder im Mittelpunkt steht.
Ich freue mich über die weitgehende Übereinstimmung
bei entscheidenden Elementen der Novelle und fordere
Sie daher nachdrücklich auf, dieser zuzustimmen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
Aupairs von der Sozialversicherungspflicht
freihalten
Rechtssicherheit für Aupairverhältnisse
(Tagesordnungspunkt 10a und b)
Erika Lotz (SPD): Bei diesem Antrag habe ich mir die
Frage gestellt, für wen Sie ihr Herz entdeckt haben. Der
Antrag klärt das ja auch im zweiten Absatz. Sie beklagen
dort nämlich, dass die Bundesanstalt für Arbeit die Au-
pairs als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-
verhältnisse einstufen will und Mehrkosten auf die Gast-
familien zukommen.
Das, stimmt aber einfach nicht. Und deshalb können
wir ihrer Forderung nach einer generellen Sozialversiche-
rungsfreiheit von Aupairs auch nicht zustimmen.
Im Vordergrund der Aupairaufenthalte steht das Anlie-
gen der jungen Menschen, in den Gastfamilien Sprache
und Kultur kennenzulernen und so die internationale Ver-
ständigung zu fördern. In den Gastfamilien sollen sie bei
der Hausarbeit mithelfen so, wie es die eigenen Kinder
auch tun müssen oder sollten. Es muss dabei ausreichend
Zeit für Sprachunterricht und auch für die Freizeit bleiben.
Stimmt dieses Bild mit der Wirklichkeit überall über-
ein? Das nette junge Mädchen aus England oder Frank-
reich, das nach der Schule für ein Jahr nach Deutschland
kommt, um die Sprache zu lernen und gleichzeitig das Le-
ben in einer Familie kennenzulernen, das ist nur ein Teil
der Realität. Unter den Aupairs finden wir immer mehr
junge Mädchen aus Polen, Tschechien und Südamerika.
Sie haben die Hoffnung, auf diesem Weg dauerhaft mit ei-
ner Arbeitserlaubnis hier bleiben zu können. Und da liegt
es doch nahe, dass diese Hoffnungen auch ausgenutzt
werden.
Da spielen wir nicht mit. Wir wollen nicht, dass durch
eine gesetzliche Regelung Tür und Tor geöffnet werden,
dass Clevere die Hoffnungen junger Menschen ausnut-
zen, um an billige Hausangestellte zu kommen. Aber ein
Aupair ist eben keine Hausangestellte. Und deshalb wer-
den wir hier keinen Freibrief ausstellen.
Wer den Schutz durch die Sozialversicherungen
braucht, der muss ihn auch bekommen. Und wer 30 Stun-
den pro Woche arbeitet, der braucht ihn.
Wir haben in den letzten drei Jahren die Erosion der
Sozialversicherungen gestoppt. Wir haben viele Men-
schen wieder in die Sozialversicherungen zurück geholt,
die ihren Schutz dringend brauchen. Ich erinnere da nur
an die geringfügig Beschäftigten und die Scheinselbst-
ständigen.
Die Abgeordneten, die diesen Antrag stellen neben
FDP- und PDS-Abgeordneten sind es auch eine Reihe von
Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion ,
versuchen mit ihrem Antrag jetzt, ein Hintertürchen zu
öffnen, durch das sich auch bei ganz normalen Arbeits-
verhältnissen der Arbeitgeber die Beiträge zur Sozialver-
sicherung sparen kann. 30 Stunden Arbeit pro Woche
das sind doppelt so viele Stunden, wie bei geringfügiger
Beschäftigung möglich sind.
Wir wissen ja, dass Sie die solidarischen Sozialversi-
cherungen am liebsten ganz abschaffen möchten. Aber
uns ist es wichtig, dass sich die Menschen in diesem Land
auch in Zukunft auf die Solidarität der Gesellschaft ver-
lassen können.
Diese Sicherheit haben sie jetzt auch die Aupairs. Der
Antrag der CDU/CSU-Fraktion Rechtssicherheit für Au-
pairverhältnisse ist deshalb schlicht überflüssig. Die
Rechtslage ist eindeutig; erst im Oktober haben die Spit-
zenverbände der Sozialversicherungen in einem Gespräch
bestehende Unstimmigkeiten beseitigt.
Wir wollen die wirklichen Gasteltern keineswegs be-
lasten und zurzeit passiert das auch nicht. Aber auch in
Zukunft muss ganz genau geschaut werden, ob eine Fa-
milie wirklich ein Aupair aufgenommen hat oder ob sie
das, was als kultureller Austausch gedacht ist, ausnutzt,
um einfach an eine billige Haushaltshilfe zu kommen.
Walter Hoffmann (Darmstadt) (PDS): Eine seltsame
Koalition hat sich zu diesem Gruppenantrag zusammen-
gefunden. Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU,
FDP und PDS sorgen sich um die angeblich drohende So-
zialversicherungspflicht von Aupairs.
Ich habe nicht verstanden, wieso PDS-Kolleginnen
und -Kollegen einen Antrag unterstützen, der in der Sub-
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stanz neoliberalem Gedankengut entspringt. Ich habe
nicht verstanden, wieso Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU sich mit Abgeordneten der PDS verbünden,
wenn diese eine sozialversicherungsfreie 30-Stunden-
Woche in Privathaushalten fordern und damit das Dienst-
mädchenprivileg durch die Hintertür wieder einführen
wollen.
Von der FDP ist man ja so etwas gewohnt. Wie hat es
meine Kollegin Renate Rennebach heute Morgen so
schön im Deutschlandfunk formuliert:
Wenn ich mit der FDP Sozialpolitik machen
müsste, würden mir grüne Pickel wachsen.
Und inhaltlich habe ich den Antrag schon gar nicht ver-
standen. Denn keiner will hier irgendetwas ändern.
Aupairs werden seit 1969 in der immer gleichen Weise
behandelt: Jeder konkrete Einzelfall wird vorab geprüft,
um auszuschließen, dass diese sinnvolle Einrichtung zur
kulturellen und sprachlichen Begegnung für junge Men-
schen in Deutschland missbraucht wird. Es wird etwas ge-
nauer hingeschaut, damit junge Menschen nicht schamlos
als billige Haushaltshilfe ausgenutzt werden, wie die Kol-
legin Erika Lotz es schon richtigerweise gesagt hat.
Verständnis fehlt aber auch Ihnen, liebe Unterstütze-
rinnen und Unterstützer dieses Antrags. Sie haben nicht
verstanden, dass staatlich gesetzte Regeln auf dem Ar-
beitsmarkt auch zum Schutz von Personen da sind und
nicht zur Schikane der Arbeitgeber. Gerade bei den au-
pairs ist dies ganz eindeutig. Geht es doch hier um junge
Menschen, die in ein fremdes Land kommen und leicht
ausgenutzt werden können.
Rechtliche Grundlage für das gültige Verfahren ist ein
Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1969.
Schon damals haben sich die Spitzenverbände der Sozial-
versicherung darauf geeinigt, dass jedes so genannte so-
zialversicherungsfreie Betreuungsverhältnis besonderer
Art überprüft werden soll, wenn das vereinbarte Taschen-
geld mehr als ein Zwölftel der monatlichen Bezugsgröße
beträgt. Heute liegt diese Grenze, bis zu der ein Aupair-
aufenthalt ungeprüft angenommen wird, bei 213,33 DM.
Nun hat es einen Widerspruch gegeben zwischen der
Empfehlung der Bundesanstalt für Arbeit, den jungen
Menschen 400 DM Taschengeld zu zahlen und der bishe-
rigen Praxis, bei diesem Betrag schon Missbrauch zu be-
fürchten. Im Oktober haben sich die Sozialversicherungs-
träger getroffen und verabredet, dass es bezüglich der
Vermutungsgrenze zu einer Veränderung kommen muss.
Die Bundesanstalt für Arbeit will deshalb bei der nächs-
ten Besprechung der Sozialversicherungsverbände darauf
drängen, dass der empfohlene Taschengeldbetrag auch
gleichzeitig der Betrag der Grenze der ungeprüften Ver-
mutung ist. Es wird also vorbehaltlich der Zustimmung
der Sozialversicherungsträger in Zukunft von einer Prü-
fung abgesehen werden, wenn offenbar alle rechtlichen
Voraussetzungen eines Aupairaufenthalts vorliegen und
das Taschengeld nicht mehr als 400 DM beträgt. Damit ist
diese Sache erledigt und Ihre Befürchtung auch.
Für bedenklich halte ich allerdings einen Teil Ihrer Be-
gründung. Es ist nicht vorrangiger Zweck der Aupairver-
hältnisse, die Rückkehr eines Elternteils in den Arbeits-
markt zu ermöglichen. Es kann auch kein wesentlicher
Sinn sein, die Weiterbildung und Qualifizierung mithilfe
von Aupairmädchen zu erleichtern. Man bekommt den
Eindruck, Sie halten Aupairverhältnisse für eine Art lega-
ler Schwarzarbeit. Die Alternative darf doch nicht heißen:
Aupair oder Schwarzarbeit. Vielmehr sollten wir unsere
Kraft und Energie darauf konzentrieren, nach intelligen-
ten Konzepten zu suchen, wie sozialversicherungspflich-
tige und bezahlbare Beschäftigung in Privathaushalten er-
möglicht werden kann. Hier gibt es meiner Ansicht nach
einen großen Bedarf, der weit über die Einsatzmöglich-
keiten von Aupairs hinausgeht. Dieser Bereich bietet aber
auch große Chancen für die Menschen und den Arbeits-
markt.
Ich fasse zusammen: Es gibt keinen Anlass für Ihre Be-
fürchtungen. Niemand will Aupairverhältnisse sozialver-
sicherungspflichtig machen und bestehende Wider-
sprüche werden beseitigt. Wir denken intensiv über
Lösungen im Bereich der Haushaltshilfen nach. Wenn wir
solche Anträge nicht beraten müssten, hätten wir dafür
vielmehr Zeit.
Dorothea Störr-Ritter (CDU-CSU): Erstens. Was ist
ein Aupairverhältnis? Ein Aupairverhältnis ist ein auf eine
bestimmte Dauer meist bis zu einem Jahr befris-tetes
Beschäftigungsverhältnis besonderer Art. Es besteht
meist zwischen jungen Frauen aus EG- oder EWR-Staa-
ten und einer deutschen Gastfamilie.
Im Vordergrund steht für die Aupairs, die Sprach-
kenntnisse zu vervollständigen und das Allgemeinwissen
durch eine bessere Kenntnis des Gastlandes zu erweitern.
Dazu trägt das Erleben des Alltags einer Gastfamilie bei.
Aupairs müssen mindestens 17 Jahre alt sein, bei Min-
derjährigen ist eine schriftliche Einverständniserklärung
des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Es wird erwartet,
dass Aupairs über gute Grundkenntnisse der deutschen
Umgangssprache verfügen. Aupairs sollen sich ernsthaft
und nachdrücklich um die Vervollständigung ihrer Kennt-
nisse der deutschen Sprache bemühen. Sie sollen aus
vielen neuen und zum Teil ungewohnten, manchmal
schwierigen, aber schönen Eindrücken eine wertvolle Le-
benserfahrung gewinnen.
Wie kommt ein Aupairverhältnis zustande? Jede ange-
hende Aupairgastfamilie darf Aupairs, die Staatsan-
gehörige anderer EU/EWR-Mitgliedstaaten sind, selbst
anwerben. Es besteht insoweit keine Verpflichtung, einen
Vermittler in Anspruch zu nehmen. Bei Anwerbung eines
nicht EU/EWR-Aupairs muss ein inländischer Vermittler
eingeschaltet werden. Zulässig ist auch die Selbstsuche
einer Gastfamilie der angehenden Aupairs durch eigene
Initiative.
Die täglichen Aufgaben eines Aupairs sind sehr unter-
schiedlich. Sie hängen ganz von der Eigenart und dem Le-
bensstil der Familie ab, die das Aupair bei sich aufge-
nommen hat.
Im Allgemeinen gehören zum Alltag eines Aupairs:
erstens die Verrichtung leichter Hausarbeiten, das heißt
mitzuhelfen, die Wohnung sauber und in Ordnung zu hal-
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ten, ebenso das Helfen beim Waschen und Bügeln der Wä-
sche; zweitens die Zubereitung des Frühstücks und einfa-
cher Mahlzeiten; drittens die Betreuung jüngerer Kinder,
das umfasst die Beaufsichtigung, die Begleitung auf
dem Weg in den Kindergarten oder in die Schule oder zu
verschiedenen Veranstaltungen, Spaziergänge oder ge-
meinsames Spiel ; viertens das Haus bzw. die Wohnung
zu hüten und eventuell Haustiere zu betreuen. So aus ei-
ner Information des Arbeitsamtes.
Das alles ist zu verstehen als eine Erleichterung der Fa-
milienarbeit.
Die tägliche Arbeitszeit soll grundsätzlich nicht mehr
als fünf Stunden betragen. Überstunden müssten zeitlich
ausgeglichen werden. Insbesondere hat sich die Eintei-
lung der Arbeitszeit nach den häuslichen Gegebenheiten
und Bedürfnissen der Familie zu richten.
Unterkunft und Verpflegung werden von der Gastfa-
milie unentgeltlich gestellt. Dem Aupair steht ein eigenes
Zimmer innerhalb der Familienwohnung zur Verfügung.
Das Essen erhält das Aupair wie die Familienangehörigen
auch. Anzustreben ist eine Integration in die Gastfamilie.
Bisher erfolgte die Versicherung durch die Gastfamilie für
den Fall der Krankheit ebenso die Anmeldung zur gesetz-
lichen Unfallversicherung und der Abschluss einer Haft-
pflichtversicherung. Das Ganze für rund 60 DM im Mo-
nat. Ebenso erfolgt die Zahlung einer angemessenen
Vergütung, also eines Taschengeldes, das zurzeit übli-
cherweise 400 DM beträgt und ab 213,33 DM sozialver-
sicherungspflichtig sein soll. Die Gastfamilien solle eine
Integration des Aupairs in die Familien ermöglichen. Des-
halb steht im Vordergrund das Anliegen, jungen Men-
schen durch einen solchen Aufenthalt die Möglichkeit zu
eröffnen, Lebenserfahrungen in anderen Ländern zu sam-
meln. Sprachen und Kulturen kennen zu lernen und letzt-
endlich auch den internationalen Beschäftigungsaus-
tausch zu fördern. Aupairs sollten Gäste in einer Familie
sein und das Familienleben und das kulturelle Leben des
Gastlandes der Gastfamilie kennen lernen. Das Aupair-
verhältnis ist ein gegenseitiges Lernfeld.
Etwa 28 000 junge Menschen werden jährlich als Au-
pair in eine deutsche oder ausländische Gastfamilie
vermittelt. Es freut uns alle sehr, dass in den vergangenen
Jahren insbesondere der Austausch mit den Ostländern
immer intensiver wurde.
Das Aupairverhältnis ist also ein bewährtes internatio-
nales Jugendaustauschprogramm. Aber auch die Gast-
familien sollen etwas davon haben: Erstens. Es hilft Fa-
milien, insbesondere jungen Familien, Familie und Beruf
ohne staatliche Hilfe besser zu vereinbaren, und eröffnet
damit Eltern die Möglichkeit, trotz Kindern im Berufsle-
ben zumindest teilweise zu verbleiben. Das gilt insbeson-
dere für Familien, die finanziell nicht zur gesellschaftli-
chen Oberschicht gehören, sondern zur großen Mitte.
Zweitens. Es fördert das Verständnis zwischen unter-
schiedlichen Kulturen und Nationen. In der heutigen Zeit
sind die internationale Verständigung und das gegensei-
tige Verstehen ein absolutes Muss.
Und das soll nun alles vorbei sein? Aupairs, ade? Das
ist hier die Frage. Und wenn ja, warum? Die Aupairver-
hältnisse sollen wie schon die 630 DM Beschäftigungs-
verhältnisse und die Scheinselbstständigen die Löcher in
den Sozialversicherungskassen stopfen. Das ist kein
Wunder die Löcher werden immer größer. Aber verwun-
derlich ist doch, dass der Regierung kein Peanut klein ge-
nug ist, um ihn nicht auch noch zu vertilgen. In ihrer
großen Hungersnot verleibt sich die Regierung alles ein,
was sie zwischen ihre Finger bekommt. Und jetzt sind die
Aupairs und ihre Gasteltern dran. Die Not ist freilich groß.
Denn was sitzt Ihnen, liebe Kollegen der Regierungsko-
alition, nicht alles im Nacken? Anfang 2002 werden die
Sozialbeiträge vermutlich auf über 41 Prozent steigen.
Rechnet man die Bundeszuschüsse in Höhe von 140 Mil-
liarden DM ein, liegt die Belastung faktisch bei 50 Pro-
zent, schlechter als bei Regierungsantritt vor drei Jahren.
Die Schwankungsreserve in der Rentenversicherung soll
aufgebraucht werden. Und ein weiterer Beitrags- und
Ausgabenschub droht in den nächsten zwei Jahren. Und
das passiert, weil geeignete und notwendige Struk-
turreformen entweder nicht gemacht wurden oder wie die
Gesundheits- und Rentenreform im Chaos endeten. Statt
die Systeme zu stabilisieren, wurden sie destabilisiert.
Das gilt für Beitragssätze wie für Leistungen.
Wie hilflos die Regierung in dieser Situation ist, in ei-
ner Situation, in der Milliardenbeträge von D-Mark in den
Kassen fehlen, zeigt die Tatsache, dass man nun auch von
gerade mal 28 000 Aupairverhältnisse auch noch Beiträge
kassieren will. Ab Herbst will die Bundesanstalt für Ar-
beit nahezu alle Aupairaufenthalte als sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse einstufen:
Ein Peanutsbetrag für die Sozialkassen, aber und das ist
das Verwerfliche dabei ein erheblicher Belastungsbetrag
für alle Gastfamilien, die dieses sinnvolle und wertvolle
Projekt in Anspruch nehmen und unterstützen.
Für die Gastfamilien heißt das monatliche Mehrkosten
in Höhe von 450/480 DM. Wer soll das bezahlen können,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Re-
gierungskoalition? Sie wissen genau, dass das heißt: Au-
pair, ade!
Das Bundesarbeitsministerium definiert zusammen
mit der Bundesanstalt für Arbeit und den Sozialkassen
den Aupairstatus neuerdings als Arbeitnehmerstatus und
setzt die gesetzliche Sozialversicherungspflicht durch,
obwohl das europäische Abkommen über die Aupairbe-
schäftigung aus dem Jahr 1969 die Aupairs aus ganz be-
stimmten Gründen als eine Beschäftigungsgruppe be-
sonderer Art definiert. Aus blanker Not schafft man den
Arbeitgeber Familie und die Arbeitnehmerin Aupair.
Selbst der Kulturaustausch muss zum Abkassieren die-
nen. Was für ein Offenbarungseid!
Es ist wohl richtig, dass Aupairverhältnisse in den ver-
gangenen Jahren auch missbraucht worden sind. Dem ist
Einhalt zu gebieten. Aber wenn Aupairs künftig als Haus-
angestellte eingestuft werden, dann werden sie doch auch
so behandelt.
Missbrauch muss verhindert werden, aber das eigentli-
che Aupairverhältnis muss weiter möglich sein. Deshalb
beantragen wir: Erstens, dass Aupairverhältnisse bis zu ei-
nem Taschengeld von 400 DM/monatlich grundsätzlich
sozialversicherungsfrei bleiben und zwar ohne Anrech-
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nung geldwerter Leistungen für Verpflegung und Unter-
kunft; Zweitens, dass ein ausreichender Sprachkurs in
deutscher Sprache Voraussetzung für die Sozialversiche-
rungsfreiheit ist. Drittens, dass die wie bisher übliche Mit-
hilfe im Haushalt und der Sprachkurs von den Gasteltern
bei Beantragung der Einreiseerlaubnis dargelegt werden.
Insbesondere der Sprachunterricht bietet eine
Möglichkeit der Kontrolle. Und deshalb sollte dieser
Voraussetzung sein. Die Teilnahme an einem Sprachkurs
bietet den Unterrichtspersonen die Möglichkeit, zu erken-
nen oder herauszufinden, ob in einem Aupairverhältnis et-
was schief läuft. Dies sollten wir im Sinne der jungen
Frauen unbedingt nutzen. Aber eine Untersuchung des
Aupairverhältnisses durch die Sozialversicherungsträger
ist reine Schnüffelei. Dies sollten wir im Sinne der gelun-
genen Aupairverhältnisse tunlichst unterlassen. Denn die
gelungenen Verhältnisse überwiegen. Und diese gilt es zu
fördern.
Stimmen Sie deshalb für unseren Lösungsvorschlag im
Sinne der Rechtssicherheit für Aupairs und ihre Gasteltern
und der Förderung von Aupairverhältnissen. Verhindern
Sie mit uns, was der Bundesarbeitsminister zusammen mit
der Bundesanstalt für Arbeit und den Sozialkassen plant.
Oder wollen Sie es verantworten, wenn es in Deutschland
künftig nur noch heißt: Aupairs ade!
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die FDP
unterstellt in ihrem Antrag, dass Aupairs der Sozialversi-
cherungspflicht unterworfen werden sollen. Dies trifft
nicht zu, der Antrag ist deshalb hinfällig. Die Bundesan-
stalt für Arbeit wird lediglich das Merkblatt für die Anmel-
dung von Aupairs verändern und dabei eine definitorische
Klarstellung vornehmen. Auch in Zukunft soll eine Tätig-
keit als Aupair nicht als Beschäftigung gewertet werden.
Eine definitorische Klärung, um Rechtssicherheit zu
schaffen wie es der CDU/CSU-Antrag fordert findet
damit bereits statt. Wir müssen diesen im Prinzip sehr be-
rechtigten Antrag ablehnen, weil er bereits erledigt ist.
Grundsätzlich können Aupair auch künftig sowohl bei
der Erfüllung häuslicher Arbeiten als auch in der Betreu-
ung älterer Menschen eingesetzt werden. Ihre Tätigkeit
beschränken sich nicht auf die Mitwirkung bei der Be-
treuung von Kindern oder im Haushalt. Hinzu kommt:
Grundsätzlich können Familien auch Aupairs bei sich auf-
nehmen, welche nicht aus der EU kommen.
In den vergangenen Jahren zeichnet sich anscheinend
die Tendenz ab, dass vermehrt Personen aus Osteuropa als
Aupair in Familien leben und diese vorwiegend in die Be-
treuung älterer Menschen eingebunden sind. Dies ist an
sich nicht problematisch. Problematisch ist, dass diese
Menschen weniger ein Interesse daran haben, Land und
Leute kennen zu lernen und die Sprache zu erlernen. Das
Interesse dieser Menschen geht eher darauf hinaus, einer
Beschäftigung nachzugehen und Geld zu verdienen. Dies
widerspricht dem Geist der Aupairregelungen. Insofern
ist zu fragen, ob die Tätigkeiten dieser Menschen nicht
doch eher den Charakter einer sozialversicherungspflich-
tigen Beschäftigung trägt. Auch darüber sollten wir offen
diskutieren.
Es ist unstrittig, dass für die betroffenen Familien, die
häusliche Pflege zu leisten haben, eine Lösung gefunden
werden sollte, welche ihrer Situation Rechnung trägt.
Dies ist in der Tat künftig im Gesetzgebungsverfahren zu
klären, ist aber kein Votum für eine bestimmte Losung
und für eine bestimmte Verankerung.
Ein Problem ist die Betreuung von Demenzkranken.
Diese werden nicht nach Pflegestufe III eingeordnet. Sie
müssen häufig nicht aufwendig medizinisch gepflegt wer-
den, aber zeitlich umfassend begleitet und betreut werden.
Aus diesem Grund entsteht eine Lücke zwischen den Mit-
teln, welche die Familien aus der Pflegeversicherung er-
halten können, und den Mitteln, die sie bräuchten, um eine
Person in der Familie zu beschäftigen. In der Pflege-
stufe III werden 1 800 DM ausgeschüttet, in der Pflege-
stufe II nur noch 800 DM. Es müsste entschieden werden,
wie diese Lücke geschlossen werden könnte. Das Pflege-
leistungsergänzungsgesetz weist den Ländern beispiels-
weise Mittel zu, welche dazu verwandt werden sollen, die
Situation von Demenzkranken zu verbessern.
Es sollte deshalb ausgelotet werden, welche Möglich-
keiten die Länder haben, einen ergänzenden Bedarf zu
decken und welche bundesgesetzlichen Hürden dafür zu
beseitigen wären. Die Länder haben nach Einführung der
Pflegeversicherung erhebliche Mittel bei der Hilfe zur
Pflege eingespart. Sie sollten und wollten diese in die
Pflegeinfrastruktur investieren, haben dies aber nur sehr
begrenzt getan.
Es sind also noch einige Fragen offen, die sicher im
Rahmen der Ausschussberatungen eine Rolle spielen wer-
den auch wenn die beiden Oppositionsanträge das
Thema verfehlen.
Dirk Niebel (FDP): Aupairaufenthalte fördern das ge-
genseitige Kennenlernen zwischen Menschen verschiede-
ner Nationen ohne größeren finanziellen Aufwand. Sie
sind als wichtiges Kulturgut für den internationalen Ju-
gendaustausch anerkannt. Aupairs werden als Familien-
mitglieder auf Zeit und als Gäste aufgenommen.
Aupairs sind keine Hausangestellten. Sie helfen bei
den anfallenden familienüblichen Arbeiten und bei der
Kinderbetreuung in der Gastfamilie mit. Dies ist keine so-
zialversicherungspflichtige Berufstätigkeit. Aupairs ha-
ben die Möglichkeit, am Familienleben und am kulturel-
len Leben teilzunehmen. Im Vordergrund steht das
Erlernen der Sprache und das Kennenlernen von Land
und Leuten.
Das Infoblatt der Bundesanstalt für Arbeit für Gastfa-
milien empfiehlt Hausarbeiten von nicht mehr als 5 Stun-
den täglich an höchstens 5 Tagen pro Woche. Dazu soll ein
angemessenes Taschengeld von zurzeit 400 DM monat-
lich gezahlt und ein eigenes Zimmer gestellt werden.
Aupairs müssen an Sprachkursen teilnehmen und erhalten
Urlaub. Wenn Familien sich nicht an die im Merkblatt ge-
forderten Mindeststandards halten, werden Visa, Aufent-
halts- und Arbeitsgenehmigungen oftmals überhaupt
nicht erteilt.
Jetzt will die Bundesanstalt für Arbeit in Kooperation
mit den Rentenversicherungsträgern Aupairaufenthalte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19795
(C)
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(B)
als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält-
nisse einstufen. Die Tätigkeit eines Aupairs bis zu
30 Stunden pro Woche übersteigt die für geringfügige Be-
schäftigungen erlaubten 15 Stunden. Das empfohlene Ta-
schengeld von 400 DM übersteigt mit den geldwerten
Leistungen sicherlich einen 630 DM-Minijob. Wenn man
nicht mehr wie bisher von einem Betreuungsverhältnis
besonderer Art ausgeht, sondern von einem Arbeitsver-
hältnis, besteht Sozialversicherungspflicht.
Die Spitzenverbände der Sozialversicherung legen
fest, dass ein Taschengeld von 213,33 DM für die alten
und 180 DM für die neuen Bundesländer den Aupairsta-
tus festigt. Dies ist wahrlich kein luxuriöser Taschengeld-
satz für erwachsene junge Menschen. Ich frage Sie, wie
bei den heutigen Lebenshaltungskosten davon noch kul-
turelle Veranstaltungen und Sprachkurse bezahlt werden
sollen. Junge Menschen wollen doch auch einmal etwas
erleben und ins Cafe, Kino oder Theater gehen.
Mit der Sozialversicherungspflicht erhalten Gastfami-
lien Arbeitgeberstatus und Aupairs werden Arbeitnehmer.
Auf die Gastfamilien kommen dann monatlich Mehrkos-
ten in Höhe von 450 bis 580 DM für gesetzliche Kran-
ken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zu.
Bisher werden Aupairs in Höhe von etwa 60 bis 80 DM im
Monat privat kranken-, unfall- und haftpflichtversichert.
Ich habe diesen Gruppenantrag mit Stimmen von FDP,
CDU/CSU und PDS initiiert, damit das Sozialgesetzbuch
dahingehend klargestellt wird, dass Aupairaufenthalte
nicht als Beschäftigungsverhältnisse eingestuft werden,
sondern als Betreuungsverhältnisse besonderer Art.
Aupairaufenthalte dürfen grundsätzlich nicht sozialversi-
cherungspflichtig sein.
Ich finde es kontraproduktiv, dass die Union nun mit
einem eigenen Antrag die Sache zu einer parteipolitischen
Angelegenheit macht. Dieser Antrag ist inhaltlich weni-
ger konstruktiv und fällt mit seinen Forderungen hinter
unseren Gruppenantrag zurück. Es ist auch schade, dass
SPD und Grüne sich nicht am Gruppenantrag beteiligen.
Wahrscheinlich dürfen sie nicht, seit Müntefering das Ge-
wissen abgeschafft hat.
Wir fordern die Bundesregierung auf, gesetzlich zu re-
geln, dass Aupairs unter 25 Jahren sozialversicherungsfrei
gestellt werden bei einem Aufenthalt bis zu einem Jahr für
eine Beschäftigung in einer Familie bis zu höchstens
5 Stunden täglich bzw. höchstens 30 Stunden wöchentlich
ohne Anrechnung geldwerter Leistungen für Verpflegung
und Unterkunft und bei Zahlung eines Taschengeldes von
derzeit 400 DM monatlich. Das ist die Festschreibung des
derzeit gültigen Standards. Hier geht es um Rechtssicher-
heit, nicht um irgendeine Neuregelung.
Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil vom 29. Ok-
tober 1969 festgestellt, dass eine von einem deutschen
Aupair im Ausland bei einer Familie ausgeübte Halbtags-
tätigkeit als ein Betreuungsverhältnis besonderer Art an-
zusehen ist, wenn sie ausschließlich dem Zweck dient, die
Kenntnisse in der Sprache des Gastgeberlandes zu ver-
bessern. Es ist keine Beschäftigung gegen Entgelt im
Sinne der Sozialversicherung, auch wenn neben freier
Unterkunft und Verpflegung geringe Barbezüge gewährt
werden.
Im Europäischen Abkommen über Aupairbeschäfti-
gung werden Aupairs als eine Beschäftigungsgruppe be-
sonderer Art zwischen Studenten und Arbeitnehmern de-
finiert. Aupairbeschäftigung besteht in der zeitlich
begrenzten Aufnahme von jungen Ausländern, die ihre
Sprachkenntnisse vervollständigen und ihre Allgemein-
bildung durch eine bessere Kenntnis des Gastlandes er-
weitern wollen. Deutschland hat das Abkommen zwar
nicht ratifiziert, aber wir haben es so praktiziert.
Etwa 28 000 junge Menschen werden jährlich als
Aupair in eine deutsche oder ausländische Gastfamilie
vermittelt. Nach der bisherigen Praxis prüfen die zu-
ständigen Krankenkassen als Einzugsstelle des Gesamt-
sozialversicherungsbeitrags die Voraussetzungen für die
Sozialversicherungsfreiheit bzw. Sozialversicherungs-
pflichtigkeit im Einzelfall.
Die von der Bundesanstalt für Arbeit geplante Ände-
rung der Merkblätter würde die gesetzliche Sozialversi-
cherung mit allen Folgekosten zur Pflicht machen.
Aupairaufenthalte werden dadurch unnötig bürokratisiert
und künstlich verteuert.
Aupairs werden niemals Nutzen aus ihren Beiträgen
für Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung ziehen
können, weil ihr Aufenthalt vorher beendet wird. Es ist
auch verfassungsrechtlich bedenklich, wenn zukünftig
die Aupairs als Arbeitnehmer und die Gastfamilie als Ar-
beitgeber mit Beiträgen belastet werden, die sich für die
Aupairs faktisch nicht in Leistungen der Sozialversiche-
rungsträger niederschlagen werden.
Es liegt die Vermutung nahe, dass es wieder mal nur
ums Abkassieren geht. Aber 28 000 Aupairs werden un-
sere maroden Sozialkassen nicht sanieren können! Das
schaffen nur echte Strukturreformen!
Die zusätzliche finanzielle Belastung für die Gastfami-
lien wird die Motivation erheblich dämpfen, einem
Aupair einen Aufenthalt zu ermöglichen. Viele Gastfami-
lien werden sich dann kein Aupair mehr leisten können.
Über die Einkommensklassen von Gastfamilien gibt es
nach Auskunft der Bundesregierung keine Daten. Es ist
aber davon auszugehen, dass Aupairaufenthalte in Fami-
lien aller Einkommensklassen angeboten werden.
Aupairaufenthalte haben keine Auswirkungen auf den
deutschen Arbeitsmarkt. Sie stehen nicht in Konkurrenz
zu Arbeitsverhältnissen. Aber die Kinderbetreuung durch
Aupairs ermöglicht oftmals die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf und die Rückkehr eines Elternteils in den Ar-
beitsmarkt. Dies gewinnt vor dem Hintergrund des stei-
genden Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarfs ei-
nerseits und des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels
andererseits zunehmend an Bedeutung. Durch die fakti-
sche Abschaffung von Aupairaufenthalten wird nach den
Einschränkungen bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit
von Haushaltshilfen und Kinderbetreuungsleistungen
Schwarzarbeit in privaten Haushalten gefördert.
Ein Aupairaufenthalt ist eine kostengünstige Möglich-
keit für junge Erwachsene, neue Länder, Sprachen und
Kulturen kennen zu lernen. Viele Aupairs machen Erfah-
rungen und Kontakte in dieser Zeit, die ein Leben lang
nachwirken. Die faktische Abschaffung der Aupairaufent-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119796
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halte wird sich nachteilig auf den Jugendaustausch, die
kulturelle und sprachliche Begegnung der Völker und die
internationale Verständigung auswirken.
Aupairs gehen meist german-minded in die Heimat
zurück. Das ist preiswerte und nachhaltige Deutschland-
Werbung der allerbesten Art.
Ich plädiere dafür, dass der Deutsche Bundestag unse-
rem Gruppenantrag aus der Mitte der Abgeordneten seine
Zustimmung gibt und damit seine Verantwortung und sei-
nen Willen zeigt, dass dieses wichtige Instrument der Völ-
kerverständigung nicht beeinträchtigt wird.
Pia Maier (PDS): Mein Anliegen als Miteinreicherin
dieses Antrages ist die Schaffung von Rechtssicherheit,
die Feststellung, dass Aupairs keine Arbeitnehmerinnen
sind, die für ihre Arbeit Lohn bekommen und sozialversi-
cherungspflichtig sind.
Was tun eigentlich Aupairs? Sie hüten Haus, Kinder
und Haustiere und helfen im Haushalt. Das darf nicht län-
ger als fünf Stunden am Tag dauern und ein Tag in der Wo-
che muss mindestens frei sein. Außerdem besuchen sie ei-
nen Sprachkurs.
Im Gegensatz zu normalen Kindern einer Familie
können sich Aupairs beschweren, wenn sie zu lange ar-
beiten müssen, ausgebeutet werden, ihnen jemand an die
Wäsche will oder die zwischenmenschlichen Beziehun-
gen einfach ganz und gar nicht funktionieren wollen. Sie
bekommen freie Kost und Logis und ein Taschengeld. Die
Bundesanstalt für Arbeit empfiehlt 400 Mark im Monat,
was im Alter von 18 bis 27 heute wohl angemessen ist. Im
Großen und Ganzen sind sie also normale Mitglieder ei-
ner Familie, mit normalen Familienpflichten, nur eben
aus, einem anderen Land zu Besuch, in der Regel für 6 bis
12 Monate.
Hier liegt ein um im Fachchinesisch zu bleiben be-
sonderes Betreuungsverhältnis vor. Sie sind Familienmit-
glieder auf Zeit, keine Hausangestellten. Wenn sich eine
Familie hierzulande entscheidet, ein/e Aupair aufzuneh-
men, stellen sich folgende Fragen: Können wir die
menschliche Betreuung leisten? Können wir Alltagskultur
aus diesem Land vermitteln? Können wir einen weiteren
Menschen in der Familie aufnehmen? Solche Fragen stellt
man bei der Einstellung eines Butlers nicht.
Für die Entscheidung aufseiten der Aupairs wiederum
stellen sich folgende Fragen: Welches Land möchte ich
kennen lernen, ohne dort zu studieren? Welche Sprache
möchte ich intensiv und in der Alltagssprache lernen?
Kann ich mich in einen fremden Haushalt mit fremden
Regeln einfinden? Solche Fragen stellt man nicht vor An-
tritt einer Beschäftigung als Dienstmädchen.
Als Miteinreicherin ist mein Ziel in diesem Antrag die
Festschreibung, dass Aupairs keine Beschäftigten sind,
dass sie ein Taschengeld bekommen und kein Arbeitsent-
gelt und dass sie für dieses Geld deswegen so wenig sozi-
alversicherungspflichtig sind wie Kinder, die genauso viel
Taschengeld zur Verfügung haben und dafür mehr oder
weniger Familiendienst leisten müssen.
Die PDS unterstützt diesen Antrag; einige Fraktions-
mitglieder haben ihn mit eingebracht. Zum Schluss stelle
ich aber deutlich fest: Wir weichen nicht von der Position,
dass jede Arbeitsstunde sozialversicherungspflichtig sein
sollte. Nur so wäre Versicherungsschutz gewährt, gäbe es
keine prekäre Beschäftigung und die Sozialversicherun-
gen bekämen ein bisschen mehr Beiträge.
Bei Einkommen bis zu 630 Mark sollten die
Beiträge aber vom Arbeitgeber übernommen werden,
mit dem Ziel, tariflich entlohnte Vollzeitbeschäftigung
wieder attraktiver zu machen, indem die geringfügige
Beschäftigung verteuert wird und so die Schleichwege
aus der Sozialversicherung verbaut werden und nor-
male, Vollzeitarbeitsplätze für den Arbeitgeber wieder
rechnen.
Aber bei den Aupairs, um die es hier ja nur geht, geht
es eben nicht um Arbeit, sondern um einen Kulturaus-
tausch, der in einer entsprechenden Rechtslage und
Rechtssicherheit stattfinden muss. Sonst vergeben wir
Familien hierzulande die Chance, zu Hause Kulturaus-
tausch zu erleben, weil wir Aupairs mit Hausangestellten
verwechseln. Wir behindern viele junge Leute, Deutsch
zu lernen und dieses Land von innen kennen zu lernen,
wenn wir Taschengeld mit Arbeitslohn verwechseln. Das
ist kein gutes Aushängeschild für ein Land, das Fachkräfte
mit Greencards ins Land holen will, das Zuwanderung
braucht, das ein weltoffenes Land sein will und das gerne
möchte, dass die eigene Jugend im Ausland Erfahrungen
sammelt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegeben Reden
zur Beratung des Antrags: Hilfe für die Opfer
der Colonia Dignidad (Tagesordnungspunkt 11)
Lothar Mark (SPD): Ich bin sehr dankbar, dass ich
heute die Problematik Colonia Dignidad in einem so
bedeutenden öffentlichen Raum vortragen kann. Diese
Tatsache ist keinesfalls selbstverständlich. Sie stellt für
eine Vielzahl von Angehörigen der Opfer die einzige
Hoffnung dar, an die sie sich klammern können.
Die Colonia Dignidad ist eine hermetisch von der
Außenwelt abgeschlossene Kolonie im Süden Chiles. In
ihr leben schätzungsweise 350 Deutsche in totaler Ab-
hängigkeit von einer kriminellen Führungsgruppe um den
Gründer Paul Schäfer. Der Zugang zur Außenwelt wird
ihnen verwehrt; schwerste Menschenrechtsverletzungen
sind an der Tagesordnung: Die in Rede stehenden Vor-
würfe reichen von physischer und psychischer Misshand-
lung, insbesondere sexuellem Missbrauch von Minder-
jährigen in unzähligen Fällen, bis hin zu Mord. Nach
glaubhaften Zeugenaussagen werden in der Colonia
Dignidad alle familiären Bindungen zerstört. Auf diese
Weise werden zum Beispiel ideale Opfer für die pädophi-
len Neigungen Schäfers herangezogen. Eltern stehen of-
fenbar so unter dem Einfluss der Sekte, dass sie nicht in
der Lage sind, ihre Kinder gegen den Missbrauch zu
schützen oder diesen sogar akzeptieren. Darüber hinaus
deuten verschiedene Zeugenaussagen auf eine politische
Komplizenschaft der Führung der Colonia Dignidad mit
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dem Militärregime unter Pinochet hin. In der Kolonie sol-
len politische Gefangene gefoltert und ermordet worden
sein. Es ist sogar von Invasionsplänen nach Argentinien
die Rede, die dort ausgearbeitet worden seien.
Die chilenischen Behörden konnten bisher nur wenige
Erfolge gegen die Colonia Dignidad erzielen. Zehn Jahre
nach Aberkennung ihrer Rechtspersönlichkeit als gemein-
nützige Vereinigung zeigen sich nicht die beabsichtigten
Wirkungen. Im Gegenteil, es wird versucht, den alten Zu-
stand durch juristische Verfahren wieder herzustellen. Die
Kolonie operiert unter anderem Namen, aber mit den glei-
chen Merkmalen einer kriminell verdächtigen Organisa-
tion. Der vom chilenischen Staat eingeschlagene Pfad, das
Problem auf justiziellem Wege zu lösen, ist richtig, aber
langwierig. In der Vergangenheit stieß die chilenische Jus-
tiz oftmals an ihre Grenzen, wenn es darum ging, gegen
das Heer gut bezahlter Anwälte der Kolonie und noch im-
mer einflussreicher Freunde der Gerechtigkeit Genüge zu
tun. Korruption und Erpressung scheinen die Colonia
Dignidad über lange Zeit abgesichert zu haben. Gerade
deswegen müssen auch verstärkt politische Schritte un-
ternommen werden. Über Jahre, gar Jahrzehnte hinweg ist
dieses Thema bei uns in der politischen Diskussion fast
nicht vorgekommen. Wir müssen uns fragen lassen,
warum wir uns bisher nicht intensiv genug mit dieser Pro-
blematik befasst haben? Mit diesem Antrag setzen wir als
Regierungsfraktion ein Zeichen. Unserer Meinung nach
wurde das Thema Colonia Dignidad von Vorgängerregie-
rungen, nicht in angemessener Weise beachtet und in sei-
ner Brisanz erkannt. Bundesminister Fischer hat nach der
Verhaftung Augusto Pinochets am 16. Oktober 1998 in
London versichert, dem Problem Colonia Dignidad in den
deutsch-chilenischen Beziehungen Priorität einzuräu-
men. Dies ist sehr zu begrüßen. Auch innerhalb unserer
Fraktion ist Bewegung in die Sache gekommen: Hans
Büttner und ich sind in diesem August nach Chile gereist,
um uns über die aktuelle Situation und die Einschätzung
des Problems auf chilenischer Seite zu informieren. Die-
ser Antrag ist auch Ergebnis unserer Eindrücke und Er-
kenntnisse. Er bringt die Überzeugung zum Ausdruck,
dass die vielschichtige und komplexe Problematik nur
durch intensive koordinierte Bemühungen beider Seiten
gelöst werden kann. Festzuhalten bleibt allerdings, dass
wir uns nicht in die inneren Angelegenheiten Chiles ein-
mischen, sondern wir wollen konstruktiv zur Seite stehen.
Seit Juli 1996 wurden verschiedene Strafverfahren ge-
gen den flüchtigen Schäfer und die wichtigsten Führungs-
personen der Colonia Dignidad aufgenommen. Dennoch
konnten all diese richterlichen Ermittlungen und des chi-
lenischen Kongresses bisher nicht verhindern, dass die
Kolonie als mächtige Organisation und Wirtschaftsfaktor
fortbesteht. Noch immer ist eine gewisse Akzeptanz in der
chilenischen Öffentlichkeit gegenüber der Colonia Dig-
nidad zu beobachten, die auf Fehleinschätzungen zurück-
zuführen ist. Alle Aktivitäten konnten bisher auch nicht
verhindern, dass die Kolonie weiterhin das Schicksal ih-
rer Bewohner bestimmt und die Sicherheit ihrer überle-
benden Opfer gefährdet.
Dies ließe sich an verschiedenen Beispielen verdeutli-
chen. Ich will hier nur ein Schicksal herausgreifen: 1997
wurde vom zuständigen Provinzgericht ein Verfahren
zum Schutz minderjähriger Opfer aufgenommen. Im Zen-
trum der Untersuchung standen auf begründeten Verdacht
hin zwei Söhne von Koloniebewohnern. Der zuständige
Jugendrichter ordnete an, die beiden von Ärzten und Psy-
chologen untersuchen zu lassen. Die Polizei fand aber we-
der sie noch ihre Eltern in der Kolonie. Die Führer der Or-
ganisation stritten beharrlich ab, etwas über ihren
Verbleib zu wissen. Erst im Mai dieses Jahres, also mehr
als drei Jahre später, wurden die beiden Brüder unter selt-
samen Umständen in der Hauptstadt Santiago ausfindig
gemacht. Der ältere hatte zu diesem Zeitpunkt bereits sein
18. Lebensjahr vollendet. Somit konnte sein Schutz durch
das Jugendgericht nicht mehr gewährleistet werden. Ein
solches Vorgehen, Minderjährige dem Zugriff des Staates
bis zu ihrer Volljährigkeit zu entziehen, scheint Methode
zu sein. Der zwei Jahre jüngere Bruder hingegen wurde
dem Jugendrichter vorgeführt und zu seinem Schutz in ei-
ner staatlichen Fürsorgeeinrichtung untergebracht. Gegen
diese Maßnahme legte die Colonia Dignidad beim über-
geordneten Berufungsgericht Beschwerde ein. Das Beru-
fungsgericht gab dieser Beschwerde statt. Es ordnete an,
den Jungen seinen Eltern zu übergeben. Ferner verfügte es
eine Strafe gegen den ermittelnden Jugendrichter. Diese
Entscheidung wurde vom obersten Gerichtshof bestätigt.
Seit diesem Zeitpunkt gibt es keine Nachricht des Min-
derjährigen. Am wahrscheinlichsten ist, dass er sich wie-
der auf dem Gelände der Kolonie befindet. Seine Eltern
sind zu keiner der weiteren Vorladungen durch das Ju-
gendgericht erschienen.
Unserer Auffassung nach bedürfte dieser Minder-
jährige eigentlich des Schutzes und der Hilfe einer Ein-
richtung mit entsprechenden therapeutischen Möglichkei-
ten. Stattdessen wurde er wieder in die Hände einer Sekte
gegeben, deren Aktivitäten darauf ausgerichtet scheinen,
die pädophilen Neigungen des Leiters zu befriedigen und
seine Straffreiheit sicherzustellen. Aussagen von Minder-
jährigen, denen es gelungen ist, die Kolonie zu verlassen,
belegen diesen Eindruck in bewegender und dramatischer
Weise.
An diese Erkenntnisse schließt sich die Frage an: Was
können wir jetzt tun, um den Opfern zu helfen? Was kön-
nen wir tun, um diesen unerträglichen Zustand fort-
währender Menschenrechtsverletzungen durch deutsche
Staatsbürger wirksam abzustellen?
Ich plädiere dafür, dass wir uns unserer Verantwortung
stellen, indem wir die chilenischen Behörden bei ihrem
Vorgehen gegen die kriminelle Führungsgruppe unterstüt-
zen. Es ist unbedingt erforderlich, deren kriminelle
Machenschaften weiter aufzuklären und damit eine Straf-
verfolgung zu ermöglichen. Deshalb schlagen wir die
Einsetzung einer bilateralen Expertenkommission vor.
Sie soll die konkreten Engpässe und Hemmnisse auf chi-
lenischer Seite identifizieren und Vorschläge erarbeiten,
wie diese auch mit deutscher Hilfe behoben werden
können. Davon, dass solche Blockaden vorhanden sind,
konnten wir uns in verschiedenen Gesprächen mit verant-
wortlichen Ermittlern und Politikern in Santiago überzeu-
gen. Die Colonia Dignidad ist ein fast übermächtiger
Gegner: Sie ist mit modernsten Radar- und Überwa-
chungssystemen ausgestattet. Es gibt unterirdische Anla-
gen, in denen Personen über längere Zeit versteckt wer-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119798
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den können. Die Zufahrt zur Kolonie liegt 36 Kilometer
von der nächsten Hauptverkehrsstraße entfernt. Ein unbe-
merkter Zugriff von Polizeikräften erscheint fast unmög-
lich. Die uns signalisierte Entschlossenheit der chileni-
schen Seite, gegen die Kolonie vorzugehen, resultiert
nicht zuletzt aus dieser Tatsache: Der chilenische Staat
verzichtet de facto auf die Ausübung seines Machtmono-
pols in einem nicht zu vernachlässigenden Teil seines Ter-
ritoriums. Eine bilaterale, ressortübergreifende Experten-
kommission wäre in der Lage, die bisher gesammelten
Erfahrungen und Informationen zu bündelnd. Bislang er-
folgten einzelne, zeitlich befristete und unkoordinierte
Maßnahmen gegen die Colonia Dignidad. Diese müssten
aufeinander abgestimmt und im Rahmen einer Gesamt-
strategie erweitert werden.
Im Mittelpunkt sollten dabei die Koloniebewohner ste-
hen. Ihre Isolation muss aufgehoben werden. Gleichzeitig
ist ihre psychologische Betreuung sicherzustellen. Wie
schon bei anderen Sekten zu beobachten war, kann kol-
lektiver Selbstmord nicht ausgeschlossen werden. Er
wäre die Reaktion auf eine vermeintliche Bedrohung
von außen. Es gibt sicherlich viele denkbare Post-Be-
freiungsszenarien, wie ich es nennen möchte. Die ange-
sprochene Expertenkommission muss gerade im Bereich
der psychologischen und psychosozialen Betreuung
äußerst leistungsfähig sein. Es müssen tragfähige Kon-
zepte dazu entwickelt werden, wie langfristig eine Re-
integration der Bewohner in die chilenische oder deutsche
Gesellschaft erreicht werden kann. Dieser Prozess wird
von längerer Dauer sein und unterstützend begleitet wer-
den müssen.
Die genannten Aufgaben sind nicht einfach, aber auch
nicht unlösbar. Es gibt in letzter Zeit viel versprechende
Entwicklungen, die mich zuversichtlich stimmen: Vor we-
nigen Wochen wurden von der französischen Justiz 15 in-
ternationale Haftbefehle gegen frühere chilenische Mi-
litärs und gegen Paul Schäfer erlassen. Im vergangenen
Juni hatte erstmals ein ehemaliges Mitglied des chileni-
schen Geheimdienstes unter Eid indirekt zugegeben, dass
politische Gefangene in die Colonia Dignidad verbracht
wurden, um sie dort zu ermorden. In wenigen Tagen wer-
den verschiedene Ermittlungsverfahren der chilenischen
Behörden gegen Schäfer und Komplizen abgeschlossen.
Insofern signalisiert unser Antrag zu einem günstigen
Zeitpunkt die deutsche Bereitschaft zu gemeinsamem
Handeln.
Im Zusammenhang mit den in New York und Wa-
shington verübten Terrorakten wird in diesen Tagen oft
das Bild eines Anschlags auf die zivilisierte Welt ange-
führt. Wir sollten uns dieser Bezeichnung als würdig er-
weisen. Dies ist im vorliegenden Fall mit verhältnismäßig
geringen Mitteln möglich. Lassen Sie uns die eingangs er-
wähnte Hoffnung der Angehörigen nicht enttäuschen und
das leidvolle Thema schonungslos aufarbeiten! Persön-
lich bin ich meiner SPD-, der Bündnis 90/Grünen- und der
FDP-Fraktion sehr dankbar, dass sie diesen Antrag er-
möglichten und mittragen.
Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Kaum einer un-
ter den hier Anwesenden wird in Zweifel ziehen, dass die
Colonia Dignidad, heute umbenannt in Villa Bavaria, ein
circa 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile ange-
siedeltes landwirtschaftliches Gut, einen eher unerfreuli-
chen Aspekt in den langen freundschaftlichen Beziehun-
gen zwischen Deutschland und Chile darstellt. Die
Colonia Dignidad, die 1961 unter dem Namen Sociedad
Benefactora Educacional Dignidad in Chile von ausge-
wanderten Sektenmitgliedern der Privaten sozialen Mis-
sion e.V. gegründet worden ist, hatte sich über die Jahr-
zehnte zu einem nicht unbedeutenden Wirtschaftsfaktor in
der südchilenischen Region Maule entwickelt. Reisanbau,
Salzproduktion, eine Großbäckerei, ein Wasserkraftwerk
sowie Steinbruchanlagen und Gold- und Titanminen sind
Beispiele für die dortigen teilweise sehr einträglichen
wirtschaftlichen Aktivitäten. Der wirtschaftliche Auf-
schwung der Colonia Dignidad wurde allerdings begleitet
von stetigen Vorwürfen gegen die Leitung der Colonia
Dignidad, insbesondere deren Chef namens Paul Schäfer,
die dort wohnenden circa 350 deutschen Koloniemitglie-
der zu entmündigen und auszubeuten sowie anvertraute
deutsche und chilenische minderjährige Jugendliche se-
xuell zu missbrauchen.
In Deutschland sind gegen die Colonia Dignidad di-
verse Ermittlungsverfahren eingeleitet worden auf
Grundlage von strafrechtlich relevanten Vorwürfen, die
von ehemaligen Angehörigen der Colonia Dignidad erho-
ben worden waren. Auch die Justiz in Chile ist nicht
untätig geblieben. 1991 wurde der Colonia Dignidad die
Rechtspersönlichkeit entzogen. Gegen den seit 1996 un-
tergetauchten Kolonieleiter Paul Schäfer liegt mittler-
weile sowohl ein deutscher als auch ein chilenischer Haft-
befehl wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen
vor. Hinzu kommen weitere 70 in Chile eingeleitete Straf-
und Zivilverfahren gegen Schäfer und sonstige Kolonie-
mitglieder. Letztes Jahr ist es der chilenischen Polizei so-
gar gelungen, mit Gerhard Mücke und Kurt Schellenkamp
die Nummern 2 und 3 in der Hierarchie der Kolonie fest-
zunehmen.
Nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
sind die Sachverhaltsbeschreibungen im hier zu debattie-
renden Antrag Schnelle Hilfe für die Opfer der Colonia
Dignidad der Regierungskoalition überwiegend zutref-
fend. Auch unsere Fraktion, sieht die Notwendigkeit, die-
ses gemeinsame dunkle Kapitel deutsch-chilenischer Ver-
gangenheit intensiv aufzuarbeiten und schnellstmöglich
darauf hinzuwirken, dass die Verantwortlichen zur Re-
chenschaft gezogen werden und den Opfern möglichst
bald eine Schadensgutmachung zukommt. Die CDU/
CSU-Fraktion wird den Antrag aber ablehnen, weil sein
Gesamttenor den nicht zutreffenden Eindruck eines un-
genügenden Engagements der chilenischen Regierung
und Justiz bei der Aufarbeitung des Colonia-Dignidad-
Unrechts vermittelt und damit die demokratisch legimi-
tierte chilenische Regierung unmittelbar vor den Parla-
mentswahlen Mitte Dezember in eine prekäre Lage
bringt, die einer weiteren Stabilisierung der Demokratie
in Chile nicht unbedingt dienlich sein kann.
Ich werfe dem Antrag vor, dass er zwar eine Reihe rich-
tiger Fakten nennt, andere genauso erwähnenswerte, die
chilenische Regierung und Justiz entlastende Fakten aber
unterschlägt. In diesem Zusammenhang verweise ich auf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19799
(C)
(D)
(A)
(B)
den im Antrag aufgeführten und sicherlich zutreffenden
Vorwurf gegen die Colonia Dignidad, während der Pino-
chet-Diktatur als Haft- und Verhörzentrum des chileni-
schen Geheimdienstes DINA gedient und für die Folte-
rung oder sogar Tötung von Regimegegnern zur
Verfügung gestanden zu haben. So wenig ich dies be-
streite, so wenig kann aber auch bestritten werden, dass
sich heutzutage die chilenische Regierung und Justiz in-
tensiv um eine Aufarbeitung der Verbrechen der Pinochet-
Ära bemühen. Chiles Justiz mag zwar noch so mancher
Reform bedürfen, doch der Umgang mit den Verbrechen
der Vergangenheit zeigt, dass sich die chilenischen
Richter aus dem Würgegriff Pinochets und der Militärs
gelöst haben. Präsident Lagos, immerhin der erste sozia-
listische Präsident Chiles nach dem gewaltsamen Sturz
von Präsident Salvador Allende im Jahre 1973, hat kon-
struktiv hierzu beigetragen, indem er das chilenische Mi-
litär immer wieder auf seinen Platz im Rechtsstaat ver-
wies. Viele Chilenen hoffen und erwarten nun, dass in den
kommenden Monaten und Jahren noch so mancher
Scherge des Diktators Pinochet für Entführung, Folter
und Mord ins Gefängnis kommen wird. Die Verfahren
laufen, und fast täglich kommen neue hinzu.
Auch darf nicht vergessen werden, wie erfolgreich,
aber mühsam die chilenische Demokratie seit dem Beginn
der 90er-Jahre für ihre Stabilisierung gekämpft hat. Und
der Übergang zu einer vollen Demokratisierung ist noch
nicht abgeschlossen. Denn noch immer gibt es aus dem
Erbe der Pinochet-Ära institutionelle Überbleibsel und
gesetzliche Privilegien, die insbesondere dem Militär
übermäßigen Einfluss im Staate gewähren. Auch wird die
Aufgabe der gegenwärtigen chilenischen Regierung da-
durch nicht leichter, dass die Diktatur mittlerweile über
ein Jahrzehnt zurückliegt und für viele junge Chilenen
kein Argument mehr dagegen ist, Politiker zu wählen, die
in Pinochets Unrechtsstaat wichtige Ämter bekleideten
oder zumindest die Diktatur als historische Notwendig-
keit rechtfertigen. Der Bonus ihrer demokratischen Ver-
gangenheit reicht für die demokratisch legitimierten Par-
teien der Mitte und der Linken nicht mehr aus, um Wahlen
in Chile zu gewinnen. Die Wiederwahlaussichten werden
auch dadurch nicht gerade verbessert, dass Chiles Wirt-
schaft momentan geringere Wachstumsraten als gewohnt
ausweist, die in erster Linie aus der Wirtschaftkrise im
Nachbarland Argentinien, aber auch aus sinkenden Welt-
marktpreisen fair das Hauptexportprodukt Kupfer sowie
der hohen Verschuldung des chilenischen Mittelstandes
resultieren.
Dementsprechend tun sich nun bereits erste Risse im
chilenischen Regierungslager auf, die ernste Befürchtun-
gen hinsichtlich eines Auseinanderbrechens der so ge-
nannten Concertacion aus Sozialdemokraten, Sozialisten
und christlichen Demokraten in absehbarer Zukunft auf-
kommen lassen. Damit steht die chilenische Regierungs-
koalition vor ihrer bislang schwersten Belastungsprobe.
Ich halte es daher für falsch, diese für Chiles Demokratie
höchst brisante Situation auch noch von außen aus dem
deutschen Ausland mit einem Antrag anzuheizen, der
nicht nur Chiles Verdienste in dieser Angelegenheit un-
genügend würdigt, sondern darüber hinaus für seine Ein-
bringung und Debattierung ein äußerst unglückliches Da-
tum gewählt hat. Im Übrigen komme ich nicht umhin, auf
die besondere politische Ironie hinzuweisen, dass die Op-
positionsfraktion der CDU/CSU hier im deutschen Bun-
destag gegenüber der rot-grünen Regierungskoalition für
mehr Verständnis zugunsten eines sozialistischen Präsi-
denten Chiles plädieren muss. Aber gerade zu diesem für
Chiles demokratische Zukunft so wichtigen Zeitpunkt
sollten wir parteipolitisches Geplänkel wirklich hintan-
stellen und in unserem Tun klare Prioritäten im Interesse
der chilenischen Demokratie und des chilenischen Volkes
setzen. Und diese Prioritätensetzung kann nur heißen: Zu-
erst die Stabilisierung der chilenischen Demokratie in den
Wahlen Mitte Dezember und dann ein Antrag aus dem
Deutschen Bundestag zum Thema Colonia Dignidad.
Denn das möchte ich nochmals ausdrücklich betonen:
Auch die CDU/CSU hat sich und wird sich auch weiter
nachdrücklich für eine Ausarbeitung, Ahndung und Wie-
dergutmachung der in der Colonia Dignidad begangenen
Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen einsetzen.
Ich hoffe, mit meiner Rede die außenpolitische Sensi-
bilität der rot-grünen Regierungskoalition so wachgeru-
fen zu haben, dass sie die mit ihrem Antrag verbundene
außenpolitische Problematik erkennt und ihn zurückzieht.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Auch wenn dieser Tage die Menschenrechte in
Afghanistan mehr Beachtung finden, dürfen wir diejeni-
gen in anderen Teilen der Welt nicht etwa vergessen. Dies
gilt auch für die Opfer der Colonia Dignidad in Chile.
Der Anführer der 1961 gegründeten Sekte, der Deut-
sche Paul Schäfer, sowie andere führende Mitglieder wer-
den sowohl in Chile als auch in Deutschland per Haftbe-
fehl gesucht. 70 Verfahren sind allein in Chile seit der
Wiedererlangung der Demokratie eingeleitet worden.
Hierbei geht es meist um sexuellen Missbrauch Minder-
jähriger, aber auch um andere Straftaten. Die Colonia
Dignidad schirmt sich nach außen hin ab, produziert alles
Lebenswichtige selbst und stellt sich der Öffentlichkeit
gegenüber als sozial engagierte Gemeinschaft dar.
Dennoch ist diese Fassade die reinste Farce: Dass die
Colonia Dignidad zu Zeiten Pinochets als Folterzentrum
für politische Gefangene diente und eng mit dem Regime
sowie mit dessen Geheimdienst DINA zusammenarbei-
tete, ist seit langem bekannt und wurde vor kurzem von
einem ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes be-
stätigt. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass Folter und
Misshandlungen sowie die totale Überwachung der Mit-
glieder der Colonia Dignidad zu den dort üblichen Me-
thoden gehören. Dennoch wurde Schäfer bei gelegentli-
chen Kontrollen der Colonia Dignidad nie gefunden, weil
er angeblich vor jeder Razzia einen Tipp von gut infor-
mierten Sympathisanten bekam. Seit 1996 ist Schäfer nun
endgültig untergetaucht, und die Aufklärung der Men-
schenrechtsverletzungen, die von Mitgliedern der Colo-
nia Dignidad begangen worden sind, gehörte mit weni-
gen löblichen Ausnahmen nicht gerade zu den
Lieblingsbeschäftigungen früherer konservativer Regie-
rungen.
Umso wichtiger ist es, jetzt die Chance zu nutzen, diese
Aufklärung unter der progressiveren Regierung von Prä-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119800
(C)
(D)
(A)
(B)
sident Lagos zu unterstützen, der eine intensivere Be-
schäftigung mit dem Problem angekündigt hat. Gerade
die deutsche Regierung sollte sich für diesen Fall beson-
ders verantwortlich fühlen, da es sich sowohl bei den Tä-
tern als auch bei den Opfern vorwiegend um deutsche
Staatsbürger handelt.
Daher ist unser Antrag, der neben der personellen und
technologischen Zusammenarbeit beider Länder in der
Aufklärung der Verbrechen die Einrichtung einer Arbeits-
gruppe zur Lösung des Problems sowie die Einrichtung
eines Fonds zur Unterstützung der Opfer der Colonia Dig-
nidad vorsieht, auch so wichtig. Damit soll vor allem die
kriminelle Führungsgruppe der Colonia Dignidad isoliert
und die Abhängigkeit der Koloniebewohner beseitigt
werden.
Ulrich Irmer (FDP): Es ist schon ein Trauerspiel, dass
wir uns 40 Jahre nach der Gründung der Colonia Dignidad
und trotz massiver Bemühungen diverser Bundesregie-
rungen, aber auch der chilenischen Seite hier immer noch
mit diesem Problem befassen müssen.
Nach wie vor befindet sich Paul Schäfer auf der Flucht,
nach wie vor sind die zum Teil massiven Menschen-
rechtsverletzungen und Straftaten im Wesentlichen un-
aufgeklärt und nach wie vor konnten Schäfer und seine
Komplizen bisher nicht zur Rechenschaft gezogen wer-
den. Schlimmer noch: Die Lebensverhältnisse innerhalb
der Colonia Dignidad sind nach diversen Berichten, unter
anderem von Amnesty International und den Vereinten
Nationen, weiterhin menschenrechtswidrig und auch die
Einrichtung diverser Untersuchungsausschüsse hat bis-
lang kaum Licht ins Dunkel bringen können.
Die großen Hoffnungen, die sich seit Anfang 2000 auf
die verstärkten Bemühungen der Regierung Lagos richte-
ten, haben sich bislang nicht erfüllt. Es ist daher dringend
an der Zeit, dass den Ankündigungen auch Taten folgen.
Selbstverständlich haben wir alle Verständnis dafür, dass
das Problem der Colonia Dignidad nur ein Teil der um-
fassenden Aufarbeitung des schrecklichen Erbes des
Pinochet-Regimes ist und daher nicht von heute auf mor-
gen gelöst werden kann.
Es kann jedoch nicht hingenommen werden, dass stän-
dig neue Ausschüsse eingesetzt werden, deren Schluss-
folgerungen dann letztlich aber ohne Konsequenzen blei-
ben. Dies gilt auch für die in unserem Antrag enthaltene
Forderung, eine Arbeitsgruppe Chile mit unabhängigen
bilateralen Experten einzusetzen, mit dem Ziel, in einem
Zeitraum von sechs Monaten ein Strategiepapier zur Lö-
sung des Problems zu erarbeiten. Strategiepapiere sind
zwar hilfreich, nur im Falle der Colonia Dignidad liegen
die Handlungsoptionen seit Jahren deutlich auf dem
Tisch. Es muss nur endlich einmal die politische Kraft ge-
funden werden, sie auch wirklich umzusetzen. Insofern
begrüßen wir, dass die Bundesregierung in dem Antrag
aufgefordert wird, dem Fall der Colonia Dignidad eine
höhere Priorität einzuräumen. Auch dies hatte sie bereits
mehrfach angekündigt, allerdings bis heute ohne nen-
nenswertes Ergebnis.
Es ist schon bemerkenswert, dass der Präsident der chi-
lenischen Parlamentskommission für Menschenrechte,
Jaime Naranjo Ortiz, die Bundesregierung vor wenigen
Monaten um mehr Unterstützung bei der Zerschlagung
der Colonia Dignidad gebeten hat. Neben politischen und
juristischen Initiativen erhofft sich Ortiz von der Bundes-
regierung Hilfe bei der Aufspürung versteckter Bunker-
systeme auf den Siedlungsgelände. Hierfür ist allerdings
nicht die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, sondern in ers-
ter Linie die Zur-Verfügung-Stellung technischer und fi-
nanzieller Ressourcen erforderlich. Die FDP-Bundestags-
fraktion hofft daher, dass mit diesem Antrag endlich
Bewegung in die verfahrene Situation gebracht werden
kann, sodass die von den menschenrechtswidrigen Zu-
ständen in der Colonia Dignidad betroffenen Menschen
endlich erlöst und ihre Peiniger der Justiz überstellt wer-
den können.
Carsten Hübner (PDS): Zunächst einmal möchte ich
den Einreichern dieses Antrags im Namen der PDS-Bun-
destagsfraktion ausdrücklich danken und damit gleichzei-
tig meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es im
Zusammenhang mit den Ausschussberatungen die Mög-
lichkeit gibt, daraus einen interfraktionellen Antrag zu
machen, der auch meine Fraktion einschließt. Wir teilen
sowohl die Intention als auch den Forderungsteil. Mit-
glieder meiner Fraktion haben sich wie viele andere
auch in den vergangenen Jahren für die lückenlose Auf-
klärung des Colonia-Dignidad-Komplexes engagiert und
wirksame Schritte zum Opferschutz und zur Eingrenzung
des Aktionsradius dieser kriminellen Vereinigung gefor-
dert. In diesem Sinne wären weitere, auch gemeinsame
parlamentarische Aktivitäten aus unserer Sicht nur zu be-
grüßen.
Erlauben Sie mir deshalb, mich nicht in Wiederholun-
gen des bereits Gesagten zu ergehen, sondern auf einige
Aspekte zu verweisen, die im vorliegenden Antrag noch
deutlicher beleuchtet werden müssten. Zum Beispiel: Wie
war es möglich war, dass der deutsche Ableger der Colo-
nia Dignidad, der Verein Private Soziale Mission, trotz
der massiven Vorwürfe gegen Paul Schäfer und die Colo-
nia in der Bundesrepublik über viele Jahre steuerbegüns-
tigt weiterarbeiten konnte? Auch halte ich es für durchaus
klärungsbedürftig, welche Unterstützung die Colonia in
den letzten 40 Jahren aus der Bundesrepublik erhalten hat,
trotz massiver Menschenrechtsverletzungen, Foltervor-
würfen und der engen Zusammenarbeit mit der
Pinochet-Diktatur und dem chilenischen Geheimdienst
DINA. Bis heute halten sich Informationen, dass es bis in
konservative Kreise der Bundesrepublik hinein Protek-
tion für dieses Projekt gegeben hat, etwa von Vertretern
der Hanns-Seidel-Stiftung. Allein schon vor dem Hinter-
grund, dass Parteien und ihre Stiftungen in erheblichem
Maße mit Steuergeldern arbeiten, sollten diese Vorwürfe
vorbehaltlos aufgeklärt werden.
Auch nach dem Sturz Pinochets gibt es einflussreiche
Kreise in Chile, die kein Interesse an einer Klärung des
Colonia-Dignidad-Komplexes haben. Umso wichtiger ist
es, all jene zu unterstützen, die Klarheit über den Verbleib
ihrer Angehörigen begehren, die diesen Staat im Staate
auflösen wollen und auf eine konsequente Strafverfol-
gung drängen. Die Bundesrepublik muss dabei ein aktiver
Partner sein. Die Täter waren Deutsche, ein Teil der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19801
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Opfer auch. Lange Zeit kam ideologische und finanzielle
Unterstützung direkt aus unserem Land, während sich die
etablierte Politik und die deutsche Diplomatie mit Blick
auf die Menschenrechtsverletzungen nicht gerade mit
Ruhm bekleckert haben. Wir sind also dringend angehal-
ten, mit einem deutlichen Votum des Bundestages sowohl
zur Aufklärung als auch zur Aufarbeitung beizutragen.
Am Ende dieses Prozesses, der selbstverständlich nur in
enger Kooperation mit den Verantwortlichen und Betrof-
fenen in Chile umzusetzen ist, kann, ja darf nur eines ste-
hen: Die restlose Abwicklung der Colonia Dignidad!
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Der Antrag der Fraktionen der SPD und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit einer erschütternden,
bedauerlicherweise aber zutreffenden Feststellung: Der
Fragenkomplex der früher unter dem Namen Colonia
Dignidad bekannten, heute unter dem Namen Villa Ba-
varia agierenden Gruppe beschäftigt die Bundesregie-
rung bereits seit den 60er-Jahren. Das ist eine sehr lange
Zeit, in der wie vielfach berichtet wird in der Colonia
Dignidad schwere Verbrechen begangen wurden und vie-
len Opfern von Paul Schäfer mit Mitwissen seiner Helfer
großes Leid zugefügt wurde. Bevor ich auf die an die
Bundesregierung gerichtete Aufforderung aus dem vor-
liegenden Antrag eingehe, lassen Sie mich daher drei
Grundsätze der Haltung der Bundesregierung erläutern:
Erstens. Oberste Priorität gilt der Hilfe für die Opfer.
Dazu zählen zunächst einmal Angebote der konsulari-
schen Betreuung soweit sie von den Angehörigen der
Villa Bavaria angenommen werden können. Darüber hi-
naus wurden in der Vergangenheit Vorkehrungen getrof-
fen, um im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten je-
dem Willigen beim Ausstieg aus der Villa Bavaria
Hilfestellung zu leisten. Ich möchte nicht im Einzelnen
auf diese Maßnahmen eingehen, einmal aus datenschutz-
rechtlichen Gründen, aber auch, um die Wirksamkeit der
Maßnahmen nicht aufs Spiel zu setzen. Bei dieser Gele-
genheit möchte ich aber die ausdrückliche Anerkennung
der Bundesregierung für die teils unter dramatischen Um-
ständen nach Deutschland zurückgekehrten Opfer aus-
sprechen, die sich im Flügelschlag e.V. zusammenge-
schlossen haben und auch heute für die Freiheit und
Würde derjenigen kämpfen, die sich noch nicht dem Bann
des Paul Schäfer haben entziehen können.
Zweitens. Paul Schäfer und seine Helfer werden wei-
ter strafrechtlich gesucht, nach ihnen wird weiterhin ge-
fahndet. Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen,
muss aber doch an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigt
werden, Die Straftaten, die Paul Schäfer bereits zu der
Zeit zur Last gelegt wurden, als er sich noch in Deutsch-
land aufhielt, datieren auf die 50er- und 60er-Jahre
zurück. Vieles davon ist verjährt. Paul Schäfer und seine
Helfer haben ihr Unwesen jedoch in Chile fortgesetzt. Zu-
treffend hält der Antrag daher unter Ziffer 11 fest, dass ein
nachhaltiges deutsches Interesse an der Ahndung der auf
chilenischem Boden an deutschen Staatsbürgern began-
genen Straftaten fortbesteht.
Drittens. Da die Colonia Dignidad heute die Villa Ba-
varia seit 40 Jahren in Chile agiert, ist es selbstver-
ständlich in erster Linie Aufgabe der chilenischen Behör-
den, sich mit der Kolonie, wie sie sich heute darstellt, aus-
einander zu setzen. Diese Feststellung ist keineswegs als
eine Relativierung der Bemühungen der Bundesregierung
zu verstehen sondern im Gegenteil als eine Klarstellung
der Verantwortlichkeiten, die notwendig ist, um die wei-
tere energische Aufarbeitung des in der Colonia Dignidad
begangenen Unrechts sicher zu stellen. Dazu darf hinzu-
gefügt werden dass die chilenische Seite diese Einschät-
zung teilt. Soweit man eine derartige Feststellung in die-
sem traurigen Zusammenhang treffen kann, ist auf ein
großes Vertrauen hinzuweisen, dass die chilenischen
Behörden auch das chilenische Parlament in dieser
Angelegenheit Deutschland entgegenbringen. Es besteht
ein vertrauensvoller Dialog, in den im Übrigen auch bei
Wahrung der erforderlichen Vertraulichkeit Mitglieder
des Bundestage einbezogen worden sind. Wo kritische
Stimmen laut werden, geht es darum, die Zusammenarbeit
und die Unterstützungsmaßnahmen zu verstärken. Inso-
fern ist die Einleitung des vorgelegten Antrages zu relati-
vieren, die von einer Belastung des deutsch-chilenischen
Verhältnisses durch die Colonia Dignidad spricht. Die
Bundesregierung tut das ihr Mögliche, um die chileni-
schen Bemühungen zu unterstützen, Paul Schäfer habhaft
zu werden und seinen Opfern zu helfen.
In diesem Sinne begrüßt die Bundesregierung den An-
trag. Sie versteht die an ihre Adresse gerichtete Aufforde-
rung gleichzeitig als eine Bestärkung all derer, die sich
auch 40 Jahre nach der Errichtung der Colonia Dignidad
in Chile für die Menschen einsetzen, denen von Paul
Schäfer fortgesetzt Unrecht zugefügt wurde und weiterhin
zugefügt wird. Die Bundesregierung ist auch in Zukunft
bereit, Anregungen aufzunehmen, wie der Aufarbeitungs-
prozess von deutscher Seite unterstützt und verbessert
werden kann. Die Bundesregierung begrüßt die Anre-
gung, eine unabhängige, aus Experten zusammengesetzte
Arbeitsgruppe mit deutscher Beteiligung in Chile einzu-
setzen und wird diesen Vorschlag an die chilenische Seite
herantragen. Sie schließt sich der Zielsetzung an, An-
gehörigenbesuche zu ermöglichen, eine unzensierte Zu-
stellung der Post und ungehinderten Kontakt zur Außen-
welt zu gewährleisten sowie freiwillige Gespräche mit
Psychotherapeuten und Sektenexperten anzubieten und
die kriminelle Führungsgruppe der Kolonie vom Rest der
Gruppe zu isolieren. Die Bundesregierung ist bereit, den
bereits geführten Dialog mit der chilenischen Seite über
eine personelle und technologische Unterstützung bei der
Aufklärung des Gesamtkomplexes der Colonia. Dignidad
zu intensivieren. Sie möchte sich an dieser Stelle bei den
Mitgliedern des Bundestages bedanken, die sich bei Be-
suchen in Chile gegenüber den jeweiligen Gesprächspart-
nern ebenfalls für eine energische Aufarbeitung des ge-
samten Tatkomplexes eingesetzt haben.
Hinsichtlich der Einrichtung eines Fonds zur Finanzie-
rung von Hilfs- und Reinintegrationsmaßnahmen wird die
Bundesregierung gemäß vorliegender Aufforderung in
zwölf Monaten denn Bundestag berichten. Die Prioritä-
tensetzung im Bundeshaushalt ist dabei eine gemeinsame
Verantwortung von Bundestag und Bundesregierung.
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Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bildung einer Leit-
stelle für Seesicherheit (Tagesordnungspunkt 12)
Annette Faße (SPD): Die Vermeidung von Schiffska-
tastrophen steht für uns im Mittelpunkt eines praxisge-
rechten Sicherheitskonzepts. Nicht zuletzt die durch die
Havarien der Pallas, der Erika vor der bretonischen
Küste oder der Baltic Carrier ausgelösten Umweltkata-
strophen haben uns deutlich vor Augen geführt, dass
Schiffsunfälle verhindert werden müssen, bevor es zu
Schäden durch Ladung oder Treibstoff kommt.
Vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt und der
EU-Osterweiterung ist auch weiterhin mit einer Zunahme
des Schiffsverkehrs zu rechnen. Dies muss nicht zwangs-
läufig auch eine Zunahme von Unfällen bedeuten. Den-
noch: Unfälle, die auf menschliches oder technisches Ver-
sagen oder höhere Gewalt zurückzuführen sind, lassen
sich auch mit dem perfektesten Sicherheitssystem nicht
hundertprozentig ausschließen.
Der Bundesverkehrsminister hat aber mit der umfas-
senden Neukonzeption der Maritimen Notfallvorsorge
Maßnahmen eingeleitet, die wesentlich dazu beitragen
werden, das Schiffssicherheitskonzept zu optimieren. Ich
möchte dem Ministerium an dieser Stelle insbesondere
auch als Betroffene, als Küstenbewohnerin meinen aus-
drücklichen Dank für die effektive und erfolgreiche Ar-
beit in diesem Bereich aussprechen.
Meine Damen und Herren von der Union, im Gegen-
satz zu Ihnen haben wir unsere Hausaufgaben gemacht.
Im Falle eines schweren Seeunfalls ist ein zügiges, ef-
fektives und kompetentes Eingreifen unbedingt erforder-
lich. Hier zumindest scheinen wir einer Meinung zu sein.
Mit der Errichtung eines Havariekommandos wird dies
gewährleistet und zwar auch ohne eine Änderung des
Grundgesetzes. Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das
Havariekommando so schnell wie möglich seine Arbeit
aufnehmen kann. Überflüssige Grundgesetzänderungen
würden den Prozess der Optimierung des Sicherheitskon-
zepts nur unnötig verlängern.
Ich bin schon etwas verwundert, wenn Sie uns mit der
Errichtung des Havariekommandos hier eine Alibi-Ak-
tion unterstellen und plötzlich vehement eine Zusam-
menfassung der bisher getrennten Aufgabenzuordnung
von Bund und Ländern einfordern. Wenn Ihnen das so
wichtig ist, frage ich mich allerdings, warum Sie das nicht
angegangen sind, als Sie die Gelegenheit dazu hatten. Zeit
genug dazu hatten Sie.
Dass Sie es nicht taten, liegt wohl daran, dass Sie die
bestehende Struktur für vollkommen ausreichend hielten.
Dies können Sie gerne in der Antwort der alten Bundes-
regierung auf die Kleine Anfrage Sicherheit in der Deut-
schen Bucht V Drucksache 13/11453 nachlesen. Dort
heißt es: Die bestehende Einsatzleitungsstruktur hat sich
bei der Bekämpfung von Unfallfolgen und den regel-
mäßig durchgeführten Übungen bewährt. Also erzählen
Sie uns bitte nicht, das geplante Havariekommando sei
unzureichend.
Im Übrigen setzen wir mit dem Havariekommando im
Konsens mit den Küstenländern zentrale Empfehlungen
der Grobecker-Kommission um. Die Umweltorganisation
Greenpeace hat das Sicherheitskonzept der Bundesregie-
rung insbesondere auch im Hinblick auf die Maßnahmen
in der Ostsee als einen wichtigen Schritt begrüßt.
Die Einsatzzentrale des Havariekommandos wird ein
in 24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes Maritimes Lage-
zentrum sein, das aus dem Bereich der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den Wasser-
schutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut wird. Dort
laufen alle notwendigen Informationen zusammen.
Der Leiter des Havariekommandos übernimmt die
Führung des Einsatzes, wobei er von Arbeitsstäben für
Schadstoff- und Brandbekämpfung, Verletztenversor-
gung, Bergung und Öffentlichkeitsarbeit beraten wird.
Für den Einsatz kann er allen notwendigen Kräften des
Bundes und der Küstenländer, zum Beispiel der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung, den Feuerwehren, den
Schleppern und den Ölbekämpfungsschiffen, Einsätze er-
teilen und Einsatzabschnitte einrichten.
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
und die Bundesmarine werden vollständig in die Arbeit
des Havariekommandos integriert.
Da der konkrete Einsatzfall hoffentlich künftig der ab-
solute Ausnahmefall bleibt, wird unter dem Dach des Ma-
ritimen Lagezentrums ein Kompetenzzentrum für alle
Fragen der maritimen Unfallbekämpfung eingerichtet.
Darin werden alle bisherigen Aufgaben wie der Zentrale
Meldekopf oder die Sonderstellen zur Schadstoffbekämp-
fung aufgehen. Für die Schiffsbrandbekämpfung gibt es
dann erstmals eine zentrale Stelle.
Seinen Sitz wird das Havariekommando in Cuxhaven
haben. Mich als zuständige Bundestagsabgeordnete für
den Wahlkreis Cuxhaven freut mich dies natürlich beson-
ders, aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass Cuxha-
ven der geeignetste Standort für das Havariekommando
ist.
Für Cuxhaven sprechen eindeutig fachliche Gründe.
Die entsprechende Infrastruktur sowie ein Grundstock an
Fachpersonal ist bereits vor Ort. Das entsprechende Per-
sonal der Wasserschutzpolizeien kann zudem schnellst-
möglich nach Cuxhaven entsendet werden.
Cuxhaven ist demnach auch die kostengünstigere Vari-
ante. Nicht zuletzt konnte sich Cuxhaven bereits bei der
Koordinierung der Bergungsarbeiten der Pallas be-
währen.
Der künftige Leiter des Havariekommandos Hans-
Werner Monsees ist zurzeit dabei, das Havariekommando
in Cuxhaven aufzubauen. Voraussichtlich wird es noch im
kommenden Jahr seine Arbeit aufnehmen können.
Neben dem Havariekommando ist die Vorhaltung aus-
reichender Schleppkapazität ein elementarer Bestandteil
eines optimalen Sicherheitskonzepts. Ich habe es sehr be-
grüßt, dass seit Anfang des Monats erstmals rechtzeitig
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vor der anstehenden Schlechtwetterperiode auch in der
Ostsee zwei Notschlepper in Rostock und Kiel stationiert
sind.
Für die Nordsee ist der Chartervertrag der Oceanic
weiter verlängert worden. Auf Dauer wird es jedoch ne-
ben den Mehrzweckschiffen Mellum und Neuwerk
einen starken Hochseeschlepper mit mindestens 160 Ton-
nen Pfahlzug geben, der langfristig ausgeschrieben wird.
Ziel ist es, ein verunglücktes Schiff innerhalb von zwei
Stunden auf den Haken zu nehmen.
Die Empfehlungen der Expertenkommission Havarie
Pallas werden Schritt für Schritt nachhaltig umgesetzt.
Das beweist die dargestellte Neukonzeption der Notfall-
vorsorge. Ich bin sicher, dass mit der Umsetzung Bilder
von verschmutzten Küstenstreifen, wie wir sie unter an-
derem von den Havarien der Pallas und der Baltic Car-
rier noch in Erinnerung haben, endgültig der Vergangen-
heit angehören.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Pallas
brennt: Bergungsdrama vor Amrum, Ölpest im Watt:
Verzweifelter Kampf ums Paradies und Fall ,Pallas
entwickelt sich zum Skandal, so lauteten die Presse-
schlagzeilen vor drei Jahren. Erinnern wir uns: Es waren
damals dramatische Stunden, als am 25. Oktober 1998 die
Pallas vor der dänischen Küste in Brand geriet. Ein See-
mann starb. Die dänische Küstenwache lehnte es mangels
Schlepperkapazität ab, die Pallas nach Esbjerg zu ber-
gen. In den nächsten Tagen driftete die Pallas auf die
deutsche Nordseeküste zu und havarierte vor Amrum.
Erst 20 Tage nach dem Ausbruch des Brandes wurde mit
den Löscharbeiten begonnen.
Trotz des lebensgefährlichen und aufopferungsreichen
Einsatzes der Rettungsmannschaften und trotz der Tatsa-
che, dass mit der Pallas kein Supertanker, sondern le-
diglich ein Holzfrachter mittlerer Größe in Seenot geriet,
waren die ökologischen Auswirkungen der Havarie ver-
heerend. Das austretende Öl führte zum Tod von circa
12 000 Seevögeln und zur teilweisen Zerstörung des emp-
findlichen Ökosystems Deutsches Wattenmeer. Als
Folge war auch der wichtigste Wirtschaftszweig der Re-
gion der Tourismus durch Einnahmeausfälle schwer
geschädigt.
Wie reagierten die Verantwortlichen auf diesen Seeka-
tastrophenfall? Die Situation war gekennzeichnet von
fehlender Koordination zwischen deutschen und däni-
schen Behörden, mangelnder Kooperation zwischen Bun-
des- und Landesbehörden und unzureichender Zusam-
menarbeit der Landesbehörden untereinander. Mit einem
Satz: Es herrschte Chaos. Hauptursache waren struktu-
relle Defizite, die Menschen vor Ort haben ihr Bestes ge-
geben.
Wie sieht es heute, drei Jahre danach, aus? Noch im-
mer ist der See-Katastrophen-Einsatz auf fünf Bundesmi-
nisterien verteilt und in jedem einzelnen der fünf Küsten-
länder auf jeweils vier Landesministerien. Noch immer
gibt es keine einheitliche Führung. Noch immer existiert
ein Nebeneinander von Bundes- und Landesbehörden.
Noch immer steht die Bundesmarine abseits. Auch im-
merhin drei Jahre nach dem Seeunfall mit der Pallas hat
es bis auf administrative Änderungen keine wirkliche
Strukturverbesserung gegeben. Unmittelbar nach dem
Unfall wurde eine Vorkommission zur Ursachenermitt-
lung eingesetzt, später die so genannte Grobecker-Kom-
mission. Diese wurde dann abgelöst durch eine inter-
ministerielle Projektgruppe. Ein offensichtlicher Fall
von: Und wenn ich mal nicht weiter weiß, dann gründ
ich einen Arbeitskreis.
In den letzten zehn Jahren kam es zu mehreren
100 Schiffsunfällen in Nord- und Ostsee, 20 alleine in
dem nur 50 Quadratkilometer großen Bereich der Kadet-
rinne. Sie ist eine der meistbefahrenen Schifffahrtswege
in der Ostsee. Täglich passieren drei bis vier Tanker, dazu
circa fünf Massengutfrachter diese Strecke, jährlich etwa
50 000 Schiffe. Die Kadetrinne hat teilweise nur eine
Tiefe von 18 Metern, was sie extrem risikoreich für tief
liegende 100 000-Tonnen-Tanker macht. Da es sich um
ein internationales Gewässer handelt, gibt es hier weder
eine Lotsannahmepflicht, noch eine Radarüberwachung,
noch ist es ein Verkehrstrennungsgebiet.
Die Gefahr einer Ölpest ist täglich gegeben, wie das
Tankerunglück mit der Baltic Carrier vom 29. März
dieses Jahres zeigte. Auf unsere Anfrage vom 27. Februar
des Jahres, also einen Monat vor dem größten Ölunfall in
jüngster Zeit, antwortete die Bundesregierung unter ande-
rem, für die Kadetrinne bestehe aufgrund geltender inter-
nationaler Regeln derzeit keine Lotsannahmepflicht, aller-
dings ist die Möglichkeit einer freiwilligen Lotsannahme
gegeben. Und weiter: Man habe in dieser Frage die Ein-
richtung einer Arbeitsgruppe beschlossen. Diese Hand-
lungsansätze reichen unserer Meinung nach nicht aus. Es
sind kurz- und mittelfristige Maßnahmen zur Verringe-
rung des Risikos notwendig, ein Konzept zu mehr Ost-
seesicherheit noch in dieser Wintersturmsaison, das über
eine maritime Notfallvorsorge hinausgeht.
Noch immer ist Handlungsbedarf gegeben. Deshalb
hat die Union immer wieder ihre Forderung auf die
Tagesordnung gebracht: Wir brauchen eine nationale
Küs-tenwache! , weil wir im Falle eines Unfalls kurze
Reaktionszeiten benötigen, weil wir eine straffe, alle
Kompetenzen umfassende Organisation brauchen, weil
alle an der Rettung Beteiligten nach einheitlichen
Grundsätzen handeln müssen und weil die Handelnden
als Team aufeinander eingespielt sein müssen und nicht
erst im Falle eine Havarie kurzfristig zusammengerufen
werden können.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben mit
dieser Zielrichtung einer konsequenten unmittelbaren
See-Katastrophen-Abwehr zahlreiche Initiativen einge-
bracht. Das gilt auch für die CDU/CSU-Landtagsfraktio-
nen in Kiel und Schwerin. Als Berliner Maßnahme sind zu
erwähnen die Große Anfrage der Union von 1999 mit dem
Titel Schaffung einer deutschen Küstenwache, die
Kleine Anfrage aus dem Jahr 2000 Sicherheits- und Not-
fallkonzept für Nord- und Ostsee sowie der heutige De-
battenantrag mit der Initiative Bildung einer Leitstelle
für Seesicherheit. Daneben gab es zahlreiche parlamen-
tarische Maßnahmen zu Detailfragen der Seesicherheit.
Die Regierung aber verhielt sich bei diesem Druck der
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Opposition wie der sprichwörtliche Berg, der nach lan-
gem Kreißen eine Maus gebar. Das jetzt von Kurt
Bodewig vorgestellte Havariekommando ist ein zaghafter
Anfang auf dem Wege zu einer nationalen Küstenwache.
Eine Lösung der anstehenden Aufgaben ist es nicht. Das
Havariekommando steht nur in einem konkreten Havarie-
fall unter einheitlicher Führung, eine ständige Einrichtung
mit einem eingespielten Team ist es nicht. Kontraproduk-
tiv ist das Abseitsstehen von Zoll, BGS und Bundesma-
rine, so Kritiker von der Küste.
Olaf Hellwinkel, der Vorsitzende des Nautischen Ver-
eins, macht zum Beispiel darauf aufmerksam, dass effek-
tiver Küstenschutz nur unter Einbeziehung der SAR-Hub-
schrauber, Ölaufklärungsflugzeuge und Ölauffangschiffe
der Bundesmarine möglich ist. Andere Experten der
Küste schließen sich dieser Kritik an. Im Fall einer neuen
Seekatastrophe kann noch nicht effektiv genug gerettet
werden. Der Vorstandssprecher der Schutzgemeinschaft
Deutsche Nordseeküste, Hans von Wecheln, befürchtet,
dass durch das Fehlen von BGS und Zoll in Havariekom-
mandos in der Praxis eine neue Stabsebene neben der Küs-
tenwache aufgebaut wird. Im Havariefall müssten dann
auf dieser Ebene getroffene Entscheidungen wiederum
koordiniert werden. Ressortdenken hat die Bereitschaft
zur Konzentration aller Kräfte in einer Hand zu einer
Führung eingebremst.
Nimmt man von den Schleppern bis hin zu den Öl-
bekämpfungsschiffen allein die Boote des Bundes zusam-
men, kommt man auf fast 100 Schiffe. Noch immer gel-
ten für den Einsatzverbund Küste zwei Zentren: Neustadt
für die Ostsee, Cuxhaven für die Nordsee. Der Bundes-
rechnungshof hat, wie auch der Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages, die Bundesregierung mehrfach
auf die Notwendigkeit der Konzentration aller Seedienste
hingewiesen, auch aus fiskalisch-ökonomischen Überle-
gungen. Das Management aller Boote aus einer Hand im
Krisenfall wurde als Zielmarke herausgestellt.
Handlungsdruck kommt auch von der EU-Kommis-
sion und durch das Europäische Parlament. Die EU will
eine europäische Küstenwache. Deutschland kann aber
diesem Erfordernis nur dann entsprechen, wenn es zuerst
einmal eine nationale See- und Küstenwache schafft. Auf
ihrer Konferenz am 20./21. Dezember 1999, wenige Wo-
chen nach dem Erika-Unfall vor der Bretagne, hat die
Kommission deutlich gemacht, dass man eine einheitliche
Schiffsicherheitsbehörde, ein Amt für Seesicherheit, mit
Kompetenzen im Katastrophenfall benötigt. Leider ver-
ringert sich die Umsetzungsbereitschaft kluger Ideen mit
dem zeitlichen Abstand zum vorangegangenen Unglück.
Delegiert von den beteiligten Behörden wird im Kata-
strophenfall beim Havariekommando auch nur auf Zeit.
Die Abgabe von Kompetenzen kann kurzfristig widerru-
fen werden. Auch wechseln die verantwortlichen Perso-
nen erst im Notfall ihre Position unter das Dach des Kom-
mandos. Eine Kontinuität der Zusammenarbeit ist trotz
vorgesehener Trainingsperioden nicht gegeben. Es fehlt
ein Unfallmanagement aus einem Guss mit klaren Zu-
ständigkeiten, einheitlicher Führung und dem Recht des
direkten Zugriffs auf alle Einheiten. In drei Jahren sind
keine wirklichen Entscheidungen getroffen worden, weil
sie in unserem föderalen Zuständigkeitswirrwarr offen-
sichtlich auch gar nicht zu treffen sind. Deshalb muss die
Bundesregierung in diesem Punkt endlich für eine Neu-
ordnung der Zuständigkeiten sorgen. Notwendig dafür ist
eine Grundgesetzänderung. Zu diesem Schluss kommt
auch das Gutachten der Universität Rostock, welches im
Auftrag der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpom-
mern erstellt wurde.
Es ist unsere Aufgabe als Parlament, das aufzugreifen,
was unter anderem der Schleswig-Holsteinische Landtag
unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokra-
ten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor zweiein-
halb Jahren beschlossen hat. Dort wurde, wie dieses Jahr
in Schwerin, eine Grundgesetzänderung, eine einheitliche
Lösung beim Seekatastrophenschutz gefordert. Diese An-
regungen aus Kiel und Schwerin, fachlich und sachlich
begründet, sind nicht aufgegriffen worden. Sicher, eine
Viertel-Lösung ist besser als keine. Doch wenn jetzt die
Winterstürme einsetzen und Sturmfluten das Bild der
Nordsee kennzeichnen, ist ein möglicher optimaler
Schutz für Mensch, Meer und Küste nicht gegeben. In un-
serem Nachbarland, dem Königreich Dänemark, hat es
nur wenige Monate gedauert, um ein neues Konzept zur
See-Katastrophen-Abwehr vorzulegen, das die dänische
Marine einschloss. Wenn jetzt der blanke Hans seine
Krallen zeigen sollte und Boote so in Bedrängnis bringt,
dass eine Katastrophe möglich wird, müssen sich die Ver-
antwortlichen fragen lassen, warum sie nicht klar, konse-
quent und zügig gehandelt haben. Es hat offensichtlich bei
drei verschiedenen Ministern, die es in diesem Ressort ge-
geben hat, an Führungs- und Verantwortungsbereitschaft
gefehlt, zum Schaden eines See-Unfallschutzes aus einem
Guss.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Schutz unserer Küsten ist nicht nur aus Um-
weltschutz-Aspekten dringend geboten. Die Küsten sind
auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, das gilt für Nieder-
sachsen und Schleswig-Holstein genauso wie für Meck-
lenburg-Vorpommern. Der wichtigste Schutz für unsere
Küsten muss Prävention sein. Daran arbeiten wir.
Trotzdem wird immer ein Restrisiko bleiben, es gibt
keinen hundertprozentigen Schutz vor Unfällen. Was wir
aber tun können, ist eine Reduzierung des kalkulierbaren
Risikos. Dies nicht zu tun wäre fahrlässig.
Eine Änderung des Grundgesetzes brauchen wir dafür
allerdings nicht. Und wir wollen sie auch nicht, insbeson-
dere nicht in der Form, wie jetzt von CDU/CSU vorge-
schlagen. Aufschlussreich für die Ziele, die die CDU mit
diesem Antrag verfolgt, sind zwei parlamentarische Vor-
gänge aus dem Jahr 1999: zum einen die mündliche Frage
des Kollegen Börnsen Einrichtung einer nationalen Küs-
tenwache nach dem amerikanischen Vorbild der Coast
Guard (Drucksache 14/306) und die Große Anfrage der
CDU Schaffung einer deutschen Küstenwache (Druck-
sache 14/1229). Diese Anfrage besteht etwa zur Hälfte aus
Fragen, die mit Küstenschutz nichts zu tun haben, aber die
Richtung weisen, in die die CDU offensichtlich denkt. Es
geht darin um Kriminalitätsbekämpfung, Drogen und
die Umsetzung des Schengener Abkommens, also das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19805
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Aufspüren oder Verfolgen von Flüchtlingen. Ihr Vorbild
ist die US Coast Guard, bei der Umweltschutz nur ein
Punkt unter vielen ist. Es geht Ihnen bei der CDU also um
die Durchsetzung ordnungsrechtlicher und sonstiger
Ziele. Das machen wir nicht mit.
Ich möchte neben dieser grundsätzlichen Kritik an dem
vorliegenden Antrag der CDU/CSU noch auf einen Punkt
eingehen: CDU/CSU schlagen vor, im Katastrophenfall
innerhalb der Leitstelle alle Kompetenzen zusammenzu-
fassen. Der Katastrophenfall ist eindeutig im Katastro-
phenschutzgesetz definiert, um Sicherheit, Ordnung und
Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Die von
CDU/CSU vorgeschlagene Leitstelle wäre bei der Pal-
las nicht zum Einsatz gekommen! Die Pallas war nach
Definition keine Katastrophe. Die Neukonzeption eines
Havariekommandos der Bundesregierung übernimmt ihre
Aufgaben dagegen bereits da, wo es um die Abwehr einer
Katastrophe geht.
Die Bundesregierung hat in den letzten drei Jahren in-
tensiv an der Verbesserung des Küstenschutzes gearbeitet.
Eine Reihe von Arbeitsgruppen prüft die Vorschläge der
Grobecker-Kommission und haben zu vielen Punkten
auch bereits konkrete Maßnahmen vorgelegt. Dazu zählt
auch der sehr konkrete Vorschlag zur Einrichtung eines
Havariekommandos, mit dem eines der großen strukturel-
len Probleme nach der Havarie der Pallas nämlich das
Kompetenzgerangel durch die Bündelung der Entschei-
dungsstrukturen behoben werden soll. Bei schweren See-
unfällen wird das neu zu errichtende Havariekommando
unter der Leitung eines Bundesbeamten eine einheitliche
Einsatzleitung über alle infrage kommenden Einsatz-
kräfte des Bundes und der Länder sichern. Dessen Kern
ist ein in 24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes maritimes
Lagezentrum. Es wird aus dem Bereich der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den Wasser-
schutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut. Dort werden
zukünftig alle relevanten Informationen zusammenlau-
fen. Bei einer Havarie übernimmt der Leiter des Havarie-
kommandos die Führung des Einsatzes.
Die Konzeption des Havariekommandos ist Ihnen be-
kannt. Die Verhandlungen mit den Küstenländern zur
Umsetzung dieser Neukonzeption eines Havariekomman-
dos laufen zurzeit. Ich wünsche mir, dass es schnellst-
möglichst zu Einigungen kommt. Die grundgesetzlich
festgeschriebenen Bundes- und Landeszuständigkeiten
werden bei diesem Konzept gewahrt, die Gefahrenabwehr
im See- und Küstenbereich bleibt gemeinsame Aufgabe
von Bund und Ländern. Und genau darum, nämlich den
Schutz unserer Küsten an Nord- und Ostsee, geht es. Und
um nichts anderes.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Drei Jahre nach
dem Pallas-Unglück in der Deutschen Bucht hat die Bun-
desregierung endlich konkrete Maßnahmen zur Verbesse-
rung des Küstenschutzes ergriffen. Immer wieder hat die
FDP-Bundestagsfraktion in Kleinen Anfragen und Anträ-
gen die Bundesregierung gedrängt, konsequent und
schnell an der Umsetzung der Empfehlungen der Exper-
tenkommission zur Aufarbeitung des Pallas-Unfalls zu ar-
beiten. Dabei war es immer unser Ziel, drei Dinge für den
Küstenschutz zu erreichen: erstens die Einrichtung eines
Havariekommandos, zweitens die Zusammenfassung der
Seedienste des Bundes BGS, Zoll, Fischereiaufsicht und
WSV zu einer Seewache unter dem Kommando eines Ha-
variekommandos und drittens die Bereitstellung ausrei-
chender Notschleppkapazitäten.
Angesichts der jetzt ergriffenen Maßnahmen der Bun-
desregierung halte ich den vorliegenden Antrag der
CDU/CSU Fraktion für teilweise überholt. Ein Teil der
geforderten Maßnahmen sind ja nun endlich umgesetzt
worden. In Cuxhaven soll im nächsten Jahr ein zentrales
Havariekommando eingerichtet werden. Die dafür nöti-
gen Planstellen sind bereits vom Bundesministerium für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen beantragt worden.
Diese Entscheidung war überfällig. Aber leider ist sie
nicht in der nötigen Konsequenz ausgefallen. Die Emp-
fehlung der Expertenkommission zur Einrichtung einer
Seewache unter dem Kommando des Havariekommandos
will die Bundesregierung nämlich nicht umsetzen. Diese
Empfehlung war den Küstenländern besonders wichtig,
doch die Bundes-SPD war nicht bereit, auf die SPD-ge-
führten Länderregierungen zu hören. Die Ablehnung die-
ser Empfehlung ist nicht nachzuvollziehen. Ich stimme
dem Deutschen Nautischen Verein Nordfriesland zu, des-
sen Vorsitzender Hellwinkel am Dienstag erklärt hat, Res-
sorteitelkeiten und Einflussverlustängste beim Zoll und
beim BGS-See dürften nicht über dem Allgemeinwohl
und über dem Postulat einer sparsamen, Synergiechancen
nutzenden Haushaltsführung stehen. Eine Zusammenfas-
sung aller maßgeblichen Kräfte zu einer See- oder Küs-
tenwache unter dem Kommando des Havariekommandos
könnte nachhaltig das Unfallmanagement stärken. Auch
das Beispiel Schweden zeigt dies.
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich
die Entscheidung der Bundesregierung, die Notschlepp-
kapazitäten in der Nord- und Ostsee deutlich zu erhöhen
und doppelt so viele Mittel hierfür bereitzustellen. Ich
kann nur nicht verstehen, wieso die Bundesregierung sich
mit diesem Schritt drei Jahre Zeit ließ. Ich habe aber große
Zweifel, ob die Beschränkung der Ausschreibung des
neuen Hochseeschleppers für die Deutsche Bucht auf
sechs Meter Tiefgang der Entwicklung des Handels-
schiffbaus wirklich gerecht wird. Hier sollte man die Vor-
schläge des Nautischen Vereins und der Schutzgemein-
schaft Deutsche Nordseeküste ernsthaft prüfen, die
Ausschreibung zu erweitern. Auch nicht unerwähnt lassen
will ich hier, dass ich das Postulat des BMVBW für nicht
nachvollziehbar halte, dass das neue Schadstoffbekämp-
fungsschiff für die Ostsee hoheitliche Aufgaben zu erfül-
len habe und deshalb nicht privat bereedert werden könne;
hier wird die FDP-Fraktion noch initiativ werden.
Der CDU/CSU-Antrag ist in der vorliegenden Form
also nicht mehr ganz zeitgemäß, gibt uns aber die Gele-
genheit, im Ausschuss die von der Bundesregierung er-
griffenen und angekündigten Maßnahmen kritisch zu
überprüfen.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Der Antrag der CDU/
CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, in einer
zentralen Leitstelle die Zuständigkeiten für Seesicherheit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119806
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zu bündeln und ihr auch die Wasserpolizei und den Zoll
zu unterstellen. Wir halten diesen Antrag für voreilig, teil-
weise für überholt und in seinen zentralistischen Tenden-
zen für verfehlt.
Ohne Zweifel hat die Havarie der Pallas diverse
Mängel in der Notfallvorsorge auf See offen gelegt. Dies
wurde festgehalten im Bericht der Unabhängigen Exper-
tenkommission Havarie Pallas, der dem Bundesminis-
ter für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am 16. Februar
2000 als so genannter Grobecker-Bericht vorgelegt
wurde. Dieser Bericht enthält bereits Vorschläge für einen
umfangreichen Maßnahmekatalog. Das Bundesverkehrs-
ministerium geht davon aus, dass die in diesem Bericht
vorgeschlagenen Maßnahmen ganz oder weitgehend um-
gesetzt werden können. Ein Zwischenbericht, der auf den
31. Oktober datiert ist, soll in Kürze veröffentlicht wer-
den. Sein Inhalt wurde am 6. November 2001 in Rostock
auf einem Workshop Experten vorgestellt. Er soll unter
diesen auf weit gehende Zustimmung gestoßen sein.
Grundsätzlich glauben wir, dass die Ursache für man-
gelhafte Rettungsaktionen bei Katastrophen und Havarien
nicht primär die bisherige Struktur der Notfallvorsorge ist.
Vielmehr mangelt es an einer optimalen Koordinierung,
an der Ausstattung der unterschiedlichen Einrichtungen
für eine solche Koordination, an der Bereitstellung von
adäquaten Rettungs- und Notfallkapazitäten und an der
sofortigen Verfügbarkeit dieser Kapazitäten.
Die alltäglichen Aufgaben von Zoll und Wasserpolizei
haben mit der Notfallversorgung bei Schiffshavarien
nicht viel zu tun. Ein Zusammenführen der hier vorhan-
denen Kapazitäten ist in Fällen von Katastrophen sinnvoll
und möglich. Die generelle Zuordnung dieser Kapazitäten
zu einer Leitstelle und die entsprechende Änderung des
Grundgesetzes erscheint uns jedoch zu weitreichend,
nicht zielführend und teilweise kontraproduktiv.
Wir gehen davon aus, dass im Verlauf der Beratung
dieses Antrags in den Ausschüssen, insbesondere im Aus-
schuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, und in der
Aufarbeitung des zitierten Zwischenberichts zu den
Folgen des Pallas-Unglücks mit seinem Maßnahmeka-
talog es möglich sein wird, zu einem sinnvolleren Beitrag
in Sachen Katastrophenschutz an der Küste und auf See
zu gelangen.
Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Bei
der Durchsicht Ihres Antrages werden Sie festgestellt ha-
ben, dass er insgesamt nicht mehr auf dem aktuellen Stand
der Diskussion zur Optimierung der maritimen Notfall-
vorsorge ist. Das hat sich in der letzten Woche auf der
zweiten Nationalen Maritimen Konferenz in Rostock ge-
zeigt. Die Ergebnisse waren eindeutig.
Ihrem Anliegen, der Optimierung der Leitung des Not-
fallmanagements bei Seeunfällen, entsprechen wir mit der
Bildung des Havariekommandos. Wie Sie wissen, haben
sich Bund und Küstenländer im Rahmen des Projekts
Maritime Notfallvorsorge auf ein Konzept für das Ha-
variekommando geeinigt. Damit ist der politische Wille
eindeutig dokumentiert. Wir sind dabei, das Kommando,
für das wir die Zustimmung weiter Kreise der Fachöf-
fentlichkeit erhalten haben, im nächsten Jahr einzurich-
ten. Noch in diesem Jahr wird der entsprechende Aufbau-
stab mit seinen Arbeiten beginnen. Uns war und ist
wichtig, dass zur Einrichtung des Havariekommandos
weder das Grundgesetz noch einfache Bundesgesetze
geändert werden müssen, sondern Bund/Länder-Verein-
barungen ausreichen.
Hinsichtlich der von Ihnen geforderten Zusammenfas-
sung der Zuständigkeiten der Vollzugsbehörden auf See
kann ich nur Folgendes feststellen: Mit dem Koordi-
nierungsverbund Küstenwache wird bereits heute ein
System des optimalen Einsatzes der vorhandenen Res-
sourcen praktiziert. Eine Fortentwicklung dieser Zusam-
menarbeit wäre denkbar, wenn auch die Vollzugsbehörden
der Küstenländer intensiver in den Koordinationsprozess
einbezogen werden könnten. Dazu haben die Bundesres-
sorts den Innenressorts der Küstenländer einen Vorschlag
unterbreitet, mit dem durch Bildung eines Kooperations-
verbandes aller mit Vollzug auf See befassten Bundes-
und Landesbehörden auch ohne Grundgesetzänderung
eine erhöhte Effektivität erreicht werden könnte und dem
Anliegen des Beschlusses des Antrages von Schleswig-
Holstein vom November 1999 entsprochen werden
könnte.
Die Diskussionen und die Arbeiten seit der Havarie der
Pallas haben eines doch deutlich gezeigt: Wir alle stre-
ben den nachhaltigen Schutz der Meere und Küsten an.
Die Bundesregierung bemüht sich erfolgreich auf allen
Ebenen um hohe Sicherheitsstandards für die Schiffe und
ein effektives Management für den Notfall. Für den Fall,
dass trotz aller genannten Vorsorgemaßnahmen eine Ha-
varie eintreten sollte, wurden als Konsequenz aus der
Pallas-Havarie die Alarmpläne grundlegend überarbei-
tet. Ihre Optimierung ist ständige Aufgabe. Für die Si-
cherheit unserer Küsten ist die Bildung des einheitlichen
Havariekommandos beschlossen. Damit ist künftig ge-
währleistet, dass in einem Notfall innerhalb von zwei
Stunden der Einsatzort erreicht werden kann. Gleichzei-
tig bauen wir die Notschleppkapazitäten in Nord- und Ost-
see aus. In der Ostsee das ist eine wichtige Neuerung
werden wir zukünftig auch von staatlicher Seite Not-
schleppkapazität vorhalten. Auch hier werden wir für die
gesamte Küste Einsatzzeiten von maximal zwei Stunden
realisieren. In der vergangenen Woche wurden in einem
ersten Schritt Notschlepper für Kiel und in Warnemünde
einsatzfähig bereitgestellt. Dazu kommt eine speziali-
sierte Eingreiftruppe zum Absetzen an Bord eines Hava-
risten.
Zudem werden die Einsatzmittel zur Bekämpfung ei-
ner Havarie beträchtlich ausgebaut. Wir haben eine Flotte
von Mehrzweckschiffen, die neben ihren Seezeichenauf-
gaben modernste Technik zur Schadstoffbekämpfung vor-
halten und überwiegend auch für Notschleppaufgaben
einsetzbar sind.
Die Suche und Rettung von Schiffbrüchigen ist in den
bewährten Händen der Deutschen Gesellschaft zur Ret-
tung Schiffbrüchiger und soweit Lufteinsätze erforder-
lich sind der Marine.
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Seit vorletzter Woche ist auch das elektronische Schiffs-
erkennungssystem, die so genannte AIS-Transponder in
Rostock-Warnemünde, in Betrieb.
Außerdem konnten wir international die Stilllegung
von Ein-Hüllen-Tankern beschleunigen.
Bei einer Havarie kommt es darauf an, dass Zustän-
digkeiten und Kommunikationswege klar definiert sind,
einwandfrei arbeiten und dass ein Unfallmanagement aus
einer Hand gewährleistet ist. Dafür werden wir gemein-
sam mit den Küstenländern das Havariekommando ein-
richten, das im nächsten Jahr von Cuxhaven aus seine
Tätigkeit aufnehmen wird. Die hierfür erforderlichen Ver-
einbarungen zwischen Bund und Küstenländern stehen
vor dem Abschluss.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Den Tourismus im
ländlichen Raum nachhaltig stärken (Tagesord-
nungspunkt 13)
Brunhilde Irber (SPD): Wir haben mit diesem Antrag
zwei Themenfelder in Angriff genommen: den Tourismus
im ländlichen Raum und die Debatte um die Nachhaltig-
keit. Die Nachhaltigkeit ist natürlich nicht nur auf den
ländlichen Raum beschränkt, sondern sie muss alle Be-
reiche des Tourismus erfassen. In der Fläche ist aber eine
besondere staatliche Verantwortung gegeben. Aus dem
Verfassungsgebot der Vergleichbarkeit der Lebensver-
hältnisse in ganz Deutschland ergibt sich die Pflicht, die
Entwicklung im ländlichen Raum zu unterstützen. Da sich
das Kundenverhalten im Tourismus weitestgehend den
staatlichen Eingriffen oder der Steuerung entzieht, setzen
wir bei der Attraktivität der Ziele an. Wir wollen den Ur-
laub auf dem Lande in der Qualität und im Umfang des
Angebots verbessern.
Die Pflege der Naturlandschaften und die Erwirtschaf-
tung von Erträgen aus der Naturnutzung lag in der Ver-
gangenheit überwiegend bei den Bauern. Der Struktur-
wandel in der Landwirtschaft hat die Landschaftsnutzung
und somit auch die Landschaftspflege beschränkt. Das
durchschnittliche Einkommen der Landwirte und ihrer
Betriebe hat sich verschlechtert. Als Folge müssen sich
Betriebe nach ergänzenden Einkommen umsehen.
Wir wollen mit dem Antrag die Bedingungen für die
Betriebe verbessern und die Qualität des Tourismus auf
dem Lande nachhaltig anheben.
Worüber reden wir? Natürlich über den Urlaub auf dem
Bauernhof, aber auch über das Angebot von kleinen Pen-
sionen und Privatzimmern im ländlichen Raum. Die
Fähigkeit der Landwirte, das Kultur- und Naturerbe in den
ländlichen Räumen zu erhalten und dort, wo es verloren
gegangen ist, die Ursprünglichkeit wieder herzustellen,
gilt es zu unterstützen.
Als Beispiel dafür, was passiert, wenn das nicht ge-
lingt, sei einmal Mallorca genannt. Da das Einkommen
der Olivenbauern niedriger liegt als das durchschnittliche
Einkommen in den anderen Berufen, geben viele Bauern
ihren Hof auf. Bald wird Mallorca ohne Olivenhaine sein
ein unschätzbarer Verlust für den Tourismus. Der Tou-
rismusminister von Mallorca hat uns eindringlich auf
diese besorgliche Entwicklung in Mallorca hingewiesen.
Eine solche Entwicklung darf bei uns nicht entstehen.
Wir sind aber auch in der Situation, dass immer mehr
insbesondere Familien einen Urlaub auf dem Lande an-
streben, laut Institut für Tourismus und Bäderforschung in
Nordeuropa 6,9 Millionen Menschen, dass also die Nach-
frage steigt. Dem wachsenden Bedürfnis wollen wir ge-
recht werden. Tourismus auf dem Lande bedeutet auch
Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbil-
dungsplätzen sowie eine positive Wirtschaftsentwick-
lung. Er beugt der Landflucht vor. Er schafft berufliche
Perspektiven für die Jugend. Dies sind Punkte, die weit
über das Thema Urlaub auf dem Bauernhof und Erholung
hinausgehen.
Nach dem Abbau der militärischen Streitkräfte in
Deutschland also der Bundeswehr und der Alliierten und
dem Wegfall der zivilen Nachfrage dieser Streitkräfte ist
dieser Antrag auch ein Beitrag zur Konversion. Der
Tourismus kann die ausgefallene Nachfrage in diesen ehe-
mals militärisch genutzten Regionen kompensieren.
Ich möchte noch auf eine Forderung hinweisen, die mir
besonders am Herzen liegt: Wir wollen mit einem Mo-
dellprojekt die Zusammenführung von Internetangeboten
für diese Urlaubsform unter einem Dachportal und in ver-
schiedener sprachlicher Ausrichtung anstoßen. Die Ver-
marktung über das Internet ist gerade in diesem Segment
von besonderer Bedeutung. Wir haben eine klare Ziel-
gruppe, ein gut geordnetes Angebot und eine bislang
schwächelnde Vermarktung. Das Internetportal ist die
richtige Lösung für dieses Problem.
Ich sehe nicht, dass die Opposition diesem Antrag et-
was Vergleichbares entgegensetzen kann. Überhaupt
scheint sich die Opposition in dieser Legislaturperiode
darauf zu beschränken, den schlechten Eindruck in Bezug
auf die DZT-Finanzierung aus der vergangenen Legisla-
turperiode auszugleichen. Das reicht aber für eine kon-
struktive Tourismuspolitik nicht aus.
Annette Faße (SPD):Im Deutschlandtourismus ge-
winnen der Urlaub auf dem Bauernhof und der Landur-
laub immer mehr an Bedeutung. Seit 1986 zeigt diese
Sparte einen anhaltend positiven Trend.
Der Bauernhof- und Landtourismus sichert Arbeits-
plätze und Einkommen in und außerhalb der Landwirt-
schaft. Besonders in Zeiten des Strukturwandels in der
Agrarlandschaft und vor dem Hintergrund der BSE-Krise
ist dieses zusätzliche Einkommen für viele Landwirte not-
wendig. Auf der anderen Seite hilft der Bauernhoftouris-
mus, ein Stück des verloren gegangenen Vertrauens des
Verbrauchers in die Landwirtschaft zurückzugewinnen.
Etwa 20 000 landwirtschaftliche Betriebe bieten Ur-
laub auf dem Bauernhof an. Bei dieser Urlaubsform woh-
nen die Gäste auf dem Bauernhof, im Gegensatz zum Lan-
durlaub, bei dem die Gäste in Landpensionen wohnen, die
nicht an einen landwirtschaftlichen Betrieb gebunden
sind.
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Die Zahl der Übernachtungen ist in den letzten zehn
Jahren im Landtourismus von 12 Millionen auf 27 Milli-
onen gestiegen. Der Anteil des Urlaubs auf dem Bauern-
hof an den gesamten Übernachtungen ist von 0,8 Prozent
auf 5,5 Prozent gestiegen. Bislang bildeten Familien mit
Kindern den größten Anteil aller Bauernhofreisenden mit
45 Prozent.
Da neun von zehn Bauernhofreisen als Haupturlaubs-
reisen unternommen werden, stärken sie die Nachfrage
am Urlaubsort deutlich. Im Jahr 1999 wurden mit dem
Bauernhof- und Landurlaub 972 Millionen DM erwirt-
schaftet.
Urlaub auf dem Bauernhof und Landurlaub sind be-
liebt, weil es Landschaft und Natur pur gibt, der persönli-
che Kontakt zu den Gastgebern geschätzt wird, die oft in-
habergeführten Familienbetriebe Einblicke in die Arbeits-
und Lebensweise auf dem Land geben, vor Ort landwirt-
schaftliche Produkte gekauft werden können, die Gastge-
ber auf die Wünsche ihrer Gäste individuell eingehen und
Sportaktivitäten oder lokale Veranstaltungen anbieten
oder darauf hinweisen. So sind viele Bauernhof- und
Landtouristen zu Stammkunden geworden.
Von besonderer Bedeutung für den Tourismus im länd-
lichen Raum sind die zahlreichen Schutzgebiete unter-
schiedlichster Kategorien. Sie geben diesem Wirtschafts-
zweig vielfältige Impulse, die unter anderem auch eine
wirtschaftliche Saisonverlängerung ermöglichen. Beson-
ders Naturparks haben neben den Naturschutzaufgaben
die Entwicklung eines naturverträglichen Tourismus zum
Ziel. In mehreren Biosphärenreservaten gibt es ein Pro-
jekt jobmotor, das regionale Vermarktung, Urlaub auf
dem Bauernhof und anderes mehr miteinander verknüpft.
Urlaub auf dem Bauernhof wird vom Bundesministe-
rium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft und im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Ver-
besserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes
gefördert. Jährlich werden rund 260 Millionen DM Bun-
des- und Landesmittel unter anderem für Maßnahmen der
Infrastrukturverbesserung, des Erhalts ortsprägender
Bausubstanz und für Umnutzungsinvestitionen einge-
setzt. Damit sollen letztendlich die Dörfer touristisch at-
traktiver werden.
Im Tourismuspolitischen Bericht 2000 hat die Bundes-
regierung bezogen auf den Zweig Urlaub auf dem Bau-
ernhof/Urlaub auf dem Land festgestellt, dass das
grundsätzliche Interesse an dieser Urlaubsform (...) nicht
vollständig in konkrete Nachfrage um(ge)setzt (wird).
Die Tourismusverbände sind sich darin einig, dass mit dif-
ferenzierten Angeboten und einer zielgruppenspezifi-
schen Vermarktung der Anteil dieser Sparte am Gesamt-
reiseaufkommen noch gesteigert werden. kann.
Grundlage hierfür ist allerdings zunächst eine aussage-
kräftige Datengrundlage. Sie ermöglicht es denAnbietern,
Entwicklungen und Trends zu erkennen, ihr Angebot auf
die Nachfrage auszurichten und gezielt auf die Wünsche
der Touristen zu reagieren. Bisher fehlt eine einheitliche
Datengrundlage. In der Beherbergungsstatistik werden
nur Betriebe mit mehr als acht Betten erfasst. Im Touris-
muspolitischen Bericht geht man davon, aus, dass 50 Pro-
zent der Betriebe nicht berücksichtigt werden. In einer
vom Institut für Tourismus und Bäderforschung in Nord-
europa (N.I.T.) durchgeführten Auswertung der Reiseana-
lyse 1999 geht man von einem Potenzial von 6,9 Millionen
Personen aus, die sich für den Bauernhofurlaub interessie-
ren. Des Weiteren sind gemeinsame Werbe- und Marke-
tingaktivitäten der Verbände nötig, beginnend bei einem
professionellen lnternetauftritt. Mit dem Kompetenzzen-
trum in Worms steht auch für Veranstalter von Bauernhof-
und Landtourismus professionelle Beratung für die Ein-
führung von E-Commerce zur Verfügung. In den Bereich
der Werbeaktivitäten fällt auch die Prüfung eines bundes-
weit einheitlichen Werbe- und Hinweisschildes für den
Bauernhof- und Landtourismus. Nur so können Touristen
die oft abseits gelegenen Heuhotels, Hofcafes und
Bed & Box- Angebote überhaupt finden.
Ein weiteres Thema ist die Umnutzung leer stehender
landwirtschaftlicher Gebäude. Ferienwohnungen auf dem
Bauernhof können bereits als mitgezogene Nutzungen im
Rahmen der Privilegierungen für landwirtschaftliche Ge-
bäude nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB eingerichtet werden.
Ihre Zahl ist nicht begrenzt, sondern abhängig von ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung im Verhältnis zur Hauptnut-
zung; die mitgezogene Nutzung muss von untergeordne-
ter Bedeutung sein. Eine Überprüfung des § 35 halte ich
für sinnvoll.
Urlaub auf dem Bauernhof und Landurlaub bilden be-
reits jetzt ein wichtiges Segment im Deutschlandtouris-
mus. Hier ruht noch ein großes Potenzial, das wir mobili-
sieren können und sollten. Damit sichern wir Tourismus
und Landwirtschaft in Deutschland nachhaltig.
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich fühle mich dem
Thema Tourismus im ländlichen Raum gleich in
zweifacher Hinsicht verbunden: zum einen aufgrund
meiner früheren Tätigkeit als Parlamentarischer
Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium und zum
anderen dadurch, dass in meinem Wahlkreis Landtouris-
mus, insbesondere Urlaub auf dem Bauernhof, ganz groß
geschrieben wird. Mein Wahlkreis liegt in Bayern, dem
Land, in dem 1999 bei Urlaub auf dem Bauernhof 27 Mil-
lionen Übernachtungen gezählt wurden. Dies ist ein An-
teil von 37 Prozent. Auch im letzten Jahr haben wieder
rund 1 Million Gäste Urlaub auf über 7 000 bayerischen
Bauernhöfen verbracht.
Diese Zahlen belegen es: Der bäuerliche Gästebetrieb
ist längst nicht mehr nur ein Hobby der Bäuerin, sondern
ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor. Was vor über
hundert Jahren als Sommerfrische begann, hat sich
mittlerweile zu einem beachtlichen Tourismuszweig mit
hoher Attraktivität entwickelt. Dank Urlaub auf dem
Bauernhof können heute viele landwirtschaftliche Be-
triebe ihre Existenz sichern und unter bestimmten Um-
ständen eine echte Zukunftsperspektive für den Hofnach-
folger bieten. Ohne diese Perspektive hätten in den letzten
Jahren wahrscheinlich noch mehr Landwirte endgültig
die Flinte ins Korn geworfen.
Was ist der Grund für die wachsende Beliebtheit des
Landtourismus? Es ist wohl in erster Linie die Nähe zur
Natur und zu den Tieren auf dem Bauernhof, die Ruhe und
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eine gepflegte, abwechslungsreiche Kulturlandschaft mit
der Möglichkeit zu umweltverträglichen Freizeitakti-
vitäten. Gerade der Wechsel von Äckern und Wiesen,
Streuobstbeständen und Weinbergen, Wald und Ge-
wässern macht den Reiz einer Landschaft aus. Unsere
Landschaften wurden in jahrhundertelanger Arbeit von
der Land- und Forstwirtschaft geschaffen und geformt.
Die Pflege dieser Landschaften ist Voraussetzung dafür,
dass der ländliche Raum als Urlaubsort attraktiv bleibt.
Die Landwirte erbringen diese Leistung; eine Leistung,
die noch immer nicht die verdiente Beachtung findet und
nur unzureichend honoriert wird.
Es ist davon auszugehen, dass das grundsätzliche In-
teresse an dieser Urlaubsform immer noch größer ist als
die konkrete Nachfrage. Laut einer Umfrage würden
12 Prozent aller Deutschen gerne einmal Urlaub auf dem
Bauernhof machen, aber nur 4 Prozent nutzen diese
Möglichkeit. Um dies zu ändern, müssen Idee, Konzept
und Angebot vom Urlaub auf dem Bauernhof stetig der
Nachfrage entsprechend weiterentwickelt werden, ohne
jedoch das vom Urlaubsgast gewünschte bäuerliche
Ambiente zu verlieren. Ein bisschen Stallgeruch gehört
einfach dazu.
Große Chancen sehe ich auch in einer Spezialisierung
der Betriebe auf bestimmte Zielgruppen. Wie so etwas
aussehen kann, zeigt sich etwa in Ostbayern. Hier bieten
264 Betriebe ein auf Familien mit Babys und
Kleinkindern, Angler, Reiter, Radler und Golfer abge-
stimmtes Angebot an. 67 Betriebe sind vom Kneipp-Bund
anerkannte Gesundheitshöfe oder Regionale Netzwerk-
partner im Gesundheitsmarkt. Den Erfolg solcher
Spezialangebote belegen folgende Zahlen: Während die
spezialisierten Betriebe 200 Übernachtungen pro Bett und
Jahr verbuchen, zählen nicht spezialisierte Höfe lediglich
146 Übernachtungen. Durch eine solche Nischenstrate-
gie kennt der Anbieter die Wünsche und Erwartungen
seiner Zielgruppe genau und kann sein Angebot dem-
entsprechend gestalten. Die deutlichen Zuwächse im
Deutschlandtourismus sind der Beweis: Orientierung am
Kunden bringt Aufschwung!
Natur erleben in Deutschland wird im Interna-
tionalen Jahr des Ökotourismus 2002 ein zentrales Thema
bei der DZT sein. Wo könnte man die Natur besser erleben
als beim Urlaub auf dem Bauernhof?
Das Potenzial der am Landtourismus interessierten
Urlauber müssen wir künftig noch stärker nutzen. Endlich
haben das auch die Kollegen von der Regierungskoalition
erkannt und das Thema wieder auf die Tagesordnung ge-
bracht. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Es wäre allerdings
besser gewesen, Sie hätten in Ihren Antrag nur halb so
viele Forderungen hinein geschrieben und dafür das Kind
beim Namen genannt. Sie reißen zwar alles an; im Detail
bleiben Sie aber konkrete Lösungen schuldig. Zum
Beispiel beim Thema Umnutzung von bestehenden land-
wirtschaftlichen Gebäuden. Hier fordern Sie, die Bun-
desregierung solle prüfen, inwieweit durch Änderungen
des Baugesetzbuches die Umnutzungsmöglichkeiten im
Hinblick auf eine bessere wirtschaftliche Nutzung erwei-
tert werden können. Die Bundesregierung soll aber nicht
nur prüfen, sie soll etwas tun. Von Ihnen erwarte ich
konkrete Vorschläge zur Änderung des Baugesetzbuches.
Davon, dass die Bundesregierung Möglichkeiten prüft,
hat der Landwirt, der zum Beispiel seine alte Scheune zur
Unterbringung von Urlaubsgästen nutzen will, gar nichts.
Ziel muss es sein, die bestehende zum Teil historische
Bausubstanz zur Nutzung zu erhalten. Eine weitere Zer-
siedlung der Landschaft ist zu verhindern.
Wir sind uns alle darüber einig, dass eine Verbesserung
der Daten- und Informationsgrundlage im Bereich Urlaub
auf dem Bauernhof und Landtourismus dringend er-
forderlich ist. Das wurde spätestens bei der öffentlichen
Anhörung zum Thema Landtourismus in Deutschland
auf der Grünen Woche im Januar dieses Jahres deutlich.
Ich verstehe aber nicht, warum Sie in Ihren Antrag die
Forderung nach einer Studie über das Verbraucherverhal-
ten und die Verbrauchererwartungen aufgenommen
haben. Denn erst im September hat sich die Bundesar-
beitsgemeinschaft Urlaub auf dem Bauernhof (BAG)
mit ihrer Initiative Marktforschung an das Bundes-
landwirtschaftsministerium gewandt. Sie beantragt darin
die Förderung einer Studie über das Angebots- und Leis-
tungsspektrum der Betriebe sowie über die gegenwärti-
gen und zukünftigen Erwartungen der Gäste. Ich will
doch nicht hoffen, dass Sie mit Ihrem Antrag die Be-
mühungen der BAG aushebeln wollen.
Ihr Antrag enthält ohne Zweifel auch gute Ansätze. Ich
bin gerne bereit, das anzuerkennen. Während Sie sich hier
für die Landwirte stark machen, legen Sie Ihnen an an-
derer Stelle aber neue Steine in den Weg. Bestes Beispiel
ist die Neufassung des Bundesnaturschutzgesetzes. Die
erzwungene Neueinrichtung von Hecken und Saumstruk-
turen ist für die betroffenen Bauern mit großen fi-
nanziellen Belastungen verbunden: Nach Berechnungen
der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen belaufen
sich die Kosten für die Anpflanzung von 2 000 Meter
Hecke auf 20 000 DM und die Pflege in den ersten fünf
Jahren verschlingt weitere 20 000 DM. Dies passt nicht
zusammen. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Touris-
mus, die Sie den Bauern mit Ihrem Antrag verschaffen
wollen, ziehen Sie ihnen also auf der anderen Seite wieder
aus der Tasche.
Den Landwirten, die Urlaub auf dem Bauernhof an-
bieten, wird ohnehin viel abverlangt. Die Gäste wollen
einerseits aktiv betreut werden, andererseits aber auch den
Bauern bei ihrer alltäglichen Arbeit über die Schulter
schauen. Auf den Urlaubshöfen ist also quasi jeden Tag
Tag der offenen Tür. Dafür, dass viele Landwirte diese
zusätzliche Belastung gerne auf sich nehmen, verdienen
sie unsere Anerkennung. Sie tragen durch ihr Engagement
entscheidend zur Verständigung von Stadt- und Land-
bevölkerung bei. Gerade seit der BSE-Krise ist es beson-
ders wichtig, das Vertrauen der Verbraucher in die Land-
wirtschaft wiederzugewinnen. Das eigene Erleben der
Produktion von Lebensmitteln durch die Urlauber kann
dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn
man einmal von den freundlich blökenden Schafen, grun-
zenden Schweinen und laut schnatternden Gänsen ab-
sieht, ist es auf dem Land sehr ruhig. Deswegen zieht es
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119810
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immer mehr Touristen dort hin. Auf dem Land fällt es
leicht, Alltagsstress und Hektik hinter sich zu lassen. Das
erkennen immer mehr Menschen.
Innerhalb von zehn Jahren sind die Zahlen in diesem
Bereich um weit mehr als das Doppelte angestiegen. Rund
20 000 Landpensionen und -hotels erfreuen sich immer
größerer Beliebtheit. Touristen, die nicht gern auf Matrat-
zen ihre Nachtruhe finden, werden auf Bauernhöfen
ebenso fündig. Ihnen bietet sich vorausgesetzt sie leiden
nicht unter Heuschnupfen die Möglichkeit, ihren
Schlafsack im Stroh auszubreiten.
Landtourismus ist individuell, vielfältig und attraktiv.
Mit dem vorliegenden rot-grünen Antrag ist es uns einmal
mehr gelungen, dazu beizutragen, dass der ohnehin sehr
beliebte und sehr vielfältige Deutschlandtourismus im
Bereich des ländlichen Raumes noch bessere Rahmenbe-
dingungen erhält. Der Deutschlandtourismus wird noch
anziehender und interessanter. Obwohl unser Maßnahme-
paket der Opposition traditionsgemäß nicht ausreichend
sein wird, ist festzustellen, dass die rot-grüne Koalition
einmal mehr Deutschland als Reiseland voranbringt.
Gerade in dieser Zeit, in der viele Menschen durch den
Terror verunsichert sind und Angst vor dem Verreisen ha-
ben, weichen viele Menschen auf Reiseziele in Deutsch-
land aus. Und natürlich verspürt man in dieser Zeit noch
stärker das Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit. Kaum
eine Sparte kommt diesem Bedürfnis mehr entgegen als
der Landtourismus.
Landtourismus ist erholsam, abwechslungsreich und
umweltschonend. Längst wissen nicht mehr nur Familien
die günstige Gelegenheit zu schätzen. Menschen jeden
Alters lassen mittlerweile auf dem Bauernhof oder in ei-
ner Landpension die Seele baumeln. Leider kann man der-
zeit noch nicht im Detail sagen, wer denn eigentlich diese
Zielgruppe sei, an die es sich speziell zu wenden gilt.
Dies wird sich baldmöglichst mittels diverser im An-
trag verankerter Maßnahmen ändern. Die Übernach-
tungsdaten werden künftig umfangreicher und detaillier-
ter erfasst werden. Des Weiteren wird sich eine Studie mit
den Verbrauchererwartungen der Touristen im ländlichen
Raum beschäftigen, Angebot und Nachfrage müssen
schließlich aufeinander abgestimmt werden. Anbieter und
Tourismuspolitiker werden aus dieser Studie entspre-
chende Schlüsse ziehen können und dem Bauernhof- und
Landtourismus neue Impulse geben. Diese Maßnahme
wird sich lohnen, denn aus vielen Landtouristen werden
Stammkunden. Männer und Frauen, ob allein oder als Fa-
milie, kehren gern auf den Bauernhof zurück.
Doch mit der oben angesprochenen Seelenmassage der
Touristen allein ist es im Urlaub noch nicht getan. Man
kann schließlich nicht nur von Luft und Liebe leben. Gau-
menfreuden spielen eine ebenfalls im wahrsten Sinne
des Wortes gewichtige Rolle. Landtourismus schmeckt
auch gut. Auf dem Gebiet wird es dank unserer Initiative
gelingen, den Anteil regionaler Produkte zu erhöhen.
Dank einer möglichen Direktvermarktung werden fle-
xiblere Absatzmöglichkeiten eröffnet. Produzenten kön-
nen ihre schmackhaften Produkte einem breiteren Kun-
denstamm anbieten. In den Küchen der Hotellerie und
Gastronomie werden die Kellnerinnen und Kellner Teller
an den Tisch der Gäste bringen, auf denen sich Fleisch,
Obst und Gemüse aus der Gegend wiederfinden. Die
Nachfrage ist aufseiten der Anbieter und der Gäste groß.
In Brandenburg gibt es zum Beispiel schon seit einigen
Jahren den Brandenburger Teller. Über 50 Restaurants,
Gasthäuser und Hotels beteiligen sich daran. Auf ihrer
Karte findet der hungrige Gast ein spezielles Gericht, das
aus frischen regionalen Brandenburger Spezialitäten zu-
bereitet wurde. Frisch von hier und lecker lautet das
Motto. Für die Gerichte und die Produkte gelten strenge
Kriterien. Fachleute gehen davon aus, dass der Anteil re-
gionaler Produkte auf 25 Prozent angehoben werden
kann. Gelungene Aktionen, wie die in Brandenburg, und
unser Antrag werden dazu beitragen.
Landtourismus ist lehrreich, anschaulich und nützlich.
Zwar sind BSE sowie Maul- und Klauenseuche mittler-
weile fast in Vergessenheit geraten, aber der Bauernhof
und der Landtourismus haben einen großen Anteil daran,
dass der Glaube der Bevölkerung in die landwirtschaftli-
che Produktion nicht verloren gegangen ist. Als Tourist
kann man nicht nur zusehen, wie die Tierhaltung funktio-
niert, sondern vereinzelt auch selbst mit anpacken. So et-
was schafft Vertrauen und vermittelt weit tiefere Ein-
blicke und Verständnis, als irgendein Lehrbuch es
schaffen könnte.
Erst vor kurzem konnten wir die Einführung der touris-
tischen Umweltdachmarke Viabono vermelden, deren
Einführung ein großer Erfolg für die Tourismuspolitik
von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD ist. Die Um-
weltdachmarke Viabono wird den Tourismusstandort
Deutschland nachhaltig ökologisch prägen. Umwelt, Ver-
brauchern und Anbietern ist damit gedient. Gerade für den
Landtourismus ist das funktionierende Zusammenspiel
dieser drei Partner wichtig.
Daher arbeiten wir mit unserem Antrag darauf hin, un-
ter Anbietern verstärkt für die Dachmarke zu werben.
Wenn diese erkennen, welche Marketingvorteile ihnen
der Beitritt zu Viabono bringt, werden sie nicht zögern
beizutreten.
Landtourismus ist einzigartig und erholsam auch
dank der fürsorglichen Betreuung der Touristen durch die
Gastgeber.
SPD und Grüne sorgen dafür, dass der Landtourismus
als etablierter Wirtschaftszweig des Deutschlandtouris-
mus auch weiterhin prosperiert. Während die rechte Seite
des Hauses den Landtourismus offensichtlich ignoriert
und sich bei Vorschlägen zur Verbesserung der Wettbe-
werbsfähigkeit des Landtourismus vornehm zurückhält
oder zur obligatorischen Ökosteuerkeule greift, die aber
natürlich nicht trifft.
Und noch etwas sichern wir: Viele Kinder sollen noch
erfahren können, dass Schnitzel nicht aus der Tiefkühl-
truhe kommen und Kühe nicht lila sind.
Ernst Burgbacher (FDP): Unter den Tourismuspoli-
tikern herrscht ein Grundkonsens in Bezug auf die Be-
deutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus. Hierzu gehört
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19811
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selbstverständlich auch der bedeutende Teilbereich Ur-
laub auf dem Bauernhof bzw. Landtourismus. Der An-
trag von SPD und Grünen Den Tourismus im ländlichen
Raum nachhaltig stärken ist kaum kontrovers, wenn
auch wenig aussagekräftig.
Die Liberalen begrüßen, dass 2002 zum Jahr des Öko-
tourismus ausgerufen worden ist. Die Einführung der
Umweltdachmarke Viabono wird von uns unterstützt.
Die Sicherung eines intakten ländlichen Raumes mit viel-
fältigen Funktionen erfordert gesamtgesellschaftliche An-
strengungen. Für diskussionswürdig am vorliegenden An-
trag halte ich in erster Linie das Ziel von Rot-Grün, die
Daten der Übernachtungen im Rahmen des Urlaubs auf
dem Bauernhof so umfassend wie möglich erfassen zu
wollen. Dies führt in den Augen der Liberalen zu einem
weiteren großen bürokratischen Aufwand, für den diese
Regierungskoalition bekannt ist.
In Zeiten, in denen die Landwirtschaft mit den Folgen
von BSE und MKS zu kämpfen hat, und angesichts eines
sich rasant vollziehenden Strukturwandels in der Land-
wirtschaft ist es wichtig, zusätzliche Einnahmequellen zu
erschließen. Die FDP sieht Möglichkeiten zur Steigerung
der Übernachtungszahlen vorrangig durch folgende Maß-
nahmen:
Erstens. Ausbau der Nutzung der neuen Medien unter
dem Motto Bauernbett im Internet. Gerade für Stadt-
menschen, die im Internet ihr Urlaubsziel suchen und bu-
chen, ist der Landtourismus eine interessante Alternative,
um in der Natur abzuschalten. Voraussetzung hierfür ist
allerdings, dass die Angebote überhaupt im Internet zu
finden sind.
Zweitens. Die Deutsche Zentrale für Tourismus sollte
gemeinsam mit der Deutschen Landwirtschafts-Gesell-
schaft, der Bundesarbeitsgemeinschaft Urlaub auf dem
Bauernhof und der Reiseindustrie weitere Anstrengun-
gen unternehmen, um durch Marketingmaßnahmen die
vorhandenen Potenziale weiter auszubauen.
Drittens. Eine Anpassung der im Baurecht enthaltenen
bzw. in der Anwendung bauplanungs- und ordnungs-
rechtlicher Vorschriften durch Genehmigungsbehörden
angewandten Bestimmungen im Interesse des Landtou-
rismus.
Viertens. Eine verbesserte Koordination der Bundes-
ministerien für Wirtschaft und für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft, um auf diese Weise Sy-
nergieeffekte zu erzielen.
In den Zielen und der grundsätzlichen Unterstützung
für den Tourismus im ländlichen Raum besteht Überein-
stimmung zwischen den Fraktionen. Viele der im Antrag
von SPD und Grünen genannten Maßnahmen sind zu be-
grüßen. Das geht von der Direktvermarktung regionaler
Produkte über eine Verbesserung des Inlandmarketings
bis zur Neuordnung der Genehmigung von Hinweis- und
Werbeschildern. Allerdings bleibt der Antrag von SPD
und Grünen in vielen Punkten allzu sehr im Unverbindli-
chen. Die Vielzahl an Prüfaufträgen und Absichtser-
klärungen im Forderungskatalog der Koalitionsfraktionen
unterstreicht das eindeutig.
Wenn SPD und Grüne tatsächlich die Rahmenbedin-
gungen für den Urlaub auf dem Bauernhof und den
Landurlaub verbessern wollen, müssen sie ihre Mehr-
heiten im Deutschen Bundestag nur nutzen. Entscheidend
ist für den Tourismus im ländlichen Raum, dass endlich
gehandelt wird und die notwendigen Verbesserungen der
Rahmenbedingungen vorgenommen werden.
Leider unterläuft Rot-Grün gerade heute mit der Ver-
abschiedung des Bundesnaturschutzgesetzes die eigenen
Ziele. Die Naturschutznovelle schadet insbesondere dem
ländlichen Raum; dem Tourismus, der regionalen Ent-
wicklung und den sportlichen Aktivitäten in freier Natur.
Damit bleibt die Politik von Rot-Grün überaus wider-
sprüchlich und für die Tourismusbranche nur schwer kal-
kulierbar.
Rosel Neuhäuser (PDS): Der größte Reichtum der
Erde ist die unüberschaubare Fülle der Lebensformen in
den vielfältigen Ökosystemen und Landschaftsstrukturen.
Dies zu bewahren gehört zu den größten Herausforderun-
gen der Menschheit. Mit dem Ziel, sich dieser Herausfor-
derung zu stellen, unterstützen wir grundsätzlich den vor-
liegenden Antrag zur nachhaltigen Stärkung des
Tourismus im ländlichen Raum.
Wir sind uns sicherlich einig, dass sich eine zukunfts-
orientierte Umwelt- und Agrarpolitik für den Erhalt von
Kulturlandschaften mit besonderer Bedeutung für die bio-
logische Vielfalt einsetzen muss. Es sind Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, unter denen sich Kulturlandschaften
weiterentwickeln können, ohne ihre charakteristischen
Merkmale einzubüßen.
Die Entwicklung des Landtourismus, wie im Antrag
ausgewiesen, hat unsere Unterstützung, zum einen, weil
sich diese Form doch sehr wohltuend vom indus-
triemäßig organisierten Massentourismus unterscheidet
und zum anderen, weil damit neue Potenziale für Wert-
schöpfung, Beschäftigung und persönliches Einkommen
in den strukturschwachen ländlichen Regionen erschlos-
sen werden.
Der ländliche Tourismus sollte, da er eng mit der
Entwicklung der jeweiligen Region verknüpft ist, sehr
realitätsbezogen, auf der Basis regionaler Analysen und
Tourismuskonzepte als Teil integrierter regionaler Ent-
wicklungskonzepte entwickelt werden. Ihre Erarbeitung
bedarf der Vor-Ort-Beratung und finanziellen Förderung
durch das jeweilige Land.
Zur regionalen Verknüpfung im Interesse eines erfolg-
reichen Tourismus gehört die Einbindung der Land- und
Forstwirtschaft in die regionalen Märkte, also neue Ver-
triebs- und Vermarktungsstrategien sensibilisiert durch
die BSE-Krise dürfte das an Gewicht gewinnen , der Na-
turschutz und die Erhaltung und Pflege der Kulturland-
schaft, die Wahrung der regionalen kulturellen Identität
einschließlich des Siedlungscharakters, die Wiederbele-
bung traditioneller wie die Erschließung innovativer Pro-
dukte in Handwerk und Kleinbetrieben, der Ausbau der
touristischen Infrastruktur selbst.
Für die weitere erfolgreiche Gestaltung des Landtou-
rismus ist die Frage der Identifikations- und Imagebil-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119812
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dung wichtig, wenn nicht sogar übergeordnet. Ob das
ländliche Tourismuskonzept einer Region erfolgreich ist
oder nicht, hängt wesentlich von der Unverwechselbar-
keit des Angebots ab, namentlich von der Einzigartigkeit
der Landschaft und der ländlichen Kultur. Letztere reicht
von den Besonderheiten der Bauweisen über traditionelle
Bräuche bis zu regional- bzw. lokaltypischen Spezialitä-
ten der Gastronomie.
Da die Anbieter von Urlaub auf dem Bauernhof
keine Großunternehmen sind, ist es wichtig, mehr für eine
Bündelung der Vermarktung dieses Urlaubsangebotes zu
tun. Das betrifft im Wesentlichen auch unser Mitwirken
an der qualitativen Weiterentwicklung der politisch-recht-
lichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, damit
sich die insgesamt positive Entwicklung des Landtouris-
mus fortsetzen und verstärken kann.
Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich nur
sagen: Ich habe bei Gesprächen vor Ort erfahren, dass auf
folgenden Feldern kleinere und auch größere Probleme
bestehen, die einer Lösung bedürfen und aus meiner Sicht
im vorliegenden Antrag noch nicht genügend bedacht
sind:
Ressortgrenzen als Investitionshemmnis. So wird seit
Jahren über das Erfordernis der Verzahnung der Agrar-
und Regionalförderung philosophiert um nicht zu sagen
geschwätzt aber tatsächlich ist wenig passiert.
Unzureichende komplexe Beratungsangebote. Land-
wirte, die als zweites Standbein oder gar zum Haupter-
werb Dienstleistungen im Freizeitbereich, zum Beispiel
Kutschfahrten, Reitplatz, Reiterhof, im Bereich Erholung
Ferienzimmer auf dem Bauernhof , im Bereich Be-
wirtung Bauernhofcafé oder -gaststätte etc. aufbauen
möchten, brauchen Beratungsleistungen, die von der be-
triebswirtschaftlichen Beratung über Beratung zu Ge-
bäude-Umnutzung, Baugenehmigungsrecht, Denkmal-
schutz bis zu Versicherungs-, Steuer- und Erbrechtsfragen
reichen. Das kann in aller Regel weder von der Agrarbe-
ratung noch von der hauswirtschaftlichen Beratung ge-
leistet werden. Da das Konzept in hohem Maße über Er-
folg oder Misserfolg entscheidet, ist die Sicherung einer
komplexen und auch preisgünstigen Beratung notwen-
dig.
Rechtliche Barrieren und Bürokratie bei der Umnut-
zung von Gebäuden. Hierzu liegt eine nachlesbare Stel-
lungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft für Urlaub auf
dem Bauernhof und Landtourismus, BAG, vor, die wir
vom Grundsatz unterstützen.
Aus dem Gesagten wird meines Erachtens deutlich,
dass Handlungsbedarf auf allen staatlichen Ebenen, beim
Bund, im Land, in der Kommune, besteht.
Lassen Sie mich abschließend die Bedingungen für den
Erfolg des Tourismus auf dem Lande unter dem Gesichts-
punkt eines modernen Dienstleistungsmarketing in vier
Punkten zusammenfassen: erstens Konzentration auf
Zielgruppen und Themen, zweitens Kooperation mit
möglichst vielen Partnern, drittens Kreativität in der
Marktbearbeitung und viertens Kundenorientierung
durch guten Service. Lassen Sie uns gemeinsam an der
Lösung der anstehenden Aufgaben arbeiten.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Großen Anfrage: Erleichte-
rung bei der internationalen Vollstreckungshilfe
(Tagesordnungspunkt 17)
Alfred Hartenbach (SPD): Ziel des Übereinkom-
mens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteil-
ter Personen ist es, dass verurteilte Straftäter ihre Frei-
heitsstrafe möglichst in ihrem Heimatland absitzen sollen.
Das ist ein gutes und vernünftiges Ziel; dazu bedarf es
auch einer solchen internationalen Vereinbarung. Leider
erfüllt das Übereinkommen seinen Zweck offenbar nur
unvollkommen. Viele Staaten, die das Übereinkommen
bislang unterzeichnet oder ratifiziert haben, machen da-
von überhaupt keinen oder nur sehr geringen Gebrauch.
Dies lässt sich auch aus den Antworten der Bundesregie-
rung auf die Anfrage der Union eindeutig ablesen. Des-
halb war das Übereinkommen bislang nicht sonderlich er-
folgreich. Dies wird auch vor dem Hintergrund deutlich,
dass die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen, die in
Deutschland ihre Strafe absitzen, seit 1992 stetig steigt;
bis 1998 ist die Zahl um mehr als das doppelte gestiegen,
Überstellungen in das Land der Staatsangehörigkeit fin-
den trotz geringer Steigerung nur selten statt. Vom Ausland
nach Deutschland gibt es noch weniger Überstellungen.
Man muss sich also fragen, wie man die Überstellungs-
praxis verbessern kann.
Die Große Anfrage der Union war trotzdem nicht ihr
geschicktester Schachzug. Diese Anfrage hätte sie besser
nicht gestellt. Denn nach den Antworten der Bundesre-
gierung wird ganz klar, dass wir das Zusatzprotokoll nach
den Jahren, in denen in diesem Bereich kaum etwas pas-
sierte, dringend benötigten. Nur so, durch Verzicht auf die
Zustimmung der Verurteilten, kann von der Überstellung
an die Herkunftsstaaten viel häufiger Gebrauch gemacht
werden.
Es muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass
die Überstellungen auch nur dort in Erwägung gezogen
werden sollten, wo sie wirklich Sinn machen. Keinen
Sinn machen sie zum Beispiel dann, wenn ein Verurteilter
schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutsch-
land lebt und vielleicht noch nicht einmal seine Heimat-
sprache fließend sprechen kann und dort auch keinerlei
familiäre Bindungen mehr hat.
Es gibt durchaus verschiedene Gründe für die geringe
Zahl der Überstellungen. Sie beruht vor allem darauf, dass
die Verurteilten nicht überstellt werden wollen, da sie die
deutschen Vollstreckungsbedingungen denen ihrer Hei-
matstaaten vorziehen. Einige Verurteilte ziehen ihren
Überstellungswunsch auch nachträglich zurück, da ihnen
in Deutschland die baldige Haftentlassung nach zwei
Drittel der Strafverbüßung bevorsteht.
Aus diesem Grund waren im Zusatzprotokoll weitere
Änderungen des Ursprungsübereinkommens hinsichtlich
einer weiteren Harmonisierung der Strafzumessungs- und
Strafvollstreckungspraxis angestrebt worden. Leider
waren diese Verhandlungen nicht erfolgreich. Dies ist
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19813
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bedauerlich, denn eine solche Harmonisierung würde zu-
sätzlich zu einer verstärkten Anwendung des Überein-
kommens führen. Denn zum Beispiel gerade die Nieder-
lande halten die verhängten Strafen in Deutschland vor
allem im Bereich der Betäubungsmittelstraftaten für zu
exzessiv und stimmen deshalb einer Überstellung nicht
zu. Teilweise übersteigen die in Deutschland geltenden
Strafen die Höchststrafe in den Niederlanden, sodass aus
diesem Grund nicht überstellt werden kann. Hier sollte die
Bundesregierung weiter versuchen, gemeinsame Ansätze
jedenfalls in Europa zu entwickeln. Das Bundesministe-
rium der Justiz hat über diese und andere Punkte der straf-
prozessualen Zusammenarbeit in Europa gerade im
Rechtsausschuss berichtet. Wir sollten also der Bundesre-
gierung und vor allem unserer Bundesministerin der Jus-
tiz den Rücken stärken, damit in dieser Hinsicht in Zu-
kunft weitere Erfolge erzielt werden können. Wir wissen,
dass dieses Vorhaben bei ihr in guten Händen ist.
Zunächst aber ist festzuhalten, dass das Zusatzproto-
koll der beste Weg ist, die Zahl der Überstellungen zu stei-
gern.
Volker Kauder (CDU/CSU): Die Anzahl der auslän-
dischen Strafgefangenen, die in deutschen Justizvollzugs-
anstalten einsitzen, ist in den letzten zehn Jahren stetig
und schnell gewachsen. Alleine zwischen 1992 und 1998
hat sie sich auf mehr als 13 000 mehr als verdoppelt. Zu
diesem wichtigen Sachverhalt hat die CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion eine Große Anfrage an die Bundesregie-
rung gerichtet. Wir möchten gerne wissen: Welche
Schritte plant die Regierung, um die große Anzahl an aus-
ländischen Gefangenen durch Erleichterungen bei der in-
ternationalen Vollstreckungshilfe zu reduzieren?
Natürlich interessieren uns auch die aktuellen Zahlen,
die der Bundesregierung vorliegen zeigen sie doch, wel-
cher Erkenntnisstand ausgewertet worden ist.
Es ist merkwürdig und meiner Ansicht nach auch be-
denklich, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort in
der zweiten Jahreshälfte 2001 nicht in der Lage war, die
Zahlen für 1999 und 2000 zu präsentieren. Dies macht
deutlich, wie nachlässig in Regierungskreisen mit diesem
Thema umgegangen wird. Gleichzeitig ist eindeutig nicht
der Nachweis geführt worden, dass der ungünstige Trend
gebrochen ist. Es ist also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Anzahl
der in den Gefängnissen einsitzenden Ausländer noch
weiter angestiegen ist.
Angesichts der dramatischen Überfüllung in unseren
Haftanstalten und den enormen Kosten für den deutschen
Steuerzahler wir sprechen hier über Kosten, die sich auf
hunderte Millionen Euro belaufen muss hier Abhilfe ge-
schaffen werden.
Auch aus der Perspektive der ausländischen Strafge-
fangenen ergibt sich nichts anderes. Man muss ganz
grundsätzlich von einer besseren Resozialisierungs-
möglichkeit im jeweiligen Heimatland eines Straftäters
ausgehen. Die Strafvollstreckung in Deutschland kann im
Einzelfall eine besondere Härte darstellen. Dies gilt ins-
besondere, weil den Verurteilten Kontakte zu ihren Fami-
lien erschwert werden.
Die ausländischen Strafgefangenen müssen also zur
weiteren Verbüßung ihrer Strafe konsequent in ihr Hei-
matland zurückgeführt werden.
Die internationale Rechtsgrundlage für die Rück-
führung ausländischer Strafgefangener ist das Überein-
kommen vom 21. März 1983 über die Überstellung ver-
urteilter Personen. Es ist am 1. Februar 1992 für
Deutschland in Kraft getreten. Damit arbeiten wir inter-
national auf einer sicheren vertraglichen Grundlage. In al-
len geeigneten Fällen können ausländische Verurteilte in
die jeweiligen Heimatländer zur weiteren Strafvoll-
streckung überstellen werden.
Wir müssten uns aber über dieses Thema nicht unter-
halten, wenn wir nicht den Verdacht hätten nein: seit der
Antwort der Bundesregierung sicher wissen , dass die
Straftäterrückführung nicht so funktioniert, wie wir das
international gerne hätten.
Trotz dieses Übereinkommens geht es mit der Rück-
führung nicht voran. Die Zahlen, die von der Bundesre-
gierung vorgelegt worden sind, sprechen eine eindeutige
Sprache. Sie haben düstere Prognosen bestätigt. Im Jahr
1998, so können wir in der Antwort lesen als über 13 000
ausländische Staatsangehörige in deutschen Gefängnis-
sen ihre Strafe verbüßten , wurden gerade einmal 63 Ver-
urteilte in ihr jeweiliges Heimatland zurückgeführt.
Woran liegt es, dass die Rückführung nicht im er-
wünschten Umfang durchgeführt wird?
Es ist richtig, dass das gegenwärtig praktizierte Über-
stellungsverfahren nach dem Abkommen von 1983 auf-
wendig, langwierig und bürokratisch ist. Oft genug müs-
sen zur Durchführung diplomatische Wege beschritten
werden. Der Verfahrensablauf so sehr er auch Zeit kos-
tet ist jedoch nicht der Kern des Problems. Die Schuld
an dem Missstand, dass nicht in großem Stil überstellt
wird, ist eindeutig bei uns und nicht in den anderen betei-
ligten Staaten zu suchen. Die Antwort der Bundesregie-
rung legt es schonungslos offen: Die der Bundesregie-
rung vorliegenden Erkenntnisse lassen jedoch den
Schluss zu, dass eine Überstellung nur in relativ wenigen
Fällen durch den Vollstreckungsstaat abgelehnt wurden.
Das Übel ist also in Deutschland zu suchen.
Bei der Suche nach diesem Hindernis, fällt vor allem
eine Hürde auf, die genommen werden muss. Es ist nicht
die alleinige Ursache des Nichtfunktionierens, aber es ist
eine entscheidende Hürde. Nach der gegenwärtigen deut-
schen Rechtslage ist eine Strafvollstreckung im Heimat-
land nur mit ausdrücklicher Zustimmung des betroffenen
Gefangenen möglich.
Solch eine Zustimmung wird aus nahe liegenden Grün-
den von ausländischen Straftätern im Regelfall nicht ge-
geben. Strafverbüßung in Deutschland hat bei so man-
chem ausländischen Strafgefangenen leider noch immer
einen zweifelhaft guten Ruf.
Diese Zustimmungsklausel war im Ursprungsüberein-
kommen von 1983 enthalten. In Deutschland gilt die
Regelung noch immer. Das müsste nicht mehr so sein ! In-
ternational ist genau dieser entscheidende Punkt seit dem
18. Dezember 1997 eindeutig und einvernehmlich gere-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119814
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gelt worden. In einem Zusatzprotokoll zum genannten
Übereinkommen wurde festgelegt, dass das Einverständ-
nis des Strafgefangenen bei Vorliegen einer Auswei-
sungsverfügung ausdrücklich entfallen kann. Neben vie-
len anderen Staaten gehört auch Deutschland zu den
Signatarstaaten, dieses Zusatzprotokolls zur Erleichte-
rung der Vollstreckungshilfe. Um das Protokoll in Kraft
zu setzen, bedarf es lediglich eines Vertragsgesetzes zur
Ratifizierung. Darauf warten wir nun seit Amtsantritt der
rot-grünen Bundesregierung bislang vergeblich.
Dass wir es hier nicht mit einer politisch oder sachlich
strittigen Angelegenheit zu tun haben, beweist der Be-
schluss der Justizministerkonferenz vom 10. November
1999. Da wurde die Bundesregierung völlig einver-
nehmlich mit 16 zu null Stimmen aufgefordert, das
Protokoll so bald wie möglich zu ratifizieren und gleich-
zeitig bei allen anderen Staaten für die Unterzeichnung
und Ratifizierung zu werben. Auch dieser dringende Ap-
pell der Fachleute verhallte bei Rot-Grün ungehört.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat daher diese
Große Anfrage gestellt, um zu erfahren, was die Bundes-
regierung nach Jahren der Tatenlosigkeit denn nun end-
lich unternehmen will. Uns interessiert, mit welchen Mit-
teln die Verfahren der internationale Vollstreckungshilfe
ihrer Ansicht nach beschleunigt werden sollen. Uns inter-
essiert, wann denn endlich dieses Zusatzprotokoll ratifi-
ziert werden soll. Uns interessiert, welche Schritte die Re-
gierung auf internationaler Ebene plant, um zum Erfolg zu
kommen.
Die Antwort der Bundesregierung bleibt schwammig:
Sie unterstütze Initiativen des Europarates und arbeite im
Rahmen der Europäischen Union an der Lösung der Pro-
bleme aktiv mit. Das ist eine sehr dünne Antwort.
Hier bei diesem aktuellen Problem , wo es darauf
ankommt, Aktivitäten zu entwickeln, da zieht sich die
Bundesregierung in ihr Schneckenhaus zurück und wartet
ab. Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, kann
nur mit Unverständnis zur Kenntnis nehmen, dass die
Bundesregierung keinerlei Bestrebungen verfolgt, um
den Anwendungsbereich des Überstellungsübereinkom-
mens zu erweitern.
Viele Details könnten verbessert werden, um die inter-
nationale Überstellung zu erleichtern beispielsweise
könnte eine Vereinbarung für den unmittelbaren Ge-
schäftsweg geschaffen werden.
Der deutlichste Vorwurf, den ich der Bundesregierung
in Sachen Vollstreckungshilfe mache, ist, dass sie bei der
Ratifizierung des Zusatzprotokolls nicht handelt ein
weiteres Beispiel dafür, dass die Hand des Kanzlers of-
fenkundig eingeschlafen ist. Die rot-grüne Bundesregie-
rung, insbesondere das Bundesjustizministerium verzö-
gert die Rückführung ausländischer Strafgefangener, weil
seit drei Jahren die Schaffung der notwendigen gesetzli-
chen Voraussetzung blockiert wird. Bei der Würdigung
dieser Blockadehaltung bitte ich zu beachten: zu dieser
gesetzlichen Voraussetzung hat sich Deutschland interna-
tional schon längst bekannt und verpflichtet und sie wird
von den Fachleuten über alle Parteigrenzen hinweg be-
fürwortet.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt unmissverständlich
klar: Der entscheidende Hemmschuh auf dem Weg zur Er-
leichterung der internationalen Vollstreckungshilfe in
Deutschland ist die rot-grüne Bundesregierung selbst. Sie
verweigert den vorgezeichneten und vernünftigen Schritt
zur Rechtsänderung in Deutschland und sie weigert sich
auch, auf internationaler Ebene die Anwendbarkeit des
Zusatzprotokolls anzumahnen.
Damit gesteht die Bundesregierung ihre Untätigkeit
ein. Sie unternimmt nicht die notwendigen Anstrengun-
gen, um die drängenden Probleme zu beseitigen, die sich
im Rahmen des Vollstreckungshilfeverfahrens ergeben
haben.
Es handelt sich um ein weiteres Politikfeld, in dem die
Bundesregierung versagt hat zum Schaden für die Men-
schen in Deutschland.
Helmut Wilhelm (Amberg) (Bündnis 90/Die Grünen):
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der CDU/CSU zur Erleichterung bei der internationalen
Vollstreckung hat deutlich werden lassen, dass die Bun-
desregierung Defizite bei der Ausführung des Überein-
kommens vom 21. März 1983 über die Überstellung ver-
urteilter Personen feststellt. Es wurde deutlich, dass dies
in erster Line auf Vorbehalte gegen die Vollstreckungs-
praxis der Mitgliedstaaten untereinander zurückzuführen
ist. Deutschland hat Vorschläge, die im Ergebnis zu einer
gewissen Harmonisierung der unterschiedlichen Strafzu-
messungs- und Strafvollstreckungspraktiken beigetragen
hätten, in Verhandlungen über das Zusatzprotokoll zum
Überstellungsübereinkommen eingebracht, konnte sich
laut Antwort auf die entsprechende Frage der CDU/CSU
aber nicht durchsetzen. Darum ist das Ziel des Überein-
kommens, nämlich dass verurteilte Straftäter ihre Frei-
heitsstrafe möglichst in Ihrem Heimatland absitzen sol-
len, nur unzureichend verwirklicht.
So ist die Zahl der hier in Deutschland einsitzenden
Straftäter ausländischer Staatsangehörigkeit zwangsläu-
fig ansteigend. Dies ist aber kein allein deutsches Phäno-
men. Denn auch von anderen Ländern aus wird noch sel-
tener von der Überstellung dort einsitzender deutscher
Staatsangehöriger Gebrauch gemacht. Das liegt nach Ant-
wort der Bundesregierung nicht zuletzt an dem fehlenden
Überstellungswunsch der im Ausland inhaftierten Deut-
schen, weil diese in der Regel ihre sozialen Bindungen
und ihren Lebensmittelpunkt in dem Land haben, in dem
ihre Verurteilung erfolgt ist. Wenn man die Ziele des
Strafvollzugs und der Strafvollstreckung ernst nimmt,
macht das natürlich einen gewissen Sinn. Ein genereller
Verzicht auf die Zustimmung des Inhaftierten durch Zu-
satzprotokoll, um die Überstellungspraxis zu verbessern,
würde meines Erachtens auf verfassungsrechtliche Pro-
bleme stoßen.
Diese Auffassung wird von der Bundesregierung mit
Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts vom 18. Juni 1997 geteilt. Denn danach ist der Ver-
urteilte im Überstellungsverfahren natürlich nicht als
bloßes Objekt zu behandeln. Daher ist der beschränkte
Verzicht auf die Zustimmung bei Flucht-, Ausweisungs-
bzw. Abschiebungsfällen ausreichend.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19815
(C)
(D)
(A)
(B)
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort eindeutig er-
kennen lassen, dass sie die Problematik erkannt hat und
sachgerechte Lösungen mit den Mitgliedsländern an-
strebt. Ich bin sicher, dass im Laufe einer fortschreitenden
Europäisierung von dem Überstellungsübereinkommen
stärker Gebrauch gemacht werden wird.
Jörg van Essen (FDP): Die Globalisierung macht
auch nicht vor der Strafvollstreckung und vor Straftätern
halt. Die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Straftaten im-
mer mehr im internationalen Zusammenhang gesehen
werden müssen. Viele Straftäter nutzen Staaten als Rück-
zugsräume. Dies gilt nicht nur für die aktuellen terroristi-
schen Fälle, sondern auch für viele Formen der organi-
sierten Kriminalität. Für einen Rechtsstaat besteht daher
die Aufgabe, einerseits für eine Bestrafung unabhängig
vom Tatort zu sorgen, andererseits aber auch für die ent-
sprechende Vollstreckung der Strafen die notwendigen
Voraussetzungen zu schaffen.
Die hohe Zahl ausländischer Personen, bei denen Frei-
heitsstrafe in Deutschland vollstreckt wird, stellt ein Pro-
blem dar. Wie uns die Strafvollzugsbeamten immer wie-
der berichten, führt gerade der hohe Anteil von
ausländischen Häftlingen zu erheblichen Problemen im
Strafvollzug. Die Lage in den Gefängnissen ist uns allen
bekannt. Auch ist uns leider bekannt, wie wenig die Fi-
nanzminister der Länder, die gemeinsam mit den Justiz-
ministern hier die Verantwortung tragen, bereit sind, Fi-
nanzmittel für den Strafvollzug zur Verfügung zu stellen.
Unsere Gefängnisse sind überfüllt. Daraus ergibt sich
nicht die Verpflichtung, so viele Straftäter wie möglich
aus den Gefängnissen fernzuhalten. Aber es ergibt sich
sehr wohl die Verpflichtung für einen Rechtsstaat, insbe-
sondere unter dem Aspekt der Resozialisierung unter ent-
sprechenden Voraussetzungen Straftäter zur Strafvoll-
streckung in ein anderes Land zu überstellen.
Die Überstellung der Straftäter kommt nicht nur der
Bundesrepublik Deutschland zugute. Vielmehr haben
auch die Heimatlände der Straftäter den Vorteil, dass
durch eine Vollstreckung in ihrem Lande der Resoziali-
sierung mehr Möglichkeiten eröffnet werden, als wenn
nach der Vollstreckung in der Bundesrepublik Deutsch-
land eine entsprechend ausländerrechtlich bedingte Ab-
schiebung erfolgt.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die CDU/CSU mit ih-
rer Großen Anfrage diese Problematik in den Vordergrund
gehoben hat.
Die Antwort der Bundesregierung zeigt, dass im Be-
reich der Vollstreckungshilfe noch einiges zu tun ist: Ers-
tens: Wir brauchen eine zügige Ratifizierung des Zusatz-
protokolls. Zweitens: Wir brauchen Vergleichsregeln, die
die unterschiedlichen Strafzumessungs- und Strafvoll-
streckungspraxen etwa in den Mitgliedstaaten der EU
harmonisieren. Drittens: Es müssen alle Möglichkeiten
genutzt werden, um das sehr langwierige Verfahren der
Überstellung zu verkürzen.
Wir sollten uns als Bundesgesetzgeber bemühen, in
diesem schwierigen Feld für eine Beschleunigung zu sor-
gen. Dabei müssen auch wir als Bundesrepublik Deutsch-
land überprüfen, ob all unsere Grundsätze der Strafvoll-
streckung nicht angepasst werden müssen, um eben mit
den anderen Staaten insbesondere der EU eine Har-
monisierung zu erreichen.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Meine Erfahrung im Bun-
destag lehrt mich hinsichtlich parlamentarischer Anfragen
zweierlei. Erstens: Keine Anfrage ohne Anliegen. Zwei-
tens: Große Anfragen große Anliegen. Und so verhält es
sich auch mit der zur Debatte stehenden Großen Anfrage
der Fraktion der CDU/CSU zu Erleichterungen bei der
internationalen Vollstreckungshilfe.
Wenn man wissen will, worum es der CDU/CSU in
dieser Anfrage geht, dann lohnt zum Beispiel ein Blick in
den Antrag der CDU/CSU Kriminalität wirksamer
bekämpfen Innere Sicherheit gewährleisten vom 3. Juli
dieses Jahres, Drucksache 14/6539. Denn dort ist der
Bekämpfung der von Ausländern begangenen Strafta-
ten ein eigener Abschnitt mit einer eindeutigen Aussage
oder besser: Forderung gewidmet. Dort heißt es:
... dass schon eine Freiheitsstrafe von mehr als einem
Jahr zur Ausweisung bzw. Abschiebung führen
muss. Angesichts der verhängten geringen Freiheits-
strafen bei schon recht schweren Taten erscheint es
nicht sachgerecht, die nach dem Ausländergesetz
zwingende Ausweisung an eine Freiheits- oder
Jugendstrafe von mindestens drei Jahren zu knüpfen;
... dass ausländische Verurteilte verhängte Freiheits-
strafen auch ohne ihre Zustimmung regelmäßig in
ihren Heimatländern verbüßen sollten und dass die
Bundesregierung die entsprechenden völkerrechtli-
chen Vereinbarungen ohne Abstriche unverzüglich
umsetzen möge.
Damit ist die Haltung der CDU/CSU im Umgang mit
ausländischen Straftätern klar formuliert und letztlich
auch das Anliegen der Großen Anfrage benannt. Als
Grund für die möglichst weitgehende Überstellung aus-
ländischer Straftäter zur Strafvollstreckung in ihre Hei-
matländer stellt die CDU/CSU in ihrer Anfrage auf die
oftmals besseren Chancen zur gesellschaftlichen Einglie-
derung ab. Die Bundesregierung nennt dagegen als
Gründe für die Nichtüberstellung das häufig vorhandene
besonders öffentliche Interesse der aus generalpräventi-
ven Gründen als notwendig angesehenen weiteren Straf-
vollstreckung in Deutschland und die aufgrund der zum
Teil unterschiedlichen Strafvollstreckungssysteme beste-
hende Besorgnis, die Strafe könne nicht nachdrücklich
vollstreckt werden.
Damit haben wir eine ganz eigenartige Aussagenkon-
stellation: Die CDU/CSU sorgt sich scheinbar vorrangig
um die Wiedereingliederung ausländischer Straftäter und
die Regierung möchte offenbar eine unbedingte und un-
nachgiebige Bestrafung, die scheinbar am besten
Deutschland möglich ist.
Mir scheint, dass wir hier Gefahr laufen, eine unauf-
richtige Debatte zu führen. Grundsätzlich wünschen wir
uns wohl alle, dass die Zahl der Straftäter ganz gleich,
welcher Herkunft zurückgeht und dass Strafvollzug die
letzte Maßnahme in der Sanktionenskala bleiben sollte.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119816
(C)
(D)
(A)
(B)
Die unbestreitbare Tatsache, dass ausländische Häftlinge
überwiegend die Vollzugsbedingungen in Deutschland
denen in ihren Heimatstaaten vorziehen, ist angesichts der
auch bei uns keineswegs rosigen Verhältnisse schon be-
merkenswert und sollte nicht zuletzt auch deshalb respek-
tiert werden, da das Übereinkommen über die Überstel-
lung verurteilter Personen dem Verurteilten ein
Wunschrecht zukommen lässt. Im Übrigen denke ich
auch, dass angesichts der zunehmenden Mobilität der
Menschen und der auch von der CDU/CSU aus bestimm-
ten Grünen und in einem bestimmten Umfang gewünsch-
ten Zuwanderung von Menschen eine Formel in der Art
Leben in Deutschland Strafen im Herkunftsland nicht
mehr zeitgemäß ist.
Aber wie sehr die Fragen der Strafverfolgung und der
Strafvollstreckung international im Fluss sind, zeigt ge-
rade die jüngste Entwicklung. Heißt es noch in der Ant-
wort der Bundesregierung vom vergangenen Jahr, das die
Regierung derzeit keine Möglichkeit sieht, eine Harmo-
nisierung der Strafzumessungs- und Strafvollstreckungs-
praxis in den Mitgliedstaaten zu erreichen, so hat sich
dies nach dem Terroranschlag und dem ins Haus stehen-
den Rahmenbeschluss des Rates der Union zur Terroris-
musbekämpfung geändert.
Dr. Eckhardt Pick, Parl. Staatssektär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Die internationale Voll-
streckungshilfe, insbesondere die Vollstreckung von im
Ausland ergangenen freiheitsentziehenden Sanktionen im
Heimatland der verurteilten Person, ist eine relativ junge
Form der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen.
Das hier einschlägige Übereinkommen des Europarates
aus dem Jahre 1983 hatte von der Entstehungsgeschichte
her ebenso wie das deutsche Recht die Resozialisie-
rung des Gefangenen zum Ziel. Ohne diesen Gesichts-
punkt aus den Augen zu verlieren, hat aber die tatsächli-
che Entwicklung die Akzente etwas verschoben: In
Deutschland, aber nicht nur hier, hat die stetige Zunahme
des Ausländeranteils in den Gefängnissen dazu geführt,
dass das Vollzugsziel insbesondere wegen der Sprachen-
vielfalt und der unterschiedlichen kulturellen Herkunft
auch nicht ansatzweise erreicht werden kann. Der Bele-
gungsdruck ist derart hoch, dass das Resozialisierungsziel
insgesamt gefährdet ist. Vor diesem Hintergrund kommt
den durch das Europaratsübereinkommen eröffneten
Möglichkeiten des Vollzuges im Heimatland zunehmende
Bedeutung zu.
Aus den Ihnen vorliegenden Zahlen über die Anzahl
der tatsächlich aus Deutschland ins Ausland überstellten
verurteilten Personen geht hervor, dass die praktische An-
wendung des Übereinkommens hinter den Erwartungen
zurückbleibt. Die hierfür maßgebenden Gründe sind in
der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
mitgeteilt worden. Lassen Sie mich einige von ihnen
nochmals kurz skizzieren:
Den größten Anteil der in Deutschland inhaftierten
ausländischen Strafgefangenen stellen nach den mir vor-
liegenden Zahlen folgende Staaten: die Türkei mit 3 806
Gefangenen, Jugoslawien mit 2 092 Gefangenen, Italien
mit 902 Gefangenen, Polen mit 729 Gefangenen, Ma-
rokko mit 634 Gefangenen, Algerien mit 690 Gefange-
nen, Albanien mit 452 Gefangenen, Rumänien mit
386 Gefangenen und Bosnien-Herzegowina mit 356 Ge-
fangenen.
Mit der Türkei findet darauf ist in der Antwort näher
eingegangen worden de facto ein Überstellungsverkehr
wegen der dortigen sehr frühen Entlassung auf Be-
währung nicht statt. Das jüngste türkische Gesetz über die
Strafaussetzung zur Bewährung vom 8. Dezember 2000
hinsichtlich Verurteilungen, die bis zum 23. April 1999
begangen worden sind, hat diese Situation noch ver-
schärft.
Mit Marokko wird eine völkerrechtliche Vereinbarung
zwar gegenwärtig verhandelt, besteht aber noch nicht. Al-
gerien hat bisher nicht den Wunsch geäußert, dem offenen
Übereinkommen des Europarates beizutreten. Im Verhält-
nis zu Bosnien-Herzegowina gibt es ebenfalls keine
Rechtsgrundlage, gleiches gilt für Jugoslawien.
Albanien und Rumänien sind zwar Mitgliedstaaten des
Überstellungsübereinkommens, zu einer zahlenmäßig
nennenswerten Übernahme eigener Staatsangehöriger
dürften sie aber aus tatsächlichen Gründen nicht in der
Lage sein. Diese Länder dürften Schwierigkeiten genug
haben, den eigenen Strafvollzug zu modernisieren.
Es verbleiben Polen und Italien als Mitgliedstaaten,
mit denen der Vollstreckungshilfeverkehr jedenfalls vom
Grundsatz her intensiviert werden könnte. Hier wird es in-
teressant sein, festzustellen, ob es nach der erfolgten Ra-
tifikation des Zusatzprotokolls, das bekanntlich auf das
Erfordernis der Zustimmung des Strafgefangenen in be-
stimmten Fällen verzichtet, zu einem Anstieg der Über-
stellungen kommen wird. Einen Regierungsentwurf zur
Ratifikation des Zusatzprotokolls wird das Kabinett als-
bald beschließen.
In der Antwort auf die Große Anfrage ist auch darauf
hingewiesen worden, dass wegen der Langwierigkeit des
Verfahrens die Staatsanwaltschaften häufig auf das einfa-
chere Verfahren nach § 456 a StPO, das heißt Absehen von
der weiteren Vollstreckung bei einer Ausweisung, zurück-
greifen. Die lange Verfahrensdauer und die unzurei-
chende Anwendung des Übereinkommens in der Praxis
sind Gegenstand zahlreicher Erörterungen im zuständigen
Ausschuss des Europarates gewesen und stehen fast stän-
dig auf dessen Tagesordnung. Lösungsansätze sind indes
noch nicht erkennbar geworden. Wahrscheinlich dürfte
ein Grund für die mangelnde Anwendung darin zu sehen
sein, dass zwar jeder Mitgliedstaat zur Entlastung des ei-
genen Strafvollzuges gerne ausländische Staatsan-
gehörige zur weiteren Vollstreckung in dessen Heimat-
staat überstellt, zur Übernahme eigener Staatsangehöriger
in den eh schon überlasteten eigenen Strafvollzug indes
eher weniger bereit ist. Exemplarisch ist hier die unge-
wöhnlich offene und ehrliche Erklärung Irlands anlässlich
der Ratifikation, dass nämlich Irland wegen des Bele-
gungsdrucks im eigenen Strafvollzug Überstellungsersu-
chen anderer Staaten nur in dem Maße nachzukommen
bereit ist, als freie Plätze im Vollzug verfügbar sind.
Ungeachtet aller Bemühungen der Bundesregierung,
national und international für eine stärkere Anwendung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19817
(C)
(D)
(A)
(B)
des Übereinkommens zu werben, dürfte sich an dieser
faktischen Situation in allen potenziellen Vollstreckungs-
staaten leider weder kurz- noch mittelfristig etwas ändern.
Unabhängig davon wird die Bundesregierung auch wei-
terhin alle Anstrengungen unternehmen, die Mitgliedstaa-
ten von den Vorzügen der internationalen Vollstreckungs-
hilfe zu überzeugen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege
von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemei-
nen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergän-
zungsgesetz PflEG) (Tagesordnungspunkt 18)
Marga Elser (SPD): Unsere Zielsetzung in diesem
Gesetz zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher
Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemei-
nen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsge-
setz PflEG) ist die Verbesserung der Versorgungssitua-
tion für demenziell und psychisch erkrankte sowie geistig
behinderte Pflegebedürftige.
Wir wissen, es bestand dringend gesetzlicher Hand-
lungsbedarf bei der Pflege im häuslichen Bereich, vor al-
len aber bei der Entlastung der pflegenden Angehörigen.
Gerade die Beratung dieser Menschen ist eine wichtige
Säule. Ich weiß aus eigener Erfahrung meine Mutter ist
seit mehreren Jahren demenzkrank , wie schwer es für
den Partner und die Familie ist, mit dem geänderten Ver-
halten des Kranken richtig umzugehen. Die häuslich Pfle-
genden werden durch die Pflege und Betreuung Demenz-
kranker in besonderer Weise oft rund um die Uhr
beansprucht. Hier ist eine Entlastung dringend erforder-
lich. Daher werden wir den sich bietenden Finanzspiel-
raum von rund 500 Millionen DM mehr ist leider zur
Zeit nicht möglich im vollen Umfang einsetzen. Dafür
werden wir diesen pflegenden Angehörigen erste Hilfen
zur Verfügung stellen, die ihnen den schwierigen Pflege-
alltag zeitweise erleichtern und physische und psychische
Überlastungen verhindern sollen.
Mit diesem Gesetz werden für altersverwirrte, aber
auch für geistig behinderte und psychisch kranke Pflege-
bedürftige zusätzliche Leistungen und verbesserte Ver-
sorgungsangebote vorgesehen. Dabei soll der allgemeine
Betreuungsbedarf, also die Beaufsichtigung, Anleitung
und Betreuung, die über die festgelegten Pflegeleistungen
hinausgeht, besser berücksichtigt werden. Unser Gesetz
sieht vor, dass der Pflegebedürftige mit dem bestimmten
Erkrankungsbild einen Anspruch auf einen zusätzlichen
Betreuungsbetrag hat. Das sind bis zu 900 DM pro Jahr.
Diese zusätzlichen Mittel sind zweckgebunden. Sie kön-
nen zum Beispiel für Tages- oder Kurzzeitpflege einge-
setzt werden. Wir wollen gleichfalls dafür sorgen, dass in
Modellversuchen neue Versorgungskonzepte und Versor-
gungsstrukturen insbesondere für Demente entwickelt
werden.
Fördermittel sollen auch dazu verwendet werden, so
genannte niedrigschwellige Betreuungsangebote zu för-
dern. Das sind zum Beispiel ehrenamtliche Betreuungs-
gruppen oder Tagesbetreuung in Klein- und Kleinstgrup-
pen. So soll eine Vielfalt von Betreuungsmöglichkeiten
geschaffen werden, die den unterschiedlichsten Entlas-
tungswünschen der Angehörigen entgegenkommt. Dafür
werden insgesamt 20 Millionen DM eingesetzt. Die glei-
che Summe wird auch von den Ländern finanziert, sodass
wir dafür 40 Millionen DM veranschlagen können.
Zudem werden bestehende Beratungsangebote verbes-
sert und erweitert. Dies betrifft insbesondere den Ausbau
beratender Hilfen im häuslichen Bereich. Der begünstigte
Personenkreis erhält den Anspruch auf einen zweiten Be-
ratungsbesuch in dem gesetzlich vorgeschriebenen Inter-
vall, das heißt, in der Stufe III vierteljährlich und in den
Stufen I und II halbjährlich. Wichtig ist uns auch hier,
durch den qualifizierten Beratungsbesuch eine Optimie-
rung der Versorgungssituation im häuslichen Bereich zu
erreichen.
Flankiert werden die gesetzlichen Maßnahmen durch
eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und
Pflegekassen. Sie sollen das Verständnis für die Situation
dementer Menschen wecken. Sie sollen Anleitungen
zum Umgang mit ihnen geben, aber auch Maßnahmen der
Prävention, der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit oder
Verhinderung einer Verschlimmerung aufzeigen.
Wir wollen mit diesem Gesetz das bürgerliche Engage-
ment wecken und auf gelungene ehrenamtliche Projekte
aufmerksam machen, in denen sich in überzeugender
Weise bürgerschaftliches Engagement mit professioneller
Pflege zum Wohle der Pflegebedürftigen und ihrer An-
gehörigen verbindet.
Mit diesem Gesetz haben wir erste wirksame Schritte
zur Verbesserung der ambulanten Pflegesituation einge-
leitet.
Zusammen mit diesem Gesetz beschließen wir auch
die von uns seit langem angestrebte Förderung der ambu-
lanten Hospizarbeit durch die gesetzliche Krankenversi-
cherung.
In unseren Anhörungen haben wir feststellen können,
dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir werden den eh-
renamtlichen Helferinnen und Helfern beistehen und ih-
nen Hilfe durch palliativmedizinisch erfahrene Pflege-
dienste und Ärzte zukommen lassen. Und sie haben im
pflegerischen Bereich eine fachlich qualifizierte Kraft mit
Erfahrung in der palliativmedizinischen Pflege als An-
sprechpartner.
Gerade der nicht pflegerische Aspekt ist wichtig. Die
Hospizbewegung wird damit in die Lage versetzt, den
Einsatz und die Leistungen qualifizierter Ehrenamtlicher
auf einer gesicherten finanziellen Grundlage durch den
Einsatz fachlich geschulter Kräfte zu koordinieren. Die
ehrenamtliche Sterbebegleitung ist für die Sterbenden und
ihre Familien unendlich wichtig und hilfreich.
Ich möchte damit schließen, mich bei all denen, die
dies bisher schon gemacht haben, sehr zu bedanken.
Eva-Maria Kors (CDU/CSU): Es ist schon lange un-
strittig: Demenzkranke und ihre Familienangehörigen in
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119818
(C)
(D)
(A)
(B)
Deutschland müssen zusätzliche Hilfen aus der Pflege-
versicherung erhalten. Von den etwa 1,8 Millionen Pfle-
gebedürftigen in unserem Land sind über 900 000 in ihrer
Alterskompetenz so sehr eingeschränkt, dass sie auf re-
gelmäßige Hilfe angewiesen sind. 550 000 an Demenz er-
krankte Pflegebedürftige leben zu Hause und werden von
ihren Angehörigen betreut. Diese Zahlen unterstreichen
den konkreten und dringenden Handlungsbedarf.
Es ist daher durchaus richtig, dass sich die Bundesre-
gierung dieses Themas endlich angenommen und einen
Gesetzentwurf vorgelegt hat. Aber zum wiederholten Mal
schlägt die Bundesregierung bei dem Versuch, zu ver-
nünftigen und tragfähigen Lösungen zu kommen, den
falschen Weg ein! Das, was Rot-Grün mit dem Pflegeleis-
tungs-Ergänzungsgesetz als Problemlösung anbietet, ist
wieder einmal nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist
und bleibt Stückwerk. Denn ein bisschen finanzielle Un-
terstützung bei der Unterbringung Demenzkranker in Ein-
richtungen der Tagespflege, ein bisschen Entlastung für
die Angehörigen, ein bisschen Förderung von Betreu-
ungsangeboten und ein paar Modellprojekten reichen
eben nicht aus, um den Bedürfnissen Demenzkranker und
ihrer Angehörigen endlich gerecht zu werden und die Pro-
bleme sachgerecht zu lösen.
Zahlreiche Experten haben in der Anhörung demnach
auch ganz zutreffend ihre Vorschläge nur als einen sym-
bolischen Akt bezeichnet. Der vorgesehene Finanzrah-
men in Höhe von 900 Mark pro Jahr und Pflegebedürfti-
gen sei ein Witz. Er bedeute konkret 2 DM und 46
Pfennige oder eine Tüte Gummibärchen mehr finanzielle
Unterstützung pro Tag. Dies sei eine Demütigung der An-
gehörigen. Aber noch schlimmer: Nicht nur der vorgese-
hene Finanzrahmen ist unzureichend. Nach Ansicht von
Experten können konkrete Verschlechterungen im Krank-
heitsbild der Patienten nicht ausgeschlossen werden.
Denn der durch den Besuch einer Tagespflegeinrichtung
verursachte Wechsel der gewohnten Umgebung und der
gewohnten Personen könne dazu führen, dass die alters-
verwirrten Menschen ich zitiere noch verwirrter als
zuvor wieder nach Hause zurückkommen werden. Darü-
ber hinaus ändere der Gesetzentwurf nichts an der Einstu-
fungspraxis der Kassen. Das Sachleistungsprinzip der
Pflegeversicherung werde weiterhin den Anforderungen
demenziell erkrankter Menschen insgesamt nicht gerecht.
Diese im Vorfeld bekannten Meinungen von Experten aus
der Praxis haben wir im Gegensatz zu Ihnen ernst ge-
nommen und in unseren Entwurf vom März 2001 einge-
bunden.
Wir wollten mit unserem Entwurf, dass der allgemeine
Hilfe- und Betreuungsaufwand künftig in Höhe von bis zu
30 Minuten im Rahmen der Grundpflege anerkannt wird.
Im Gegensatz zu Rot-Grün bezog unser Entwurf ferner
auch demenziell erkrankte Menschen im stationären Be-
reich in die Verbesserungen mit ein. Und, meine Damen
und Herren von der Koalition, unser Vorschlag war seriös
gegenfinanziert! Durch die Verlagerung der Kosten für
die Behandlungspflege von der Pflege- in die Kranken-
versicherung wäre ein Finanzvolumen von etwa 1,5 Mil-
liarden Mark frei geworden. Wenn man von durchschnitt-
lich 75 000 Mark Personalkosten pro Pflegekraft im Jahr
ausgeht, hätten damit bundesweit 20 000 zusätzliche
Pflegefachkräfte eingestellt und bezahlt werden können.
Dies macht auch Sinn. Denn nur mit mehr und gut
qualifiziertem Personal lässt sich Pflegequalität wirklich
sichern und verbessern, und nicht mit immer neuen Ein-
zelgesetzen und immer mehr Bürokratie.
Darüber hinaus haben wir in unseren aktuellen Än-
derungsanträgen die Einrichtung einer Schiedsstelle für
Häusliche Krankenpflege und die Erhöhung der finanzi-
ellen Förderung stationärer Hospize gefordert. Es
müsste auch Ihnen bekannt sein, dass es im Bereich der
häuslichen Krankenpflege kein geeignetes Instrument
zur möglichst zeitnahen Lösung der Konflikte zwischen
Kassen und Verbänden bei den Vergütungsvereinbarun-
gen gibt. Scheitern die Verhandlungen, bleibt nur der
Weg vor die Sozialgerichte. Der Erlass der Richtlinien
zur häuslichen Krankenpflege im vergangenen Jahr hat
diese Entwicklung nicht stoppen können. Schiedsstellen
böten die Möglichkeit, zwischen den Vertragspartnern
zu schnellen und verbindlichen Lösungen zu kommen.
Leider hat Rot-Grün auch diesen Antrag zulasten insbe-
sondere der Pflegebedürftigen im häuslichen Bereich
abgelehnt. Es ist wichtig und richtig, die Probleme im
Bereich der häuslichen Krankenpflege anzugehen. Aber
Sie machen immer nur einen winzigen ersten Schritt
und setzen diesen mit großem medialen Getöse in der
Öffentlichkeit in Szene, aber von den Gesetzeskonse-
quenzen her sind immer die betroffenen Menschen die
Dummen. Ihre Gesundheitspolitik ist und bleibt Stüm-
perei.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koaliti-
onsfraktionen, es ist schlimm genug, dass Sie heute unzu-
reichende Lösungen zur Verbesserung der Situation von
Demenzkranken verabschieden. Aber noch schlimmer ist,
dass sie in diesem Gesetz so ganz nebenbei auch eine Ver-
schlechterung für die in der Hospizbewegung ehrenamt-
lich Tätigen vergraben haben. Was sind die Fakten? Der
Bundesrat hat im Juli diesen Jahres einen Gesetzentwurf
zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit vorgelegt.
Danach sollen die Krankenkassen mit einem bis zum Jahr
2007 auf 0,4 Euro pro Versicherten ansteigenden Betrag
Hospizdienste fördern. Hospizdienste, die in den Fami-
lien und Haushalten tätig sind. Gefördert werden soll ein
angemessener Zuschuss für die Personalkosten, die bei
der Gewinnung, Vorbereitung, Koordination und Beglei-
tung ehrenamtlicher Hospizdienste sowie deren Vernet-
zung mit anderen Diensten entstehen. Die zu fördernden
Aufgaben sollen auch palliativ-pflegerische Beratungen
umfassen können.
Aus vordergründig politischen Motiven haben die
Koalitionsfraktionen dann zum gleichen Thema einen
Änderungsantrag zum Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz
eingebracht. Ihr Vorschlag sieht eine Förderung nur dann
vor, wenn der in den Familien oder im Haushalt tätige am-
bulante Hospizdienst
mit palliativ-medizinisch erfahrenen Pflegediens-
ten und Ärzten zusammenarbeitet sowie unter der
fachlichen Verantwortung einer Krankenschwester,
eines Krankenpflegers oder einer anderen qualifi-
zierten Person steht, die über mehrjährige Erfahrung
in der palliativ-medizinischen Pflege oder über eine
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19819
(C)
(D)
(A)
(B)
entsprechende Weiterbildung verfügt und eine Wei-
terbildung als verantwortliche Pflegefachkraft oder
in Leitungsfunktionen nachweisen kann.
Am vergangenen Mittwoch haben wir darum gebeten,
die Beschlussfassung zu diesem Änderungsantrag ange-
sichts der nachmittags stattfindenden Anhörung zum Ent-
wurf des Bundesrates auszusetzen. Ohne jede Begrün-
dung haben Sie unsere Bitte jedoch mit Ihrer Mehrheit
abgeschmettert. Das heißt nichts anderes, als dass Sie die
Meinung der am Nachmittag erscheinenden Experten gar
nicht mehr interessiert hat. Dies ist nicht nur schlechter
parlamentarischer Stil, dies lässt auch jegliches ernst zu
nehmende Interesse an der Thematik und deren umfas-
senden Beratung und Diskussion vermissen. Und dies vor
dem Hintergrund, dass die verschiedene Sachver-
ständigen ausdrücklich auf zahlreiche Unzulänglichkei-
ten und Unklarheiten der von Ihnen geplanten Förderung
hingewiesen haben. So sehen die Experten die nötige kon-
tinuierliche Sterbebegleitung gefährdet, da die Förderung
auf Dienste beschränkt ist, die ausschließlich in Familien
und Haushalten tätig sind. Was passiert, wenn die Pflege-
bedürftigen in einer stationären Einrichtung unterge-
bracht und weiterhin begleitet werden sollen? Geht dann
die Förderung verloren?
Kritisiert wird aber vor allem, dass Ihr Entwurf die
Fördervoraussetzungen nicht in ausreichend deutlichem
Maße regelt. Es bleibt unklar, wie die Zusammenarbeit
der Hospizdienste mit den palliativ medizinischen Ange-
boten aussehen soll. Wo liegt die Grenze zwischen pallia-
tiv-medizinischer Betreuung einerseits und Pflege ande-
rerseits? Sollen nur noch Hospizdienste gefördert werden,
die eine solche Leistung anbieten? Letzteres würde be-
deuten, dass ambulante Hospizdienste ohne palliative Be-
ratungs- bzw. Pflegeleistung von der Förderung zumin-
dest teilweise ausgeschlossen sind und die Existenz
ehrenamtlicher Strukturen in der Hospizbewegung kon-
kret gefährdet ist. Denn auch Ehrenamtlichkeit braucht ei-
nerseits eine kontinuierliche finanzielle Förderung haupt-
amtlich Tätiger zur Unterstützung der Ehrenamtlichen.
Andererseits darf Ehrenamtlichkeit im Hinblick auf die an
die zu leistende Pflege zu stellenden Anforderungen aber
auch nicht überfordert werden. In beiden Punkten versagt
Ihr Gesetz.
Caritas und Diakonie teilen ausdrücklich unsere Be-
fürchtungen und haben in der Anhörung meine entspre-
chenden Fragen nach der Gefährdung ehrenamtlicher
Strukturen mit einem klaren Ja beantwortet.
Unklar bleibt in Ihrem Gesetz auch, wie die Qualität
der angestrebten palliativ-medizinischen Pflege sicherge-
stellt werden soll. Die Anhörung hat gezeigt, dass es in
Deutschland ein großes Defizit im Bereich der Palliativ-
medizin und -pflege gibt. Die Anhörung hat aber auch ge-
zeigt, dass hierzu Änderungen der Approbationsordnung
und verstärkte Anstrengungen der Selbstverwaltung er-
forderlich sind. Ihr Gesetz wirft auch diesbezüglich mehr
Fragen als Lösungen auf.
Darüber hinaus gefährden die von Ihnen aufgestellten
Anforderungen des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes
zusätzlich die Existenz bewährter ehrenamtlicher Struk-
turen. So haben nach Auskunft der Diakonie bereits zahl-
reiche ehrenamtliche Hospizmitarbeiter signalisiert, ihr
Ehrenamt aufgrund dieser zunehmenden bürokratischen
Aufgaben aufgeben zu wollen. Es ist schon bemerkens-
wert, dass Sie im Internationalen Jahr des Ehrenamtes ein
solches Gesetz auf den Tisch legen und verabschieden.
Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen Fol-
gendes ganz deutlich sagen: Wir wollen die auch aus un-
serer Sicht notwendige Zusammenarbeit zwischen haupt-
amtlich und ehrenamtlich Tätigen in der Hospizbewegung
stärken und finanziell fördern. Wir fordern aber eine um-
fassende und genaue Analyse und Beratung des Themas
Sterbebegleitung in Deutschland, an deren Ende ein
schlüssiges Konzept für die Arbeit und Finanzierung so-
wohl der ambulanten und als auch stationären Hospize so-
wie deren Vernetzung und Zusammenarbeit mit palliativ-
medizinischen Angeboten steht, die dem ehrenamtlichen
Charakter der Hospizbewegung weiterhin ausdrücklich
Rechnung trägt.
Für uns ist klar: Gesetzliche Regelungen in diesem Be-
reich dürfen nicht auf Kosten der Ehrenamtlichkeit gehen.
Sie dürfen nicht dazu führen, dass ehrenamtlich Tätige in
der Hospizbewegung nun zu billigen Pflegekräften für die
Kassen werden und damit Löcher gestopft werden, die Sie
durch Ihre unseriöse und unkompetente Gesundheitspoli-
tik immer wieder gerissen haben. Dies wäre eine unzuläs-
sige Überforderung des Ehrenamtes. Ihren Gesetzentwurf
lehnen wir daher ab.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich freue mich, dass wir heute das Pflegeleis-
tungsergänzungsgesetz verabschieden; denn mit der Ein-
ehrung der Pflegeversicherung 1995 haben wir die letzte
Lücke in der sozialen Versorgung gegen Lebensrisiken
geschlossen, die bereits vielen Menschen geholfen hat.
Rund 60 Millionen Menschen haben inzwischen An-
sprüche aus der Pflegeversicherung. Mit ihren Leistungen
erreicht die Pflegeversicherung insgesamt 1,9 Millionen
Pflegebedürftige, davon 1,28 Millionen im ambulanten
Bereich und 550 000 Personen im stationären Bereich.
Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung; sie
soll mit ihrem Leistungsangebot Pflegebedürftigen und
ihren Angehörigen helfen, die mit der Pflegebedürftigkeit
verbundenen persönlichen und finanziellen Lasten zu tra-
gen. Ein Erfolg der Pflegeversicherung: Die überwie-
gende Zahl der Pflegebedürftigen ist nunmehr von der So-
zialhilfe unabhängig. Gerade den Menschen, die im
Bereich der Pflege arbeiten, gebührt Anerkennung und
Dank für eine engagierte und oft zu gering entlohnte
Tätigkeit. Ein weiteres großes Verdienst der Pflegeversi-
cherung ist, dass es zum ersten Mal gelungen ist, eine so-
ziale Absicherung der Pflegepersonen einzuführen und
die Pflegetätigkeit sozial abzusichern wie eine Erwerbs-
tätigkeit. Derzeit profitieren circa 600 000 Pflegeper-
sonen, zum Beispiel Angehörige Freunde und Nachbarn
davon.
Obwohl die Pflegeversicherung bewusst als Teilabsi-
cherung konzipiert wurde, sehen wir gravierende Lücken
in der Versorgung. Der Grund: Auch in diesem Bereich
haben wir es mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die die
Untätigkeit der alten Regierung widerspiegelt. Das be-
trifft vor allem die Qualität der Versorgung in der ambu-
lanten und stationären Pflege.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119820
(C)
(D)
(A)
(B)
Berichte über die Mängel in der Pflege häufen sich.
Wir kennen sie alle aus einem Besuch im Pflegeheim oder
aus dem Fernsehen, die oft entwürdigenden Zustände in
den Pflegeheimen. Der Handlungsbedarf kann von kei-
nem der hier Anwesenden bestritten werden. Dabei gibt es
ganz offensichtlichen Nachholbedarf bei der Betreuung
der Demenzkranken und auch bei der Unterstützung für
die Angehörigen. Hier brauchen wir ein verbessertes Leis-
tungsangebot der Pflegeversicherung gerade für die De-
menzkranken. Denn die Versorgungssituation der De-
menzkranken muss dringend verbessert werden. Defizite
bestehen in quantitativer und qualitativer Hinsicht, beste-
hen nicht nur im Bereich der frühzeitigen Diagnostik und
der ganzheitlichen umfassenden Therapie. Besonders
fehlt es hier an der Pflege und Betreuung sowie an einer
angemessenen Beratung der Pflegebedürftigen und ihren
Angehörigen.
Hier besteht vor allem Handlungsbedarf im Bereich
der häuslichen Pflege, damit Kranke möglichst lange Zu-
hause gepflegt und betreut werden können. Dass die häus-
liche Pflege Vorrang hat, ist von ganz entscheidender Be-
deutung für die Koalition. Bei der steigenden Zahl der
Pflegebedürftigen, ist es uns wichtig, dass Pflegebedürf-
tige in Zukunft so lange wie möglich Zuhause gepflegt
werden können und ein anonymer Heimaufenthalt ver-
hindert werden kann. Deshalb werden wir in einem ersten
Schritt mit rund 0,28 Milliarden DM viele Maßnahmen
zur Stärkung und Förderung der häuslichen Pflege von
Pflegebedürftigen mit erheblichem Betreuungsbedarf an
allgemeiner Betreuung und Beaufsichtigung initiieren.
Für die Angehörigen werden zusätzliche Möglichkeiten
zur Entlastung geschaffen, indem pflegenden Angehöri-
gen qualitätsgesicherte Betreuungsangebote zur Seite ge-
stellt werden.
Das geschieht im Einzelnen dadurch, dass es für Pfle-
gebedürftige mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Be-
aufsichtigung und Betreuung einen zusätzlichen Leis-
tungsanspruch im Elften Sozialgesetzbuchs geben wird.
Diese können Leistungen der häuslichen Pflege in Höhe
von 900 DM im Kalenderjahr für qualitätsgesicherte Be-
treuungsleistungen entgegennehmen. Wir starten daher
neue Projekte, in denen neue Versorgungsformen erprobt
werden. Neue Projekte und niedrigschwellige Betreu-
ungsangebote werden durch die soziale und private Pfle-
geversicherung einerseits und von Land und Kommunen
andererseits in Höhe von 20 Millionen Euro jährlich fi-
nanziert werden. Diese niedrigschwelligen Betreuungs-
angebote dienen in erster Linie dazu, ehrenamtliche Be-
treuungspersonal zu finanzieren, also ihren Aufwand und
auch Sachkosten für die Koordination und Organisation
von Betreuenden.
Wir haben hier großen Wert darauf gelegt, dass die Pro-
jekte qualitätsgesichert sind. Als förderungsfähige, nied-
rigschwellige Betreuungsangebote kommen Helferinnen-
kreise zur stundenweise Entlastung der pflegenden
Angehörigen, Tagesbetreuung in Kleingruppen oder Ein-
zelbetreuung in Betracht. So wollen wir auch in der am-
bulanten Hospizarbeit von ehrenamtlichen Helfern ein
Zeichen setzen, indem diese Tätigkeit demnächst vergütet
wird. Bürgerengagement soll sich auch lohnen und at-
traktiver werden. Ziel des Pflegeleistungsergänzungsge-
setzes ist es, die Situation in den Familien zu entspannen
und ehrenamtliche Tätigkeit zu belohnen. Vor allem soll
für die pflegenden Angehörigen neue Möglichkeiten der
Entlastung geschaffen werden.
Dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt, Qualität, Wirt-
schaftlichkeit und Eigenverantwortung als Parameter fest
zu verankern. Qualitätssicherung zum zentralen Bestand-
teil unserer Gesundheitspolitik zu machen, haben wir uns
in den Koalitionsvereinbarungen fest vorgenommen. Im
Bereich der Pflege ist ein solcher Qualitätsmaßstab schon
lange überfällig. Was heißt denn Qualität? Es geht um
gute und angemessene Versorgung. Es geht um Versor-
gung, die Würde und Selbstbestimmung gewährleistet.
Menschen, die der Pflege bedürfen, sind nicht Objekt ei-
ner Maschinerie. Pflegepersonal ist nicht Verschiebe-
masse von chronischer Unterbesetzung und Fehlmanage-
ment. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen nicht
mehr auf dem Rücken dieser beiden Gruppen ausgetragen
werden.
Der informierte und eigenständige Patient ist Voraus-
setzung für einen sinnvollen Ressourceneinsatz. Deshalb
ist es wichtig, dass Patienten auch in kritischer Weise mit-
bestimmen können. Es geht darum, dass Versicherte ver-
besserte Möglichkeiten erhalten, sich generell über die
medizinischen Leistungsangebote und deren Qualität zu
informieren. Deshalb muss endlich unabhängige Patien-
tenberatung in Gang kommen und der Patient über die ab-
gerechneten Leistungen informiert werden: Für die Pflege
heißt das mehr Transparenz bei den Leistungen und Leis-
tungserbringern.
Deshalb sollen pflegebedürftige Menschen und ihre
Angehörigen eine bessere Beratung erhalten, die sie in die
Lage versetzt, ihre Rechte besser wahrzunehmen. Auf der
anderen Seite müssen die, die ehrenamtlich pflegen, auch
dafür unterstützt werden. Die Koalition will hier ein Zei-
chen setzen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung für die-
ses Gesetz.
Detlef Parr (FDP): In einem sind wir uns einig: Wir
dürfen die zu erwartende steigende Zahl der Demenz-
kranken aufgrund der demographischen Entwicklung
nicht ignorieren. Wir müssen für die Kranken, vor allem
aber für die Pflegenden, die großen Belastungen ausge-
setzt sind, die erforderlichen Hilfen schaffen und die Ver-
sorgung und Betreuung verbessern. Auf diesem Weg
kommen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
schrittchenweise voran. Es wird die Chance eröffnet,
mehr qualifizierte ehrenamtliche Helfer zu gewinnen.
Richtig ist es auch, neue Versorgungsformen für De-
menzkranke zu erproben.
Entscheidender wäre aber gewesen, statt bei der Fi-
nanzierung der Maßnahmen auf die Reserven der Pflege-
versicherung zurückzugreifen, diese fünfte Säule des So-
zialsystems grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen
und seine Zukunftsfähigkeit zu untersuchen. Wenn die
Reserven aufgebraucht sind die unumgängliche Anpas-
sung der Pflegesätze wird diesen Vorgang beschleunigen
müssen wir neue Wege gehen. Ein beruhigendes Weiter
so wird es nicht geben können. Wir haben die Pflicht, die
Bevölkerung auf diese Entwicklung vorzubereiten. Die
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Pflegeversicherung ist nur eine Teilkasko-Versicherung.
Wir dürfen uns nicht um die Frage herumdrücken, was die
Solidargemeinschaft finanzieren kann und was der Ein-
zelne vorsorgend zu tragen hat.
Wie im gesamten Gesundheitsbereich ist auch hier eine
ehrliche Bestandsaufnahme und öffentliche Debatte über
zukünftige Lösungswege notwendig. Es wird Sie nicht
wundern: Die FDP wird nicht müde werden, einen ord-
nungspolitischen Grundsatz immer wieder zu betonen: Zu
der umlagefinanzierten gesetzlichen Pflegeversicherung
muss der Aufbau einer privaten Absicherung treten be-
günstigt durch steuerliche Anreize. Wie weit diese private
Absicherung gehen muss, hängt zum einen von der He-
bung von Wirtschaftlichkeitsreserven und deren Nutzbar-
machung ab. Zum anderen müssen wir die Abgrenzung
zwischen den verschiedenen Kostenträgern im Rahmen
der Pflege mit dem Ziel einer Optimierung der Versor-
gung der Pflegebedürftigkeit verbessern.
Der vorliegende Gesetzentwurf soll auch den An-
spruch nach mehr Qualität in der Pflege erfüllen. Dafür
brauchen wir dringend eine Imagekampagne für den Pfle-
geberuf und Haushaltsmittel für Zuschüsse zur Erprobung
alternativer Pflegekonzepte insbesondere für Demenz-
kranke. Diese Konzepte müssen geprägt sein von größe-
rem Vertrauen in die Pflegenden. Sie müssen freier
entscheiden dürfen, welche Unterstützung in der indivi-
duellen Situation am hilfreichsten ist.
Wir hätten diesem Gesetzentwurf gern zugestimmt. Er
ist nicht der große Wurf, aber ein Schritt in die richtige
Richtung. Dann haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Regierungsfraktionen, den Gesetzentwurf um die
ambulante und stationäre Hospizarbeit erweitert. Es gab
aber bereits einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der
nicht nur von der FDP, sondern auch von vielen Fachleu-
ten unterstützt wurde. Nach Ihren Vorstellungen sollen
nun im Unterschied zum Bundesratsentwurf die Förder-
voraussetzungen so stringent sein, dass die ehrenamtliche
Arbeit, die die Hospizlandschaft entscheidend prägt, eher
behindert als unterstützt wird. Die Verknüpfung der Ster-
bebegleitung durch geschulte Ehrenamtliche mit der
zwingenden Zusammenarbeit mit palliativ-medizinisch
erfahrenen Pflegediensten und Ärzten ist nicht akzepta-
bel. Diese Förderungsvoraussetzungen sind viel zu eng
gefasst. Aus diesem Grund wird sich die in unserem Land
vorhandene und durch ehrenamtliche Arbeit geprägte
Hospizlandschaft nicht verbessern. Inhaltlich trägt der
Gesetzentwurf des Bundesrates diesen Gegebenheiten
besser Rechnung.
Wir hätten es daher begrüßt, wenn die Regierungsfrak-
tionen diesen Teil ihres Gesetzentwurfs zurückgezogen
hätten. So bleibt der FDP-Bundestagsfraktion nur die Ab-
lehnung des vorliegenden Entwurfs.
Dr. Ilja Seifert (PDS): Nicht nur von betroffenen Men-
schen, ihren Angehörigen, in Pflegediensten und Einrich-
tungen tätigem Personal und Sozialverbänden werden die
Missstände in der Pflege seit Jahren kritisiert. Ende Au-
gust 2001 hat sogar der Ausschuss für wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen
Sorge über die Zustände in deutschen Pflegeeinrichtun-
gen geäußert.
Das ist Ergebnis einer verfehlten Politik, die stets die
pflegefernen Bereiche gestärkt hat und nicht die Arbeit
am und mit dem pflegebedürftigen Menschen.
Die Bundesregierung stellt keinerlei neue Weichen für
eine Reform in der Pflege. Ihr Motto scheint zu lauten:
Weiter so mit ruhiger Hand. Der Reformbedarf wird ig-
noriert, die bestehenden Versorgungsdefizite beschönigt
und das Dogma der Beitragssatzstabilität als alternativlos
akzeptiert.
Leider steht auch der von der Bundesregierung vorge-
legte Entwurf für ein Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz
(PflEG) in dieser Kontinuitätslinie.
Jeder Mensch muss unabhängig von Alter und Beruf
zu jeder Zeit ausreichenden, am jeweiligen Bedarf orien-
tierten solidarischen Schutz durch die Gesellschaft erhal-
ten können. Das gilt besonders für schwerst betroffene
Menschen wie Demenzkranke, psychisch Kranke, Men-
schen mit apallischem Syndrom oder geistig schwerstbe-
hinderte Menschen, vor allem Kinder. Gegenwärtig wird
ihnen weder der ihnen menschenrechtlich zustehende
Teilleistungsanspruch in ausreichendem Maße, noch der
spezifische Anleitungs- und Hilfebedarf zugestanden. Mit
der gegenwärtigen Gesetzgebung das schließt das Pfle-
geleistungs-Ergänzungsgesetz vollinhaltlich ein wird
dieser Bedarf inhaltlich, personell und strukturell nicht
ausreichend abgesichert.
Diesen grundsätzlichen Forderungen, die sich mit dem
demographischen und sozialen Wandel noch verschärfen
werden, hat die Bundesregierung mit ihrem Gesetzent-
wurf nicht entsprochen. In verschiedenen Anhörungen zu
Pflegegesetzentwürfen, besonders auch zum PflEG, ha-
ben Vertreter der Behinderten- und Wohlfahrtsverbände
mehrfach auf diese Defizite sehr kritisch hingewiesen.
Die PDS lehnt den vorliegenden Referentenentwurf
auch deshalb ab, weil der gewählte Weg zur Einbeziehung
allgemeiner Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarfe
von Menschen mit geistiger Behinderung, psychisch
Kranken und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen
in die Pflegeversicherung den tatsächlich bestehenden
Bedürfnissen nicht gerecht wird.
Wir sind weiterhin der Auffassung, dass mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf Erwartungen geweckt wer-
den, die mit dem vorgesehenen zusätzlich zur Verfügung
gestellten Betrag von 900 DM oder 460 Euro pro Pflege-
bedürftigem jährlich nicht einmal annähernd erfüllt
werden.
Der zur Verfügung gestellte Betrag von umgerechnet
2,50 DM oder 1,26 Euro pro Tag steht im krassen Wider-
spruch zu der erforderlichen Hilfe für Menschen mit geis-
tiger Behinderung, psychisch Kranke und gerontopsy-
chiatrisch veränderte Menschen im ambulanten Bereich.
Auch für den Aufbau von kostenintensiven Strukturen für
niedrigschwellige Angebote reicht das keinesfalls. Ein
Betrag in dieser Höhe stellt für die Pflegebedürftigen und
ihre Familien keine wirklich nennenswerte Entlastung
dar.
Die Kernelemente des PflEG, die die Schaffung neuer
Leistungen für Pflegebedürftige mit einem erheblichen
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allgemeinen Pflegebedarf in häuslicher Pflege betreffen,
sind hinsichtlich ihrer Reichweite Kreis der Begünstig-
ten, der Höhe der vorgesehenen Leistungen sowie der
Modalitäten ihrer Inanspruchnahme defizitär.
Es ist nicht länger akzeptabel, dass der enge Pflegebe-
dürftigkeitsbegriff beibehalten werden soll und damit alle
Personen unterhalb der Stufe I, das heißt mit einem
Grundpflegebedarf von immerhin bis zu 45 Minuten täg-
lich, trotz erheblichen allgemeinen Beaufsichtigungsbe-
darfs auch weiterhin vom Leistungsbezug gemäß SGB XI
ausgegrenzt bleiben.
Die Bundesregierung wollte laut Koalitionsvereinba-
rung vom 20. Oktober 1998 prüfen, wie die Betreuung
Demenzkranker bei der Feststellung der Pflegebedürftig-
keit berücksichtigt werden kann. Sie hat Hoffnungen auf
eine Aufhebung der Benachteiligung dieses Personen-
kreises geweckt. In allen Beratungen wurde jedoch deut-
lich, dass bei der Suche nach Problemlösungen nicht der
Bedarf des betroffenen Personenkreises, sondern die Be-
grenzung der einzusetzenden finanziellen Mittel zum
Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht wurde. Die
jetzt vorgesehenen Mittel können insgesamt nicht mehr
als ein Tropfen auf einen heißen Stein angesehen werden.
Es muss auch bezweifelt werden, dass Art und Anlage die-
ser Leistungen sowie die in dem Gesetzentwurf ebenfalls
formulierten Förderungsmodalitäten, insbesondere für
niederschwellige Einrichtungen, geeignet sind, den Auf-
und Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur qualitäts-
gesicherter Angebote nachhaltig positiv zu beeinflussen.
Insgesamt stehen somit die neuen Betreuungsleistun-
gen unter der einengenden Auswirkung des programmati-
schen Gebots der Beitragssatzstabilität in der Pflegeversi-
cherung. Wenn sie in dem Gesetzentwurf als erster
Schritt bezeichnet werden, so bleibt die Benennung von
weiter reichenden mittelfristigen Perspektiven offen.
Die Spitzenverbände der Pflegekassen sollen nach der
laut Beschlussempfehlung im Gesundheitsausschuss
mehrheitlich gegen die Stimmen der PDS beschlosse-
nen Fassung des Gesetzes einheitlich und gemeinsam aus
Mitteln des Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung mit
5 Millionen Euro im Kalenderjahr Modellvorhaben zur
Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, insbesondere
zur Entwicklung neuer qualitätsgesicherter Versorgungs-
formen für Pflegebedürftige, durchführen und mit Leis-
tungserbringern vereinbaren.
Gegen Modellvorhaben ist nichts einzuwenden. Hier
werden aber Beitragsgelder, die Pflegebedürftigen zu-
stehen, zur Sanierung des Bundeshaushalts miss-
braucht ja, missbraucht! Denn falls die so geförderten
Modellprojekte im Bereich der persönlichen Budgets
oder von neuen Wohnformen positive Ergebnisse zeigen
sollten, wären sie nicht verallgemeinerbar: Aus der
Pflegeversicherung können sie keinesfalls regelfinan-
ziert werden.
Besonders pikant wird dieser Verschiebebahnhof,
wenn sich die Regierung aus den ohnehin begrenzten Mit-
teln der Pflegeversicherung bedient und zugleich im
Haushalt 2002 die Mittel für Modellmaßnahmen zur Ver-
besserung der Versorgung Pflegebedürftiger gegenüber
dem Ansatz für 2001 um über 20 Prozent kürzt.
Gesundheitspolitik kann und darf nicht auf Kosten-
dämpfung reduziert werden.
Wir brauchen Strukturen, die sich am Bedarf der be-
troffenen Menschen ausrichten und nicht vordergründig
an marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen, die
dann höchstens noch durch Begutachtungsrichtlinien des
Medizinischen Dienstes der Kassen reguliert werden.
Unter dem Strich bleibt insgesamt: Zum Sterben zu-
viel, zum Leben zu wenig. Deshalb lehnt die PDS dieses
Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz ab.
Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Gesundheit: Mit dem Entwurf
zum Pflegeleistungsergänzungsgesetz machen wir einen
ersten Schritt in Richtung Entlastungen für Pflegebedürf-
tige, die einen besonderen Betreuungsbedarf haben, und
ihre Angehörigen.
Wir schaffen die Grundlage für ein qualitätsgesichertes
Betreuungsangebot im ambulanten Bereich. Wir schaffen
die Voraussetzungen für mehr Beratung im Umgang mit
Menschen, deren Gedächtnisleistungen immer weiter ver-
loren gehen und deren Betreuung hohe Anforderungen an
ihre Angehörigen oder Freunde stellt. Und wir geben Im-
pulse zum Entstehen eines abgestuften bedürfnisgerech-
ten, niederschwelligen Betreuungssystems.
Wenn Sie uns nun vorwerfen, die Regierung täte nichts
für den stationären Pflegebereich und zu wenig für den
ambulanten, dann frage ich Sie: Wo waren Sie denn, als
wir das Pflegequalitätssicherungsgesetz beraten und ver-
abschiedet haben? Sie wissen sehr wohl, dass das Pflege-
qualitätssicherungsgesetz zu Verbesserungen für die
Menschen in Pflegeeinrichtungen führt. So werden unter
anderem die Instrumente der Qualitätssicherung neu
strukturiert und damit effektiver einsetzbar, die Verzah-
nung mit dem Heimgesetz wird verbessert, Verhand-
lungstransparenz geschaffen und der Verbraucherschutz
für Heimbewohner ausgeweitet. Sie hingegen glänzen mit
Forderungen, die unrealistisch und nicht finanzierbar
sind. Mit einem gesetzlich auch von Ihnen festgeschrie-
benen Beitragssatz von 1,7 Prozent ist das nicht zu ver-
wirklichen. Die Forderung nach Einbeziehung der Stufe
Null ist deshalb absolut unverantwortlich. Wenn Sie das
tatsächlich wollen, müssen Sie auch sagen, woher die
1,5 Milliarden DM jährlich mit steigender Tendenz
kommen sollen, die diese Leistungsausweitung kosten
würde, ganz zu schweigen von Ihren Vorschlägen, den
Pflegesatz in den Pflegestufen 2 und 3 um jeweils 200 DM
zu erhöhen.
Neben all dem wollen Sie auch noch einen Kapital-
stock aufbauen. Aber das ist bei Ihnen ja nichts Neues.
Schuldenmachen war in Ihren Regierungsjahren ja an der
Tagesordnung.
Wir hingegen schaffen mit dem vorliegenden Entwurf
ein Versorgungsnetz mit bedürfnisorientierten, abgestuf-
ten Angeboten, die mit den Mitteln der Pflegeversiche-
rung seriös und langfristig zu finanzieren sind. Die dabei
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vorgesehenen niedrigschwelligen Betreuungsangebote
kommen den Pflegebedürftigen auch der Stufe Null
zugute. Sie wissen, dass die Pflegeversicherung nur einen
Zuschuss zu den Aufwendungen zur Pflege leistet. Unter
Ihrer Verantwortung wurde dieses Gesetz als Kompro-
miss zwischen allen Fraktionen geschaffen. Sie haben
während Ihrer Regierungszeit die Probleme in der Pflege
bestens gekannt und den Kopf in den Sand gesteckt. Und
jetzt kommen Sie mit absolut unrealistischen Vorschlägen
und streuen den Menschen Sand in die Augen. Was Sie
wollen, ist alles nicht zu finanzieren! Wenn wir Ihre Vor-
schläge in die Tat umsetzen würden, wäre die Pflegever-
sicherung pleite. Auch Sie sollten akzeptieren: Man kann
nur das ausgeben, was man hat. Und weil das so ist, kön-
nen wir leider nicht alles wünschenswerte auf einmal er-
reichen.
Unser Entwurf ist ein erster Schritt, der auch von den
Beteiligten in der Pflege akzeptiert und mitgetragen wird.
Das ist uns ganz besonders wichtig.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Fairen Wettbewerb
im Luftverkehr bewahren Sicherheit erhöhen
(Tagesordnungspunkt 19)
Hans-Günter Bruckmann (SPD): Die schrecklichen
Ereignisse vom 11. September 2001 in den USA zeigen,
dass die Realität brutaler als jeder Horrorfilm sein kann.
Diese Ereignisse haben zu dramatischen Veränderungen
im Weltluftverkehr geführt. Die Bundesregierung hat sich
sofort den Herausforderungen gestellt und umfassende
Konsequenzen für die Verbesserung der Luftsicherheit im
nationalen und internationalen Rahmen eingeleitet.
Als nationale Sofortmaßnahme ist in Ergänzung zu
strengen Personen- und Handgepäckkontrollen und zur
verschärften Bewachung von Flughäfen am 13. Oktober
2001 die Luftverkehrs-Zuverlässigkeitsüberprüfungsver-
ordnung in Kraft getreten. Dadurch wurde ein einheitli-
ches und verbindliches Überprüfungsverfahren auf ho-
hem Niveau für den so genannten Innentäterschutz
eingeführt, das sich in der Praxis auf den 37 deutschen
Verkehrsflughäfen und bei den Luftfahrtunternehmen be-
währt. Weitere technische Schutzmaßnahmen gegen
Flugzeugentführungen wie aufbruchsichere Cockpit-
türen werden aktuell geprüft und in Zusammenarbeit
mit den Flugzeugherstellern und Luftfahrtunternehmen
kurz- und mittelfristig in Angriff genommen.
Neben den nationalen Maßnahmen sind aufgrund der
Internationalität des Luftverkehrs vor allem einheitliche
und verbindliche Sicherheitsstandards aller am zwi-
schenstaatlichen Luftverkehr beteiligten Staaten von
grundsätzlicher Bedeutung. Die Bundesregierung wird
von der Regierungskoalition dahin gehend unterstützt, bei
der ICAO die weiter gehenden Sicherheitsstandards der
EAC weltweit verbindlich zu machen. Die verbesserten
internationalen Sicherheitsmaßnahmen müssen dazu bei-
tragen, wieder zunehmendes Vertrauen in den Flug-
verkehr zu entwickeln. Dazu ist positive Psychologie ge-
fordert.
Nach dem 11. September 2001 ist im internationalen
Luftverkehrsmarkt ein dramatischer Verkehrsrückgang
bei fast allen Luftverkehrsunternehmen, Flughäfen und
Flugsicherungen zu verzeichnen. Schon vorher zu ver-
zeichnende Nachfragerückgänge aufgrund rezessiver
Entwicklungen der Weltwirtschaft, die sich zeitgleich in
Asien, USA und Europa bemerkbar gemacht hatten, wur-
den durch die Anschläge erheblich verschärft. Der Passa-
gierrückgang auf dem Nordatlantik beträgt etwa 30 Pro-
zent, in Europa etwa 15 Prozent Kostensteigerungen in
Folge erhöhter Sicherheitsmaßnahmen, geringerer Lade-
faktoren, wachsender Gebühren und Versicherungsprä-
mien belasten die Ertragskraft der gesamten Branche. Al-
lein für die deutschen Luftfahrtunternehmen kann
insgesamt von einer jährlichen Mehrbelastung in Höhe
von rund 580 Millionen DM ausgegangen werden.
Wettbewerbsverzerrungen aufgrund staatlicher Sub-
ventionen tun ein Übriges. Obwohl die Luftfahrtunter-
nehmen durch Ausdünnung der Flugprogramme eigene
Anpassungsmaßnahmen eingeleitet haben, sind sie mit
der Bewältigung der kritischen Situation überfordert. Un-
ternehmenszusammenbrüche, mühsame Rettungsaktio-
nen sowie Rufe nach staatlicher Hilfe sind die Folge.
Die aufgrund der differierenden Rahmenbedingungen
im internationalen Vergleich unterschiedlichen Ge-
bührensituationen stellen hier für uns eine große Heraus-
forderung dar. Die Bundesregierung hat dem betroffenen
Gewerbe von Anfang an ihre Unterstützung zugesagt. Ne-
ben der sofortigen Einleitung von Maßnahmen, die der
Erhöhung der Sicherheit dienen, hat der Bund eine zeit-
lich begrenzte Haftungsgarantie für die versicherungs-
mäßig nicht mehr abgedeckten Risiken in der Drittscha-
denhaftpflicht übernommen, ein richtiger und wichtiger
Schritt. Es darf in dieser Situation keinen Wettlauf von
Subventionen geben. Aber gleichermaßen müssen wir den
Luftverkehrsunternehmen eine Chance einräumen die
ohne eigenes Verschulden in diese schwierige Situation
gekommen sind. Die Bundesregierung wird aufgefordert,
sich auch weiterhin für eine faire und gerechte Lastentei-
lung unter allen von den Auswirkungen der Terrorakte be-
troffenen Unternehmen und Stellen einzusetzen. Dabei
wird sich möglicherweise eine Mehrbelastung von Unter-
nehmen und Passagieren aufgrund zusätzlichen Sicher-
heitsmaßnahmen nicht vermeiden lassen.
Darüber hinaus sind wir sicher, dass die Bundesregie-
rung sich auf internationaler Ebene ganz entschieden für
ein harmonisiertes, gleichgerichtetes Vorgehen einsetzt
und daran mitwirkt, wettbewerbsneutrale Regelungen für
die Zukunft des Luftverkehrs zu schaffen. Die EU-Staaten
sollen die EU-Kommission dabei unterstützen, mit den
USA einen code of conduct zu vereinbaren, der Wettbe-
werbsverzerrungen im Luftverkehr durch unzulässige
Beihilfen und Subventionen ausschließt. Preissenkungen
aufgrund von Subventionen sollen keine Zukunft haben.
Europäische Luftfahrtunternehmen haben gegenüber
der EU-Kommission belegt, dass US-Luftfahrtunterneh-
men aggressiv und in erheblichem Umfang das Preisni-
veau um bis zu 50 Prozent gesenkt haben. Auch europä-
ische Fluggesellschaften zum Teil aufgrund von
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Subventionen versuchen, mit drastischen Preissenkun-
gen Nachfrage zu generieren. Erfahrungen im Luftver-
kehr zeigen jedoch, dass bei krisenbedingter nachlassen-
der Nachfrage Preissenkungen nur das Preisniveau
senken, ohne dass wesentliche Zusatznachfrage entsteht.
Inzwischen erhöht sich der Marktdruck auch auf deutsche
Unternehmen, das Preisniveau anzupassen.
Die SPD-Fraktion unterstützt die Haltung der Bundes-
regierung bei folgenden Themen:
Schadensausgleich. Beibehaltung der bisherigen re-
striktiven Beihilfepraxis. Sofern Staatshilfen gewährt
werden, ist sicherzustellen, dass nur Schäden ausgegli-
chen werden, die direkt und ursächlich auf die Ereignisse
des 11. September 2001 zurückzuführen sind. Objektive
Kriterien müssen dabei Beurteilungsmaßstab sein.
Versicherungsproblematik. Die Einrichtung der Ar-
beitsgruppe auf Staatsekretärsebene unter Federführung
des BMF wird von uns unterstützt. Die Garantiezusage für
die nicht länger versicherten Risiken Krieg und Terror-
akte halten wir im Sinne der Branche für richtig. Auch
die vorgesehene Verlängerung vom 25. November 2001
bis zum 31. Januar 2002 ist sinnvoll. Bis zu diesem Zeit-
punkt erwarten wir aber ein Langfristkonzept unter Betei-
ligung der Versicherungs- und der Luftverkehrswirt-
schaft, das zukunftsfähig ist.
Wettbewerb. Mit dem in der Ressortabstimmung be-
findlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Er-
leichterung des Marktzugangs im Luftverkehr erwarten
wir Leitlinien zur Liberalisierung des internationalen
Fluglinienverkehrs in Deutschland, die eine stärkere För-
derung des Wettbewerbs unter gleichwertiger Berück-
sichtigung der Interessen von Luftfahrtunternehmen,
Verbrauchern, Flughäfen und verladender Wirtschaft vor-
sehen, um den Luftverkehrsstandort Deutschland zu stär-
ken. Wir sind uns sicher, dass durch das Gesetz die
betroffenen Luftfahrtunternehmen von den Kosten wirt-
schaftsregulierender Genehmigungsverfahren entlastet
werden, sich die Wettbewerbsintensität erhöht und der
Verbraucher einen höheren Nutzen bekommt. Mit den von
der Bundesregierung eingeleiteten Sofortmaßnahmen und
den mittel- und langfristig eingeleiteten Schritten sind wir
auf dem richtigen Weg.
Wir sind davon überzeugt, dass die gegenwärtigen Pro-
bleme im Luftverkehr vorübergehender Natur sind und
dass bald wieder Normalität und Wachstum im Luftver-
kehrsmarkt eintritt. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar-
beiten, dass das Vertrauen in die Luftfahrt zurück gewon-
nen wird.
Norbert Königshofen (CDU/CSU): Der Luftverkehr
ist ökonomisch am stärksten von den Folgen des Terror-
anschlages auf die USAam 11. September 2001 betroffen.
So bezifferte der internationale Zivilluftfahrtverband, IATA,
die Verluste für die Fluggesellschaften auf über 10 Mil-
liarden Dollar; sie sind also mehr als doppelt so hoch wie
die nach dem Golfkrieg. Damals waren es 4,9 Milliarden
Dollar und die Träger des internationalen Luftverkehrs
brauchten Jahre, um sich zu erholen.
In den USA spricht man von der Entlassung von rund
100 000 Mitarbeitern. Dies sind rund ein Siebtel aller Be-
schäftigten bei den US-amerikanischen Airlines. Auch in
Europa leiden die Fluggesellschaften unter den Auswir-
kungen der Attentate. So will British Airways 7 000 Stel-
len abbauen. Bei Swissair und Sabena verschlechterte
sich die ohnehin schwierige wirtschaftliche Situation so
drastisch, dass sie Bankrott gingen.
Die Deutsche Lufthansa will mit Ausgabenminderung
und Gehaltskürzungen sowie mit einem Einstellungs- und
Investitionsstopp die Krise ohne betriebsbedingte Kündi-
gungen meistern. Aber auch sie beklagt einen Rückgang
der Passagiere um 25 Prozent und Einnahmeverluste von
20 Millionen DM täglich. Allein in den ersten Tagen nach
dem 11. September, als der Luftraum über den USA ge-
sperrt war, entstand der Lufthansa ein Schaden von rund
180 Millionen DM. Zurzeit sind 43 Flugzeuge der Luft-
hansa in der Wüste im Südwesten der USA abgestellt.
Auch die internationalen Flughäfen leiden unter den
Folgen der Terroranschläge. So muss der Frankfurter
Flughafen seit dem 11. September Einbußen bei den
Fluggästen in Höhe von 20 bis 30 Prozent hinnehmen.
Die durch die Terroranschläge verursachte Krise trifft
die Fluggesellschaften in einer Phase zurückgehender
Konjunktur. Seit Mai 2001 wirken sich die schlechte
US-Konjunktur und das wirtschaftspolitische Versagen
der rot-grünen Bundesregierung auch auf die deutsche
Konjunktur aus, sodass schon vor dem 11. September der
Umsatz in der Luftverkehrsbranche zurückgegangen war.
Dabei war bis dahin der Luftverkehr als die Zukunfts-
branche angesehen worden.
Schon heute hängen allein in Deutschland 250 000 Ar-
beitsplätze direkt und 500 000 Arbeitsplätze indirekt vom
Luftverkehr ab. Die Luft- und Raumfahrtindustrie be-
schäftigt in Deutschland weitere 70 000 Menschen. Da die
Prognosen zu Fluggastzahlen bis 2020 ein jährliches
Wachstum von 5 Prozent und zum Luftfrachtverkehr um
7 Prozent versprachen, sah man im Luftverkehr nicht zu-
letzt die Jobmaschine der Zukunft.
Doch spätestens seit dem 11. September 2001 weiß
man, dass die Entwicklung nicht so rasant verlaufen wird.
Denn zu den konjunkturellen Schwierigkeiten kommen
die Belastungen aus den neuen Sicherheitsanforderungen.
Um es klar zu sagen: Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die
vom Verkehrsrat der EU am 16. Oktober 2001 in Luxem-
burg verabschiedeten Leitlinien. Wir unterstützen die
stärkere Kontrolle des Zugangs zu den sensitiven Berei-
chen der Flughäfen und zu den Flugzeugen, des Boden-
personals, der Fluggäste und ihres Handgepäcks, des auf-
gegebenen Gepäcks sowie dessen Überwachung. Wir
halten auch eine Klassifizierung von Gegenständen, die
nicht in sensitive Bereiche gebracht werden dürfen, für
notwenig.
Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich nachdrücklich
dafür aus, dass durch den Einbau von speziellen Cockpit-
Türen der Zugang zum Cockpit für Unbefugte gesperrt
wird, wie überhaupt alle technischen Möglichkeiten ge-
nutzt werden müssen, um zu verhindern, dass Attentäter
oder Flugpiraten Flugzeuge in ihre Gewalt bringen
können. Auch der Einsatz von Skymarshals ist nach unse-
rer Auffassung sinnvoll und geboten. Alle diese Sicher-
heitsmaßnahmen sind notwendig und wir unterstützen sie.
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Es gilt aber, die Sicherheit zu erhöhen, ohne den fairen
Wettbewerb zu verletzen. So hat der US-Senat Finanzhil-
fen in Höhe von 15 Milliarden Dollar als Soforthilfe für
die amerikanischen Fluggesellschaften bewilligt. Wegen
der Probleme, die die US-Fluggesellschaften haben, kann
man dies verstehen. Kein Verständnis haben wir aller-
dings dafür, dass US-Fluggesellschaften die Staatshilfe
dafür nutzen, mit massiven Preissenkungen die europä-
ischen Fluggesellschaften von der Nordatlantikroute zu
verdrängen. So bietet United Airlines Amerikaflüge von
Frankfurt/Main für 699 DM an. Das ist kein fairer Wett-
bewerb mehr, sondern Dumping. Die Terroranschläge
dürfen nicht als Vorwand dazu dienen, versteckte Staats-
hilfen zu leisten.
Das gilt aber auch für den innerdeutschen Wettbewerb.
So übernehmen einige Mitgliedstaaten der EU für die
nächste Zeit die Kosten zusätzlicher Sicherheitsmaßnah-
men, während Deutschland die Kosten durch Betreiber
und Nutzer tragen lässt.
Auch die Finanzspritzen der belgischen Regierung für
die Sabena-Nachfolgegesellschaft DAT und der Schweiz
für Swissair/Crossair verzerren den Wettbewerb.
In einem zusammenwachsenden Europa macht es kei-
nen Sinn, wenn sich jeder Staat koste es, was es wolle
seine eigene nationale Fluggesellschaft halten will.
Die CDU/CSU-Fraktion hält es auch nicht für richtig,
dass deutsche Fluggesellschaften für die Staatshaftung
zur Deckung von Folgeschäden bei Krieg oder Terror Prä-
mien zahlen sollen, während zum Beispiel British Air-
ways diesen Schutz unentgeltlich erhält. Daher begrüßen
wir, dass die Bundesregierung nun endlich die Prämien
gestundet hat, bis eine gemeinsame Prämienregelung in
der EU für die staatlichen Haftungsgarantien erreicht ist.
Wir unterstützen die Forderung der Organisation der
europäischen Luftlinien, AEA: keine staatlichen Beihil-
fen, aber Kompensation für Schäden, die durch politische
Ereignisse verursacht wurden. Insofern sollte die Bundes-
republik die Schäden, die den deutschen Fluggesellschaf-
ten durch die viertägige Sperrung des amerikanischen
Luftraums entstanden sind, übernehmen.
Wir wollen einen fairen Wettbewerb auf der Nord-
atlantikroute, in Europa, aber auch in Deutschland, also
zwischen der Lufthansa und ihren innerdeutschen Wett-
bewerbern. Weder die Politik noch der deutsche Fluggast
sind an einem Verdrängungswettbewerb interessiert.
Meine Damen und Herren, der FDP-Antrag entspricht
unserer Haltung zum Luftverkehr und die beantragten
Feststellungen werden von uns mitgetragen. Wir stimmen
daher dem FDP-Antrag zu.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Die Lage einiger Luftverkehrsunternehmen
hatte sich schon mit der abflauenden Konjunktur ver-
schlechtert; sie hat sich mit dem Anschlag am 11. Sep-
tember 2001 aber zu einer Krise ausgeweitet. Fluggesell-
schaften wie die Swissair oder die Sabena, die jahrelang
expandiert haben oder auf staatliche Unterstützung ange-
wiesen waren, haben Konkurs angemeldet. In diesen
Marktprozess sollte die Bundesregierung nicht eingrei-
fen, indem sie wieder staatliche Beihilfen in eine Bran-
che pumpt. Damit würden übrigens auch die Bemühun-
gen der Bundesregierung und der DB im innerdeutschen
und europäischen Bereich konterkariert, mehr Verkehr
auf einen schnellen und attraktiven Bahnverkehr zu ver-
lagern.
Im FDP-Antrag wird eine Beibehaltung des wett-
bewerblichen Rahmens im Flugverkehr gefordert. Hier
übersieht die FDP ich unterstelle einmal: mit einer ge-
wissen Absicht , dass der Flugverkehr immer noch hohe
staatliche Subventionen bekommt bzw. der ordnungspoli-
tische Rahmen den Flugverkehr in Konkurrenz zu den an-
deren Verkehrsträgern eindeutig bevorzugt. Ich erinnere
daran, dass Flughäfen mit hohen staatlichen Beihilfen fi-
nanziert und Länderbeihilfen für die Durchführung inter-
kontinentaler Flüge gezahlt werden. Der zweite Punkt ist
das Fehlen einer internationalen Kerosinsteuer und die
Umsatzsteuerbefreiung im grenzüberschreitenden Luft-
verkehr. Durch beides werden die umweltfreundlichen
Verkehrsträger Bahn und Schifffahrt massiv benach-
teiligt.
Die Bundesregierung setzt sich für eine Liberalisie-
rung des Luftverkehrs ein, die verbunden sein muss mit
einer Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. In-
nerhalb der EG wird die bisher konsequente Haltung der
Kommission unterstützt, das grundsätzliche Subven-
tionsverbot des EG-Vertrages gegenüber subventionsbe-
reiten Staaten anzuwenden. Dazu gehört auch, dass der
Staat neben den verstärkten Sicherheitsmaßnahmen in
staatlicher Hoheit nicht alle Aufwendungen der Luftver-
kehrsgesellschaften für zusätzliche Kosten ersetzen kann
und darf. Hier kann es allenfalls um eine wettbewerbs-
neutrale Ausgestaltung der Kostenverteilung gehen.
Die Bundesregierung hat den Luftverkehrsgesell-
schaften schnell mit einer Übernahme der Versicherungs-
risiken für terroristische Angriffe, die die Versicherungs-
wirtschaft nicht mehr übernehmen wollte, unter die Flügel
gegriffen. Jedem von uns ist aber auch bewusst, dass ein
katastrophaler Terroranschlag mit Flugzeugen zum Bei-
spiel in Deutschland was Gott verhüten möge! auch
immense Kosten verursacht, die den Bundeshaushalt
enorm belasten würden. Daher muss auch aus prinzipiel-
len Überlegungen das Versicherungsrisiko in absehbarer
Zeit wieder auf die privatwirtschaftliche Versicherungs-
wirtschaft verlagert werden. Die Luftfahrt verzeichnet
wie kein anderer Verkehrsträger seit Jahren ein erhebli-
ches Wachstum. Sie wird auch die gegenwärtige Krise
nach einer Phase der Erholung überwinden.
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Nach den Terror-
anschlägen vom 11. September 2001 ist es insbesondere
in der Luftverkehrswirtschaft zu erheblichen Turbulenzen
gekommen. Drei Dinge machen es den Unternehmen
hierbei besonders schwer:
Erstens der massive Einbruch bei den Buchungen, vor-
nehmlich auf den transatlantischen Routen. Zweitens die
Kündigung der Versicherungsverträge wegen der Neube-
wertung der Risiken und drittens der zusätzliche Aufwand
für die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen am Boden und
in der Luft.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119826
(C)
(D)
(A)
(B)
Diese Beobachtung dürfte unbestritten sein. Allerdings
kommen die Fluggesellschaften offensichtlich unter-
schiedlich gut mit dieser Situation zurecht, wie die Fälle
TAP, Alitalia, Swiss Air, Sabena und jetzt wohl
auch LTU zeigen. Dies wird in Amerika, aber auch in-
nerhalb der EU zunehmend zum Anlass genommen, den
in Schwierigkeiten geratenen Gesellschaften Unterstüt-
zung zukommen zu lassen.
Hier gilt es jetzt aufzupassen! Niemand kann etwas da-
gegen haben, bestimmte neue Belastungen der Luftver-
kehrsbranche, die ja alle Gesellschaften treffen, staatli-
cherseits abzufedern. Hierzu gehören die von der
Bundesregierung und der Luftverkehrswirtschaft einge-
leiteten Sicherheitsmaßnahmen, aber auch die zeitlich be-
grenzte Erweiterung der Staatshaftung für nicht mehr ver-
sicherte Kriegs- und Terrorismusrisiken über deutsche
Luftverkehrsunternehmen hinaus, auf deutsche Flughäfen
und Dienstleister. Hierher gehört auch, dass die Folgen
der Luftraumsperre in den USA in den Tagen der An-
schläge das war ein hoheitlicher Akt durch die Bun-
desregierung kompensiert werden. Für die Lufthansa be-
ziffert sich der Schaden, der nur hierdurch entstanden ist,
beispielsweise auf circa 180 Millionen Mark. Die Bun-
desregierung hat obendrein die Pflicht, in Zusammenar-
beit mit der Versicherungswirtschaft für eine Art Terror-
folgen-Resthaftung oberhalb des Versicherungssystems
aus Versicherern und Rückversicherern zu stehen. Sonst
wird das Fliegen unbezahlbar.
Diese Belastungen sind solche, die alle Gesellschaften
betreffen und daher auch gleichmäßig bei allen ausgegli-
chen werden müssen. Darüber hinaus darf es nicht zu ei-
nem Subventionswettlauf kommen.
Viele Luftverkehrsunternehmen scheinen nämlich die
Probleme, die die veränderten Marktbedingungen mit
sich bringen, meistern zu können. Deren Zahl ist größer
als die Zahl der Unternehmen, die nun in existenziellen
Schwierigkeiten sind. Dieser Umstand beweist auch, dass
die momentane akute Krise einiger Luftverkehrsunter-
nehmen dem Grunde nach schon länger bestand und in-
folge der Terroranschläge in den USA nur offen zu Tage
getreten ist. Insofern haben die nach den Terroranschlä-
gen gesunkenen Passagierzahlen diese Krise im Luftver-
kehr noch wesentlich beschleunigt. Sie sind aber nicht die
Ursache für die Probleme, die eine Reihe von Luftver-
kehrsunternehmen auch schon vorher am Markt hatten.
Daher muss sich der bestehende Wettbewerbsrahmen im
Luftverkehr gerade in diesen krisenhaften Zeiten be-
währen und darf nicht aufgeweicht werden.
Das gilt für Deutschland selbst, die EU, aber auch für
die internationale Ebene. Es kann nicht sein, dass im Rah-
men der Krisenbewältigung den Amerikanern, aber auch
europäischen Regierungen ein Freibrief für die Wieder-
eröffnung der längst überwunden geglaubten Spielwiese
für staatliche Interventionen und Subventionen ausge-
stellt wird. Jeder kennt die Subventionsverlockungen, der
auch Regierungen erliegen, wenn sie sich einen interna-
tionalen Wettbewerbsvorteil erhoffen. Deshalb war die
Deregulierung im Luftverkehr eine historische Leistung.
Es muss unbedingt vermieden werden, dass jetzt im
Grunde gesunde Carrier im Wettbewerb mit subventio-
nierten Wettbewerbern unverschuldet ins Hintertreffen
geraten. Diese Unternehmen haben sich seit der Deregu-
lierung im Luftverkehr über Jahre hinweg eine günstige
Marktposition erarbeitet und dürfen nun nicht gegenüber
denjenigen Unternehmen benachteiligt werden, die nur
noch durch Subventionen am Markt bestehen können,
weil sie wiederum über Jahre hinweg ihre Hausaufgaben
nicht gemacht haben.
Nach Auffassung der FDP muss die Bundesregierung
im eigenen Land stringent und nicht nach Holzmann-Ma-
nier handeln und sich auf europäischer und WTO-Ebene
dafür einsetzen, dass hier den Anfängen gewehrt wird. Es
müssen strenge Kriterien angelegt werden, wenn Unter-
stützungsmaßnahmen für die Luftverkehrswirtschaft in
Erwägung gezogen werden. Ganz besonders müssen
marktverzerrende Dauersubventionen ausgeschlossen
sein. Als Maßstab kommen nur die WTO-Regeln in Be-
tracht.
Hinsichtlich der Mehraufwendungen für zusätzliche
Sicherheitsmaßnahmen muss ein fairer Modus zur Anlas-
tung der zusätzlichen Kosten gefunden werden. Im Si-
cherheitspaket der Bundesregierung aufgeführte Maßnah-
men, die hoheitlichen Aufgaben zuzuordnen sind, dürfen
weder den Passagieren noch den Unternehmen angelastet
werden. Schon gar nicht darf der Finanzminister als Ver-
sicherungsmakler auftreten und Prämien einfordern, wo
keine finanziellen Belastungen für den Staat eingetreten
sind! Auch hier ist ein harmonisierter Handlungsrahmen
zu erarbeiten, um Wettbewerbsverzerrungen und Sicher-
heitsdefizite zu vermeiden.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Der FDP-Antrag geht von
einer Krise der Luftverkehrsunternehmen aus. Er betont
zu Recht, dass sich diese Krise mit den Ereignissen vom
11. September nur beschleunigt habe, dass ihre Grund-
tendenzen jedoch bereits vor dem 11. September zutage
getreten seien.
Tatsächlich haben wir es mit einer schweren Bran-
chenkrise zu tun. Allein in den USA sollen 100 000 Ar-
beitsplätze in der Luftfahrt vernichtet werden. Nach der
De-facto-Pleite der Swissair steht inzwischen auch die
belgische Sabena vor dem Konkurs. Andere Zusammen-
brüche dürften noch folgen.
Nun versucht sich der FDP-Antrag in der Quadratur
des Kreises. Einerseits ganz Antrag der Liberalen wird
gefordert, am Wettbewerbsrahmen festzuhalten und
keine neuen größeren staatlichen Subventionen zuzulas-
sen, andererseits wird verlangt, die Mehraufwendungen
für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in einem fairen
Modus in erster Linie dem Staat anzulasten. Hier sollen
unter anderem Maßnahmen, die hoheitlichen Aufgaben
zuzurechnen sind, nicht den Passagieren und nicht den
Fluggesellschaften angelastet werden.
Wir dürfen daran erinnern: Die Bahn verfügte früher
über eine Bahnpolizei. Diese wurde im Rahmen der Pri-
vatisierung abgeschafft. Inzwischen übt der BGS weitge-
hend die Funktionen der ehemaligen Bahnpolizei aus. Die
DB AG muss dafür jährlich einen erheblichen Betrag an
den Bund abführen. Offensichtlich findet die FDP das
bei der Bahn richtig, weil marktwirtschaftlich, will jedoch
beim Flugverkehr gerade solche Kosten durchaus beim
Steuerzahlenden angesiedelt sehen. Wenn ein Verkehrs-
mittel derart gefährdet ist, wie es für das Fliegen ja
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19827
(C)
(D)
(A)
(B)
zutrifft, warum sollen die entsprechenden Sicherheitsmaß-
nahmen nicht den Fluggesellschaften angelastet werden?
Überhaupt sollten wir die Forderung der FDP näher un-
tersuchen, wonach der Wettbewerbsrahmen erhalten wer-
den sollte. Was für ein Rahmen ist das denn? Und wo gibt
es dort welchen Wettbewerb? Bereits der Flugzeugbau ist
eine hoch subventionierte Angelegenheit. Die Unterneh-
men Airbus und Boeing würden gar nicht existieren, wür-
den sie nicht massiv subventioniert und wären sie nicht
zugleich Teil großer industrieller Komplexe, die fast aus-
schließlich von Staatsgeldern leben. Sodann ist der ganze
Weltmarkt für zivile Jets unter diesen zwei Konzernen,
die 98 Prozent des Weltmarkts für große zivile Jets kon-
trollieren, aufgeteilt. Von Wettbewerb kann da längst
kaum mehr die Rede sein. Schließlich befinden sich in un-
serem Land alle Flugplätze ganz oder weitgehend in öf-
fentlicher Hand, im Eigentum von Ländern und Kommu-
nen und zum Teil auch des Bundes. Auch auf diesem Weg
werden in großem Umfang Kosten des Luftverkehrs ver-
gesellschaftet.
Schließlich wird Kerosin nicht besteuert; die Airlines
mussten damit auch nicht die jüngsten Ökosteuern auf
Energie mittragen.
Dann müsste der Vollständigkeits halber noch angefügt
werden, dass die externen Kosten im Flugverkehr weit
größer als bei allen anderen Verkehrsträgern sind, unter
anderem aufgrund des massiven Beitrags zur Klimaver-
schlechterung und aufgrund der immensen Lärmemissio-
nen, wobei die Kosten für den passiven Lärmschutz im
Umfeld von Flughäfen ebenfalls nicht von den Flugge-
sellschaften getragen werden.
Wird all dies bedacht, dann handelt es sich beim Luft-
verkehr um eine Veranstaltung, die in extremem Maß sub-
ventioniert ist. Es ist bezeichnend, dass die FDP all diese
Subventionen nicht nur nicht erwähnt, sondern diese vor
allem beibehalten will. Die Ritter der freien Marktwirt-
schaft halten nur dort ihr Fähnlein hoch bzw. sie nehmen
dieses Priznzip nur dort ernst, wo es in den Kram passt,
zum Beispiel beim Thema Bahnprivatisierung. Im Fall
des Flugverkehrs dagegen soll ein Wettbewerbsrahmen
aufrechterhalten werden, der in erster Linie ein staatlich
subventionierter Rahmen zur Förderung desjenigen Ver-
kehrsträgers ist, der im Vergleich zu den anderen Ver-
kehrsträgern die Umwelt am meisten schädigt und den
Menschen die größten Belastungen bringt.
Die FDP sollte uns bei einem Trippelschritt hin zu et-
was weniger Wettbewerbsverzerrung unterstützen und
gemeinsam mit uns die Einführung der Mineralölsteuer-
pflicht bei Kerosin fordern.
Stephan Hilsberg, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Die
schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 in den
USA haben zu dramatischen Veränderungen im Weltluft-
verkehr geführt. Schon vorher zu verzeichnende Nachfra-
gerückgänge aufgrund rezessiver Entwicklungen der
Weltwirtschaft, die sich zeitgleich in Asien, USA und Eu-
ropa bemerkbar gemacht hatten, wurden durch die An-
schläge erheblich verschärft. So beträgt der Passa-
gierrückgang auf dem Nordatlantik gegenwärtig etwa
30 Prozent, in Europa beläuft er sich auf rund 15 Prozent.
Kostensteigerungen infolge erhöhter Sicherheitsmaßnah-
men, geringerer Ladefaktoren, wachsender Gebühren und
Versicherungsprämien belasten die Ertragskraft der ge-
samten Branche zusätzlich. Allein für die deutschen Luft-
fahrtunternehmen kann insgesamt von einer jährlichen
Mehrbelastung in Höhe von rund 290 Millionen Euro aus-
gegangen werden. Wettbewerbsverzerrungen aufgrund
staatlicher Subventionen tun ein Übriges. Obwohl die
Luftfahrtunternehmen durch Ausdünnung der Flugpro-
gramme Lufthansa hat zum Beispiel 43 Flugzeuge still-
gelegt eigene Anpassungsmaßnahmen eingeleitet ha-
ben, sind sie zum Teil mit der Bewältigung der kritischen
Situation überfordert. Unternehmenszusammenbrüche,
mühsame Rettungsaktionen sowie Rufe nach staatlicher
Hilfe sind die Folge.
Die Bundesregierung hat dem betroffenen Gewerbe
von Anfang an ihre Unterstützung zugesagt. Neben der
sofortigen Einleitung von Maßnahmen, die der Erhöhung
der Sicherheit dienen, hat der Bund eine zeitlich begrenzte
Haftungsgarantie für die versicherungsmäßig nicht mehr
abgedeckten Risiken in der Drittschadenhaftpflicht über-
nommen. Ferner haben wir uns auf europäischer Ebene
ganz entschieden für ein gleichgerichtetes Vorgehen in al-
len ökonomischen und Sicherheitsfragen eingesetzt. Die
Bundesregierung wird auch weiterhin für eine faire und
gerechte Lastenteilung unter allen von den Auswirkungen
der Terrorakte betroffenen Unternehmen und Stellen ein-
treten. Bezüglich der Mehraufwendungen für zusätzliche
Sicherheitsmaßnahmen kann nicht ausgeschlossen wer-
den, dass Unternehmen und Passagiere von den zusätzli-
chen Kosten gänzlich unverschont bleiben. Allerdings
wird eine wettbewerbsneutrale Regelung und Anwendung
auch im internationalen Rahmen angestrebt.
Auf der letzten Sitzung des EU-Verkehrsministerrats
am 16. Oktober 2001 in Luxemburg nahm das Thema
Luftverkehr einen breiten Raum ein. Ich möchte Ihnen die
wichtigsten Ergebnisse und unsere Position dazu kurz
skizzieren:
Schadensausgleich: Grundsätzlich verbleibt es bei der
bisherigen restriktiven Beihilfepraxis. Das bedeutet, dass
die gegenwärtige Situation nicht zur Rettung von schon
vor dem 11. September 2001 Not leidenden Gesellschaf-
ten herhalten darf. Sofern Staatshilfen gewährt werden,
muss sichergestellt sein, dass nur solche Schäden ausge-
glichen werden, die direkt und ursächlich nachweisbar auf
die vier- bis fünftägige Schließung fremder Lufträume
nach dem 11. September zurückzuführen sind. Keines-
falls dürfen die staatlichen Leistungen zu Wettbewerbs-
verzerrungen unter den Luftfahrtunternehmen führen. Die
Kommission wird jeden einzelnen Antrag sorgfältig auf
der Basis objektiver Kriterien prüfen. Die der Bundesre-
gierung bisher vorliegenden Anträge deutscher Unterneh-
men belaufen sich auf circa 71 Millionen Euro.
Versicherungsproblem: Was die ungedeckten Versiche-
rungsrisiken bei der Haftpflicht für Drittschäden angeht,
hat der Verkehrsrat die Grundzüge einer gemeinsamen
Haltung festgelegt. Ziel bleibt die schnellstmögliche
Rückkehr zur privatwirtschaftlichen Versicherung. So-
weit das noch nicht möglich ist, können die Staatsgaran-
tien jeweils nach Überprüfung des Versicherungsmarktes
auf monatlicher Basis bis längstens zum 31. Dezember
2001 verlängert werden. Dabei sind marktgerechte Prä-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119828
(C)
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(B)
mien festzusetzen. Als Versicherungshöchstgrenze gelten
die Beträge, die am 11. September 2001 bestanden.
Die Bundesregierung hat gegenüber den deutschen
Luftfahrtunternehmen, Flughäfen und Anbietern von
wichtigen Dienstleistungen, zum Beispiel Abfertigungs-
gesellschaften, Betankungs- und Versorgungsunterneh-
men, eine Garantiezusage für die nicht länger versi-
cherbaren Risiken Krieg und Terrorakte in Höhe von
insgesamt bis zu 20 Milliarden US-Dollar abgegeben. Sie
gilt zunächst bis zum 25. November 2001, eine Verlänge-
rung bis zum 31. Januar 2002 ist bereits vorgesehen. Die
Entgelte für die Haftungsübernahme werden den Unter-
nehmen zunächst bis zur Festlegung EU-einheitlicher Ge-
bühren gestundet. Wir werden die EU-Kommission in ih-
rer Kontrollfunktion unterstützen, damit es nicht zu
Wettbewerbsverzerrungen durch kostenlose oder günsti-
gere Staatsgarantien in anderen Ländern kommt. Inzwi-
schen wurde ein Arbeitsgruppe auf Ebene der Staatsse-
kretäre unter Federführung des Bundesfinanzminis-
teriums eingesetzt. Sie wird unter Beteiligung von
Versicherungswirtschaft und deutscher Luftverkehrswirt-
schaft ein Langfristkonzept zur Lösung der Frage erarbei-
ten, wo Staat und wo Wirtschaft haften.
Preisdumping durch ausländische Fluggesellschaften:
Sorge bereitet uns die gegenwärtig zu beobachtende Pra-
xis einiger ausländischer Unternehmen, über Preisdum-
ping Marktanteile zurückzugewinnen. Der Wettbewerb
um den Fluggast muss auch in der gegenwärtigen, für alle
gleich schwierigen Situation mit fairen Mitteln geführt
werden. Es darf nicht sein, dass staatliche Ausgleichsleis-
tungen für erlittene Schäden oder zur Stützung chronisch
kranker Unternehmen für solche Zwecke missbraucht
werden. Sowohl auf europäischer Ebene als auch in bila-
teralen Kontakten wird die Bundesregierung um die Ab-
stellung solcher Praktiken bemüht sein.
Es ist zu hoffen, dass die gegenwärtigen Probleme
vorübergehender Natur sind und baldmöglichst wieder
Normalität und Wachstum im Luftverkehrsmarkt eintritt.
Alle Beteiligten arbeiten daran, das Vertrauen in die Luft-
fahrt so schnell wie möglich zurückzugewinnen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von
öffentlichen Angeboten zum Erwerb von
Wertpapieren und von Unternehmensüber-
nahmen
des Antrags: Fairer Wettbewerb und Rechts-
sicherheit bei Unternehmensübernahmen in
Europa
des Antrags: Gesetzliche Mitspracherechte
bei Unternehmensübernahmen
(Tagesordnungspunkt 22 a und b)
Nina Hauer (SPD): Wir freuen uns, dass es uns ge-
lungen ist, die Übernahme börsennotierter Unternehmen
endlich gesetzlich zu regeln. Die Anwendung des Kodex
der Börsensachverständigenkommission hat gezeigt, dass
eine freiwillige Vereinbarung auf Dauer nicht ausreicht.
Es bedarf einer verbindlichen gesetzlichen Regelung.
Innerhalb der Europäischen Union bestehen zum Teil
gravierende Unterschiede im Gesellschaftsrecht und im
Aktienrecht. Andere Staaten schützen nationale Unter-
nehmen mit den so genannten Golden Shares oder durch
Stimmrechtsbeschränkungen. Es ist das Verdienst der
Bundesregierung, dass diese Unterschiede jetzt mit dem
Ziel geprüft werden, sie aneinander anzugleichen und auf
der europäischen Ebene ein so genanntes level playing
field, also ein Spielfeld auf gleicher Höhe zu schaffen.
Deutschland kann jedoch auf eine Einigung nicht warten.
Wir benötigen die gesetzliche Regelung jetzt.
Ziel des Übernahmegesetzes ist es nicht, Übernahmen
zu verhindern, sondern gesetzliche Regeln für deren Ab-
lauf festzuschreiben. Es sollen sich alle Beteiligten auf ein
faires Verfahren verlassen können: Minderheitsaktionäre
und Beschäftigte ebenso wie Bieter und Zielgesellschaft,
Vorstand und Aufsichtsrat. Im Fall eines Übernahmeange-
botes darf der Vorstand der Zielgesellschaft keine Hand-
lungen vornehmen, durch die der Erfolg des Angebotes
verhindert werden könnte. Dies gilt nicht für Handlungen,
die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäfts-
leiter ohne vorliegendes Angebot unternommen hätte,
oder für die Suche nach einem weißen Ritter sowie für
Handlungen, denen der Aufsichtsrat zugestimmt hat. An-
dere, übliche Abwehrmaßnahmen, wie zum Beispiel eine
Kapitalerhöhung oder der Erwerb eigenerAktien bedürfen
selbstverständlich weiterhin der Zustimmung der Haupt-
versammlung. Andere übliche Abwehraßnahmen, wie
zum Beispiel eine Kapitalerhöhung oder der Erwerb eige-
ner Aktien bedürfen der Zustimmung der Hauptversamm-
lung. Das ist das Gebot des Aktienrechts und durch euro-
päische Richtlinien vorgeschrieben. Die Aktionäre sollen
als Eigentümer des Unternehmens das letzte Wort haben.
Die Hauptversammlung kann den Vorstand in einem so
genannten Vorratsbeschluss zu Abwehrmaßnahmen er-
mächtigen. Diese Beschlüsse gelten für höchstens 18 Mo-
nate und müssen mit Dreiviertel des stimmberechtigten
Kapitals gefasst werden. Im Rahmen des Gesetzes werden
auch die Fristen für die Einberufung einer Hauptver-
sammlung verkürzt, damit im Falle eines Angebotes die
Aktionäre schnell zusammentreten können.
Unser Übernahmegesetz erreicht zwei von uns gesetzte
Ziele: Wir wollen den Finanzplatz Deutschland stärken.
Eine verbindliche Regelung für Übernahmen unterstützt
dieses Ziel. Das Gesetz stärkt die Möglichkeiten der
Hauptversammlung und die Durchsetzung der Interessen
der Aktionäre.
Wir wollen Beschäftigte schützen. Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen haben nach unserem Gesetz das
Recht auf Information, wie das Übernahmeangebot aus-
sehen wird und das Recht dazu, Stellung zu beziehen.
Über die Mitwirkung im Aufsichtsrat können sie Vor-
schläge zur Abwehr einbringen. Die Praxis hat gezeigt,
dass die Beschäftigten in bestimmten Fällen durchaus In-
teresse an einer Übernahme haben können wenn näm-
lich ihr Unternehmen unter seinen Möglichkeiten wirt-
schaftet und damit Arbeitsplätze gefährdet.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19829
(C)
(D)
(A)
(B)
Mit dem Altersvermögensgesetz haben wir die Mög-
lichkeit geschaffen, in der betrieblichen Altersvorsorge
mit Pensionsfonds Kapital anzusparen. Diese Fonds wer-
den in einigen Jahren Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
rinnen ebenfalls zu stimmkräftigen Aktionären gemacht
haben. Sie können dann als Miteigentümer auf Hauptver-
sammlungen mitentscheiden.
Die Beratungen des Gesetzes haben gezeigt, dass sich
die Opposition mit dem Gesetz selbst nur unzureichend
befasst hat und sich weder den Interessen des Finanz-
marktes noch denen der Beschäftigten verbunden fühlt.
Umso mehr freut mich, dass die CDU/CSU im Finanz-
ausschuss diesem Gesetz zugestimmt hat.
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)(CDU/CSU):
Nach dem Scheitern der Übernahmerichtlinie im Europä-
ischen Parlament und der entsprechenden Initiative der
Europäischen Kommission, wobei der deutsche Bundes-
kanzler eine unrühmliche und heftig kritisierte Bremser-
rolle gespielt hat, muss eine gesetzliche Regelung auf na-
tionaler Ebene erfolgen.
Der Handlungsbedarf ergibt sich schon aus der raschen
Zunahme von Unternehmensübernahmen. Alleine im ers-
ten Halbjahr 2001 fanden 1 283 Transaktionen statt; das
ist eine Zunahme von 70 Prozent gegenüber dem Ver-
gleichszeitraum des Vorjahres. Durch die neue Steuerge-
setzgebung, nach der ab 1. Januar 2002 Kapitalgesell-
schaften Anteile an Kapitalgesellschaften steuerfrei
veräußern können, wird das Übernahmevolumen deutlich
steigen. Ein weiterer Einflussfaktor könnten auch die der-
zeit niedrigen Aktienkurse sein, die den Börsenwert der
Unternehmen drücken.
Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber
in diese Entwicklung eingreifen soll. Sind Übernahmen
volkswirtschaftlich nützlich? In der Theorie wirken Un-
ternehmensübernahmen strukturbereinigend und erhöhen
das langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirt-
schaft. Die einst viel gepriesene, aber auch viel geschol-
tene Deutschland AG würde aufbrechen und eine Wachs-
tumsdynamik erhalten. Aber die Erfahrung zeigt, dass in
der Vergangenheit manche Fusion gescheitert ist. Studien
von Salomon Smith Barney zeigen, dass 60 bis 70 Prozent
der Unternehmenszusammenschlüsse ökonomisch nicht
erfolgreich waren und Aktionärsvermögen vernichtet
wurde.
Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen aber auch,
dass politische Eingriffe in den Markt zumindest langfris-
tig nicht viel bewirkt haben. Trotzdem muss man sich fra-
gen, ob die Marktbedingungen überall gleich sind. Ein
Blick über die Grenzen zeigt, dass es keine internationale
Wettbewerbsgleichheit gibt. Auf dem internationalen
Markt der Unternehmensübernahmen existiert absolut
kein level playing field. Dies gilt sowohl unter den Mit-
gliedsländern der EU als auch gerade im Verhältnis zu den
USA. Im Gesellschaftsrecht vieler Länder existieren wei-
tere Übernahmeblocker wie Mehrfach- und Höchst-
stimmrechte und Golden Shares. Das Fressen und Ge-
fressen werden spielt sich nach höchst unterschiedlichen
Regeln ab, wobei die deutschen Unternehmen eher am
Aktivwerden gehindert sind und weniger Abwehrinstru-
mente haben.
Hier einige Beispiele: Die britische Regierung hält
Goldene Aktien an 25 Firmen. In Frankreich gibt es
Höchststimmrechte. In Schweden unterscheidet man in
A- und B-Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechtsan-
teilen. In den USA gibt es eine Reihe von Bundesrege-
lungen aus den 30er-Jahren. Die meisten Bundesstaaten
haben Ergänzungsregelungen, die einen Ausverkauf der
regionalen Unternehmen verhindern sollen.
Mehrheitsstimmrechte und Stimmrechtsbeschränkun-
gen sind weit verbreitet. Bei 2 400 Firmen sind Kapital-
erhöhungen unter Bezugsrechtsausschluss zu deutlichen
Preisabschlägen ohne Zustimmung der Hauptversamm-
lung, so genannte poison pill, möglich. Darüber hinaus
verfügen Vorstände in den USA über ein breites Arsenal
an Abwehrmöglichkeiten. Die business judgement rule
gibt ihnen im Gesellschaftsinteresse weitgehend freie
Hand. Bei einer drohenden Übernahme kann ein Gegen-
angebot unterbreitet oder als Gegenangriff die Aktien des
Gegners gekauft werden. Auch eigene Aktien können un-
begrenzt zurückgekauft werden. Durch Ausgliederung
wertvoller Unternehmensteile kann die Unternehmens-
struktur verändert werden. Auch bei der Finanzstruktur
bieten sich durch Erhöhung der Verschuldung oder durch
den Verkauf lukrativer Unternehmensbeteiligungen
Crown Jewel Option weitere Spielräume.
Die Einschränkung der Handlungsfähigkeit ist vor al-
lem im deutschen Aktienrecht begründet. Deutsche Un-
ternehmen können beispielsweise als Bieter nicht ausrei-
chend in eigenen Aktien bezahlen. Das Aktiengesetz
erlaubt der Hauptversammlung höchstens 50 Prozent des
vorhandenen Grundkapitals als genehmigtes Kapital zur
Verfügung zu stellen. Der Aktienrückkauf ist auf 10 Pro-
zent des Grundkapitals beschränkt.
In Anbetracht dieser unterschiedlichen Chancen wäre
eine europäische Übernahmerichtlinie, die zumindest im
Binnenmarkt gleiche Bedingungen schafft, ein wichtiger
Fortschritt gewesen. Durch eine laienhafte Verhandlungs-
führung hat es die Bundesregierung versäumt, auf gesell-
schaftsrechtliche Übernahmehindernisse in anderen euro-
päischen Ländern frühzeitig hinzuweisen und diese in die
Verhandlungen mit einzubeziehen. Nicht zuletzt durch
ihre Kehrtwendung in der Verhandlungsführung, die das
Scheitern der Richtlinie zur Folge hatte, hat die Bundes-
regierung Ansehen verloren und dem deutschen Kapital-
markt geschadet. Insbesondere der Bundeskanzler geriet
in den Verdacht, ausschließlich das Interesse einzelner
Konzerne zu vertreten und wurde von der Financial Times
als Genosse der kleinkarierten Bosse bezeichnet.
Dürfen Unternehmensübernahmen beeinflusst oder
gar verhindert werden, oder muss das freie Kräftespiel des
Marktes absoluten Vorrang haben?
Eigentümer einer Aktiengesellschaft sind die Ak-
tionäre, deren Vertretungsorgan die Hauptversammlung
darstellt. Wenn, wie es viele Fachleute fordern, oberste
Priorität eines Übernahmegesetzes sein soll, die Rechte
der Aktionäre bei Unternehmensübernahmen zu schützen,
dann ist es sinnvoll, der Hauptversammlung alle Ent-
scheidungsbefugnisse zu übertragen. Da sie aber ein rela-
tiv schwerfälliges Instrument ist, muss sie einem anderen
entsprechende Handlungsvollmachten übertragen kön-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119830
(C)
(D)
(A)
(B)
nen. Dies ist der Vorstand, wobei der Aufsichtsrat im
Sinne der Aktionäre die Kontrollfunktionen ausübt.
Eine absolute Neutralitätspflicht der Zielgesellschaft
scheint nicht opportun zu sein. Solange ein derartiges Un-
gleichgewicht im europäischen Binnenmarkt bei den
Übernahmeregeln herrscht, muss es den Aktionären mög-
lich sein, Abwehrmaßnahmen zu treffen. Es ist deshalb
sinnvoll, wenn im Rahmen von so genannten Vorratsbe-
schlüssen die Hauptversammlung Maßnahmen zur Ab-
wehr von Übernahmen ergreifen kann, zu deren Durch-
führung sie den Vorstand beauftragt.
Die im Gesetz nun neu aufgenommene Ermächtigung
für den Vorstand, zusätzliche und äußerst weit reichende
Aktionen ohne Billigung der Hauptversammlung und nur
mit Zustimmung des Aufsichtsrats durchzuführen, ist ein
Schritt in die falsche Richtung. Diese zusätzlichen Frei-
heiten sind abzulehnen, da die Gefahr besteht, dass der
Vorstand hier vor allem im eigenen Interesse handelt und
so den Aktionären eher schaden als nützen könnte. So
weist etwa der Vorsitzende der von Bundeskanzler
Schröder höchstselbst eingesetzten Regierungskommis-
sion Corporate Governance, Theodor Baums, darauf
hin, dass die Regelung eine klare Bevormundung der An-
leger sei und den Managern ganz außergewöhnliche
Möglichkeiten einräume, gegen die Interessen der An-
teilseigner zu handeln und sich einzuigeln, so in der
SZ vom 10. November 2001.
Ein wesentliches Ziel des Übernahmegesetzes ist, bei
Überschreiten bestimmter Kontrollschwellen Abfin-
dungsangebote zu angemessenen Preisen für Minderheits-
aktionäre festzulegen. In der Übergangszeit vor und nach
dem In-Kraft-Treten bestehen aber durch eine Regelungs-
lücke gewisse Anreize, durch Aktienerwerb diese Kon-
trollschwellen zu erreichen; ohne verpflichtet zu sein, an-
gemessene Pflichtangebote abgeben zu müssen.
Eine ergänzende Regelung des Übernahmegesetzes ist
daher unabdingbar, um zu vermeiden, dass Bieter die Ver-
pflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebotes umge-
hen. Andernfalls würde die eigentliche Zielsetzung des
Gesetzes verfehlt, die (Minderheits-)Aktionäre durch die
Möglichkeit zu schützen, bei einem Wechsel der Unter-
nehmenskontrolle zu einem angemessenen Preis aus dem
Unternehmen auszusteigen. Erwirbt ein Unternehmen
zum Beispiel im Dezember 2001 einen Anteil von etwa
45 Prozent der Stimmrechte an einem anderen Unterneh-
men, müsste es nach der derzeitigen Fassung des Über-
nahmegesetzes kein Pflichtangebot gegenüber den ande-
ren Aktionären abgeben. Die für das Überschreiten der
30 Prozent-Kontrollschwelle maßgebenden Stimmrechte
wurden schließlich bereits vor In-Kraft-Treten des Über-
nahmegesetzes erworben. Gleichzeitig würde auch nach
dem Übernahmekodex kein Pflichtangebot ausgelöst, da
dessen Kontrollschwelle bei 50 Prozent liegt. Im Ergebnis
hat dies zur Folge, dass Bieter, die vor dem In-Kraft-Tre-
ten des Übernahmegesetzes einen Anteil von mehr als
30 Prozent und weniger als 50 Prozent der zuzurechnen-
den Stimmrechte an der Zielgesellschaft erlangen und
nach In-Kraft Treten bei zeitnahem Außer-Kraft-Treten
des Übernahmekodex, wie es von der deutschen Börse
bereits angekündigt wurde ihre zuzurechnenden
Stimmrechte an den Zielgesellschaften weiter erhöhen,
zur Abgabe eines Pflichtangebotes in keiner Weise ver-
pflichtet wären.
Dass diese Regelungslücke in der Praxis bereits mas-
siv genutzt wird, zeigen konkrete aktuelle Beispiele: Die
Tchibo Aktiengesellschaft beabsichtigt ihren Anteil bei
Beiersdorf AG im nächsten Jahr aufzustocken und die
Mehrheit zu erwerben, ohne ein Pflichtangebot für die
Restaktionäre abzugeben. Ebenso werden die Aktionäre
von IVG kein Übernahmeangebot erhalten, wenn WCM
die Mehrheit im nächsten Jahr erwirbt. Das Gleiche pas-
siert den Aktionären des Zementherstellers Dyckerhoff,
wenn die beabsichtigte Veräußerung eines Aktienpakets
an einen ausländischen Konkurrenten erfolgt.
Zur Verhinderung der Regelungsarbitrage hat die
CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, diejenigen Bieter zu
einem Pflichtangebot heranzuziehen, die auf der Grund-
lage des bereits überschrittenen Schwellenwerts von
30 Prozent innerhalb eines Kalenderjahres mindestens
weitere 2 Prozent der Stimmrechte an der Zielgesellschaft
erwerben und damit ihre Kontrolle nach dem In-Kraft-
Treten des Übernahmegesetzes ausbauen und festigen.
Dies ist sinnvoll, da das Verhalten desjenigen, der eine
Kontrollstellung erreicht hat, ohne jemals ein öffentliches
Angebot abzugeben, gesondert zu beurteilen ist. Jede
Aufstockung des Stimmrechtsanteils löst hier das Schutz-
bedürfnis von Minderheitsaktionären und Arbeitnehmern
aus. Eine Rückwirkung ist mit dieser Regelung nicht ver-
bunden, da an zukünftiges Verhalten nämlich die spätere
Anteilserhöhung angeknüpft wird. Leider hat dieser Vor-
schlag keine Mehrheit gefunden.
Obwohl der Gesetzentwurf in einigen Punkten Mängel
hat und im Fall der weit reichenden Ermächtigung des
Vorstandes zu Abwehrmaßnahmen sogar die Schutzinte-
ressen der Aktionäre gefährdet sein könnten, ist mit dem
Übernahmegesetz ein faires und transparentes Verfahren
bei Übernahmen gewährleistet. Die Einschränkungen
rechtfertigen es per Saldo nicht, das Gesetz abzulehnen.
Vielmehr ist es dringend geboten, dass es zum 1. Januar
2002 in Kraft tritt. Darüber hinaus ist es erforderlich, auf
europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass die Wettbe-
werbsunterschiede beseitigt werden und zumindest im
Binnenmarkt Übernahmen unter gleichen Bedingungen
getätigt werden können.
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem Übernahmegesetz schafft die Bundesre-
gierung erstmals eindeutige und klare Regelungen für den
immer wichtiger werdenden Bereich der Unternehmens-
übernahmen. Man muss in diesem Kontext nicht immer
an den spektakulären Fall der Übernahme von Mannes-
mann durch Vodafone erinnern, um die Dringlichkeit ei-
nes gesetzlich garantierten, fairen und transparenten Ver-
fahrens zu illustrieren. Aber noch aus einem weiteren
Grund ist das Übernahmegesetz dringlich: Im Unterschied
zu anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland
bislang keine klaren gesetzlichen Regelungen in diesem
wirtschaftlich bedeutsamen Bereich. Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf schafft die Bundesregierung somit
erstmals gesetzliche Regelungen, die den Kapitalmarkt-
teilnehmern im Falle von Unternehmensübernahmen ei-
nen transparenten und fairen Prozess bieten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19831
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(B)
Ich möchte noch einmal klarstellen, worum es uns
geht: Wir wollen Übernahmen weder verhindern noch
fördern. Denn Übernahmen sind ökonomische Prozesse,
bei denen es um die Optimierung der vorhanden Ressour-
cen geht. Mit anderen Worten: Wenn ein Unternehmen auf
dem Kapitalmarkt unterbewertet ist, weil es zum Beispiel
von einem schlechten Management geführt wird, dann
werden Übernahmeangebote wohl die zwangsläufige
Folge sein.
Die am häufigsten diskutierte Frage im Zusammen-
hang mit dem Übernahmegesetz ist die der Abwehrrechte
und der Neutralitätspflicht. Grundsätzlich gilt: Langfris-
tig gesehen gibt es keinen wirksameren Schutz vor so ge-
nannten feindlichen Übernahmen als eine erfolgreiche
unternehmerische Strategie, die dann auch vom Kapital-
markt mit einem hohen Unternehmenswert honoriert
wird.
Es hat nun immer wieder Meinungen gegeben, wir
sollten die Abwehrrechte für die Vorstände der Gesell-
schaft, an die sich ein Übernahmeangebot richtet, deutlich
ausweiten so als sei die Übernahme einer Gesellschaft
durch eine andere etwas, was es per se zu verhindern
gelte: Das ist aber nicht unsere Position. Und das steht
auch nicht im Gesetzentwurf.
Es ist uns vielmehr gelungen, einen Ausgleich zwi-
schen den verschiedenen Interessen zu schaffen. Richtig
ist, dass der Vorstand einer Gesellschaft zwar nun mit Ge-
nehmigung des Aufsichtsrates mehr Kompetenzen im
Hinblick auf die Abwehrmöglichkeiten erhält. Aber mit
dem hier vorliegenden Gesetzentwurf wird die Hauptver-
sammlung als entscheidendes Gremium einer Gesell-
schaft keineswegs ausgehebelt. Das ist ein Vorwurf, der
auch durch fortgesetztes Wiederholen seitens der Oppo-
sition nicht richtiger wird. Vielmehr bleiben die zentralen
Zuständigkeiten in der Verantwortung der Hauptver-
sammlung. Denn sie ist es ja und damit die Anleger und
Aktionäre , die darüber zu entscheiden hat, ob sie den
Vorstand ermächtigt, Abwehrmaßnahmen einzuleiten
oder nicht. Mit Blick auf den Aktienkurs des Unterneh-
mens und auf den Wettbewerb um das bessere Manage-
mentkonzept werden sich das die Anleger wohl gut über-
legen.
Ein Vorwurf kommt von verschiedener Seite immer
wieder: Wir hätten mit dem Gesetz der so genannten Auf-
sichtsratslösung zugestimmt. Dieser Vorwurf geht in der
Sache an dem vorliegenden Gesetz mehr als vorbei. Denn
das hätte ja schlichtweg bedeutet, dass allein der Auf-
sichtsrat einer Gesellschaft den Vorstand zu Abwehrmaß-
nahmen ermächtigen können soll und die Hauptver-
sammlung damit jeden Einfluss verliert. Das aber steht
nicht in unserem Gesetz, auch wenn das einige große Un-
ternehmen gerne so gehabt hätten.
Auch wenn die Mehrheit dieses Hauses die nationale
Lösung durch ein Übernahmegesetz begrüßt und dem Ge-
setzentwurf zustimmt, müssen wir uns über eines sehr im
Klaren sein: Nationale Lösungen und Sonderregelungen,
die es Unternehmen auf verschiedene Art und Weise er-
lauben, sich gegen Übernahmen zu wehren, können nur
als Übergangslösung akzeptiert werden. Denn angesichts
der zunehmenden internationalen Verflechtung und des
Voranschreitens der europäischen Integration, die wir ja
alle wollen, brauchen wir international kompatible und
allgemein anerkannte Übernahmerichtlinien. In diesem
Sinne wird sich die Bundesregierung weiterhin aktiv und
konstruktiv auf europäischer Ebene für die Überwindung
der nationalen Sonderregelungen im Übernahmerecht
einsetzen.
Rainer Funke (FDP): Das Gesetz zur Regelung von
öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren
und von Unternehmensübernahmen könnte genauso gut
Übernahmeverhinderungsgesetz heißen. Mit diesem
Gesetz wird es inländischen und ausländischen Gesell-
schaften unnötig erschwert, ein anderes Unternehmen,
das so genannte Zielunternehmen, zu erwerben. Firmen-
übernahmen werden als etwas Schlechtes und Verhinde-
rungswürdiges angesehen. Dabei ist eine Firmenüber-
nahme von sich aus nichts Negatives, sondern kann
erhebliche positive Elemente haben. Dieses Gesetz wird
erheblichen Einfluss auf den Finanzplatz Deutschland ha-
ben und leider wird der Finanzplatz Deutschland an At-
traktivität verlieren und an Provinzialismus zunehmen.
Dass ein Gesetz als überhaupt notwendig angesehen
wurde, ist allein der deutschen Wirtschaft und den Unter-
nehmensleitungen der im DAX vertretenen Gesellschaf-
ten zuzuschreiben. Der freiwillige Übernahmekodex
wurde entweder nicht beachtet oder auch von vielen
DAX-Unternehmen nicht gezeichnet. Daher lag eine ge-
setzliche Normierung durchaus nahe und wäre auch von
den Liberalen mit unterstützt worden, wenn die Rahmen-
bedingungen liberal gestaltet worden wären. Auch andere
Länder haben Regeln für die Übernahme eines Zielunter-
nehmens. Anders als jetzt in Deutschland sollen jedoch
die Übernahmen nicht verhindert werden, sondern Regeln
für den Schutz der Aktionäre aufgestellt werden. Dies ist
der richtige Ansatzpunkt.
Dagegen sieht der vorliegende Gesetzentwurf eine
Bevormundung der Aktionäre durch Vorstand und Auf-
sichtsrat vor. Denn der Vorstand kann Abwehrmaß-
nahmen im Falle einer beabsichtigten Übernahme ein-
leiten, wenn der Aufsichtsrat diesen Abwehrmaßnahmen
zugestimmt hat. Das heißt mit anderen Worten, dass
Entscheidungsbefugnisse vom Aktionär in den Aufsichts-
rat verlagert werden und dies bei einem mitbestimmten
Aufsichtsrat. Dabei wissen wir alle, dass Aufsichtsräte
dem Konsensprinzip nachhängen und auch bei einem mit-
bestimmten Aufsichtsrat versucht wird, mit den Arbeit-
nehmervertretern und den Gewerkschaftsvertretern Einig-
keit zu erzielen, dann aber häufig zulasten der Aktionäre,
gerade bei möglichen Übernahmen.
Viele Fortschritte, die gerade im Sinne der Aktionärs-
demokratie durch das KonTraG und durch die Arbeits-
gruppe Corporate Governance unter Professor Baums
erreicht werden konnten, werden hinfällig, wenn der in-
ternational unübliche mitbestimmte Aufsichtsrat gemein-
sam mit dem Vorstand gegen die Aktionärsinteressen in-
ternational durchaus übliche wünschenswerte Fusionen
verhindern kann. Das Bild von der Deutschland AG wird
sich international wieder festigen können.
Dieses Gesetz ist ein schlechtes Gesetz für den Fi-
nanzplatz Deutschland. Dabei hatte das Finanzministe-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119832
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rium gute Ansätze zur Lockerung der Deutschland AG
durch die Steuerbefreiung auf Beteiligungsveräußerun-
gen eingeleitet. Dieses Gesetz schadet dem Finanzplatz
Deutschland und dies nur deshalb, weil einige kleinka-
rierte und ängstliche Vorstandsmitglieder das Ohr des
Bundeskanzlers gefunden haben. Dieses Gesetz wird kei-
nen langen Bestand haben; denn der Finanzplatz Deutsch-
land kann sich nicht isolieren. Zumindest in Europa muss
es einheitliche Lösungen geben, die auch mit dem großen
amerikanischen Finanzmarkt kompatibel sind. Genauso
wie wir im Bilanzrecht zu internationalen Lösungen kom-
men werden, bedarf es auch beim Übernahmerecht großer
Lösungen und nicht kleinkarierter nationaler Lösungen.
Ursula Lötzer (PDS): Mehr als ein Jahr nach der Ein-
berufung der Unternehmensübernahmen verhandeln wir
abschließend über den entsprechenden Gesetzentwurf.
Die Zeit drängt, denn ab dem 1. Januar 2002 greift die
Steuerbefreiung für Gewinne aus Beteiligungsverkäufen
und die Fusionsdynamik wird sich erhöhen. Dass es bis-
her in der Bundesrepublik keinen verbindlichen Rechts-
rahmen für Unternehmensübernahmen gab, lag nicht nur
an der alten Bundesregierung. An dieser Stelle ist nur an
die vor wenigen Monaten gescheiterte EU-Übernahme-
richtlinie zu erinnern, die Mindeststandards setzen sollte.
In letzter Minute wurde sie durch Intervention der Bun-
desregierung und Verbandsvertreter der deutschen Indus-
trie zu Fall gebracht. Der vorliegende Gesetzentwurf
muss nun diese Rechtslücke ausfüllen.
Unter pragmatischen Gesichtspunkten hat die Bundes-
regierung also ihre Hausaufgaben gemacht. Der Zustand,
dass es bei uns im Gegensatz zu allen führenden Finanz-
märkten keine gesetzliche Regelung für Unternehmens-
übernahmen gab, ist beendet. Unsere Abstimmungsent-
haltung resultiert jedoch daraus, dass wir vor dem
Hintergrund der sozialen Folgen von Unternehmensüber-
nahmen den Gesetzentwurf für unzureichend halten.
Ich möchte hier nicht noch einmal auf die soziale und
ökonomische Realität von Fusionen eingehen. An den
Fakten und Zusammenhängen, wie wir sie bereits in un-
serem Antrag im vergangenen Jahr dargestellt haben, hat
sich in der Sache nichts geändert. Vielmehr hat die mas-
sive Kurskorrektur an den Finanzmärkten unsere Ansicht
bestärkt, dass die kapitalmarktbasierte Unternehmensbe-
wertung einer eigenen ökonomischen Rationalität folgt,
die mit einer Analyse tatsächlicher Wertschöpfungspro-
zesse in den Unternehmen nicht immer etwas zu tun hat.
Der absehbare Konkurs fusionierter Unternehmen
nicht nur in der Luftfahrt- und Touristikbranche fügt
sich in das generelle Bild, dass Fusionen in der Regel
scheitern und, gemessen an den eigenen Kennziffern, die
in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Lediglich hin-
sichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Folgekosten
bleibt alles beim Alten: Die Zeche zahlen in der Regel die
Beschäftigten. Hier haben wir und die betroffenen Men-
schen mehr von der Bundesregierung erwartet.
In der schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung des
Gesetzentwurfs im Finanzausschuss kritisierte der DGB
zu Recht, dass die Angaben in den Angebotsunterlagen so
detailliert sein müssen, wie es noch im Diskussionsent-
wurf aus dem letzten Jahr vorgesehen war. Relevante In-
formationen über die Absichten des Bieters, was mit allen
betroffenen Betriebsteilen zu geschehen habe und wie
sich die Beschäftigungsbedingungen generell verändern
könnten, fehlen vollständig. Wie sich die Belegschaften
so überhaupt ein klares Bild über ihre weitere Zukunft im
neuen Unternehmen machen können, bleibt ein Rätsel.
Vor allem aber reichen Informationsrechte nicht aus,
genauso wenig wie eine aktive Rolle desAufsichtsrats. Be-
reits 1979 hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Ent-
scheidung zum Mitbestimmungsgesetz ausgeführt, dass
trotz gleicher Zahl von Anteilseignern und Arbeitnehme-
rinnen- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat keine
wirkliche Parität besteht, sodass im Konfliktfall diejenige
Seite den entscheidenden Einfluss ausübt, die den Auf-
sichtsratsvorsitzenden stellt. Dieses Übergewicht ist den
Anteilseignern eingeräumt. Der Fall der MannesmannAG
bildet hier nur einen Höhepunkt: In Rekordzeit wurde der
Konzern mit 131 000 Beschäftigten zerschlagen. Keines
der vorher abgegebenen Versprechen, die der Vorstands-
vorsitzende von Vodafon gegenüber den Beschäftigten
und der Gewerkschaft gemacht hatte, ist trotz der Infor-
mationsrechte gehalten worden.Auf diese Diskrepanz und
das bestehende Problem wies der damalige Mannesmann-
Vorstandsvorsitzende Klaus Esser in derAnhörung des Fi-
nanzausschusses hin und mahnte Lösungen an.
Uns ist klar, dass diese Fragen nicht nur in einem Über-
nahmegesetz geregelt werden können, da es sich bei einer
Übernahme im Kern nur um einen Vertrag handelt, bei
dem Aktien vom Altaktionär zum Neuaktionär übergehen.
Die Stärkung der Rechte der Beschäftigten und die Sank-
tionsfähigkeit bei Zuwiderhandlungen müssen jedoch den
neuen Bedingungen angepasst werden. Ob in oder außer-
halb eines Gesetzes zu Unternehmensübernahmen, sei da-
hingestellt.
Mitbestimmung bedeutet für uns immer auch Mitent-
scheidung, die mit konkreten Rechten verbunden ist. Des-
halb forderten wir immer wieder, den Gewerkschaften in
dem Gesetz ein Recht auf den Abschluss eines Fusionsta-
rifvertrages zu gewähren. Zumindest müsste eine Über-
gangsvereinbarung zu den Beschäftigungsbedingungen
mit den zuständigen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitneh-
mervertretern der Zielgesellschaft nach Annahme des An-
gebots abgeschlossen werden. Unserer Ansicht nach soll-
ten darin die Fragen von Beschäftigungssicherung, Quali-
fizierung, Erhalt sozialer und tariflicher Standards sowie
die Regelungen zur Sicherstellung betrieblicher und ge-
werkschaftlicher Mitbestimmungsrechte und -gremien
geregelt werden. Darüber hinaus treten wir für ein Veto-
recht von Betriebsräten und Gewerkschaften gegenüber
Fusionen und Übernahmen ein.
In der Anhörung des Finanzausschusses spielte vor al-
lem die Frage nach den Vorratsbeschlüssen bzw. der Neu-
tralitätspflicht des Vorstandes einer Zielgesellschaft eine
zentrale Rolle. Wir meinen, dass unter den gegebenen
Bedingungen, in denen ausländischen Aktiengesellschaf-
ten eine Palette von Abwehrmaßnahmen zur Verfügung
steht, zumindest ein gleichwertiges Schutzniveau beste-
hen muss. Mit Nationalismus und Strukturkonservatis-
mus hat dies nichts zu tun, sondern ganz pragmatisch mit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19833
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der Herstellung eines level playing field. Wir halten es
auch für angebracht, die Möglichkeiten zu schaffen,
durch den Aufsichtsrat ein Übernahmeangebot für un-
zulässig zu erklären, wie es zum Beispiel in den USA
möglich ist.
In diesem Kontext steht unsere Ablehnung des vorlie-
genden FDP-Antrags. Ihnen ist der Gesetzentwurf nicht
liberal genug und schon in der Anhörung war immer
wieder zu vernehmen, dass die Bundesrepublik hier eine
Vorreiterrolle einnehmen solle. In anderen Fragen, wie
zum Beispiel bei der Einführung der Tobinsteuer oder der
Frage der Verankerung von Sozialstandards im Handels-
regime, ist sie nicht so wagemutig.
Uns geht es primär darum, die sozialen Rechte der Be-
schäftigten zu sichern und auszubauen. Unter welcher
Unternehmensführung dies stattfindet, ob unter deutschen
oder ausländischen Mehrheitseignern, ist für uns nur se-
kundär. Hierfür werden wir uns auch weiterhin einsetzen.
Hans Eichel (SPD), Bundesminister der Finanzen:
Deutschland muss noch besser im internationalen Wettbe-
werb positioniert werden. Dies ist eine zentrale Aufgabe
der Bundesregierung. Die Finanzpolitik hat durch eine
nachhaltige Haushaltspolitik und eine wachstumsför-
dernde Steuerpolitik hierzu entscheidend beigetragen. Zu-
sätzlich müssen wir den rechtlichen Rahmen des Standorts
Deutschland modernisieren. Der vorliegende Gesetzent-
wurf zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Er-
werb von Wertpapieren und von Unternehmensübernah-
men ist ein wichtiger Bestandteil dieses Konzeptes.
Aber es geht nicht nur um einen effektiven Kapital-
markt. Wir wollen auch sicherstellen, dass nicht allein die
Interessen der Vorstände, sondern auch die der Aktionäre
und der Beschäftigten gewahrt bleiben. Wir schaffen so
ein Regelwerk für ein Fair play. Davon werden die Fi-
nanzmärkte und die deutsche Volkswirtschaft insgesamt
deutlich profitieren.
Öffentliche Angebote zum Erwerb von Wertpapieren
insbesondere Angebote mit dem Ziel der Unterneh-
mensübernahme gewinnen im Wirtschaftsleben eine im-
mer größere Bedeutung. Am deutschen Kapitalmarkt
besteht im Gegensatz zu anderen internationalen Finanz-
plätzen bislang keine gesetzliche Regulierung öffentli-
cher Angebote zum Erwerb von Wertpapieren und von
Unternehmensübernahmen.
Hier musste gehandelt werden. Der Übernahmekodex
der Börsensachverständigenkommission hat sich in der
Praxis insoweit nicht bewährt, als er keine flächen-
deckende Akzeptanz gefunden hat. Um gleiche Wettbe-
werbsbedingungen zu schaffen, bedarf es daher einer
gesetzlichen Regelung. Dies ist angesichts der zuneh-
menden Zahl von Übernahmen unabdingbar.
Diese Regelung muss den Anforderungen der Globali-
sierung und der Finanzmärkte angemessen Rechnung tra-
gen; sie wird zugleich auch den Finanzplatz Deutschland
im internationalen Wettbewerb weiter stärken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden Leitli-
nien für faire und geordnete öffentliche Angebote von
Wertpapieren geschaffen. Die rechtzeitige und umfas-
sende Information der betroffenen Wertpapierinhaber und
der Arbeitnehmer wird gesetzlich verankert. Gleiches gilt
für ihre Möglichkeit zur Stellungnahme. Dem Bedürfnis
nach transparenten Verfahren wird so Rechnung getragen.
Insgesamt wird die rechtliche Stellung von Minderheits-
aktionären und Arbeitnehmern bei Unternehmens-
übernahmen spürbar gestärkt.
Im Zentrum der Diskussion des Gesetzentwurfs stand
lange Zeit die Frage, in welchem Umfang und unter wel-
chen Voraussetzungen der Vorstand einer Gesellschaft,
die Gegenstand eines Übernahmeangebots ist, Abwehr-
maßnahmen gegen ein solches Angebot ergreifen kann.
Das Schlagwort hier lautet Neutralitätspflicht.
Auch hierzu enthält der Gesetzentwurf eine ausgewo-
gene Lösung. Er legt fest, dass grundsätzlich den Adres-
saten eines Übernahmeangebots, also den Aktionären, er-
möglicht werden soll, in Kenntnis der Sachlage
eigenständig über das Übernahmeangebot zu entscheiden.
Daher hat der Vorstand einer Gesellschaft grundsätzlich
alle Handlungen zu unterlassen, durch die der Erfolg des
Angebots verhindert werden könnte.
Möglich bleiben jedoch weiterhin solche Handlungen,
die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäfts-
leiter einer Gesellschaft vorgenommen hätte, die nicht
von einem Übernahmeangebot betroffen ist. Hierdurch
wird sichergestellt, dass die Gesellschaft, die übernom-
men werden soll, während des Angebots nicht unange-
messen in ihrer Geschäftstätigkeit behindert wird. Darü-
ber hinaus ist auch die Suche nach einem konkurrierenden
Angebot jederzeit zulässig.
Schließlich sind dem Vorstand auch solche Maßnah-
men möglich, die in seine nach dem Aktienrecht vorgege-
bene Geschäftsführungskompetenz fallen, sofern der Auf-
sichtsrat diesen Maßnahmen zugestimmt hat. Hierdurch
wird die Rolle des Aufsichtsrats im Gesamtgefüge des
Unternehmens akzentuiert. Damit sichern wir, dass das
Unternehmensinteresse nicht nur auf Shareholder-Inte-
ressen beschränkt ist, sondern auch die so genannten
Stakeholder-Interessen umfasst. Und für einen Sozialde-
mokraten bedeutet dies die Berücksichtigung der Interes-
sen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die vorgesehenen Regelungen greifen nicht in das all-
gemeine aktienrechtliche Kompetenzgefüge zwischen
Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung ein. Das
heißt die Maßnahmen, die nach allgemeinem Aktienrecht
in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, ver-
bleiben auch weiterhin dort.
Darüber hinaus bedürfen Handlungen des Vorstands ei-
ner Gesellschaft, durch die der Erfolg von Übernahmean-
geboten verhindert werden kann, der Billigung der
Aktionäre als Eigentümer des Unternehmens. Eine ent-
sprechende Ermächtigung kann durch die Hauptver-
sammlung sowohl während eines laufenden Übernahme-
verfahrens als auch im Vorhinein erteilt werden. Erfolgt
eine Ermächtigung auf Vorrat, ohne dass ein konkretes
öffentliches Angebot vorliegt, gelten für den Hauptver-
sammlungsbeschluss angesichts seiner Bedeutung stren-
ge Anforderungen.
Bei den vorgesehenen Regelungen wird berücksichtigt,
dass europaweit noch viele Beschränkungen bestehen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119834
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(B)
Nicht alle haben ihren Markt so geöffnet wie wir. Zahlrei-
che Mitgliedstaaten verfügen übernahmerechtliche Hin-
dernisse. Die Stichworte hier sind Höchststimmrechte,
Mehrstimmrechte und Stimmrechtsbeschränkungen. In
Deutschland wurden derartige übernahmerechtliche
Hemmnisse 1998 mit dem Gesetz zur Verbesserung der
Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich ab-
geschafft, um den deutschen Kapitalmarkt attraktiver aus-
zugestalten und dem Grundsatz eine Aktie, eine Stimme
Rechnung zu tragen.
Das Übernahmerecht gewährleistet nunmehr erstmals
in Deutschland faire und ausgewogene Regelungen für
Unternehmensübernahmen.
Ich bitte Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzu-
stimmen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Partnerschaftsabkommen vom 23. Juni 2000
zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staa-
ten in Afrika, im Karibischen Raum und im pa-
zifischen Ozean einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an-
dererseits (AKP-EG-Partnerschaftsabkommen)
(Tagesordnungspunkt 23)
Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Es kommt nicht
oft vor, dass wir in unserem Politikressort über Gesetze
diskutieren. Das vorliegende Partnerschaftsabkommen
zwischen der EU und den Staaten in Afrika, im Karibi-
schen Raum und im Pazifik kurz AKP hat schon des-
halb ein besonderes Gewicht.
Seit ihrer Gründung im Jahre 1957 hat sich die EU für
eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Industrie-
und Entwicklungsländern eingesetzt, zunächst sicherlich
den nationalen Interessen Frankreichs entsprechend. Spä-
ter, zunehmend im Bewusstsein der historischen Verant-
wortung gegenüber den nach und nach unabhängigen Ko-
lonien, hat die EU diesen Weg eingeschlagen.
Mit dem Abkommen von Cotonou ist es uns gelungen,
diese langjährige Tradition der Zusammenarbeit mit den
AKP-Staaten fortzusetzen und auf eine zeitgemäße
Grundlage zu stellen. Wer sich dieses Gesetzeswerk an-
sieht, muss erkennen, wie viel Arbeit und Engagement das
Entwicklungsministerium investiert hat. Jeder Insider
kann sich vorstellen, wie viele nicht immer einmütige
Verhandlungsrunden unsere Ministerin zur Klärung der
vielen Detailfragen absolviert hat, bis dieses Gesamtwerk
mit seinen 100 Artikeln und einer kohärenten Gesamtsicht
auf dem Tisch lag. Angesichts der veränderten politischen
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb der
EU und der Partnerländer sowie auf internationaler Ebene
war eine Anpassung der inzwischen 25 Jahre alten Lomé-
Zusammenarbeit dringend erforderlich geworden. Diese
Notwendigkeit war am Ende der letzten Legislaturperiode
auch im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend un-
strittig. In einem interfraktionellen Entschließungsantrag
machte der Bundestag im April 1989 deutlich, dass es bei
der Neuverhandlung des Lomè-IV-Abkommens darauf
ankomme, die EU-Entwicklungszusammenarbeit neu zu
strukturieren.
Wenn mehr Redezeit bliebe, würde ich gerne die For-
derungen aus Drucksache 13/10302 zitieren. Denn es ist
nach wie vor wichtig und richtig, dass Deutschland in Eu-
ropa mit einer Zunge spricht. Und ich denke, dass sich die
Kritik der Opposition vom Mai 2000 an den Cotonou-Ver-
handlungen samt und sonders in Luft aufgelöst hat.
Ein Blick auf die Forderungen des fraktionsüber-
greifenden Entschließungsantrages macht deutlich, dass
es der Bundesregierung gelungen ist, unsere gemeinsa-
men Forderungen und Vorstellungen einzubringen. Ich
möchte nur einige Punkte herausgreifen: Mit dem
Abkommen von Cotonou wird die europäische Entwick-
lungszusammenarbeit auf eine WTO-konforme Grund-
lage gestellt. Die bisher einseitig gewährten Handels-
präferenzen werden bis 2007 durch gegenseitigen
Marktzugang im Rahmen von regional zu verhandelnden
Wirtschaftsabkommen abgelöst. Damit kommen wir ge-
rade dem Wunsch der AKP-Staaten entgegen. Ich habe in
diesem Hause schon einmal darauf hingewiesen, dass hier
ein Weg gefunden wurde, der einerseits in Einklang mit
den WTO-Bestimmungen steht und andererseits sein Ge-
wicht auf den partnerschaftlichen Ansatz legt. Das heißt
keine übereilte Handelsliberalisierung und keine übereilte
Finanzmarktliberalisierung.
Bis Ende 2007 bleibt also Zeit für die Aushandlung re-
gionaler Wirtschaftsabkommen. Und selbst danach kann
es Übergangsfristen von bis zu 12 Jahren geben. Damit
haben die AKP-Staaten die Chance der nachholenden Ent-
wicklung.
Der Bundestag hatte die Stärkung der politischen Zu-
sammenarbeit gefordert. Das neue Abkommen sieht solch
eine Gewichtung des politischen Dialogs vor: über Fragen
der Demokratisierung, der Menschenrechte, der Friedens-
und Stabilitätspolitik, über Fragen der Rüstung, der nach-
haltigen Entwicklung und der Umwelt. Es sieht aber auch
vor, Situationen zu verhindern, in denen eine Vertrags-
partei es für notwendig erachten könnte, die Nichterfül-
lungsklausel in Anspruch zu nehmen. Es gibt sie also, die
hier sanft verpackte Nichterfüllungsklausel und damit
den Auftrag an beide Vertragspartner, durch Dialoge dafür
zu sorgen, dass die Welt menschlicher wird. Schon in der
Präambel finden wir diese klare Zielsetzung, an die immer
wieder erinnert werden muss: Armutsbekämpfung, Ar-
mutsbekämpfung und nochmals Armutsbekämpfung.
Die Mosaiksteinchen für die Dialoge werden in zahl-
reichen Artikeln ausgemalt: Wesentliche Elemente sind
die Förderung der Menschenrechte, die Demokratisie-
rung, die Festigung des Rechtstaates und vor allem die
verantwortungsvolle Staatsführung, eine stärkere Beteili-
gung einer aktiven und organisierten Zivilgesellschaft
und der Privatwirtschaft. Gerade nach den Ereignissen
des 11. September muss man betonen, wie in Art. 11, dass
der Vertrag sich als Beitrag zur Friedenskonsolidierung
und Konfliktprävention und -beilegung versteht.
Unsere Schwerpunkte Bekämpfung von HIV/Aids und
der Genderansatz werden mit diesem Vertrag europaweit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19835
(C)
(D)
(A)
(B)
akzeptiert ohne andere umfassende Bereiche der Unter-
stützung zu vernachlässigen.
Erlauben Sie mir, meinen von 100 Artikeln liebsten
hervorzuheben: Art. 31. Er garantiert die Einbeziehung
frauenspezifischer Fragen in die Konzepte der Entwick-
lungszusammenarbeit auf allen Ebenen und ermöglicht
die Förderung spezifischer Maßnahmen für Frauen. Da-
durch trägt das Abkommen zu einer gleichberechtigten
Beteiligung von Mann und Frau in allen Bereichen des
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens
bei. Die Genderfrage ist die Schlüsselfrage der Armuts-
bekämpfung.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Aufnahme der
verantwortungsvollen Regierungsführung als Grund-
prinzip, das jetzt auch in Fällen schwerer Korruption zum
Tragen kommt. Es ist dringend erforderlich, Korruption
weltweit zu bekämpfen, denn die Gewinner von Korrup-
tion sind immer nur zwei: der, der Schmiergeld einsetzt,
um schlechtere Qualität an den Mann zu bringen, und der,
der sich schmieren lässt. Verlierer ist immer die Gesell-
schaft. Sie zahlt den Preis. Ihr nimmt man die Ressourcen,
die in die Korruption fließen.
Bereits jetzt beginnt die Phase, in der der Vertrag mit
Leben gefüllt wird. In diesem Monat sind erstmals Kon-
sultationen zwischen der EU und Liberia nach Art. 97 des
Cotonou-Abkommens aufgenommen worden, der sich
mit geeigneten Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung
befasst. Die gute Regierungsführung und das verstärkte
vertrauensvolle Monitoring wird der Entwicklungs-
zusammenarbeit also zu mehr Effizienz verhelfen. Ein
wenn auch kleiner Teil des Europäischen Entwick-
lungsfonds wird erst nach einer Evaluierung im Jahre
2004 freigegeben werden. Das Abkommen von Cotonou
verbindet somit die notwendige Politik der Haushaltkon-
solidierung mit der Fortsetzung und effizienteren Ausge-
staltung der Partnerschaft zwischen der Europäischen
Union und den AKP-Staaten. Der effizientere Einsatz der
Finanzmittel ist gerechtfertigt. Wir haben alle immer
beklagt, dass ein beträchtlicher Teil der bereitgestellten
Mittel nicht abgeflossen ist. Aus der Summe dieser Rest-
mittel wird nun 1 Milliarde Euro für die Entschuldungs-
initiative zugunsten der ärmsten Länder eingesetzt.
Die immense Bedeutung des politischen Dialogs
äußert sich im übrigen auch in der Aufwertung der Pa-
ritätischen Parlamentarischen Versammlung. Es ist zu be-
grüßen, dass nur noch in genehmigten Ausnahmefällen
Regierungsvertreter die Parlamentssitze der AKP-Partner
einnehmen können.
Insgesamt kann man mit dem Verhandlungsergebnis
sehr zufrieden sein. Es kommt nun darauf an, das Ab-
kommen mit Leben zu füllen und die darin enthaltenen
Chancen zu nutzen. Ich hoffe daher, dass es heute gelingt,
in Fragen europäischer Entwicklungszusammenarbeit zu
der fraktionsübergreifenden Einigkeit zurückzukehren,
die es am Beginn der Verhandlungen über das Abkommen
von Cotonou gab.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Das heute zu de-
battierende und zu verabschiedende Gesetz soll das Part-
nerschaftsabkommen zwischen der EU und den AKP-
Staaten vom 23. Juni letzten Jahres umsetzen. Von daher
geht es zunächst einmal in erster Linie um einen formalen
Akt, nämlich um die Ratifizierung des Cotonou-Abkom-
mens in der Nachfolge des Lomé-IV-Abkommens.
Dieses Cotonou-Abkommen hat sowohl Licht- als
auch Schattenseiten, wie es zugegebenermaßen bei einem
internationalen Abkommen mit so vielen Beteiligten auch
nicht anders zu erwarten ist. Folglich setzen unsere kriti-
schen Anmerkungen auch weniger am hier zu verabschie-
denden Gesetzentwurf als an dem Cotonou-Abkommen
selbst an. Das Cotonou-Abkommen hat zweifellos Fort-
schritte in wichtigen Bereichen gebracht, die von uns als
CDU/CSU ausdrücklich begrüßt werden. Ich denke dabei
nicht nur an die Verankerung der Armutsbekämpfung als
zentralem Ziel. Hier wird sicherlich abzuwarten sein, in-
wieweit diesen schönen Worten auch Taten folgen. Ich
denke darüber hinaus gerade auch an die Neugestaltung
der Handelsbeziehungen zwischen den AKP- und den
EU-Staaten.
Die Lomé-Mechanismen in der handelspolitischen
Zusammenarbeit, namentlich in diesem Zusammenhang
die Systeme Stabex und Sysmin, atmeten doch noch sehr
stark den Geist eines mittlerweile überlebten entwick-
lungspolitischen Ansatzes, der nicht im freien Handel
zwischen gleichberechtigten Partnern, sondern eher in
einer scheinbaren Großzügigkeit der Europäer gegen-
über den Entwicklungsländern die Zukunft in den Han-
delsbeziehungen sah eine Zukunft, von der wir heute
wissen, dass sie in die Irre geführt hat. Die AKP-Staaten
brauchen und wollen in erster Linie nicht Vergünstigun-
gen bei Produkten, mit denen sie auf Dauer nicht wett-
bewerbsfähig werden können, sondern sie wollen einen
fairen Zugang zu unseren Märkten. Auf diesem Feld sind
in Cotonou bedeutsame Fortschritte erreicht worden. Als
Unionsfraktion begrüßen wir diese Fortschritte, denn für
uns ist schon lange klar, dass Hilfe durch Handel ein we-
sentliches Element deutscher und europäischer Entwick-
lungspolitik sein muss, dass es auch der Erwartung der
Entwicklungsländer entspricht, nicht Almosen zu emp-
fangen, sondern faire Teilhabechancen zu erhalten.
Positiv sind auch die Ansätze zur Differenzierung und
Regionalisierung im Cotonou-Abkommen zu bewerten.
Ein Abkommen mit einer derart großen Zahl an beteilig-
ten Staaten kann notwendigerweise nicht alle wichtigen
Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Deshalb sind
Möglichkeiten einer Differenzierung notwendig und sinn-
voll. Auch ist es richtig, der Zusammenarbeit innerhalb
der Gruppe der AKP-Staaten, gerade zwischen den jewei-
ligen Nachbarländern, ein größeres Gewicht beizumes-
sen. Es kann auf Dauer nicht sinnvoll sein, dass alle Wege
aus den AKP-Staaten ausschließlich in die EU-Länder
führen, während die Beziehungen zu den Nachbarstaaten
in der afrikanischen, karibischen und pazifischen Region
allenfalls rudimentär ausgebildet sind. Auch die hierbei
erzielten Fortschritte begrüßen wir.
Was die von der Bundesregierung behauptete Stärkung
der politischen Dimension des Abkommens angeht, so
erkennen wir durchaus an, dass nun immerhin die Aus-
setzung der Zusammenarbeit in Fällen schwerer Korrup-
tion zusätzlich zu den bisher bereits vorhandenen Sankti-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119836
(C)
(D)
(A)
(B)
onsmöglichkeiten als Option gegeben ist. Darin bereits
die Verankerung des Prinzips der good governance im
Cotonou-Abkommen zu sehen und zu feiern, halten wir
allerdings für äußerst übertrieben. Die politischen Sank-
tionsmöglichkeiten sind zwar verbessert, aber nach wie
vor angesichts der schweren Probleme vieler AKP-Staa-
ten im Bereich der Korruption im Besonderen und der
Verstöße gegen das Prinzip der verantwortungsvollen Re-
gierungsführung im Allgemeinen insgesamt unzurei-
chend. Hier besteht für die Zukunft noch Verbessungsbe-
darf, der auch deutlich angesprochen werden muss.
Gleichwohl wissen wir natürlich, dass schon die erreich-
ten begrenzten politischen Fortschritte unseren Partnern
in den AKP-Staaten teilweise unter Mühen abgerungen
werden mussten und erkennen auch dieses Bemühen der
EU ausdrücklich an.
Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass der Europä-
ischen Union beim Cotonou-Abkommen spürbare und
messbare Fortschritte gelungen sind Fortschritte nicht
einmal in erster Linie im Interesse der Menschen in den
EU-Staaten, sondern gerade auch im Interesse der Men-
schen in den AKP-Staaten, deren wirtschaftliches Voran-
kommen und deren politische Freiheiten uns allen am
Herzen liegen sollten. Es ist erfreulich, dass auf beiden
Seiten, sowohl in der EU als auch bei den AKP-Staaten,
der Schwerpunkt auf ein partnerschaftliches Miteinander
gelegt wird, und dass die großen ideologischen Auseinan-
dersetzungen über Handels- und Wirtschaftspolitik sowie
über die politische Ordnung heute der Vergangenheit an-
gehören und im Sinne der sozialen Marktwirtschaft sowie
politischer Freiheit und Selbstbestimmung gelöst worden
sind. Worum es jetzt geht, ist, das geschlossene Abkom-
men in der täglichen Praxis mit Leben zu erfüllen. Den
Worten müssen im Interesse der Menschen in den AKP-
Staaten Taten folgen. CDU und CSU erwarten von der rot-
grünen Bundesregierung, dass sie die ihr noch verblei-
bende Regierungszeit dafür nutzt, die Grundlagen, die das
Cotonou-Abkommen bietet, auch in praktische entwick-
lungspolitische Erfolge umzusetzen. In dieser Erwartung
stimmen wir trotz Bedenken in Einzelfragen dem Gesetz-
entwurf zu.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Durch den 11. Sep-
tember ist die Bedeutung der globalen Herausforderungen
noch offenkundiger geworden. Die Entwicklungspolitik
ist zusammen mit den anderen, vormals als weiche The-
men der Weltinnenpolitik bezeichneten Aufgaben wie
Umweltschutz, internationale Kriminalität, unter dem so
genannten erweiterten Sicherheitsbegriff ins Zentrum
auch der außenpolitischen Prioritäten getreten.
Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden,
muss sich die Entwicklungspolitik strategisch erneuern
und einen maßgeblichen Beitrag zur Beseitigung von
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Missständen
leisten, die die Entstehung von terroristischen Umtrieben
begünstigen. Dies bedeutet neben zusätzlichen finanziel-
len Leistungen und einer Zusammenführung der politi-
schen Verantwortung von Außen- und Entwicklungspoli-
tik auch eine strukturelle Neuausrichtung auf effiziente
multilaterale Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen
der Europäischen Union.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten leisten insgesamt
55 Prozent der weltweiten öffentlichen Entwicklungszu-
sammenarbeit. Dennoch hat die europäische Entwick-
lungspolitik weltweit noch nicht das Gewicht, das sie auf-
grund dieses Volumens haben könnte. Ursache dafür sind
nicht zuletzt die mangelnde Effizienz und die unzurei-
chende Koordinierung zwischen der EU-Kommission
und den Mitgliedstaaten, die unter anderem zu einem
stockenden Mittelabfluss mit einer inzwischen auf 20 Mil-
liarden Euro angewachsenen Pipeline führt.
Es ist daher dringend erforderlich, dass die EU-Ent-
wicklungszusammenarbeit sich neu strukturiert und sich
auf einige zentrale Sektoren wie regionale Integration,
Transport, Ernährungssicherheit und ländliche Entwick-
lung, Aufbau institutioneller Kapazitäten und rechtsstaat-
licher Strukturen sowie auf die entwicklungspolitischen
Aspekte des Welthandels konzentriert.
Mit der Erklärung von Kairo und der in Cotonou be-
schlossenen Neuauflage der EU-AKP-Zusammenarbeit
ist der Rahmen für die zukünftige europäische Entwick-
lungspolitik abgesteckt. Er muss dringend inhaltlich aus-
gestaltet werden. Dies setzt natürlich auch voraus, dass
die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit der EU-Mit-
gliedstaaten und der Europäischen Union zu einer wirk-
samen europäischen Politik zusammengeführt werden.
Die Bundesregierung muss die Zeit bis zur Kairo-Nach-
folgekonferenz nutzen, um hier einen aktiven eigenen
Beitrag zu leisten. Mit einem Anteil von 22,5 Prozent am
europäischen Entwicklungsfonds hat Deutschland gute
Voraussetzungen, um eigene Vorstellungen im Dialog mit
den Partnerländern einzubringen.
Die zukünftige europäische Entwicklungsarbeit so-
wohl im AKP-Rahmen als auch durch Europe Aid sollte
einigen grundlegenden Prinzipien unterstellt werden, die
neben der Betonung der Mitverantwortung der Partner-
länder und die Beteiligung der Zivilgesellschaft auch
einen Übergang von der Projekt- zur Programmhilfe be-
inhalten. Besonders hohe Priorität sollte dabei der Ver-
besserung der Koordinierung der Fünfzehn-plus-Eins-
Entwicklungspolitiken, der erhöhten Kohärenz zwischen
den verschiedenen Politikbereichen, die auf die Entwick-
lungsländer ausstrahlen, der verstärkten Komplementa-
rität, das heißt einer besseren Arbeitsteilung zwischen der
Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedstaaten, um
unnötige Verdoppelung der Arbeit zu vermeiden und einer
Dezentralisierung durch die Übertragung von mehr Ent-
scheidungsverantwortung an die EU-Delegationen einge-
räumt werden.
Die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit den
AKP-Staaten ist eine besonders gelungene Form der in-
terregionalen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit.
Wir begrüßen, dass das in Cotonou beschlossene Abkom-
men einen Schwerpunkt auf die Eigenverantwortlichkeit
der Empfängerstaaten, auf gute Regierungsführung, auf
Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung von Men-
schenrechten setzt. Es wird jetzt darauf ankommen, dass
die hierfür vorgesehenen Kontroll- und Sanktionsmecha-
nismen auch tatsächlich eingesetzt werden. Darüber hi-
naus begrüßen wir nachdrücklich, dass das Cotonou-Ab-
kommen am zentralen Ziel der Armutsbekämpfung als
wesentlichem Element der EU-AKP-Zusammenarbeit
orientiert ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19837
(C)
(D)
(A)
(B)
Um die praktische Durchführung des Abkommens
auch weiterhin erfolgreich zu gestalten, muss die Euro-
päische Union jedoch zunächst ihre Hausaufgaben erle-
digen:
Erstens. Die Bundesregierung sollte gegenüber ihren
EU-Partnern, aber auch unmittelbar gegenüber der EU-
Kommission in Brüssel darauf drängen, dass die durch die
mit der Einrichtung von Europe Aid angestrebte Straf-
fung und Bündelung der europäischen Zusammenarbeit
nicht zur Schaffung zusätzlicher neuer administrativer
Strukturen führt. Die vorrangige Aufgabe von Europe
Aid sollte in der Konzeption, Kontrolle sowie Koordi-
nierung liegen, um die Komplementarität der verschiede-
nen nationalen Entwicklungspolitiken zu steigern und
unnötige Verdoppelungen zu vermeiden. Außerdem muss
Europe Aid dringend die Voraussetzungen für einen
schnelleren Mittelabfluss schaffen.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung ferner auf,
dafür Sorge zu tragen, dass Europe Aid bei der prakti-
schen Durchführung von EU-finanzierten Projekten dort,
wo entwicklungspolitisch sinnvoll und praktikabel, wei-
terhin auf die in den EU-Mitgliedstaaten vorhandenen be-
währten staatlichen und nicht staatlichen Trägerorganisa-
tionen zurückgreift. Die Arbeitsteilung zwischen der
EU-Kommission und den 15 Mitgliedstaaten, aber insbe-
sondere die Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedstaaten
untereinander, muss erheblich verbessert werden, um
unnötige Überlappungen und Kompetenzstreitigkeiten zu
vermeiden. Dabei kommt es darauf an, die kooperativen
Vorteile einzelner Partnerstaaten für eine effektivere Zu-
sammenarbeit zu nutzen. Dies setzt natürlich vor allem
auch voraus, dass die zahlreichen Rechtsgrundlagen und
Instrumente der EU-Entwicklungszusammenarbeit mit
den Entwicklungsländern, unter anderem auch das AKP-
Abkommen, aber auch die Programme mit dem Mittel-
meer und mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion so-
wie den Entwicklungsländern in Asien und Lateinamerika
zu einem einheitlichen, konsistenten Kooperationskon-
zept zusammengeführt werden.
Drittens. Besonders wichtig ist schließlich auch, dass
die Zusammenarbeit zwischen der EU-Kommission, den
Regierungen, den nationalen Parlamenten und dem Euro-
päischen Parlament verbessert wird. Dazu bedarf es nicht
nur regelmäßiger Abstimmungen, sondern aus unserer
Sicht auch die Unterstellung des Haushaltes des Euro-
päischen Entwicklungsfonds unter die Kontrolle des Eu-
ropäischen Parlaments.
Eine stärkere Ausrichtung auf eine effiziente euro-
päische Entwicklungspolitik würde unvollständig bleiben,
wenn sie sich nicht auch nahtlos in das vorhandene inter-
nationale Netz multilateraler Zusammenarbeit, insbeson-
dere im Rahmen der Vereinten Nationen, einfügen würde.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher nicht nur eine
europäische Ausrichtung der deutschen Entwicklungs-
politik, sondern auch eine kohärente Politik der Euro-
päischen Union im Rahmen der Vereinten Nationen.
Carsten Hübner (PDS): Die heutige Debatte über das
AKP-EG-Partnerschaftsabkommen zwischen der EU ei-
nerseits und der Gruppe der Staaten in Afrika, im Kari-
bischen Raum und im Pazifischen Ozean andererseits
steht ganz unter dem Eindruck der WTO-Verhandlungen
von Katar der letzten Tage. Dort ist wiederum überdeut-
lich geworden, wie groß die Befürchtungen der Entwick-
lungsländer sind, infolge weiterer Liberalisierungs-
schritte des Weltmarkts gänzlich unter die Räder der
Ökonomien des Nordens zu geraten. Dort ist wiederum,
nicht zuletzt mit Blick auf das Cotonou-Abkommen, deut-
lich geworden, wie wichtig es ist, erst die Entwicklungs-
und Marktchancen der Ökonomien des Südens zu er-
höhen, bevor man sie ungeschützt dem Weltmarkt ausset-
zen kann.
Vor diesem Hintergrund hat meine Fraktion den Wan-
del des bisherigen Lomé-Vertrages zum jetzt vorliegen-
den Cotonou-Abkommen immer kritisiert. Es ist ein Wan-
del weg von der bisherigen Protektion und Förderung der
Ökonomien des Südens hin zu einem WTO-konformen
Liberalisierungsvertrag, der ganz wesentlich von den In-
teressen Europas bestimmt wird und der den AKP-Staaten
nur unter großem Druck aufgenötigt werden konnte. Das
gilt insbesondere für die zu eng terminierten Übergangs-
regelungen. Das gilt aber auch für die von der EU inten-
dierte zwangsweise Koppelung von Maßnahmen zur
Armutsbekämpfung mit Schritten der ökonomischen In-
tegration in den Weltmarkt. Ich verweise in diesem Zu-
sammenhang nur auf unseren Antrag Zukunft der
EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeit vom Dezember
1998, der trotz parlamentarischer Ablehnung auf viel Zu-
stimmung bei Fachkolleginnen und Fachkollegen inner-
halb und außerhalb dieses Hauses gestoßen ist; ein Zu-
spruch, den das jetzt vorliegende Vertragswerk nicht
unbedingt für sich in Anspruch nehmen kann, zumindest
nicht bei Experten und NGOs.
Auch auf einen weiteren Aspekt möchte ich kurz ver-
weisen: Sowohl aus entwicklungs- als auch aus men-
schenrechtspolitischer Perspektive ist es ein Skandal, dass
die Bereitschaft zur Rücknahme von Flüchtlingen mit der
Frage einer ökonomischen und entwicklungspolitischen
Partnerschaft zwischen AKP und EU verknüpft werden
soll. Das ist, zumindest meiner Kenntnis nach, ein bisher
einmaliger Vorgang und schlichtweg untragbar.
In nicht ganz einem Jahr werden die Verhandlungen
über die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen aufgenommen. Es
wäre verheerend, wenn die EU in diesen Verhandlungen
wiederum auf WTO-Kompatibilität und damit auf weitere
Liberalisierung drängen würde. Wer auf ökonomische
Stabilität, auf Armutsbekämpfung und eine wirklich faire
Integration der AKP-Staaten in den Weltmarkt setzt, von
dem dann auch in einem nachhaltigen Sinn beide Seiten
profitieren, der muss auf eine entwicklungs- und armuts-
orientierte Marktregulierung setzen nicht auf den so ge-
nannten freien Markt, die Wunderwaffe der Starken und
Rücksichtslosen.
Die PDS-Fraktion hat massive Kritik am Rahmenab-
kommen von Cotonou. Wir haben große Befürchtungen,
was den Charakter der Verhandlungen um die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen betrifft. Dennoch haben
wir uns entschlossen, uns bei der heutigen Abstimmung
zu enthalten, zum einen, weil wir schon aus prinzipiellen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119838
(C)
(D)
(A)
(B)
Erwägungen zur EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft
stehen. Wir wollen da keine Missverständnisse aufkom-
men lassen. Zum anderen aber ist unsere Enthaltung eine
Aufforderung an die Bundesregierung, sich in den kom-
menden Verhandlungen sehr viel stärker als bisher im
Sinne einer originär erwicklungspolitischen Ausrichtung
zu engagieren. Vorschusslorbeeren, auf denen sich die
Bundesregierung allerdings nicht ausruhen sollte.
Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes-
ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung: Das neue Partnerschaftsabkommen zwischen
der Europäischen Union und den Staaten Afrikas, der Ka-
ribik und des Pazifiks wurde am 23. Juni 2000 in Coto-
nou, der Hauptstadt von Benin, unterzeichnet. Zwischen
den EU-Mitgliedstaaten und jetzt 77 AKP-Staaten sechs
pazifische Inseln traten bei ist damit die seit 25 Jahren
bewährte Zusammenarbeit auf eine neue, verlässliche
Grundlage gestellt worden.
Eine Neuausrichtung dieser Partnerschaft war unab-
dingbar, um den veränderten wirtschaftlichen und politi-
schen Gegebenheiten zu entsprechen. Dies sind: die
neuen Handelsregelungen der WTO; Veränderungen in-
nerhalb der EU selbst; knapper werdende öffentliche Mit-
tel für Entwicklungszusammenarbeit sowie nicht zuletzt
zunehmend kritische EU-Bürgerinnen und Bürger, die
messbare Ergebnisse verlangen.
Das Abkommen hält fest an bewährten Prinzipien wie
dem Partnerschaftsprinzip, der Berechenbarkeit der Hilfe,
dem breiten Kooperationsansatz und dem Vertragscha-
rakter. Die Lomé-Kultur wird somit fortgeführt. Am
Ende der Verhandlungen steht ein respektables und faires
Ergebnis, das neue Horizonte eröffnet und nun konkret
mit Leben gefüllt werden muss.
Neuerungen bedeuten vor allem: die Stärkung des po-
litischen Dialogs (hier inbegriffen sind Fragen der Demo-
kratisierung, Menschenrechte, Friedens- und Stabilitäts-
politik); die Verankerung der verantwortungsvollen
Regierungsführung als fundamentaler Bestandteil im Ab-
kommen mit der Möglichkeit der Aussetzung des Ab-
kommens im Hinblick auf einen einzelnen AKP-Staat in
Fällen schwerer Korruption; veränderte Handelsregeln
(Abschluss von regionalen Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen nach einer achtjährigen Übergangsfrist); er-
leichterte Verfahren der Zusammenarbeit mit stärkerem
Monitoring und Controlling; die Einbeziehung nichtstaat-
licher Akteure (Zivilgesellschaft) in die Zusammenarbeit;
die erstmals 20-jährige Laufzeit des Abkommens, die bei-
den Seiten Planungssicherheit gewährt.
Ich werde im Folgenden auf zwei wesentliche Neue-
rungen eingehen, welche den einzigartigen Charakter des
Abkommens unterstreichen und für welche wir uns maß-
geblich eingesetzt haben: erstens, die politische Dimen-
sion und zweitens, die veränderten Handelsregeln.
Erstens: die politische Dimension des Abkommens.
Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns wieder die
Bedeutung des politischen Dialogs und der rechtzeitigen
Reaktion auf Krisensituationen vor Augen geführt. Durch
das Abkommen von Cotonou konnte die politische Di-
mension der zukünftigen AKP-EU-Beziehungen ent-
scheidend gestärkt werden. Es besteht eine beiderseitige
Verpflichtung zu einer aktiven, umfassenden und inte-
grierten Politik der Friedenskonsolidierung und Konflikt-
prävention.
Die verantwortungsvolle Regierungsführung (good
governance) wurde zum fundamentalen Bestandteil des
Abkommens erhoben. Damit können erstmals Fälle
schwerer Korruption geahndet werden. Dies ist ein wich-
tiger Schritt hin zu einer transparenteren und effizienteren
Verwaltung öffentlicher Mittel bei der Verwendung in
Entwicklungsländern. Ich gehe davon aus, dass good
governance aufgrund der Sanktionsmöglichkeit von un-
seren Partnerstaaten sehr ernst genommen wird.
Wesentliche Bestandteile des Abkommens bleiben
weiterhin die Achtung der Menschenrechte, demokrati-
scher Grundsätze sowie Rechtsstaatlichkeit. Ein Verstoß
gegen diese Grundsätze kann bis hin zur Aussetzung der
Zusammenarbeit führen.
Die Zivilgesellschaft wird als nicht staatlicher Akteur
verstärkt in die Zusammenarbeit eingebunden. Nicht
staatliche Akteure werden unter näher festgelegten Be-
dingungen vor allem bei der Erarbeitung der Kooperati-
onspolitik und -strategien beteiligt sowie beim Ausbau ih-
rer Kapazitäten unterstützt. Auf diese Weise soll ein
breiter Kreis außerhalb der Regierung erreicht werden,
um so zu einer umfassenden Akzeptanz der Kooperati-
onspolitik und ihrer regelmäßigen Überprüfung zu ge-
langen.
Schließlich wird die Rolle der Paritätischen Parlamen-
tarischen Versammlung im Rahmen des Abkommens von
Cotonou gestärkt. Zu ihren Aufgaben zählt nunmehr aus-
drücklich die Förderung demokratischer Prozesse durch
Dialog und Konsultationen. Zur Verwirklichung der Ziele
des Abkommens kann sie Entschließungen verabschieden
und Empfehlungen an den Ministerrat aussprechen. Es
entstehen hierdurch unmittelbare und vertiefte Kontakte
zwischen den Abgeordneten des Europäischen Parla-
ments und denen der AKP-Staaten. Zugleich wird somit
die Stimme der Parlamentarier und Parlamentarierinnen
in den Partnerländern hörbarer.
Zweitens: Einbindung der AKP-Staaten in die Welt-
wirtschaft. Eine der wesentlichen wenn auch nicht hin-
reichenden Bedingungen für die Armutsminderung ist
nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Die Einbin-
dung der Entwicklungsländer und insbesondere der am
wenigsten entwickelten Länder in die Weltwirtschaft ist
eine notwendige Voraussetzung für Wachstum und Pros-
perität.
Mit dem Partnerschaftsabkommen von Cotonou ist es
gelungen, verbesserte Rahmenbedingungen für die wirt-
schaftliche Entwicklung in den AKP-Staaten zu schaffen.
Die im alten Lomé-Abkommen mit den AKP-Staaten ein-
seitig gewährten Präferenzen werden nunmehr durch einen
WTO-konformen, vertraglich vereinbarten gegenseitigen
Marktzugang im Rahmen von regional zu verhandelnden
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen abgelöst. Bislang
steht noch nicht fest, mit welchen Ländern die Verhand-
lungen aufgenommen werden sollen hierüber werden die
AKP-Staaten eine Entscheidung treffen. Bei der zweiten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19839
(C)
(D)
(A)
(B)
Tagung des AKP-EU-Ministeriellen Handelsausschusses
am 2. Oktober 2001 in Nairobi hat die EU ihren Willen
zum Ausdruck gebracht, den Zeitplan (Beginn der förm-
lichen Verhandlungen im September 2002) einzuhalten.
Die Kommission bereitet derzeit das EU-Mandat für die
Verhandlungen vor, über das wir als Rat bis spätestens Juli
2002 entscheiden werden.
Der AKP-Seite sind von der Europäischen Union
20 Millionen Euro zur Stärkung ihrer Verhandlungskapa-
zitäten für die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zuge-
sagt worden. Bislang wurden zur Vorbereitung der Ver-
handlungen vier Regionalseminare in Afrika abgehalten
(Benin, Botswana, Kenia und Kongo). Weitere Seminare
für den karibischen und pazifischen Raum sind geplant. In
der zweiten Oktoberhälfte wurden Regionalstudien in
Auftrag gegeben, die mögliche Auswirkungen der Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen auf die AKP-Staaten un-
tersuchen sollen.
Für die Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2007
haben die EU- und AKP-Staaten eine Ausnahmegenehmi-
gung bei der WTO (waiver) beantragt, mit der die seit
1975 bestehenden einseitigen Zollpräferenzen bis zum
Ende der Vorbereitungsphase fortgelten können. Selbst
nach 2008 kann es noch lange Übergangsfristen geben, in
denen die Märkte der AKP-Staaten sich gründlich auf das
an die Region angepasste Freihandelsabkommen vorbe-
reiten können. Die EU versteht sich dabei noch stärker als
unter den Lomé-Abkommen als Partner der Entwick-
lungsländer.
Ich halte dieses Konzept für ein wichtiges politisches
Signal für eine auf Interessensausgleich zielende Koope-
ration zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Da-
bei muss allerdings sichergestellt werden, dass die
betreffenden Branchen in den AKP-Staaten den Umstruk-
turierungsprozess auch meistern können; diese Prozesse
kann die gemeinschaftliche Entwicklungszusammenar-
beit unterstützen und abfedern. Eine besondere Bedeu-
tung kommt hierbei der Handelsliberalisierung innerhalb
der AKP-Regionen zu, die auch die Entwicklung regiona-
ler Wirtschaftskreisläufe fördert.
Ein weiterer mir wichtiger Punkt ist die angestrebte re-
gionale Integration, auch außerhalb des Handels. Zu Ihrer
Erinnerung: Für die regionale Integration sind 1,3 Milli-
arden Euro vorgesehen. Warum ist regionale Zusammen-
arbeit so wichtig? Gerade innerhalb der Europäischen
Union haben wir erfahren und erfahren wir täglich, dass
Aufgaben nicht an Grenzen Halt machen. Daher soll auch
die regionale Zusammenarbeit zwischen den AKP-Staa-
ten (unter anderem in den Bereichen Infrastruktur, Ge-
sundheit, Katastrophenschutz) unterstützt werden. Nur
mithilfe der regionalen Integration und Kooperation kön-
nen viele Länder grenzüberschreitende Aufgaben, insbe-
sondere auf dem Gebiet der Umwelt sowie der Nutzung
und Bewirtschaftung der Naturschätze, effektiv bewälti-
gen. Somit kann gerade die regionale Integration dazu
beitragen, die Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft
einzubeziehen. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen auf
diesem Gebiet kann die Gemeinschaft hier wertvolle
Hilfe leisten.
Mit dem Partnerschaftsabkommen von Cotonou haben
EU- und AKP-Staaten gezeigt, dass sie ihre bewährte
Partnerschaft auf eine zeitgemäße Grundlage stellen kön-
nen und sich gemeinsam den neuen Herausforderungen
stellen werden. Die notwendige Flexibilität für Änderun-
gen bieten Revisionsklauseln und Anpassungsmöglich-
keiten durch den im Regelfall jährlich tagenden AKP-
EU-Ministerrat. Insgesamt stellt das Abkommen von
Cotonou einen fairen Kompromiss zwischen den mitunter
gegensätzlichen Interessenlagen von AKP- und EU-Staa-
ten dar. Das Abkommen von Cotonou leistet mithin einen
wichtigen Beitrag zur Herbeiführung von globaler Ge-
rechtigkeit.
Bei der gerade beendeten WTO-Ministerkonferenz in
Doha/Katar wurden die berechtigten Interessen von Ent-
wicklungsländern bereits stärker berücksichtigt. Ohne
dies wäre der erfolgreiche Abschluss der Konferenz nicht
möglich gewesen. Dies muss erst recht für die damit ein-
geläutete neue Verhandlungsrunde in der WTO gelten.
Weitere Prüfsteine werden die Konferenz Financing for
Development und der Weltgipfel für nachhaltige Ent-
wicklung im nächsten Jahr sein.
Ich bin davon überzeugt, dass das Abkommen von Co-
tonou in diesem Sinn eine gute Basis für die zukünftige
Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten darstellt. Sowohl
die finanzielle Ausstattung von bis zu 15,2 Milliarden
Euro für 2000 bis 2005 als auch die inhaltliche Neuge-
staltung des Abkommens sind wegweisend für die ge-
samte Entwicklungspolitik und deren Beitrag für mehr
Gerechtigkeit und Frieden in der Weit.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Schuldbuchrechts des Bundes
und der Rechtsgrundlagen der Bundesschulden-
verwaltung (Bundeswertpapierverwaltungsge-
setz BWpVerwG) (Tagesordnungspunkt 24)
Hans Georg Wagner (SPD): Das heute zu be-
schließende Bundeswertpapierverwaltungsgesetz zielt
auf eine Modernisierung des Schuldbuchrechts des Bun-
des. Durch diese Neugestaltung wird das Schuldenmana-
gement des Bundes effizienter werden, das heißt ganz
konkret: Es werden Kosten eingespart. Die Reform ist
schon lange überfällig; denn die bisherigen Regelungen
beruhen im Wesentlichen auf dem Reichsschuldbuchge-
setz von 1910 das heißt: aus Kaisers Zeiten sowie der
Reichsschuldenordnung von 1924.
Wie wenig zeitgemäß diese Rechtsgrundlagen heute
sind, lässt sich am bisherigen Bundesschuldenausschuss
deutlich ablesen. Dieses Gremium kontrollierte bislang
die Bundesschuldenverwaltung und setzte sich unter Vor-
sitz der Präsidentin des Bundesrechnungshofes aus drei
Mitgliedern des Bundestages und drei vom Bundesrat ent-
sandten Mitgliedern zusammen. Die Länder kontrollier-
ten also die Schuldenverwaltung des Bundes, während der
Bund umgekehrt bei der Schuldenverwaltung der Länder
kein Wörtchen mitzureden hat. Diese heute anachronisti-
sche Regelung hat ihren Ursprung und ihre Begründung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119840
(C)
(D)
(A)
(B)
in längst vergangenen Zeiten, als die Länder an das Reich
noch Matrikularbeiträge abzuführen hatten. Den Bundes-
schuldenausschuss schaffen wir nun ab, die Kontroll-
funktion wird auf ein parlamentarisches Gremium des
Deutschen Bundestages übertragen.
Dieses neu zu schaffende Gremium wird vom Deut-
schen Bundestag aus Mitgliedern des Haushaltsausschus-
ses gewählt und der Bundesminister der Finanzen wird
dieses Gremium zeitnah über alle Fragen des Schulden-
managements des Bundes in Anwesenheit des Bundes-
rechnungshofes unterrichten.
An die Adresse der Länder möchte ich noch sagen, dass
wir ihren gegen den Gesetzentwurf vorgebrachten Beden-
ken hinsichtlich der Verwahrbankfähigkeit von Sammel-
schuldbuchforderungen in den Abschlussberatungen
Rechnung getragen haben. Durch einen neuen Abs. 2 in
§ 17 des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes wird die
Verwahrbankfähigkeit zugunsten der Bundesländer er-
halten.
Das zu beschließende Gesetz ist ein weiterer Schritt zur
Modernisierung der Bundesverwaltung mit dem Ziel der
Effizienzsteigerung. Die Aufnahme und Verwaltung der
Schulden des Bundes wird dadurch wirtschaftlicher, das
heißt, die öffentliche Hand spart Kosten ein.
Hans Jochen Henke (CDU/CSU): Der vorliegende
Entwurf eines Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes
schafft eine neue Grundlage für die Bundesschulden-
verwaltung, mit der die Weisungsunabhängigkeit der Ver-
waltung und des Bundesschuldenausschusses abgeschafft
sowie altes bzw. vorkonstitutionelles Recht abgelöst
werden soll. Auf die weitgehende Umgestaltung des Ma-
nagements und die Neuausgestaltung der parlamentari-
schen Kontrolle durch ein nach der zusätzlichen Bestim-
mung des § 4 a noch auszugestaltendes parlamentarisches
Gremium gehe ich noch ein.
Bei dem Umgang mit den Schulden des Bundes han-
delt es sich um einen zentralen Bereich der Bundesfinan-
zen mit einer besonderen Bedeutung für den Bundeshaus-
halt, den Kreditmarkt und die Zukunftsfähigkeit des
Standortes Deutschland. Die Organisation zu optimieren,
den Aufwand zu minimieren, und die Bonität zu garantie-
ren sind die herausragenden Ziele. Die Bundesregierung
ist angetreten, die Schuldenverwaltung im Lichte offener
internationaler Märkte und der Euromarktzone schnitt-
stellenarm, schlank und effizient zu gestalten. Die neue
Zuordnung der Schuldenverwaltung in die nachgeordnete
Behördenstruktur und die Auflösung des Bundesschul-
denausschusses als keinem wirkungsvollen Kontroll-
gremium aus vorkonstitutioneller Zeit tragen wir mit und
unterstreichen ausdrücklich den Modernisierungsbedarf
für Planung, Steuerung, Umsetzung und Kontrolle der
Schulden des Bundeskreditgeschäfts. Bisher teilen sich
das Ministerium und die Bundesbank mit der Schulden-
verwaltung diese Aufgabe.
In Zukunft werden mit der neuen Finanzagentur GmbH
aus drei Akteuren vier Beteiligte mit allen Folgen für Per-
sonal, Sachmittel, Investitionen und insbesondere IT-
Hard- und Softwarebereich. Die grundgesetzlich vorge-
gebene Zuständigkeit des Bundesfinanzministers ist nicht
veränderbar. Mit der Finanzagentur, der sich das Ministe-
rium bedient, werden Kompetenzen verlagert, Abläufe
kompliziert, die Transparenz reduziert und der Aufwand
nicht zuletzt wegen des Spielgelreferats im Ministerium
erheblich ausgeweitet. Ob das Ministerium aufgrund des
Kompetenz- und Erfahrungsvorsprungs bei der Finanz-
agentur seinem verfassungsmäßigen Auftrag überhaupt
umfassend nachkommen kann, ist außerdem fragwürdig.
Die ursprünglich angestrebte und von uns für nicht mach-
bar gehaltene Auflösung der Schuldenverwaltung wird
nicht weiter verfolgt. Die ursprünglich ebenfalls ange-
strebte Entpflichtung der Bundesbank ist geändert. Da
auch die Finanzagentur entgegen früherer Planungen
noch immer nicht voll funktionsfähig ist, zeigt sich, wie
überzogen, wirklichkeitsfremd und ineffizient das vom
Finanzminister nach dem Andersen Consulting-Gutach-
ten entwickelte Konzept gewesen ist. Die Wirklichkeit
stellt sich bescheidener, der Aufwand höher, die Schnitt-
stellen zahlreicher und der Erfolg in der prognostizierten
Höhe jedenfalls in zeitlicher, aber auch in finanzieller
Hinsicht als unrealistisch dar.
Wir werden uns der weiteren Entwicklung, dem Auf-
wand und dem erwarteten Nutzen mit Unterstützung des
Rechnungshofes kontinuierlich widmen. Als wesentliche
Neuerung wurde im Gesetzentwurf mit § 4 a die Schaf-
fung eines parlamentarischen Gremiums aus Mitgliedern
des Haushaltsausschusses eingefügt. Dieses Gremium, in
dem der Bundesfinanzminister sowie der Bundesrech-
nungshof vertreten sein werden, hat der Bundesfinanz-
minister über alle Fragen des Schuldenmanagements zu
unterrichten. Damit wird ein der parlamentarischen Kon-
trolle voll entsprechendes Gremium mit kontinuierlicher
Befassung und Geheimhaltungspflicht für diesen heraus-
ragenden Geschäftsbereich des Bundesfinanzministers
geschaffen. Besonders anzuerkennen ist der fraktions-
übergreifende Konsens, der maßgeblich auf Empfehlun-
gen des Bundesrechnungshofes beruht.
Wir werden uns im Ergebnis deshalb der Stimme ent-
halten, unterstreichen aber ausdrücklich die kritisch ab-
lehnende Haltung gegenüber der neuen Finanzagentur,
deren Geschäft nach wie vor originär ins Ministerium
gehört und dort wirkungsvoller erledigt werden könnte,
wie die Erfahrungen anderer großer westlicher Länder
eindrucksvoll unterstreichen. Wir werden uns diesem
Thema weiter mit besonders kritischer Aufmerksamkeit
widmen.
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Schuldenmanagement des Bundes bewältigt eine jährli-
che Bruttokreditaufnahme in Höhe von rund 300 Milliar-
den DM und verwaltet eine Bundesschuld in Höhe von
1 500 Milliarden DM. Trotz der vorgesehenen Rück-
führung der Nettokreditaufnahme auf null im Jahre 2006
haben wir weiterhin eine ansteigende Verschuldung des
Bundes. Zusätzlich werden täglich Milliardenbeträge am
Geldmarkt bewegt, um die Kassenschwankungen auszu-
gleichen.
Aufgrund der finanz- und haushaltspolitischen Bedeu-
tung der Staatsverschuldung ist es längst an der Zeit, das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19841
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Schuldenmanagement effizienter und moderner zu gestal-
ten. Mit dem Start der Europäischen Währungsunion sind
die Anforderungen an das staatliche Schuldenmanage-
ment gestiegen. Der Wettbewerb der Regierungen um die
Gunst der Anleger erfordert auch in Deutschland eine Re-
form des Schuldenmanagements.
Der bisherige Zustand ist unhaltbar geworden. Die
Bundesschuldenverwaltung arbeitet immer noch auf der
Grundlage der Reichsschuldenordnung aus dem Jahre
1924, die ihrerseits auf die Reichsschuldenordnung von
1910 und die Schuldenordnung für Preußen zurückgeht.
Das vorkonstitutionelle Recht der Reichsschuldenord-
nung bietet keine zeitgemäße Organisationsform mehr.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die bishe-
rige Bundesschuldenverwaltung völlig neu gestaltet.
Neuen Entwicklungen im Schuldbuchrecht und bei der
Begebung von Bundeswertpapieren wird Rechnung ge-
tragen. So wird die Führung des Bundesschuldbuchs in
elektronischer Form ermöglicht und der Direktvertrieb
von Bundeswertpapieren verbessert. Auch sollen neue Fi-
nanzinstrumente der Kapitalmärkte im staatlichen Schul-
denmanagement verstärkt eingesetzt werden.
Bei allen Chancen durch die neuen Entwicklungen
bleibt die Kontrolle der staatlichen Verschuldung eine
sensible Angelegenheit. Infolge der Neukonzeption der
Schuldenverwaltung müssen die legislativen Kontroll-
rechte neu justiert werden.
Für das Parlament muss in seiner Funktion als Haus-
haltsgesetzgeber und im Rahmen seiner Kontrollfunktion
eine größere Transparenz zu Fragen der Verschuldung ge-
schaffen werden.
Nur mit umfassenden und zeitnahen Informationen
über alle Fragen der Verschuldung kann das Parlament
über Fragen der Verschuldungsplanung, des Verschul-
dungsverfahrens und der Verschuldungsorganisation ur-
teilen, um entsprechende Erkenntnisse in künftige Bud-
getbewilligungen einfließen zu lassen.
Daher haben wir gestern im Haushaltsausschuss die
Einrichtung eines parlamentarischen Gremiums beschlos-
sen. Dieses Kontrollgremium wird im Gesetz verankert
und hat umfassende Informationsrechte gegenüber dem
Bundesministerium der Finanzen. Damit wird die parla-
mentarische Kontrolle ausreichend sichergestellt.
Gerhard Schüßler (FDP): Im Zuge der Modernisie-
rung des Schuldenmanagements des Bundes soll die
Bundesschuldenverwaltung auf eine neue gesetzliche
Grundlage gestellt werden. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zur Neuordnung des Schuldbuchrechts des
Bundes und der Rechtsgrundlagen der Bundesschulden-
verwaltung erfolgt die zweite Stufe der Neukonzeption,
nachdem in der ersten Stufe das Schuldenmanagement
ausgelagert und an die Finanzagentur GmbH übertragen
worden ist.
Dass dieses Gesetz nicht nachrangig gegenüber vielen
anderen Gesetzen ist, erklärt sich bei näherer Betrach-
tung. Die Bundesschuldenverwaltung, die dann später
Bundeswertpapierverwaltung heißen soll, beurkundet als
Notar und Treuhänder des Bundes die Kreditaufnahmen
und das Sondervermögen des Bundes sowie die staat-
lichen Bürgschaften, Garantien und Beteiligungsver-
pflichtungen. Zu den weiteren Aufgaben gehört die Ver-
waltung der Bundesschulden im Bundesschuldbuch. Die
Bundesschuldenverwaltung selbst untersteht der Fachauf-
sicht des Bundesschuldenausschusses.
Vergegenwärtigt man sich die Verschuldung des Bun-
des und die Höhe der Zinsausgaben, mag man die Bedeu-
tung dieses Gesetzes ermessen.
Mit Stand vom 30. Juni 2001 beträgt die Verschuldung
des Bundes inklusive der Sondervermögen 1,458 Billio-
nen DM. Als Folge der ständig gewachsenen Verschul-
dung ergeben sich Zinszahlungen im Bundeshaushalt von
mehr als 80 Milliarden DM.
Jeder von Ihnen weiß, dass Schuldenstand, Nettokre-
ditaufnahme und Zinsausgaben neben den Steuer- und
Abgabenbelastungsquoten diejenigen Kenngrößen sind,
die die mittel- und längerfristige Tragfähigkeit einer Fi-
nanzpolitik für die Staatsfinanzen und damit für das
Staatswesen insgesamt widerspiegeln. Daher kommt der
ordnungsgemäßen Verwaltung der Schulden und der Auf-
sicht über diese eine ganz besondere Bedeutung zu.
Mit der Abschaffung des Bundesschuldenausschusses
und derAufhebung der Weisungsunabhängigkeit der Bun-
desschuldenverwaltung müssen somit die legislativen
Kontrollrechte neu bestimmt werden. Im Gesetzentwurf
heißt es dazu, dass der originär zuständige Haushaltsaus-
schussdiesineigenerZuständigkeit regelnsoll.NachAuf-
fassung der FDP darf es hierbei hinsichtlich der parlamen-
tarischenKontrollezukeinerSelbstentmachtungkommen.
Ebenso ist eine Durchmischung von Exekutive und Legis-
lative in diesem Gremium kategorisch abzulehnen.
Ein weiterer Aspekt aus Sicht der FDP ist vor dem Hin-
tergrund der komplexen Thematik die Transparenz zu al-
len Fragen der Staatsverschuldung. Hier muss das Parla-
ment in seiner Funktion als Haushaltsgesetzgeber und im
Rahmen seiner Kontrollfunktion frühzeitig und im Sinne
einer prozessualen Kontrolle informiert werden. Dabei
sollte eine kontinuierliche Information des Parlaments
über alle Fragen der Verschuldung dauerhaft und zeitnah
sichergestellt sein.
Die FDP wird dem Gesetzentwurf zustimmen.
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Die Neuregelung des
Schuldbuchrechts und der Rechtsgrundlagen der Bundes-
schuldenverwaltung sind überfällig. Die bisherigen Reg-
lungen gehen auf so genanntes vorkonstitutionelles Recht
zurück. Sie müssen endlich auf eine zeitgemäße Grund-
lage gestellt werden. So beruhen die noch gültigen Rege-
lungen zum Bundesschuldbuch auf dem 1910 in Kraft ge-
setzten und 1939 novellierten Reichsschuldbuch. Die
gültige Bundesschuldbuchpraxis basiert weiterhin maß-
geblich auf der Reichsschuldenordnung, die weitgehend
unverändert aus dem Jahr 1924 stammt.
Es ist für die PDS-Fraktion nicht nachvollziehbar, dass
Bundesregierungen ich sage ausdrücklich: unterschied-
licher politischer Farben Jahrzehnte brauchten, um dem
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119842
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Deutschen Bundestag endlich neue, den derzeitigen An-
forderungen gemäße Rechtsgrundlagen vorzulegen. Han-
delt es sich doch hierbei um Fragen, die für die Haushalt-
und Finanzpolitik des Bundes, für die Bundespolitik über-
haupt, von existenzieller Bedeutung sind.
Die Verschuldung des Bundes beläuft sich aktuellen
Angaben zufolge auf 700,0 Milliarden Euro. Dazu kom-
men weitere 61,0 Milliarden Euro Schulden aus so ge-
nannten Sondervermögen, wie Fonds Deutsche Einheit,
Entschädigungsfonds, ERP-Fonds. Damit ergibt sich eine
Gesamtverschuldung in Höhe von rund 761 Milliarden
Euro. Im Bundeshaushalt 2001 sind allein Zinsausgaben
in einem Umfang von 39,5 Milliarden Euro verankert.
Das ist ein Anteil von 16,2 Prozent an den Gesamtausga-
ben dieses Bundeshaushaltes. Bezogen auf die Steuerein-
nahmen des Bundes machen die Zinsausgaben im laufen-
den Jahr 20,1 Prozent es handelt sich um die so genannte
Zins-Steuer-Quote aus. Alles in allem gigantische,
schwer vorstellbare Zahlen.
Bestandteil der Neuregelung des Schuldbuchrechts des
Bundes ist auch die Verankerung von dessen Finanzie-
rungsinstrumenten. Eine besondere Rolle nimmt darin die
Finanzagentur GmbH ein, deren 100-prozentiger Gesell-
schafter die Bundesrepublik Deutschland ist. Diese Ge-
sellschaft wird ermächtigt, die für die Kreditbeschaffung
des Bundes erforderlichen Schuldverschreibungen und
Schuldbuchforderungen zu begeben und zu veräußern.
Mit der Gründung der Finanzagentur GmbH in diesem
Jahr wurde das Ziel verfolgt, die Benchmarkfunktion der
Bundesrepublik Deutschland bei der Emission von Wert-
papieren des Bundes auch unter den Bedingungen der
Einführung des Euro dauerhaft gewährleisten zu können.
Die PDS-Fraktion hat das grundsätzlich unterstützt und
wird die weitere Entwicklung der Finanzagentur GmbH
im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle im Bundes-
tagshaushaltsausschuss kritisch begleiten.
Für sehr bedenklich hält die PDS-Fraktion in diesem
Zusammenhang, dass im Rahmen der Beratungen über
den Gesetzentwurf im federführenden Bundestagshaus-
haltsausschuss auch eine grundlegende Neuordnung der
parlamentarischen Kontrolle auf dem Gebiet der Schul-
denpolitik des Bundes einvernehmlich zwischen allen
Fraktionen durchgesetzt werden könnte. Anstelle des bis-
herigen Bundesschuldenausschusses, in dem vom Bun-
destag lediglich Vertreter von SPD, CDU/CSU und vom
Bündnis 90/Grüne verankert waren, wird künftig der
Deutsche Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode ein
parlamentarisches Gremium wählen, das aus Mitgliedern
des Bundestagshaushaltsausschusses bestehen soll. Die-
ses Gremium, in das durch eine Protokollnotiz des Bun-
destagshaushaltsausschusses vom 14. November 2001
Vertreter aller im Bundestag vertretenen Fraktionen ein-
bezogen sein werden, soll vom Bundesministerium der
Finanzen über alle Fragen des Schuldenmanagements des
Bundes unterrichtet werden. Es liegt auf der Hand, dass
die Mitglieder dieses neu zu schaffenden Gremiums zur
Geheimhaltung aller Angelegenheiten verpflichtet wer-
den, die ihnen bei ihrer Tätigkeit bekannt geworden sind.
Die PDS-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zur Neu-
ordnung des Schuldenrechts des Bundes sowie der ent-
sprechenden Beschlussempfehlung des federführenden
Bundestagshaushaltsausschusses zu.
Karl Diller (SPD): Der vorliegende Entwurf eines
Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes dient dem Ziel,
das Schuldbuchrecht des Bundes umfangreich zu moder-
nisieren. Ebenso soll damit die Tätigkeit der Bun-
desschuldenverwaltung, die sich künftig Bundeswertpa-
pierverwaltung nennen wird, auf eine moderne und
zukunftsorientierte Rechtsgrundlage gestellt werden.
Eine Reform des Schuldbuchrechts ist seit Jahren er-
forderlich, weil die bisherigen Regelungen noch auf vor-
konstitutionellem Recht beruhen. Zu nennen sind hier ins-
besondere das Reichsschuldbuchgesetz von 1910, die
Reichsschuldenordnung von 1924, sowie verschiedene
Rechtsverordnungen aus den Dreißiger- und Vierziger-
jahren. Diese überalterten Rechtsgrundlagen bildeten den
Rahmen für die bisherige Arbeit der Bundesschuldenver-
waltung.
Sie unterlag danach nur insoweit den Weisungen des
Finanzministeriums, als dies mit der ihr verliehenen Wei-
sungsunabhängigkeit vereinbar war. Kontrolliert wurde
sie von einem Gremium, das sich aus Mitgliedern des
Deutschen Bundestages und des Bundesrates unter Vor-
sitz der Präsidentin des Bundesrechnungshofs zusam-
mensetzte dem Bundesschuldenausschuss. Damit
wurde im Ergebnis für eine Behörde ein ministerialfreier
Raum geschaffen und das Schuldenmanagement des Bun-
des durch die Bundesländer kontrolliert. Mit dem vorge-
legten Entwurf eines Bundeswertpapierverwaltungsge-
setzes wird dieser verfassungsrechtlich bedenkliche
Zustand durch Aufhebung der Weisungsunabhängigkeit
der künftigen Bundeswertpapierverwaltung und der Ab-
schaffung des Bundesschuldenausschusses beseitigt.
Das neue Gesetz weist bestimmte Aufgaben der Bun-
deswertpapierverwaltung zu und unterwirft sie der
Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der
Finanzen. Darüber hinaus erfolgt eine Rechtsbereinigung
und moderne Gestaltung der Begebung für Bundes-
wertpapiere sowie des Bundesschuldbuchs.
Im Übrigen wird die Kontinuität der bisherigen Arbeit
weitgehend gewahrt. Gleichwohl können Teilaufgaben
der Bundeswertpapierverwaltung durch Rechtsverord-
nung entzogen werden. Andererseits können ihr aber auch
neue Aufgaben übertragen werden. Damit soll die Chance
eröffnet werden, die Wirtschaftlichkeit rund um das
Schuldenmanagement zu verbessern. Die Führung des
Einzelschuldbuchs und die Dokumentation der Gewähr-
und Sicherheitsleistungen des Bundes gehören weiterhin
zum Kernbereich der Arbeit und verbleiben auf Dauer bei
der Bundeswertpapierverwaltung.
Der Gesetzentwurf trägt auch der Tatsache Rechnung,
dass die Wertpapiere des Bundes in der Regel nur noch in
Form von Wertrechten und nicht mehr in Form von Ur-
kunden begeben werden. Hier erfolgt durch die Neu-
regelungen eine Rechtsbereinigung, indem alte und über
mehr als sechs Gesetze und Verordnungen verstreute Vor-
schriften, die teilweise noch aus Zeiten des Deutschen
Reiches stammen, aufgehoben werden.
Die Mitwirkung der Legislative sichert künftig ein par-
lamentarisches Gremium. Der Deutsche Bundestag wird
das Gremium, das aus Mitgliedern des Haushaltsaus-
schusses bestehen soll, wählen. Dabei wird auch die Zahl
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19843
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(B)
der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeits-
weise bestimmt. Scheidet ein Gremiumsmitglied aus dem
Bundestag oder seiner Fraktion aus bzw. wird es zum
Bundesminister oder Parlamentarischen Staatssekretär er-
nannt, verliert es seine Mitgliedschaft im Gremium. Für
die ausscheidenden Mitglieder wird ein neues Mitglied
gewählt. Das Gremium wird vom Bundesministerium der
Finanzen über alle Aspekte des Schuldenmanagements
unterrichtet. Die Mitglieder sind zur Geheimhaltung ver-
pflichtet, denn würden die ihnen zugänglichen Informa-
tionen an die Kapitalmärkte gelangen, könnten sich die
Konditionen für den Bund bei der Kreditaufnahme ver-
schlechtern.
Mit dem vorgelegten Gesetz trägt die Bundesregierung
zur Modernisierung und Effizienzsteigerung in der
Bundesverwaltung bei. Dies wird sich insbesondere auf
das Schuldenmanagement auswirken und die Wirtschaft-
lichkeit aller Bereiche der Kreditaufnahme steigern.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwal-
tungsprozess (RmBereinVpG) (Tagesordnungs-
punkt 25)
Alfred Hartenbach (SPD): Im Oktober 1999 hat das
Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber auf-
gegeben, ein neues Verfahren im Verwaltungsprozess für
die Fälle zu entwickeln, in denen die Behörden bestimmte
Akten aus Geheimhaltungsgründen nicht vorlegen kön-
nen und wollen. Das Bundesverfassungsgericht hatte
damals eine Übergangsfrist bis Ende dieses Jahres einge-
räumt. Mit unserem Entwurf zur Bereinigung des Rechts-
mittelrechts im Verwaltungsprozess halten wir diese Frist
ein und kommen dem Verlangen des Bundesverfassungs-
gerichts nach.
Dabei ging es um eine durchaus schwierige Abwägung.
Einerseits sieht die Koalition, die sich ja den Bürger-
rechten in besonderer Weise verpflichtet fühlt, natürlich
sehr darauf, dass der Rechtsschutz des Bürgers gegenüber
den Behörden nicht verkürzt wird. Andererseits muss es
der Regierung möglich bleiben, bestimmte Vorgänge,
insbesondere aus dem Bereich des Staatsschutzes, der
Nachrichtendienste etc. aus der Öffentlichkeit herauszu-
halten. Diese Konfliktlage hat auch das Bundesverfas-
sungsgericht gesehen und den sinnvollsten Lösungsweg
gewiesen, den wir auch gegangen sind: Wenn die Behör-
den behaupten, dass der Vorlage Bedenken aus Gründen
des Staatswohls entgegenstehen, dann muss ein Gericht in
einem so genannten in-camera-Verfahren, also einem
Verfahren ohne die Beteiligten des Prozesses, diese Be-
hauptung überprüfen können. An sich sind solche in-
camera-Verfahren in einem Rechtsstaat unüblich. Sie
müssen auch die absolute Ausnahme bleiben. Aber ohne
diese Ausnahme geht ein geordnetes Regieren auch
wieder nicht, wie auch das Bundesverfassungsgericht
eingeräumt hat.
Es ist natürlich auch nur sinnvoll, wenn der Kreis der-
jenigen, die von solchen sensiblen Akten auch bei einem
in-camera-Verfahren Kenntnis erhalten, möglichst ge-
ring bleibt. Wer darin ein Misstrauen gegen die Richter
erblickt, hat von Regierungsarbeit wenig Ahnung. Lang
möge es dabei bleiben.
Ich möchte gern noch einige weitere Änderungen und
Ergänzungen der Verwaltungsgerichtsordnung erwähnen,
die wir bei dieser Gelegenheit vorgenommen haben. Das
betrifft vor allem die Zulassung als Prozessvertreter vor
den Verwaltungsgerichten. So werden in Zukunft Ange-
stellte von Gewerkschaften und Sozialverbänden in
Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge, des Schwerbe-
hindertenrechts und damit zusammenhängender Angele-
genheiten der Sozialhilfe auftreten dürfen. Alle Praktiker
wissen, dass diese Personen dort ein großes Fachwissen
haben, was der Sache und der Entscheidungsfindung nur
nützen kann. Außerdem werden künftig nicht nur Hoch-
schul-, sondern auch Fachhochschullehrer als Prozess-
vertreter zugelassen. Und schließlich haben wir dafür
gesorgt, dass sich Gebietskörperschaften auch durch Ver-
treter kommunaler Spitzenverbände vertreten lassen kön-
nen.Auch hier braucht man denjenigen, dieVerantwortung
tragen, nicht zu erklären, dass das eine Erleichterung und
Verbesserung der Prozessvertretung sein kann und nicht
zuletzt auch eine Kostenersparnis für die Gemeinden.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die Frist für die
Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung von
einem auf zwei Monate verlängert worden ist. Damit sind
wir einer von der Rechtsanwaltschaft vielfach geäußerten
Bitte nachgekommen; es hat sich gezeigt, dass die bis-
herige Frist häufig nicht ausgereicht hat, insbesondere,
wenn sich die Parteien erst kurz vor Ablauf der Beru-
fungsfrist an einen Anwalt gewandt haben. Das zeigt, dass
Rechtspolitik der Koalition immer an der Sache orientiert
ist und das Ziel verfolgt, den Menschen in ihren prakti-
schen Problemen zu helfen.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Die 7. VwGO-No-
velle steht erst recht in diesen Tagen nicht im Zentrum
des öffentlichen Interesses. Gerade weil nur eine
Fachöffentlichkeit berührt ist, wäre es für das Bundesjus-
tizministerium und die Koalitionsfraktionen eine Chance
gewesen, auch im Ergebnis sachorientiert und kooperativ
mit allen Seiten dieses Hauses zu sprechen. Leider wurde
diese Chance vertan. Nach den Berichterstatterge-
sprächen hat sich mein Eindruck verfestigt, dass die Ver-
antwortlichen im Bundesjustizministerium ziemlich bera-
tungsresistent sind und von den wirklichen Verhältnissen
in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nur wenig wissen. Dies
erlaube ich mir als ehemaliger Richter am Hessischen
Verwaltungsgerichtshof ohne Schärfe, aber aus eigener
Erfahrung anzumerken.
Schon die redaktionelle Überschrift Entwurf eines
Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Ver-
waltungsprozess lässt den eigentlichen Anlass für diese
VwGO-Novelle vollkommen unerwähnt: Anlass war
nämlich die dem Gesetzgeber durch das Bundesverfas-
sungsgericht aufgegebene Pflicht, bis zum 31. Dezember
2001 eine verfassungskonforme neue Regelung der in
§ 99 VwGO enthaltenen Vorlage- und Auskunftspflicht
der Behörden zu schaffen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119844
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Immerhin regelt der jetzt zur Beratung anstehende Ent-
wurf nach einem Berichterstattergespräch mit Experten
aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Anwaltschaft und
der Geheimdienste in einem so genannten ,,in-camera-
Verfahren sowohl den nur selten in der Praxis auftreten-
den Fall der Einsichtsklage als auch den Normalfall der
Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Auch mit der jetzt
gefundenen Formulierung wird sich allerdings nicht ver-
hindern lassen, dass den ein oder anderen Richter in der
Verwaltungsgerichtsbarkeit das Gefühl beschleichen wird,
er sei nicht vertrauenswürdig genug, die jedem Richter in
jedem Verfahren obliegende Geheimhaltungspflicht ge-
rade auf dem hier anstehenden Gebiet einzuhalten.
Lassen Sie mich aber nunmehr zu den neu geregelten
Fragen des Rechtsmittelsystems kommen. Mit der
6. VwGO-Novelle führte der Gesetzgeber die Zulas-
sungsberufung und die Zulassungsbeschwerde ein. Er
glaubte, mit diesen Regelungen die Oberverwaltungsge-
richte bzw. die Verwaltungsgerichtshöfe von überflüssi-
gen Berufungen freistellen und gleichzeitig das Bundes-
verwaltungsgericht als Revisionsinstanz entlasten zu
können. Ob die Erfüllung dieser Erwartung belegt ist,
bleibt freilich offen. Mit der jetzigen Reform, die anders
als in der Begründung des Entwurfs ausgeführt mehr als
eine Randkorrektur darstellt, ist das besondere vorge-
schaltete Zulassungsverfahren auch für Eilsachen (§§ 80,
123 VwG0) zu Recht wieder aufgehoben worden. Inso-
weit hat der Entwurf der Praxis Rechnung getragen, die
die Untauglichkeit dieses Verfahrens erwiesen hat. Nicht
selten hatten nämlich die Beschwerdeinstanzen, OVG
und VGH, wegen der Eilbedürftigkeit über die Zulassung
und über die Beschwerde in der Sache gleichzeitig ent-
schieden.
Dagegen bleibt es hinsichtlich der Zulassung der Be-
rufung unerklärlich, warum die Bundesregierung das seit
über 40 Jahren gut funktionierende System der Revisi-
onszulassung (§§ 132, 133 VwG0) nicht auch auf die Be-
rufungszulassung erstreckt hat. Das gilt in doppelter
Hinsicht: Während nach der 6. Novelle nur das Beru-
fungsgericht auf Antrag der Beteiligten die Berufung zu-
lassen konnte, führt der jetzige Entwurf insoweit
systemkonform die Entscheidung über die Rechtsmit-
telzulassung unmittelbar durch die Verwaltungsgerichte
ein. Allerdings bleibt der Entwurf auf halber Strecke ste-
hen. Anstatt die Nichtzulassung der Berufung durch das
Verwaltungsgericht zu regeln mit der Möglichkeit, diese
durch Nichtzulassungsbeschwerde mit Abhilfemöglich-
keit des erlassenden Gerichts erster Instanz (VG) oder der
Entscheidung des mit der Berufung anzurufenden Ge-
richts zweiter Instanz (OVG, VGH) erstreiten zu können,
muss für den Fall, dass die Berufung nicht ausdrücklich
vom Gericht zugelassen wird ein selbstständiger neuer
Antrag auf Zulassung an das OVG bzw. an den VGH ge-
stellt werden.
Abgesehen davon, dass nicht erkennbar ist, inwieweit
ein insolierter Antrag auf Zulassung an das OVG einen
größeren Entlastungseffekt bewirken sollte als eine Nicht-
zulassungsbeschwerde, wird darüber hinaus ein neuer
Verfahrensweg erfunden, der naturgemäß auch neue Fra-
gen aufwerfen wird. Der zweite Wertungswiderspruch im
System der Rechtsmittel Berufung und Revision ist in den
unterschiedlichen Zulassungsgründen zu sehen: Es wird
das Geheimnis der Bundesregierung bleiben, warum die
Gründe einer Berufungszulassung durch das Verwal-
tungsgericht in § 124 a auf die Gründe des § 124 Abs. 2
Nrn. 3 und 4 beschränkt bleibt und nicht auch auf Nr. 2 er-
streckt wird; ich jedenfalls vermag es nicht zu lüften.
Warum der bisherige Zulassungsgrund der Divergenz
(§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO alt) im Berufungsverfahren ei-
nem neu geschaffenen Berufungsgrund wenn die Fort-
bildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Oberverwaltungs-
gerichts erfordert (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO neu) zum
Opfer fällt, während er als Revisionsgrund unverändert
bleibt (§ 132 Abs. 2 VwGO), ist dagegen gänzlich uner-
findlich. Vielleicht liegt es daran, dass das Bundesjustiz-
ministerium an dieser dem Verwaltungsprozess freilich
bisher unbekannten dreifachen Form der Grundsätz-
lichkeit, der Fortbildung des Rechts und der Einheitlich-
keit der Rechtsordnung geradezu einen Narren gefressen
zu haben scheint.
Soweit schließlich der Entwurf in § 124 c ein Verfah-
ren der Vorlage des Oberverwaltungsgerichts an das Bun-
desverwaltungsgericht vorsieht, wird es nach meinem
Dafürhalten ein stumpfes Schwert bleiben. Auch hier be-
gegnet uns erneut die dem Verwaltungsprozess fremde
und aus dem Wettbewerbsrecht entlehnte Formel; denn
die Vorlage ist davon abhängig, dass das Oberverwal-
tungsgericht mit seiner Auslegung der Zulassungsgründe
eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung verbun-
den sieht oder aber die Fortbildung des Rechts oder die Si-
cherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts erfordert.
Schon der den Richtern eingeräumte weite Beurteilungs-
spielraum und die bekanntermaßen gegen Null gehende
Neigung der Richter an den Obergerichten im Bewusst-
sein ihrer eigenen intellektuellen Scharfsinnigkeit, sich
von Amts wegen vom Revisionsgericht belehren zu las-
sen, lässt diese meine Befürchtung zu. Ohne die Einlei-
tung eines solchen Vorlageverfahrens auf Antrag eines
Beteiligten mit anschließender Beschwerdemöglichkeit
gegen die Nichtvorlage das sah auch der Vorschlag des
Verwaltungsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltver-
eins vor wird dieses Verfahren zur Bedeutungslosigkeit
verkümmern.
Die zentralen Vorschläge dieser Novelle sind für die
Praxis eher ungeeignet. Sie sollten daher besser nicht Ge-
setz werden. Meine Fraktion kann deshalb im Ergebnis
diesem Gesetzentwurf auch nicht zustimmen.
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Rechtsschutz im Verwaltungsprozess ist be-
sonders wichtig für die Durchsetzung der Rechte der Bür-
gerinnen und Bürger gegenüber dem Staat. Daher macht
Rot-Grün zahlreiche Einschränkungen des Rechts-
schutzes im Verwaltungsprozess durch die Vorgänger-
regierung wieder rückgängig, Nachdem Schwarz-Gelb
den Rechtsschutz kräftig zusammengestrichen hat, wird
der Rechtsschutz jetzt wieder wesentlich erweitert. Dabei
wurden wertvolle Anregungen aus dem Bund Deutscher
Verwaltungsrichter und der Verwaltungsrichterschaft ins-
gesamt aufgenommen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19845
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Folgende Kernpunkte möchte ich an dieser Stelle her-
vorheben: Die Frist für die Begründung des Antrags auf
Zulassung der Berufung wird auf zwei Monate ab Zustel-
lung des Urteils verlängert. Die derzeitige Frist von einem
Monat macht in der Praxis Schwierigkeiten namentlich in
komplizierten Fällen, zum Beispiel wenn für eine sachge-
rechte Begründung ausgedehntes Aktenstudium erforder-
lich ist. Weiter entfällt das Zulassungserfordernis bei der
Beschwerde in den Verfahren des vorläufigen Rechts-
schutzes und der Prozesskostenhilfe. Es hat sich in der
Praxis nicht bewährt. Weder ist die Dauer der Beschwer-
deverfahren vor den Oberverwaltungsgerichten zurück-
gegangen noch hat die Zulassungsbeschwerde zu einer
Beschleunigung der Verfahren geführt. Es spricht im
Gegenteil viel dafür, dass die Zwischenschaltung des
Zulassungserfordernisses Verfahrensverzögerungen pro-
voziert. Die Gründe, unter denen die Berufung durch das
Oberverwaltungsgericht zuzulassen ist, werden moderat
erweitert: Danach ist die Berufung zuzulassen, wenn die
Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheit-
lichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Oberver-
waltungsgerichts erfordert. In diesen Fällen besteht über
den Einzelfall hinaus ein allgemeines Interesse an einer
Entscheidung des Berufungsgerichts.
Das Verwaltungsgericht kann die Berufung in Fällen
zulassen, in denen eine Entscheidung des Oberverwal-
tungsgerichts zur Rechtsfortbildung und Rechtsverein-
heitlichung geboten ist. Die Zulassung ist im Urteil aus-
zusprechen. Damit wird eine Verzögerung des Verfahrens
durch ein gesondertes Zulassungsverfahren vermieden.
Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassungsent-
scheidung des Verwaltungsgerichts gebunden. Trifft das
Verwaltungsgericht keine positive Zulassungsentschei-
dung so ist wie bisher hinsichtlich aller Zulassungs-
gründe ein Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen,
über den das Oberverwaltungsgericht entscheidet. Es gibt
also keine Einschränkung der Zulassungskompetenz der
Obergerichte.
Das Gesetz soll zum 1. Januar 2002 in Kraft treten.
Dieses Datum ist im Hinblick auf die ebenfalls vorgese-
hene Änderung des § 99 VwGO geboten. Mit Beschluss
vom 27. Oktober 1999 hat das Bundesverfassungsgericht
bekanntlich § 99 VwGO für unvereinbar mit Art. 19
Abs. 4 GG erklärt. Den Gesetzgeber hat es verpflichtet,
dies bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 sicherzustel-
len. Der angesprochene Punkt liegt mir besonders am Her-
zen: Aufgrund einer Entscheidung des BVerfG wird durch
unser Betreiben nun endlich in § 99 eine Möglichkeit der
gerichtlichen Kontrolle eingeführt werden, wenn eine Be-
hörde eineAuskunft oder die Einsichtnahme inAkten oder
Urkunden wegen Geheimhaltungsinteressen verweigert.
Im Regierungsentwurf war der Rechtsschutz nur für
Verfahren geregelt, deren Klagegegenstand die Heraus-
gabe der Akten beziehungsweise die Erteilung der Aus-
kunft war. Wir haben uns demgegenüber von Anfang an
dafür eingesetzt und das nun im Ergebnis auch durchge-
setzt, dass der Rechtsschutz auch gegeben ist, wenn die
Akteneinsicht nicht Klagegegenstand ist, eben in einem
Verfahren inzident eine Rolle spielt. Die Art der Verfah-
ren, in dem die Verweigerung einer Auskunft oder Ak-
teneinsicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden
kann, ist jetzt nicht mehr begrenzt.
Diskutiert wurde darüber, welches Gericht die Recht-
mäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht überprü-
fen soll. Die Geheimdienste und auch das AA wollten,
dass dies nur das BVerwG sein darf, weil bei einer Zu-
ständigkeit der OVGs die Gefahr, dass geheime Inhalte
öffentlich werden, zu groß sei. Dann hätte es aber nur eine
Instanz gegeben, die über die Rechtsmäßigkeit der Ver-
weigerung der Akteneinsicht entschieden hätte.
Jetzt wurde ein Kompromiss gefunden, nach dem
grundsätzlich die OVGs entscheiden, das BVerwG aber
zuständig ist, wenn die oberste Bundesbehörde die Vor-
lage mit der Begründung verweigert, das Bekanntwerden
der Inhalte würde dem Wohl des Bundes Nachteile berei-
ten. Insofern haben wir hier durchgesetzt, dass es jeden-
falls grundsätzlich eine zweite Instanz gibt.
Rainer Funke (FDP): Der vorliegende Gesetzentwurf
zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungs-
prozess beinhaltet neben zahlreichen zweckmäßigen Än-
derungen auch zwei Änderungen, die für uns Liberale
nicht akzeptabel sind und daher von unserer Seite zur Ab-
lehnung des Gesetzesentwurf führen.
Der selbst gewählte Zwang, für jede Novelle einen
möglichst passenden Namen und Abkürzungen zu finden,
führt manchmal zu kuriosen Abkürzungen, wie im vorlie-
genden Fall, aber auch zu einer Namensgebung, die mit
den tatsächlichen Änderungen des Verwaltungsprozesses
mehr am Rande zu tun hat. Eine manchmal schlichtere
Formulierung wie die x-te Novelle zur Verwaltungsge-
richtsordnung VwGO wäre da schon zweckdienlicher.
Das ist aber nicht der Grund für unsere Ablehnung, wie
Sie sich denken können, sondern die Gestaltung des In-
camera-Verfahrens. Hierbei handelt es sich im Grunde ge-
nommen um ein Geheimverfahren nach § 99 VwGO. In
diesem Verfahren haben weder Kläger noch Beklagte,
also die Parteien des Prozesses, Einsichtnahme in ge-
heime Unterlagen, die von den Diensten in den Prozess
eingeführt werden. Demgemäß kann sich eine Prozess-
partei auch gegen eventuell belastende Angaben in den
geheimen Unterlagen nicht äußern oder wehren, das Ge-
richt darf noch nicht einmal in den Urteilsgründen diese
geheimen Unterlagen erwähnen und darstellen, in wel-
chem Umfang sie entscheidungserheblich sind. So ist ein
solches Verwaltungsgerichtsverfahren für den betroffenen
Bürger kein faires Verfahren mit Rede und Gegenrede.
Ich verkenne nicht, dass es im Einzelfall auch zum
Schutz von Informanten und geheimzuhaltenden Quellen
Regelungen für vertrauliche und geheime Angaben geben
muss. Ich verkenne auch weiterhin nicht, dass es sich um
seltene Fälle handeln wird. Nach den Angaben im Be-
richterstattergespräch handelt es sich auf Bundesebene
um vier bis fünf Fälle, in denen geheime Angaben der
Dienste verwertet werden. Aus grundsätzlichen Erwägun-
gen lehnen wir Liberale dieses in-camera-Verfahren ab,
auch in der Furcht, dass diese Verfahren immer mehr Ein-
gang in unsere Prozessordnungen finden könnten. Das
Prinzip, dass nur das zur Urteilsfindung herangezogen
werden darf, was im Prozess von den Parteien eingebracht
worden ist, darf im Interesse unserer Rechtsstaatlichkeit
nicht durchbrochen werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119846
(C)
(D)
(A)
(B)
Ein weiterer Grund, der aber nicht ganz so schwerwie-
gend ist, ist die Erweiterung der Postulationsfähigkeit in
§ 67 in Verbindung mit § 52. Es mag durchaus sein, dass
durch die Erweiterung der Postulationsfähigkeit sachkun-
dige Personen zusätzlich postulationsfähig werden. In ei-
nem immer komplizierter werdenden Prozess kommt es
jedoch nicht nur auf die reine Fachkunde an, sondern auch
auf die richtige Subsumierung des Tatbestandes auf die
gegebene Rechtslage. Nach unserer Rechtsordnung, auch
des Rechtsberatungsgesetzes, ist dies die Aufgabe der An-
waltschaft und sollte aus gutem Grund nicht auf Dritte
übertragen werden, denen im Übrigen die Erfahrungen
der Prozessführung häufig fehlen wird und die nicht der
beruflichen Schweigepflicht unterliegen, und zudem
keine Haftpflichtversicherung für den Fall der Schlecht-
beratung haben. Eine Einschränkung der Postulations-
fähigkeit kommt damit dem Mandanten zugute und ist
auch eine Form des Vertrauensschutzes. Daher ist eine Er-
weiterung der Postulationsfähigkeit abzulehnen.
Für die gute Atmosphäre in den geführten Bericht-
erstattergesprächen und bei der Anhörung der Sachver-
ständigen möchte ich mich an dieser Stelle abschließend
ausdrücklich bedanken.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Ich bin keine Anhängerin
ständiger Änderungen von Rechtsvorschriften, da dies
nicht zur Rechtsstabilität und Rechtssicherheit beiträgt.
Es sind eben nicht immer neue Lebenssachverhalte bzw.
gewandelte Verhältnisse, die gesetzgeberisches Handeln
erforderlich machen, sondern nicht selten auch Rege-
lungsunzulänglichkeiten, die in der Rechtspraxis zutage
treten. Doch wenn es darum geht, ein Gesetz aus Gründen
des Rechtsschutzes im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger nachzubessern, dann muss erneut und auch kurz-
fristig geändert werden.
So verhält es sich mit dem vorliegenden Entwurf eines
Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Ver-
waltungsprozess. Hier hat die Rechtsprechung sehr
schnell nach dem In-Kraft-Treten des 6. VwGO-Ände-
rungsgesetzes offenbart, dass das Zulassungsrecht eine
erhebliche Hürde für den Zugang zu den Rechtsmittelver-
fahren darstellt. Die Praxis hat bekanntlich von allem ge-
zeigt, dass die bisherigen Fristen für die Einlegung und
Begründung der Anträge auf Zulassung von Berufung und
Beschwerde viel zu knapp bemessen sind. Nicht selten
werden deshalb Zulassungsanträge mangels hinreichen-
der Begründung als unzulässig verworfen. Da es nicht
sein darf, dass in der Sache aussichtsreiche Rechtsmittel
an solchen Schwierigkeiten scheitern, ist allein schon die
Verlängerung der Frist für die Begründung des Antrags
auf Berufungszulassung ein hinreichender Grund für die
Änderung des Gesetzes.
Ganz im Interesse eines optimalen Rechtsschutzes, der
Rechtsfortbildung als auch der Rechtseinheitlichkeit steht
weiterhin die Verbesserung der Möglichkeiten der Ver-
waltungsgerichte, Berufungen an die Oberverwaltungs-
gerichte zur Klärung von Rechtsfragen zuzulassen. Dem
dient natürlich auch das Vorlageverfahren an das Bundes-
verwaltungsgericht zur Auslegung und Klärung von
Zweifelsfragen bei der Zulassung der Berufung.
So wie bei der Diskussion um die ZPO-Reform muss
ich aber auch hier kritisieren, dass das Verwaltungsgericht
die Berufung nicht zulassen soll, wenn es sich bei dem
vorliegenden Sachverhalt um eine schwierige tatsächliche
oder rechtliche Frage § 124 Abs. 2 Nr. 2 handelt. Eine
solche Bereinigung des Rechtsmittelrechts habe ich mir
nicht gewünscht.
Für begrüßenswert erachte ich dagegen die Erweite-
rung der Postulationsfähigkeit insbesondere von Mitglie-
dern und Angestellten von Gewerkschaften. Ihre spezielle
Sachkunde rechtfertigt meines Erachtens unbedingt ihre
unmittelbare Teilnahme an einschlägigen Verwaltungs-
verfahren. Ihre fehlende Prozesserfahrung, die von Geg-
nern dieser Regelung ins Felde geführt wird, dürften sie
nach entsprechender Gerichtspraxis sehr schnell gewin-
nen. Ein neuer Weg wird im Verwaltungsprozess mit dem
so genannten in camera-Verfahren beschritten. Auch
hier geht es letztlich um die Gewährung von Rechts-
schutz, nämlich dann, wenn die Vorlage wichtiger ge-
heimhaltungsbedürftiger Akten durch die Behörden von
wesentlicher Bedeutung für das betreffende Verfahren ist.
Es ist dem Bundesverfassungsgericht zu danken, dass es
durch einen Beschluss vom 27. Oktober 1999 den Weg für
die Einführung des in camera-Verfahrens im deutschen
Verwaltungsprozessrecht frei gemacht und den Gesetzge-
ber bis zum 31. Dezember dieses Jahres zur Neuregelung
verpflichtet hat.
Unbefriedigend bleibt aber die Situation im Falle einer
berechtigten Verweigerung der Aktenvorlage aus aner-
kannten Geheimnisschutzgründen. Was ist dann mit dem
effektiven gerichtlichen Rechtschutz? Ein wenig erinnert
dieses Verfahren schon an Kabinettsjustiz. Gleichwohl ist
es ein Fortschritt im Vergleich zur bestehenden Rechtslage.
Ich denke aber dennoch, dass wir uns über kurz oder lang
mit der zugegebenermaßen sehr schwierigen Frage der in
camera-Verwertung auseinander setzen müssen. Es muss
sowohl eine rechtsstaatlich als auch eine sicherheitspoli-
tisch vertretbare Möglichkeit geben, dass im Extremfall der
Sicherheit wegen die Gerechtigkeit nicht geopfert wird.
In den Gesamtabwägung gebe ich dem Gesetzentwurf
dennoch meine Zustimmung, da seine Vorteile gegenüber
dem geltenden Recht eindeutig überwiegen.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Der heute zur Verabschiedung
stehende Entwurf bringt eine Reihe praktischer Änderun-
gen für das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Die bei-
den Schwerpunkte sind: Änderungen im Bereich der
Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen und
die Umsetzung einer bundesverfassungsgerichtlichen
Entscheidung zur Frage, wie im Verwaltungsprozess mit
geheimhaltungsbedürftigen Urkunden, Akten oder Aus-
künften der Behörden umzugehen ist.
Lassen Sie mich mit dem zweiten Komplex beginnen:
Effektiver verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz setzt
regelmäßig die Kenntnis der bei der Behörde entstande-
nen Verwaltungsvorgänge voraus. Daher müssen diese
Vorgänge im Verwaltungsprozess grundsätzlich vorgelegt
werden. Im Konflikt zwischen effektiver Rechtsschutzge-
währung und behördlichem Interesse an der Geheimhal-
tung der Vorgänge ließ das bisher geltende Recht jedoch
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19847
(C)
(D)
(A)
(B)
ausreichen, dass die Behörde die zur Nichtvorlage be-
rechtigenden Umstände gegenüber dem Gericht glaubhaft
machte.
Diese Rechtslage hat das Bundesverfassungsgericht in
der ihnen bekannten Entscheidung vom 27. Oktober 1999
mit dem aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes folgenden
Gebot effektiven Rechtsschutzes für unvereinbar erklärt.
Die jetzt vorgesehene Neuregelung greift das vom
Bundesverfassungsgericht vorgeschlagene Modell eines
in-camera-Verfahrens auf: In einem Zwischenverfahren
entscheidet ein Gericht in Kenntnis der betroffenen Vor-
gänge oder Auskünfte über deren Geheimhaltungsbedürf-
tigkeit. Zu diesem Zweck sind die Vorgänge allein dem
Gericht zugänglich zu machen. Der Kläger oder Antrag-
steller erhält bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des
Gerichts von ihrem Inhalt keine Kenntnis. Er hat kein
Recht auf Akteneinsicht. Die Entscheidungsgründe dür-
fen sich zu dem geheimhaltungsbedürftigen Akteninhalt
nicht verhalten. Die mit der Neuregelung verbundene Ein-
schränkung des rechtlichen Gehörs ist im Interesse eines
effektiveren Rechtsschutzes hinzunehmen.
Die Begründungspflicht der Gerichte nach § 122
Abs. 2 VwGO ist durch die Neuregelung übrigens nicht
berührt. Soweit danach eine Begründungspflicht besteht,
muss das Gericht plausibel darlegen, worauf es seine Ent-
scheidung stützt. Dazu gehört in jedem Fall die Mittei-
lung, dass das Gericht die Akten oder Urkunden eingese-
hen hat oder dem Gericht die geheim zu haltenden
Auskünfte erteilt worden sind.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht mit dem
in-camera-Verfahren ein praktikables Modell bereits
vorgegeben hatte, blieben im Gesetzgebungsverfahren
eine Reihe von Fragen zu klären:
Sollte das in-camera-Verfahren auf den der verfas-
sungsgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden
Fall beschränkt werden, in dem mit der Klage Auskunft
oder Einsicht in die Verwaltungsvorgänge gefordert wird?
Oder sollten die Fälle einbezogen werden, in denen das
Klageziel zwar ein anderes Verwaltungshandeln ist, die
Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns aber nur in
Kenntnis der nach Auffassung der Behörde geheim-
zuhaltenden Vorgänge beurteilt werden kann? Im Gesetz-
gebungsverfahren hat sich zu Recht, wie ich meine die
weitere Auffassung durchgesetzt. Praktikabilitätserwä-
gungen sprechen dafür, den Gerichten in allen Verfahren,
in denen es für die Entscheidung auf geheimhaltungsbe-
dürftige Vorgänge ankommt, ein einheitliches Verfahren
an die Hand zu geben. Die uneingeschränkte Nachprü-
fung durch ein unabhängiges Gericht ist unter dem Ge-
sichtspunkt des effektiveren Rechtsschutzes der bloßen
Überprüfung der von der Behörde nur glaubhaft zu ma-
chenden Geheimhaltungsgründe vorzuziehen.
Zu entscheiden war auch, vor welchem Gericht der
Zwischenstreit über die Frage der Geheimhaltung ausge-
tragen werden soll. Der Entwurf entscheidet sich für die
Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte und in den
besonders sensiblen Fällen, in denen das Bekanntwerden
der Vorgänge Nachteile für das Bundeswohl nach sich zie-
hen kann, für die Zuständigkeit des Bundesverwaltungs-
gerichts. Das Bundesverwaltungsgericht wird damit re-
gelmäßig zuständig sein, wenn es um Vorgänge des
Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz oder des Militärischen Abschirmdienstes
geht. Die Konzentration der Verfahren bei einigen weni-
gen Gerichten hält auch den Aufwand der für die nicht
richterlichen Mitarbeiter der Gerichte durchzuführenden
Sicherheitsüberprüfungen gering. Die Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts unterliegt anknüpfend an das
geltende Recht der Beschwerde. Für die unmittelbar
durch das Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden
Fälle steht naturgemäß nur eine Instanz zur Verfügung.
Dies erscheint mir angesichts der regelmäßigen Qualität
oberstgerichtlicher Entscheidungen aber auch gut vertret-
bar.
In seinem zweiten Schwerpunkt bringt der Entwurf
notwendige Korrekturen für das Rechtsmittelverfahren
gegen Entscheidungen der ersten Instanz. Einige der mit
der 6. Novelle zur VwGO 1997 in Kraft getretenen
Regelungen haben zu praktischen Schwierigkeiten ge-
führt, die jetzt behoben werden. So mussten die Fristen für
die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung
verlängert werden. Die Zulassungsbeschwerde in den
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und der Pro-
zesskostenhilfe hat sich nicht bewährt, insbesondere nicht
zu der erhofften Verkürzung der Verfahrensdauer geführt.
Sie wird daher wieder abgeschafft.
Die Notwendigkeit der Berufungszulassung durch das
Oberverwaltungsgericht hat die notwendige und erhoffte
Entlastung der zweiten Instanz gebracht. Jedoch hat sich
die Zulassungspraxis der Oberverwaltungsgerichte deut-
lich restriktiver entwickelt als vom Gesetzgeber der
6. Novelle erwartet und bei Formulierung der Zulassungs-
gründe zugrunde gelegt. Darüber hinaus kann es ein deut-
liches zuerst von den Verwaltungsgerichten wahrgenom-
menes Bedürfnis geben, in neu auftretenden Streitfragen
rasch zu einer einheitlichen obergerichtlichen Rechtspre-
chung zu gelangen. Diesen Gesichtspunkten wird Rech-
nung getragen durch die Einführung eines erweiterten Zu-
lassungsgrundes in § 124 Abs. 1 Nr. 4 und durch die
Befugnis des Verwaltungsgerichts, unter bestimmten Vor-
aussetzungen seinerseits die Berufung zuzulassen. Be-
wusst entscheidet sich der Entwurf für das Nebeneinander
von Berufungszulassung durch Verwaltungsgericht und
Oberverwaltungsgericht damit auch für eine Abwei-
chung vom Modell der Revisionszulassung. Die Alterna-
tive Zulassungskompetenz für alle Zulassungsgründe
allein beim Verwaltungsgericht hätte die durch die
6. Novelle erreichte Entlastung weitgehend infrage ge-
stellt. Das haben uns die Länder nachdrücklich vor Augen
geführt.
Um bei der Auslegung der Berufungszulassungs-
gründe eine rasche oberstgerichtliche Klärung zu ermög-
lichen, sieht der Entwurf ein Vorlageverfahren der Ober-
verwaltungsgerichte an das Bundesverwaltungsgericht
vor. Von der Möglichkeit einer Beschwerde, falls das
OVG von der Vorlagemöglichkeit keinen Gebrauch
macht, haben wir abgesehen: Damit soll weiteren Verzö-
gerungen des Verfahrens vorgebeugt werden. Ich halte
diese Ausgestaltung des Vorlageverfahrens für einen
guten Kompromiss zwischen der Ermöglichung einer
oberstgerichtlichen Entscheidung und dem Interesse an
der Verfahrensbeschleunigung.
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu dem Entwurf.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119848
(C)
(D)
(A)
(B)
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge
Mobilfunkstrahlung minimierten Vorsorge
stärken
Mobilfunkforschung und Information voran-
treiben
(Tagesordnungspunkt 26 a und b)
Marlene Rupprecht (SPD): Wir haben die Besorgnis
und Unsicherheit in der Bevölkerung hinsichtlich mögli-
cher Belastungen durch nicht ionisierende elektromagne-
tische Strahlung immer ernst genommen und bereits in der
13. Wahlperiode in mehreren Anfragen und einem Ent-
schließungsantrag gefordert, dass die Regelungen der
26. BlmSchVO jeweils dem aktuellen Stand der wissen-
schaftlichen und technologischen Erkenntnisse angepasst
werden. Seit 10 Jahren nimmt nun die Entwicklung des
Mobilfunks einen dynamischen Verlauf mit der Folge,
dass bis heute in Deutschland 62 Millionen Handys benutzt
werden. Allein die Tatsache, dass die 26. BlmSchVO gar
nicht für das Handy gilt, sondern nur für die ortsfesten Sen-
deanlagen, zeigt, wie wichtig die Überprüfung dieser Ver-
ordnung bzw. die Umgangsweise mit dieser Technik ist.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit hat zur Vorbereitung einer Novellierung des-
halb im Juli 2001 eine Anhörung mit allen Betroffenen,
Betreibern, Herstellern, Wissenschaftlern und Bürger-
initiativen durchgeführt. Die Fraktionen haben anschlie-
ßend für sich beraten, was sie aus den Ergebnissen in
parlamentarische Anträge umsetzen wollen. Zwei dieser
Anträge sind heute Gegenstand der Beratung.
Auch die Bundesregierung überprüft zurzeit die Rege-
lungen in dieser Verordnung und so stehen auch die bis-
herigen Grenzwerte auf dem Prüfstand. Die Strahlen-
schutzkommission hat in ihrem Gutachten zunächst
Entwarnung gegeben, weil sie nach der Bewertung der
neueren wissenschaftlichen Literatur keine neuen wissen-
schaftlichen Erkenntnisse gefunden hat, die Zweifel an
der bisherigen Einschätzung aufkommen ließen. Dennoch
halten wir aus Gründen der Vorsorge auch die Prüfung der
Aufnahme von Vorsorgewerten zu den bisherigen Grenz-
werten in die Verordnung für unabdingbar. Des Weiteren
halten wir die Lösung wichtiger Probleme wie fehlende
Informationen vor Ort über die Mobilfunktechnik selbst,
ihre Strahlungswerte sowie über das, was in den Häusern
ankommt, für äußerst dringend. Auch sind wir der Mei-
nung, dass die Mobilfunkbetreiber zu verpflichten sind,
bei Einführung neuer Technologien zukünftig und früh-
zeitig alle notwendigen Daten zur gesundheitlichen Be-
wertung vorzulegen bzw. zu generieren.
Die Forderung der PDS nach Einführung von immissi-
onsschutzrechtlichen Planfeststellungsverfahren ist dem-
gegenüber angesichts der Zahl zu erwartender Verfahren
völlig überzogen. Was sollen 40 000 Umweltverträglich-
keitsprüfungen bei dieser Technologie ergeben, wenn eine
Anlage Grenzwerte einhält, die wissenschaftlich nicht wi-
derlegt sind, oder im Falle der Aufnahme von Vorsorge-
werten Umweltschädigungen des Menschen von den
Umweltkompartimenten Boden, Wasser und Luft einmal
gar nicht zu reden ausgeschlossen werden können?
Über die Einführung von Genehmigungsverfahren un-
ter Beteiligung der Öffentlichkeit kann man nachdenken
und es spricht auch nichts dagegen, sofern seitens der be-
troffenen genehmigenden Behörden die Durchführung
der Verfahren bewältigt werden kann und auch sonst die
Sinnhaftigkeit geklärt ist. Es ist auch ernst zu nehmen,
was über den Gebrauch von Handys durch Kinder
während der Anhörung gesagt wurde. Eine Informations-
pflicht der Hersteller über die SAR-Werte sollte aufge-
nommen werden. Einige Firmen wie Siemens zum Bei-
spiel reagieren bereits auf die Forderung und
veröffentlichen ihre Daten im Internet, einige leider nur in
englischer Sprache.
Der vorliegende PDS-Antrag gibt in vielen Punkten
den aktuellen Diskussionsstand wieder. Die PDS beruft
sich aber leider in einigen Punkten des Antrages nur auf
die Argumente der Mobilfunkgegner, obwohl bei der An-
hörung klar herauskam, dass es für einen großen Bereich
keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse gibt. Der
Antrag enthält Forderungen, die grundsätzlich das Pro-
blem treffen, die dafür vorgeschlagenen Lösungsansätze
schießen aber oft über das Ziel hinaus oder sind schlicht
nicht praktikabel, weil sie jede Verwaltung mit der Fülle
von Prüfungsverfahren lahm legen würde.
Zum CDU/CSU-Antrag lässt sich Folgendes sagen: Er
fokussiert die Probleme im Zusammenhang mit Mobil-
funk auf einen Informationsmangel der Bürger als Ursa-
che. Es ist sicher richtig, dass hier ein Nachholbedarf
besteht. Dass die Forschung intensiviert werden soll, be-
grüßen wir ebenfalls. Leider sieht die CDU/CSU nur die
Bundesregierung allein in der Pflicht als Geldgeber für
Informationsmaßnahmen und die Forschung. Hier sind
aber die Mobilfunkbetreiber als Verursacher wie auch als
diejenigen, die mit dieser Technik Gewinne machen wol-
len, gefragt. Die Notwendigkeit weiterer Forschung
wurde von der Bundesregierung bereits erkannt. Sie hat,
wie im CDU/CSU-Antrag bereits erwähnt, Leistungen
des Bundesumweltministeriums in Höhe von 8,5 Milli-
onen Euro für die Jahre 2002 bis 2005 für diesen Bereich
eingestellt. Das heißt nicht, dass nicht alle Mobilfunkbe-
treiber aufgerufen sind, ähnliche Anstrengungen zu er-
bringen.
Alle anderen Aspekte im Themenbereich Mobilfunk
wurden im Antrag der CDU/CSU wenig oder nicht be-
achtet. Deshalb ist auch dieser Antrag keine Lösung und
muss abgelehnt werden.
Ilse Aigner (CDU/CSU): Die Mobilfunktechnologie
ist in den letzten Jahren zu einer in breiten Bevölkerungs-
schichten genutzten Technologie geworden. Etwa 50 Mil-
lionen Benutzer sind allein in Deutschland registriert. Es
wird überall telefoniert: auf der Straße, in Gaststätten, in
Schulen, im Auto und wo auch immer. Damit dies über-
haupt geschehen kann, sind mittlerweile Tausende von
Basisstationen aufgestellt worden bzw. sollen noch auf-
gestellt werden. Hinzu kommen weitere Stationen, da die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19849
(C)
(D)
(A)
(B)
Bundesregierung die UMTS-Lizenzen mit der Bedingung
versteigert hat, dass künftig 50 Prozent der Bevölkerung
mit dieser neuen Technologie erreichbar sein soll.
Mittlerweile regt sich in der Bevölkerung erheblicher
Widerstand gegen die Errichtung der Basisstationen der
jetzigen Mobilfunktechnik GSM und Befürchtungen we-
gen der neuen UMTS-Technik. Die Bundesregierung
verfugt über vielfältige Erkenntnisse durch Studien und
hat diese auch durch die Strahlenschutzkommission be-
werten lassen. Als Grundlage hierzu dienen die in der
26. BImSchV festgesetzten Grenzwerte.
Aufgrund der Verunsicherung in der Bevölkerung über
die gesundheitlichen Auswirkungen des Mobilfunks hat
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits am 3. April
dieses Jahres eine Große Anfrage an die Bundesregierung
gestellt. In seinem Schreiben vom 22. Mai 2001 teilte der
Bundesumweltminister Trittin mit, dass die Bundesregie-
rung die Antworten bis Ende Juli vorlegen wird.
Nachdem mehrfach nachgefragt wurde, setzte das
Bundesumweltministerium in einem zweiten Schreiben
vom 16. Juli 2001 die CDU/CSU-Bundestagsfraktion le-
diglich davon in Kenntnis, dass die Beantwortungsfrist
von ihrer Seite bis zum 15. Oktober verlängert wurde. In
der Begründung heißt es, dass die Sitzung und der Bericht
der Strahlenschutzkommission, SSK, für die Beantwor-
tung der komplexen Anfragen nötig ist. Dieser Bericht
liegt der Öffentlichkeit seit dem 13. September, seit nun-
mehr zwei Monaten vor. Die Antwort der Bundesregie-
rung ist jedoch immer noch offen.
Interessant war übrigens eine Formulierung im ersten
Schreiben des Bundesministers: Die Bundesregierung ist
bereit, die Große Anfrage zu beantworten. Diese Formu-
lierung zeigt schon ein hohes Maß an Arroganz. Ist doch
die Bundesregierung laut Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages dazu verpflichtet, Große Anfragen in-
nerhalb von sechs Monaten zu beantworten! Alles andere
ist Willkür. Anscheinend ist der Bundesregierung die In-
formation und das Interesse der Bevölkerung nicht wich-
tig. Oder soll hier etwas verschwiegen werden?
Mittlerweile hat die Bundesregierung eine erneute Ver-
längerung bis Mitte Dezember beantragt. Offensichtlich
spielt die Bundesregierung auf Zeit und hofft, dass sich
das Thema Mobilfunk von allein löst. Dies ist aber wahr-
scheinlich eine beträchtliche Fehleinschätzung, insbeson-
dere deshalb, weil gerade auch Repräsentanten der Re-
gierungskoalition vor Ort alles Mögliche fordern, ohne
selbst auf Bundesebene tätig zu werden.
Durch die für die Bundesregierung typische Hinhalte-
und Schweigetaktik lässt sie die Bürgerinnen und Bürger
im Regen stehen und gibt auch der Industrie keine Pla-
nungs- und Rechtssicherheit. Nachdem die Beantwortung
nun schon mehrfach verschoben worden ist, hat sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch aufgrund der Er-
gebnisse der Strahlenschutzkommission entschlossen,
den Ihnen vorliegenden Antrag zu stellen.
Wir sehen den primären Grund für die Verunsicherung
in der Bevölkerung in dem Fehlen von ausreichenden
Kenntnissen über das Funktionieren des Mobilfunknet-
zes. Notwendig ist, den Verbraucher zu informieren, wie
die Mobilfunktechnik sicher und rücksichtsvoll genutzt
werden kann. Hier müssen dem Verbraucher Fakten und
verständliche Daten an die Hand gegeben werden. Durch
eine entsprechende Kennzeichnung ist zu gewährleisten,
dass der Verbraucher die Möglichkeit hat, diese Daten und
Fakten seiner Kaufentscheidung zugrunde zu legen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: eine
Aufklärungskampagne zu intiieren; dafür Sorge zu tra-
gen, dass Handys in der Weise gekennzeichnet werden,
dass sie verlässliche und eindeutige Angaben über die
Sende-, Empfangs- und Strahlungseigenschaften liefern
und für eine dauerhafte, entwicklungs- und forschungsbe-
gleitende Informationspolitik zu sorgen.
Über die wissenschaftlichen Erkenntnisse kann man
eigentlich nur eines sicher sagen, dass sich die Wissen-
schaftler uneinig sind. Die einzige gesicherte Gemein-
samkeit zwischen allen Experten ist, dass weiterhin For-
schungsbedarf hinsichtlich der athermischen Wirkungen
besteht. Die Kritiker verweisen dabei auf wissenschaftli-
che Beweise der Schädlichkeit. Bei genauerer Betrach-
tung handelt es sich hier jedoch um wissenschaftliche
Hinweise. Dies soll jedoch nicht heißen, dass man genau
diesen Hinweisen, die nicht den strengen und reprodu-
zierbaren Kriterien eines wissenschaftlichen Beweises
genügen, nicht nachgehen sollte.
Um Ihnen ein paar Bereiche, bei denen noch For-
schungsbedarf besteht, aufzuzeigen, möchte ich einfach
aus den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission
vom September diesen Jahres zitieren. Ich beziehe mich
hier auf die Bewertungen wissenschaftlicher Studien
hochfrequenter Felder seit 1998 im Kapitel A 3.
A 3.1 Interaktionen hochfrequenter elektromagneti-
scher Felder mit Zellen und subzellulären Strukturen.
A 3.1.1. Moleküle und Membranen Bewertung:
... Deswegen sind weitere Untersuchungen unter gut
kontrollierbaren Bedingungen erforderlich.
A 3.1.2. Kalzium Bewertung: ... weitere Forschung
ist daher gerechtfertigt.
3.2 Untersuchungen zum Einfluss hochfrequenter
elektromagnetischer Felder auf Menschen und Tiere.
A 3.2.2. Elektroenzephalogramm beim Menschen:
... Es kann zusammengefasst werden, dass die bisheri-
gen Studien nicht im Ergebnis übereinstimmen, aber, den-
noch Hinweise auf expositionsbedingte Änderungen neu-
rophysiologischer Prozesse geben ... Daher sind weitere
Untersuchungen notwendig.
A 3.2.3. Schlaf ... Deshalb sind die ... Ergebnisse der
Einzelstudie ... als unbestätigte Hinweise einzustufen. Zur
Abklärung, ob es Schlafstörungen durch hochfrequente
Felder gibt, sind kontrollierte, doppelblind durchgeführte
Schlafexperimente geeigneter, um zwischen physischen
und psychischen Ursachen der Störung unterscheiden zu
können.
A 3.2.4. Kognitive Funktionen beim Menschen: Die
Vielzahl an untersuchten, unterschiedlichen Reaktions-
zeittypen, die bei Exposition zum Teil verkürzt, aber an-
dere auch verlängert waren, lässt keine eindeutige Be-
wertung zu, gibt aber Hinweise auf eine mögliche
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 200119850
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Beeinflussung von physiologischen Prozessen. Es ist wei-
tere Forschung notwendig, um zu klären, ob bei der Nut-
zung von Handys die Leistungsfähigkeit des Gehirns be-
einflusst wird.
A 3.2.5. Blut-Hirn-Schranke: Schirmacker (Studie
SchiOO) sahen an einem In-vitro-Blut-Hirn-Schranken-
modell eine Permeabilitätsänderung für Sacherose bei
1,6 GHz (0,3 W/kg). Da es sich um ein künstliches Mo-
dell handelte, sollte diese Einzelstudie unabhängig im
Tierversuch wiederholt werden. In weiteren Experimen-
ten sollten bekannte, für das Gehirn toxische Substanzen
auf ihr Permeabilitätsverhalten unter Feldeinwirkung un-
tersucht werden.
Es kann zusammengefasst werden, dass die Ergebnisse
zu einer expositionsbedingten Permeabilitätsänderung
der Blut-Hirn-Schranke kein konsistentes Bild ergeben
und lediglich als Hinweise zu werten sind. Die offenen
Fragen erfordern in Zukunft vorsorglich weitere Untersu-
chungen zu dieser Thematik.
A 3.2.7. Blutparameter und Immunsystem. ..Einzeler-
gebnisse können als Hinweise gedeutet werden. Ob diese
Reaktion beim Menschen auftritt, muss durch weitere
Studien geklärt werden.
Im Hinblick auf neue technische Anwendungen, die
diesen Frequenzbereich nutzen werden, sind, unabhängig
von den vorliegenden Ergebnissen, weitere Untersuchun-
gen notwendig.
A 3.3. Hochfrequente elektromagnetische Felder und
Krebs.
A 3.3.1. Untersuchungen zu krebsrelevanten Protei-
nen, Krebsentstehung und -promotion ... Es kann zu-
sammenfassend festgestellt werden, dass die Untersu-
chungen zu krebsrelevanten Proteinen, Krebsentstehung
und Krebspromotion ein sehr uneinheitliches Bild liefern.
Inwieweit im Einzelnen und nicht Reproduzierbaren Hin-
weise eine Bedeutung für gesundheitliche Beeinflussun-
gen haben, muss durch weitere Forschung geklärt wer-
den.
A 3.3.2. Spontane und initiierte Tumorbildung ... Wei-
tere Studien zur Tumorentwicklung sollten durchgeführt
werden.
Für all die offensichtlich nötige Forschungsarbeit hat
die Bundesregierung für die Jahre 2002 bis 2005 lediglich
8,5 Millionen Euro eingeplant. Ob diese Mittel ausrei-
chend sind, darf wohl angezweifelt werden. Deshalb for-
dert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregie-
rung auf, Mittel einzustellen für ein, den internationalen
wissenschaftlichen Regeln und Kriterien der WHO genü-
genden Programms zur Erforschung der Auswirkungen
elektromagnetischer Felder auf die menschliche Gesund-
heit. Diese sollen ferner laufend unter Einbeziehung von
Mobilfunkkritikern überprüft und fortgeschrieben wer-
den. Die Bundesregierung hat durch die Versteigerung der
UMTS-Lizenzen 100 Milliarden DM eingenommen und
will für die Erforschung der eventuellen gesundheitlichen
Auswirkungen dafür lediglich 0,41 Prozent pro Jahr ein-
setzen und das unter einem grünen Umweltminister!
Als weiterer wichtiger Punkt hin zu vertrauensbilden-
den Maßnahmen ist der Zugang zu den Daten der Regulie-
rungsbehörde für Post und Telekommunikation, RegTP,
zu nennen. Diese Behörde muss unter Federführung des
Bundeswirtschaftsministeriums ein Standortkataster mit
Informationen über die Standorte aller emitierenden An-
lagen und der Sendeleistung erstellen.
Begleitend dazu müssen fortlaufend flächendeckende
Immissionsmessungen durchgeführt und von der RegTP
veröffentlicht werden. Die Kommunen müssen auf diese
Ergebnisse zugreifen können und müssen ebenso bei der
Standortfindung von Sendeanlagen gemäß der Bundes-
vereinbarung der kommunalen Spitzenverbände und der
Mobilfunkbetreiber mit einbezogen werden.
All diese Maßnahmen sollen dazu führen, die Diskus-
sion über die Auswirkungen des Mobilfunks auf den Men-
schen zu versachlichen, zugleich aber die Befürchtungen
aufzunehmen und diese durch eine intensive Forschung
aufzuklären. Es kann nicht sein, dass wir die Bürgerinnen
und Bürger, aber auch die kommunalen Mandatsträger bei
dieser Thematik im Stich lassen. Bei aller Kompetenzzu-
messung der Betroffenen ist es nicht sehr wahrscheinlich,
dass sie sich bei solch unterschiedlichen Aussagen gerade
aus der Wissenschaft ein objektives Bild verschaffen kön-
nen. Dies liegt eindeutig in der Kompetenz des Bundes
und hier muss die Bundesregierung ihrer Verpflichtung
nachkommen.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Schnelle Autos und beeindruckend große Funktelefone
gehörten für Tom Selleck stets zusammen: Wer Anfang
der 90er-Jahre in amerikanischen Krimiserien wie Mag-
num Funktelefone vom Ausmaß eines Hundeknochens
sah, konnte es sich kaum vorstellen: Seit in Deutschland
1992 das erste Mobilfunknetz in Betrieb ging, sind bereits
über 50 Millionen Handys über die Ladentheke gegangen.
Der Mobilfunk boomt. Am Strand, im Supermarkt, an der
Bushaltestelle: Das Handy ist bei Millionen Menschen
immer dabei. Die kleinen Helfer sind längst kein Privileg
von Managern und Maklern mehr. Mittlerweile gibt es
Schulen, an denen es keine Schüler ohne Handys mehr
gibt.
Entsprechend groß ist die Verunsicherung in der Be-
völkerung: Immer mehr Mobilfunkmasten stehen auf
Krankenhäusern, Schulen oder in Wohngebieten. Und
überall schließen sich dagegen Bürgerinitiativen zusam-
men inzwischen schon weit über 600. Über 34 000 Mo-
bilfunksender gewährleisten zwar eine optimale Funkab-
deckung, aber Zweifel an ihrer Unbedenklichkeit sind
angebracht. Und die Auseinandersetzung um Mobilfunk
wird sich noch weiter verschärfen: Die Vergabe der
UMTS-Lizenzen erfordert bis zu 40 000 weitere Sende-
anlagen.
Ist da der Gesundheitsschutz noch ausreichend
gewährleistet? Wir meinen: Nein.
Nicht zuletzt die Anhörung des Umweltausschusses
am 2. Juli hat eines gezeigt: Ein Beweis der Unschädlich-
keit elektromagnetischer Mobilfunkfelder existiert nicht.
Im Gegenteil, unabhängige Wissenschaftler haben in den
letzten Jahren eine Vielzahl von Hinweisen auf Schädigun-
gen gefunden, die auf diese Felder zurückgeführt werden
können. Sie gehen aus von der Gefahr von Missbildungen
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über eine chromosomenschädigende und krebsfördernde
Wirkung bis hin zu Störungen des Hormonhaushaltes und
neurochemischen Effekten wie Schlafstörungen oder
Aufmerksamkeitsdefiziten.
Für uns gilt, dass bis zur Klärung dieser unsicheren Da-
tenlage das Vorsorgeprinzip greifen muss. Wir setzen uns
daher mit dem Umweltminister für die Einführung von
Vorsorge-Grenzwerten ein, die mit den Zielsetzungen ei-
nes vorsorgenden Gesundheitsschutzes vereinbar sind.
Wir setzen uns für eine bessere Beteiligung von Kommu-
nen und Bürgern bei der Aufstellung von Mobilfunkmas-
ten ein. Es kann nicht sein, dass weiterhin in Nacht-und-
Nebel-Aktionen Sendestationen errichtet werden, ohne
dass vorher in einem transparenten Verfahren Standortal-
ternativen ausgelotet worden sind. Die Selbstverpflich-
tung der Mobilfunkbetreiber mit den kommunalen
Spitzenverbänden kann nur ein erster Schritt in die rich-
tige Richtung sein. Solange bei uns Beschwerden besorg-
ter Bürger eingehen, die nicht am Verfahren beteiligt wur-
den, die nicht einmal informiert wurden, braucht die
Öffentlichkeitsbeteiligung einen gesetzlichen Rahmen.
Wir setzen uns für einen Ausschluss von Sendemasten
im nahen Umkreis von Schulen, Kindergärten und Wohn-
gebieten ein. Damit folgen wir auch den Empfehlungen
der unabhängigen Expertengruppe für Mobilfunk unter
Sir Steward, die in Großbritannien beispielsweise auch zu
Warnhinweisen der Regierung vor der Handynutzung
durch Kinder und Jugendliche geführt hat.
Nicht zuletzt fordern wir einen verbesserten Verbrau-
cherschutz beim Einsatz der Handy-Endgeräte selbst.
Nicht erst der vergleichende Blick in Fachzeitschriften,
nein ein einfaches Labeling muss dem Verbraucher Aus-
kunft über die Strahlungsintensität seines Gerätes geben,
und das, noch bevor er die Verkaufsverpackung öffnet.
Veraltete, strahlungsreiche Geräte müssen rasch ausgelis-
tet werden.
Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass das
Umweltministerium in diesem Jahr die Forschungsmittel
für die Risikoabschätzung des Mobilfunks verdoppelt hat.
Vorsorgende Politik heißt jedoch, nicht erst auf erst lang-
fristig erwartbare Ergebnisse zu warten. Vorsorge ist Ge-
genwartspolltik.
Der Umweltminister bleibt daher dabei, die anderen
Ressorts von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu
überzeugen. Er bleibt dabei, dass dafür ein Beschluss in
der nächsten Länderumweltministerkonferenz herbeige-
führt werden soll. Und wir hoffen, dass die Landesregie-
rungen schnellstens dort tätig werden, wo sie wie im
Baurecht eigene Verantwortung tragen. Dem Grundsatz
des vorsorgenden Gesundheitsschutzes muss Genüge ge-
tan werden.
Weil der Umweltminister in dieser Sache längst tätig
geworden ist und wir noch in den nächsten Monaten mit
der Vorlage des Entwurfs einer novellierten 26. Bundes-
Immissionsschutzverordnung rechnen, werden wir dem
Antrag der PDS nicht folgen.
Detlef Parr (FDP): Wir befinden uns in einem
Zwiespalt: Einerseits ist die Mobilfunknutzung gesamt-
gesellschaftlich akzeptiert und wir alle haben den
UMTS-Lizenzpoker begrüßt. Er hat finanzielle Hand-
lungsspielräume eröffnet, die angesichts der prekären
Haushaltslage Entlastung geschaffen haben. Andererseits
sind mit der öffentlichen Diskussion Sorgen und Ängste
in der Bevölkerung gewachsen. Das betrifft vor allem das
Verfahren zur Aufstellung von Sendemasten und deren
Standortwahl sowie mögliche Gesundheitsgefahren beim
Telefonieren mit Handys.
Wir müssen Studienergebnisse ernst nehmen, wir dür-
fen uns aber keinesfalls vorschnell zu Festlegungen und
Vorverurteilungen verleiten lassen. Genau das tut der
PDS-Antrag, den wir deshalb ablehnen müssen. Es ist
schon seltsam: Da stimmt die PDS der überfälligen und
sehr sinnvollen Vergabe eines Forschungsauftrages an das
Büro für Technikfolgenabschätzung zu, alle nationalen
und internationalen wissenschaftlichen Studien abzuglei-
chen und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu kommen,
und dann stellt die gleiche PDS einen Antrag mit kon-
kreten Forderungen, ohne die Ergebnisse der TAB-Unter-
suchungen abzuwarten. Das machen wir nicht mit!
Die Kernfrage, auf die alles hinausläuft, ist: Ist die
elektromagnetische Strahlung von Mobilfunksendern
eine reale Gesundheitsgefahr oder hat sich da nur in den
Köpfen und emotional etwas aufgebaut? Die Anhörung
am 2. Juli 2001 hat auf diese Frage keine hinreichend
klaren Antworten gegeben. Die Ärzte-Zeitung kom-
mentiert den Verlauf mit der Schlagzeile: Experten
orientierungslos im Antennenwald. Dennoch gibt es kei-
nen Grund zu überzogenen Reaktionen. Ein hieb- und
stichfester wissenschaftlicher Beweis eines Zusammen-
hangs von Mobilfunk und Gesundheitsschädigungen liegt
bisher nicht vor.
Eines möchte ich aber für mich persönlich heraus-
stellen: die besondere Schutzwürdigkeit von Kindern und
Jugendlichen, die in ihrer Wachstumsphase hochempfind-
lich für die Strahlungen beim mobilen Telefonieren sein
können. In fünf Wochen ist Weihnachten. Ich fürchte, wir
gehen wieder einen Riesenschritt voran in der flächen-
deckenden Versorgung unseres Nachwuchses mit Handys.
Bis vergleichbare aussagekräftige Forschungsergebnisse
vorliegen, sollten wir meines Erachtens die objektiven In-
formationen über die Sendeempfangs- und Strahlungsei-
genschaften deutlich verstärken. Eltern sollten sich recht-
zeitig Gedanken darüber machen, ob überhaupt und, wenn
ja, zu welchem Zeitpunkt ihre Kinder mit einem Handy
beglückt werden und wie sie damit umgehen sollen. Han-
dys sind kein Spielzeug und eine Rundumerreichbarkeit
kein Gradmesser für eine erfüllte Kindheit.
Die angestoßene Debatte wird zweifelsfrei aber ein
Gutes haben: Die Industrie wird Geräte und Sendeanlagen
so optimieren, dass die Strahlenbelastungen sinken. Da
braucht es keine neuen Gesetze und Veränderungen von
Grenzwerten; davon bin ich überzeugt. Wir sind wach ge-
worden und werden nach Vorlage des TAB-Berichtes eine
solide Grundlage zur Fortsetzung unserer Beratungen ha-
ben. Bis dahin sollten wir uns gedulden, die Debatte ent-
emotionalisieren und auf Aktivismus verzichten.
Gerhard Jüttemann (PDS): Sind Mobilfunkstrahlen
gefährlich? Viele haben Angst. Anfang Juli hat der Um-
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weltausschuss eine Anhörung zur Mobilfunkstrahlung
durchgeführt. Viele Fragen zu diesem komplexen Thema
blieben sicher auch danach offen. Aber einiges wurde
auch sehr deutlich.
Vor allem wurde deutlich, dass die Mobilfunktechno-
logie ohne ausreichende Kenntnis der Wirkungen ihrer
Strahlung auf die menschliche Gesundheit eingeführt
worden ist. Und es wurde deutlich, dass der Vorsorgege-
danke bei der Betreibung der Netze bis heute keine Rolle
spielt. Mobilfunkstrahlung kann möglicherweise gesund-
heitliche Beeinträchtigungen wie Ohrgeräusche, Kopf-
schmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierig-
keiten, aber auch Tumorbildungen hervorrufen. Das sagt
eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien.
Dennoch ist in den nun fast fünf Monaten seit der An-
hörung vonseiten der Bundesregierung praktisch nichts
geschehen, was uns der Lösung der Probleme wenigstens
einen Schritt näher bringen könnte. Gebetsmühlenartig
wird stattdessen wiederholt, es gebe keine wissenschaftli-
chen Beweise für die gesundheitliche Schädlichkeit der
Mobilfunkstrahlung und somit keinen Handlungsbedarf.
Dieser hanebüchenen Argumentation bedient sich bei-
spielsweise der Bundesumweltminister. Wenn es diese
klaren wissenschaftlichen Beweise gäbe, müssten Sie die
ganze Veranstaltung Mobilfunk sofort komplett abblasen.
Kein Mensch verlangt das. Aber wenn es wissenschaftli-
che Hinweise darauf gibt, dass die Strahlung gefährlich
sein könnte, dann müssen Sie doch auch etwas tun. Im-
merhin sagt auch Herr Trittin ich zitiere Wissen-
schaftlich noch nicht abschließend geklärt ist die Frage,
ob und inwieweit auch Felder mit Intensitäten unterhalb
der geltenden Grenzwerte gesundheitliche Beeinträchti-
gungen verursachen können.
Ich bitte Sie: Wenn das nicht geklärt ist, dann müssen
Sie doch die Menschen schützen, bis es geklärt ist. Ein
Weg dafür wäre die Einführung von Vorsorgegrenzwer-
ten, wie es sie ja in einigen unserer Nachbarländer gibt.
Dort kann übrigens dennoch problemlos mobil telefoniert
werden. Dann müssen Sie natürlich auch die unabhängige
Forschung forcieren, die in der Vergangenheit in Deutsch-
land entschieden vernachlässigt wurde. Bis heute sind
dafür allerdings keine befriedigenden Ansätze in der Po-
litik der Bundesregierung zu erkennen. Stattdessen soll
der Bundeskanzler das Thema nach einem Bericht der
Berliner Zeitung vom letzten Wochenende inzwischen
zur Chefsache erklärt haben.
Dazu kann ich als Sprecher für die Angelegenheiten
der neuen Länder nur sagen: Mir reicht schon der Aufbau
Ost als Chefsache. Bei diesem Kanzler bedeutet Chefsa-
che: Es tut sich wenig bis gar nichts. Und so blockiert die
Bundesregierung jegliche Vorschläge zur Absenkung der
Grenzwerte, um Unruhe in der TK-Branche zu vermei-
den. Diese stellt derweil zu ihren heute 50 000 Mobil-
funksendeanlagen an 35 000 Standorten 40 000 neue
hinzu und verschärft unser Problem weiter.
Antworten Sie nun bitte nicht mit dem Scheinargu-
ment, dass eine Einführung von Vorsorgegrenzwerten
eine noch größere Zahl von Sendeanlagen notwendig ma-
chen würde. Denn zu guter Letzt kommt es ja nicht auf die
Zahl der Anlagen an, sondern auf die Gesundheitsgefah-
ren, die von jeder einzelnen ausgehen.
Die allgemeine Verunsicherung zu diesem Thema hat
in der Bevölkerung inzwischen einen vorläufigen Höhe-
punkt erreicht. Nach Angaben des Bundesverbandes ge-
gen Elektrosmog gibt es bereits in circa jeder zweiten Ge-
meinde in der Bundesrepublik organisierten Widerstand
gegen Mobilfunkantennen. Die Menschen wissen doch,
dass beispielsweise die britische Regierung alle Schulen
schriftlich aufgefordert hat, Schülern unter 16 Jahren vom
Telefonieren mit dem Handy abzuraten. Sie nehmen doch
wahr, dass sich der Präsident des Bundesamtes für Strah-
lenschutz in ähnlicher Weise äußert und es für notwendig
hält ich zitiere Standorte zu vermeiden, die bei Kin-
dergärten, Schulen und Krankenhäusern zu erhöhten Fel-
dern führen.
Sie werden aber nicht vermieden. In Deutschland tut
sich überhaupt nichts auf diesem Gebiet. Diese Lähmung
muss endlich überwunden werden. Es muss doch nicht
erst eine Katastrophe eintreten, die die Menschen zu ver-
nünftigem Handeln zwingt. Reale Handlungsmöglichkei-
ten haben wir in unserem Antrag formuliert. Einiges habe
ich dazu gesagt. Wichtig ist natürlich auch die Beteiligung
der Betroffenen an den Standortentscheidungen. Vor al-
lem aber kommt man um eines nicht herum: Die Men-
schen und ihre Gesundheit und nicht die Interessen der In-
dustrie müssen im Vordergrund stehen.
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