Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere ich
nachträglich der Kollegin Inge Wettig-Danielmeier zu
ihrem 65. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig zu seinem 60. Geburtstag sehr herzlich.
(Beifall)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte
sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufge-
führt:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zur weiterhin Besorgnis er-
regenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen den inter-
nationalen Terrorismus in Afghanistan
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-
Werner, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Pia Maier und der
Fraktion der PDS
Den Einstieg in einen öffentlich geförderten Beschäfti-
gungssektor ermöglichen Drucksache 14/7070
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 25)
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vermögens-
zuordnungsgesetzes Drucksache 14/7035
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Ulrike Flach, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Anforderungen an die Weiterbildung Drucksache 14/7075
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich (Bay-
reuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Abgabenerhöhung durch LKW-Maut Drucksache
14/7072
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 7 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsge-
setzes Drucksache 14/5345
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes
Drucksache 14/6718
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Die mit Tagesordnungspunkt 3 aufgeführten Vorlagen
unter g und h sowie die mit Tagesordnungspunkt 18 auf-
geführten Vorlagen unter c und d sollen abgesetzt werden.
Außerdem soll Tagesordnungspunkt 19 Änderung des
Versammlungsgesetzes abgesetzt und an dieser Stelle
der Tagesordnungspunkt 23 a und b beraten werden.
Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Über-
weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
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(C)
(D)
(A)
(B)
192. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Der in der 188. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur Mit-
beratung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämp-
fung von Steuerverkürzungen bei der Umsatzsteuer
und anderen Steuern (Steuerverkürzungsbekämp-
fungsgesetz StVBG) Drucksache 14/6883
überwiesen:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers
Aktuelle Lage nach Beginn der Operation gegen
den internationalen Terrorismus in Afghanistan
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Gerhard Schröder, Bundeskanzler (von der SPD so-
wie von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Am 7. Oktober haben die
Vereinigten Staaten von Amerika als Teil der notwendigen
Antwort auf die terroristischen Anschläge von New York
und Washington mit militärischen Maßnahmen gegen die
Infrastruktur des terroristischen Netzwerks von Osama
Bin Laden und gegen Einrichtungen des Taliban-Re-
gimes in Afghanistan begonnen. In dieser Situation wird
von Deutschland aktive Solidarität und verantwortliches
Handeln erwartet und auch geleistet, eine Solidarität, die
sich nicht in Lippenbekenntnissen erschöpfen darf, und
eine Politik, die Deutschlands Verantwortung in der Welt,
aber auch der Verantwortung der Bundesregierung für die
Menschen in Deutschland angemessen ist.
Übrigens haben wir das, was wir hier an politischen
Aktivitäten entwickelt haben, nicht zuletzt auch gemein-
sam mit der Opposition erarbeitet. Ich sage sehr deutlich:
Ich bin für manchen Rat auch für den, der nicht öffent-
lich gegeben wurde dankbar. Das Gleiche gilt für dieje-
nigen, die in der Vergangenheit Verantwortung für unser
Land getragen haben und mit denen ich mich beraten
habe.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)
Nicht nur bei uns stellen sich viele Menschen die Fra-
gen: Welcher konkrete Beitrag wird im Kampf gegen den
Terrorismus von uns gefordert und welche Risiken müs-
sen wir alle miteinander dabei eingehen? Stehen wir vor
einer neuen Phase internationaler Instabilität, mit allen
Konsequenzen für die äußere und innere Sicherheit, aber
auch mit allen Konsequenzen für unsere Freiheit? Die
Antwort der Bundesregierung und soweit ich das
verstanden habe fast des gesamten Hohen Hauses auf
diese Fragen ist eindeutig: Wir befinden uns mitten in
einer entscheidenden und wahrscheinlich langwierigen
Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus.
Wir das gilt für uns alle haben diesen Konflikt nicht
gewollt. Er ist uns durch barbarische Attentate in den Ver-
einigten Staaten aufgezwungen worden. Aber wir nehmen
diese Auseinandersetzung mit dem Terrorismus an und
wir werden sie miteinander gewinnen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)
Die Vereinigten Staaten von Amerika und wir als Ver-
bündete führen keinen Krieg gegen einzelne Staaten oder
Völker und schon gar keinen gegen die islamische Welt
insgesamt.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])
Aber wer den Terrorismus fördert und unterstützt, wer sei-
nen Hintermännern und Drahtziehern Unterschlupf bietet,
wer ihnen gestattet, ihre Netzwerke des Terrors zu betrei-
ben und ihre Verbrechen vorzubereiten, der wird dafür zur
Rechenschaft gezogen.
Das Taliban-Regime hat all das gewusst. Die Machtha-
ber in Kabul, die ja auch die Unterdrücker ihres Volkes
sind, hatten Zeit genug, den Forderungen der Staaten- und
Völkergemeinschaft nachzukommen. Sie haben die der-
zeitige Konfrontation gewollt.
Das afghanische Volk ist selbst Opfer von Terroris-
mus, Armut und Unterdrückung. Darum wollen wir die
Menschen in Afghanistan im Rahmen der atlantischen So-
lidarität, aber vor allem im Rahmen der Vereinten Natio-
nen mit einem wirklich umfassenden Hilfsprogramm un-
terstützen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, ebenso klar ist, dass die
Menschen in Deutschland auf eines bauen können: Wir
tun alles in unserer Macht Stehende, um die Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu gewährleis-
ten. Gewiss: Im Moment gibt es keine konkreten Hin-
weise auf akute Bedrohungen durch terroristische
Anschläge. Zu Furcht oder gar zu Panik besteht also über-
haupt kein Anlass. Gleichwohl haben wir den Schutz be-
sonders gefährdeter Einrichtungen verstärkt und weitere
Maßnahmen zur besseren Bekämpfung aller Formen des
Terrorismus und der Gewalt ergriffen.
Bereits am 19. September haben wir im Kabinett ein
erstes Antiterrorpaket beschlossen. Dadurch werden wir
die Sicherheit im Luftverkehr verbessern. Das betrifft
die Überprüfung und Überwachung der Beschäftigten auf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Präsident Wolfgang Thierse
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den Flughäfen, die Intensivierung der Gepäckkontrollen
und die Begleitung deutscher Flugzeuge durch entspre-
chendes Sicherheitspersonal. Wir haben Geld für die
Bekämpfung des Terrorismus mobilisiert und wir werden
das Strafrecht so regeln, dass wir ausländische Kriminelle
und terroristische Vereinigungen besser verfolgen kön-
nen. Wir schaffen das Religionsprivileg im Vereinsrecht
ab; denn das Grundrecht der Glaubens- und der Bekennt-
nisfreiheit darf nicht jene schützen, die religiös-fanati-
schen Zielen nachhängen und unter dem Schutz dieses
Grundrechts Terror und Mord planen.
Es ist ganz klar: Auf die neuen Formen des Terrorismus
müssen wir durch eine engere nationale, aber auch inter-
nationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden rea-
gieren. Genauso unmissverständlich können und dürfen
wir festhalten: Der Standard der inneren Sicherheit in
Deutschland genügt höchsten internationalen An-
sprüchen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz, die Dienste und
die Polizei leisten gute und wirksame Arbeit und dafür
sind wir ihnen zu Dank verpflichtet.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der PDS)
Der Terrorismus, mit dem wir es zu tun haben, organi-
siert sich in einem internationalen Netzwerk. Viele Maß-
nahmen erfordern daher sinnvollerweise eine engere eu-
ropäische und internationale Kooperation. Darum haben
wir uns auf der Sondersitzung des Europäischen Rates
am 20. September in Brüssel intensiv mit den Problemen
der Verhütung und der Bekämpfung des Terrorismus be-
schäftigt. Ein weiteres, informelles Treffen wird am
19. Oktober in Gent folgen. Dabei geht es allen Staats-
und Regierungschefs der Europäischen Union vor allem
darum, einen europäischen Haftbefehl einzuführen, der zu
spürbar vereinfachten Verfahren bei der gegenseitigen
Überstellung von Straftätern führen wird.
Ferner wollen wir die Arbeit der Antiterrorexperten der
einzelnen Länder wirksamer vernetzen und die transat-
lantische polizeiliche Zusammenarbeit mit den Vereinig-
ten Staaten von Amerika organisieren und optimieren.
Außerdem brauchen wir im Asyl- und Einwanderungs-
recht auch auf europäischer Ebene Regelungen, die für
mehr Schutz vor dem Terrorismus sorgen.
Die Bundesregierung wird noch in diesem Monat ein
zweites umfassendes Antiterrorpaket beschließen. Vor al-
lem müssen wir den Sicherheits- und Strafverfolgungs-
behörden effizientere Möglichkeiten geben, um zusätzli-
che Informationen zur Bekämpfung von Terrorismus und
Kriminalität zu nutzen. Das kann heißen: Personalaus-
weise, Pässe und Visaanträge werden zukünftig um Fin-
gerabdrücke oder andere biometrische Merkmale ergänzt.
Es handelt sich übrigens um eine Regelung, die in den
Vereinigten Staaten bei Aufenthaltsgenehmigungen
schon seit Jahren praktiziert wird, um eine Regelung,
die Qualität und Effizienz in der Bekämpfung des Ter-
rorismus sehr wohl verbessern wird, mit der aber kei-
neswegs der Bestand der Grundrechte gefährdet oder,
wie man gelegentlich liest, gar der Rechtsstaat abge-
schafft wird.
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
Wir müssen und wir werden den Verfassungsschutz
an die veränderte Bedrohungslage personell wie struktu-
rell anpassen. Unsere Ermittlungen haben gezeigt, dass es
auch bei uns in Deutschland Strukturen terroristischer
Netzwerke gibt. Deren Gefährdungspotenzial müssen wir
alle sehr ernst nehmen und diese Netzwerke müssen zer-
schlagen werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
FDP und der PDS)
Handlungsbedarf gibt es auch beim Zivil- und Kata-
strophenschutz, der teilweise von den Ländern und teil-
weise von uns zu organisieren ist. Nach dem Ende des
Kalten Krieges schienen die früheren Gefährdungslagen
weggefallen zu sein. Wir werden unsere Bemühungen um
den Schutz der Bevölkerung, die wir nicht aufgegeben
haben, nunmehr sehr gezielt auf die neuen Problemlagen
hin verstärken. Es geht in erster Linie darum, die erfor-
derlichen Informationen schnell, länderübergreifend und
bundesweit zu vernetzen sowie ihre Weiterleitung zu ga-
rantieren, um auf diese Weise effiziente Einsätze sicher-
zustellen. Dazu gehört auch ein entsprechendes Warnsys-
tem für die Bevölkerung.
Was im Kampf gegen den Terrorismus nicht so sehr
weiterhilft, ist eine abstrakte Diskussion über die Ver-
schiebung von Grundsätzen, nach denen unser Gemein-
wesen organisiert ist. Ich will gar keine Zweifel aufkom-
men lassen: Ich plädiere dafür, dass wir unter allen
Umständen an der Unterscheidung von äußerer und inne-
rer Sicherheit festhalten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU und der PDS)
Ich halte es nicht nur für zulässig, sondern auch für an-
gemessen auch daran will ich keinen Zweifel aufkom-
men lassen , dass man über den einen oder anderen Ver-
fassungsartikel unseres Grundgesetzes, etwa über den,
der sich zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren
äußert, diskutiert. Ich möchte darauf hinweisen und vor
allen Dingen der Öffentlichkeit klar machen es handelt
sich zwar um eine juristisch vielleicht interessante, aber
nicht sehr weit führende Diskussion : Die Verfassungs-
lage lässt den Einsatz der Bundeswehr von jeher in be-
stimmten Situationen zu: in Situationen, in denen das
sinnvoll ist und in denen die Bundeswehr in der Lage ist,
jene Kräfte zu ergänzen, nämlich die Polizei, die eigent-
lich für die innere Sicherheit zuständig ist.
Wir haben zum Beispiel den Ministerpräsidenten der
Länder mitgeteilt, dass der Bundesverteidigungsminister
kein Problem damit hat, Hilfe zur Verfügung zu stellen
die einschlägigen Verfassungsartikel geben das her ,
falls in ihren Ländern amerikanische Einrichtungen zu
schützen sind und die Bundeswehr dabei wirksam helfen
kann. Ich glaube nicht, dass wir eine Änderung der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Verfassung im Hinblick auf diese und ähnliche be-
grenzte Aktivitäten der Bundeswehr im Innern wirklich
brauchen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS und des Abg. Walter Hirche [FDP])
In meiner Regierungserklärung vom 19. September
habe ich darauf hingewiesen, dass wir unsere besondere
Aufmerksamkeit auf die finanziellen Strukturen der
terroristischen Netzwerke richten müssen und dass es
unsere Aufgabe ist, diese Finanzströme zu erfassen und
wirksam zu unterbinden. Dazu bedarf es Maßnahmen auf
nationaler, aber natürlich auch auf internationaler Ebene.
Wir werden eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Geld-
wäsche einrichten sowie Strukturen und Instrumente
schaffen, um unerlaubt betriebene Bankgeschäfte und das
Schattenbankwesen leichter verfolgen zu können.
Am vergangenen Wochenende haben sich die Finanz-
minister der G-7-Staaten und Russlands auf einen umfas-
senden Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus
durch Verhinderung von Geldwäsche und Überwachung
der Finanzströme geeinigt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die vom Bundesfinanzminister entwickelten Maßnahmen
und der in internationaler Kooperation verabredete Ak-
tionsplan sind geeignet, die Finanzquellen des Terroris-
mus auszutrocknen und damit den terroristischen Netz-
werken eine wichtige Voraussetzung ihrer Existenz
wirksam zu entziehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS)
Aus dem, was ich gesagt habe, ergibt sich, dass die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes überzeugt sein
können, dass ihre Sicherheit ein zentrales Anliegen der
Bundesregierung, aber auch der Parteien hier im Hohen
Hause ist und bleiben wird. Ich sage auch ganz unzwei-
deutig: Genauso wenig wie wir uns von den Terroristen in
einen Kampf der Kulturen treiben lassen, werden wir
im Kampf gegen den Terrorismus jene Werte, die unsere
Welt zusammenhalten die Werte von Freiheit, Solida-
rität, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit , auch nur einen
Millimeter preisgeben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der FDP und der PDS)
Meine Damen und Herren, ich denke, wir haben
Grund, bei der Formulierung und Durchsetzung unserer
Außenpolitik vielleicht spüren Sie, dass es mir darum
geht, dass man in dieser Frage soweit wie irgend möglich
Gemeinsamkeiten, die entwickelt wurden, bewahrt das
eine oder andere zu verändern. Das war auch Kern der Ge-
spräche, die ich in Washington und New York geführt
habe. Es gibt sicher viele Gründe, warum Deutschland in
der aktuellen Situation seine Präsenz und seine aktive So-
lidarität unseren Freunden in den Vereinigten Staaten und
in der internationalen Allianz gegen den Terrorismus
zeigen muss: historische, gegenwärtige, aber auch
Gründe, die mit der Positionierung Deutschlands in der
Zukunft zu tun haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederher-
stellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der
Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir
uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwor-
tung zu stellen, einer Verantwortung, die unserer Rolle als
wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber
auch als starker Demokratie und starker Volkswirtschaft
im Herzen Europas entspricht. Noch vor zehn Jahren hätte
niemand von uns erwartet, dass Deutschland sich anders
als durch so etwas wie sekundäre Hilfsleistungen also
Zurverfügungstellung von Infrastruktur oder Gewährung
von Finanzmitteln an internationalen Bemühungen zur
Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität betei-
ligt. Ich sage das durchaus auch bezogen auf mein eigenes
Denken und Handeln. Diese Etappe deutscher Nach-
kriegspolitik darauf habe ich bereits unmittelbar nach
dem 11. September hingewiesen ist unwiederbringlich
vorbei.
Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und So-
lidarität unserer amerikanischen und europäischen
Freunde und Partner die Folgen zweier Weltkriege über-
winden konnten, um zu Freiheit und Selbstbestimmung zu
finden, haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen
Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das
schließt und das sage ich ganz unmissverständlich
auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur
Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Her-
stellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein.
Bei den gezielten Militärschlägen, die im Augenblick
von den Vereinigten Staaten und Großbritannien durchge-
führt werden, haben unsere amerikanischen und briti-
schen Freunde deshalb nicht nur unsere uneingeschränkte
Solidarität verdient. Diese Militärschläge stehen das
kann gar nicht oft genug betont werden völlig im Ein-
klang mit der Beschlussfassung des Weltsicherheitsrates
über die Anwendung legitimer Selbstverteidigung, also
mit den Resolutionen 1369 und 1373.
In seiner wegweisenden Resolution 1373 hat der Si-
cherheitsrat der Vereinten Nationen in beeindruckender
Weise das Völkerrecht im Hinblick auf die neu entstande-
nen Bedrohungen angepasst. Das Völkerrecht angepasst
zu haben heißt für uns, es innerhalb bestimmter Zeit im
Inneren wirksam umzusetzen und es als Richtschnur für
nationales und internationales Handeln zu begreifen.
Diese Bedrohungen und Angriffe überschreiten das
Maß dessen, was in der internationalen Politik, aber vor
allem im Zusammenleben der Menschen, in der Ge-
schichte menschlicher Zivilisation bisher als Angriff
von einzelnen Terroristen und terroristischen Gruppen
vorstellbar gewesen und tatsächlich realisiert worden
ist.
Meine Damen und Herren, Bürgermeister Giuliani hat
mich vorgestern an den Ort dieser Katastrophe geführt, an
den Ort, an dem noch vor wenigen Wochen Tausende von
Menschen ihrer Arbeit im World Trade Center nach-
gingen. Die Erschütterung, die jeden denkenden, fühlen-
den und mitfühlenden Menschen beim Anblick dieses
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
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Ground Zero erfasst, kann man kaum beschreiben; denn
gestatten Sie mir, diese Erfahrung kurz mitzuteilen die
Fernsehbilder, die wir alle gesehen haben, gehen gnädig
mit den Zuschauern um, weil sie Distanz schaffen. Wenn
man es unmittelbar sieht und erlebt, kann man eigentlich
nur zu der Überzeugung kommen, das wir alles, aber auch
wirklich alles tun müssen, damit sich diese grausamen
Anschläge nicht wiederholen können.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der PDS)
Unsere Verbündeten haben uns bisher nicht um einen
direkten militärischen Beistand im Kampf gegen den Ter-
rorismus gebeten. Präsident Bush hat mir versichert, wie
hoch er und das amerikanische Volk den Beitrag schätzen,
den wir bisher in der nachrichtendienstlichen Zusammen-
arbeit, bei der Austrocknung der Finanzquellen und vor
allem bei der Herstellung der internationalen Allianz ge-
gen den Terrorismus geleistet haben. Ich habe gegenüber
dem amerikanischen Präsidenten deutlich gemacht, dass
Deutschland seiner Verantwortung auf allen Gebieten
nachkommen wird. Das schließt auch die militärische Zu-
sammenarbeit ausdrücklich ein. Eine solche Verpflich-
tung ergibt sich für uns aus Art. 5 des NATO-Vertrages,
dessen Anwendbarkeit auf die aktuelle Situation vom
NATO-Rat festgestellt worden ist.
Die Bereitschaft, auch militärisch für Sicherheit zu sor-
gen, ist ein wichtiges Bekenntnis zu Deutschlands Allian-
zen und Partnerschaften. Aber nicht nur das: Die Bereit-
schaft, unserer größer gewordenen Verantwortung für die
internationale Sicherheit gerecht zu werden, bedeutet
auch ein weiter entwickeltes Selbstverständnis deutscher
Außenpolitik. International Verantwortung zu überneh-
men und dabei jedes unmittelbare Risiko zu vermeiden
kann und darf nicht die Leitlinie deutscher Außen- und Si-
cherheitspolitik sein.
Meine Damen und Herren, mit Bezug auf die innenpo-
litische Diskussion sage ich auch: Wir sollten versuchen,
nachzuvollziehen und zu verstehen, dass es viele Men-
schen gibt, die sich Sorgen um Tatsache und Umfang ei-
nes militärischen Beitrags zur Bekämpfung des Terroris-
mus machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])
Mit den Menschen, die sich einer solchen Entwicklung
noch verweigern wollen, müssen und werden wir die Dis-
kussion aufnehmen.
Im Übrigen: Dass unsere zivile Gesellschaft gegenüber
der Notwendigkeit militärischer Optionen und ihrer Aus-
übung zurückhaltender als jemals in der deutschen Ge-
schichte geworden ist, begreife ich als einen zivilisatori-
schen Fortschritt, auch wenn es die eigene Argumentation
bezüglich bestimmter Notwendigkeiten schwerer macht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der FDP und der PDS)
Mir ist ich glaube, da spreche ich den meisten aus den
Herzen die Zurückhaltung einer Gesellschaft, die sich
zu Recht etwas auf ihren zivilen Charakter einbildet, alle-
mal lieber als jede Form von Hurrapatriotismus.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne-
ten der CDU/CSU und der FDP)
Wir Deutschen stehen auch das hat der Generalsekretär
der Vereinten Nationen sehr deutlich gemacht an vorders-
ter Front bei der konsequenten Sicherung des Friedens in
der Welt, aber ebenso bei der konsequenten Herstellung
von Sicherheit und Stabilität, die auf Menschenrechten
und Menschenwürde basiert.
Die Bundesregierung hat immer gesagt, dass unser
Hauptaugenmerk auf die Krisenprävention und die Kri-
senregulierung gerichtet ist und dass unter Umständen er-
forderliche militärische Beiträge in der internationalen
Politik gelegentlich notwendige, aber keineswegs hinrei-
chende Bedingung für internationale Stabilität sind. Ich
sage dazu: Das war nie eine Ausflucht, nicht auch mi-
litärisch handeln zu wollen, wenn wir das müssen. Das
wird auch so bleiben.
Meine Damen und Herren, die vergangenen Wochen
haben uns nicht nur schockiert, sondern sie haben uns
auch klar gemacht, dass wir etwas sehr Wertvolles zu ver-
teidigen haben: das Streben nach Glück, wie es die Ame-
rikaner sagen, oder, wie es bei uns im Grundgesetzt heißt,
die Würde des Menschen, die bei uns und nicht nur bei uns
Maßgabe und Maßstab jeglicher Politik sein muss. Es
geht um Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, die
wir nicht nur national, sondern auch international durch-
setzen müssen oder bei deren Durchsetzung wir Hilfe leis-
ten müssen.
Die Bundesregierung begegnet jener namenlosen Bar-
barei, der in New York und Washington Tausende zum
Opfer gefallen sind, mit Entschlossenheit, aber auch das
wissen Sie mit Besonnenheit. Durch intensive Be-
mühungen und vielfältige Aktivitäten ist es gelungen, eine
breite internationale Koalition gegen den Terrorismus
herzustellen. Das ist ein hohes Gut und wir müssen sehr
viel politische Kraft einsetzen, um es zu bewahren. Die in-
ternationale Gemeinschaft ist so entschlossen wie nie, mit
vereinten Anstrengungen den Durchbruch zum Frieden
im Nahen Osten zu erreichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Auch damit machen wir klar, dass der Terrorismus keine
wie auch immer geartete Legitimation hat und haben
kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, mir liegt daran, dass deut-
lich wird: Die Aufteilung der Welt in Arm und Reich ist
ein bedauerliches Übel. Die Situation im Nahen Osten
und die Auseinandersetzungen, von denen wir tagtäglich
erfahren, sind es auch. Aber die Aufteilung der Welt in
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Arm und Reich ist keine und darf nicht verstanden wer-
den als monokausale Begründung für den Terrorismus.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
FDP und der PDS)
Worum es geht, ist zu erkennen, dass der Terrorismus auf
der einen Seite eine ganz eigene Qualität hat, dass aber auf
der anderen Seite solche Konflikte, die ich erwähnt habe,
wenn wir sie nicht lösen, es den Terroristen und ihren Hel-
fershelfern gestatten, die Massen, die mit diesen Konflik-
ten in Berührung kommen, für ihre verbrecherischen
Ziele zu missbrauchen. Das ist der Zusammenhang, der
hergestellt werden muss.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
FDP und der PDS)
Deshalb wird der Bundesaußenminister, der dort sehr
viel geleistet hat, seine Bemühungen, zum Frieden im Na-
hen Osten beizutragen, in völliger Übereinstimmung mit
dem Präsidenten der Vereinigten Staaten unbeirrt fortset-
zen. Dies ist ein Teil der Arbeitsteilung, die wir vornehmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus
[PDS])
Unser Konzept wird das einer umfassenden Sicherheit
sein: materielle Sicherheit, soziale Sicherheit, aber auch
Rechtssicherheit und in diesem Zusammenhang auch
Wehrhaftigkeit. Diese Konzeption, die wir bereits in den
Balkankonflikten vorgeschlagen und, soweit das möglich
ist, umgesetzt haben, hat auch etwas genuin Europäisches.
Wir sagen heute stolz: Das Projekt der europäischen
Integration ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. und,
ich denke, auch des 21. Jahrhunderts. Die daraus resultie-
renden Erfahrungen in der Bewältigung und Lösung von
Konflikten wollen wir gern anderen Völkern in anderen
Regionen zur Verfügung stellen.
Ich will aber, meine Damen und Herren, auch einen an-
deren Stolz zum Ausdruck bringen: Die Solidarität der
deutschen Bevölkerung mit den Opfern des Terrorismus
und die Bereitschaft der Menschen bei uns, gegen jeden
Extremismus und Terrorismus zu kämpfen, dabei aber
nicht in falschen Eifer zu verfallen, sind beispielhaft. Das
ist ein großes Kompliment, das sich die Menschen in un-
serem Land verdient haben.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei
Abgeordneten der PDS)
Die Menschen in Deutschland, unsere zivile Gesell-
schaft wissen sehr genau, was auf dem Spiel steht. Des-
halb rufen sie nicht nach Rache und Vergeltung. Aber sie
sind bereit, unsere Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit
unserer einen Welt in einem wirklich umfassenden Sinne
zu verteidigen. Dafür müssen wir ihnen dankbar sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beifall bei der
CDU/CSU und der FDP)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
Kollegin Angela Merkel von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Heute vor einem Monat haben
die schrecklichen Terroranschläge auf New York und
Washington die Welt verändert. Ich glaube, wir sind uns
alle einig, dass dieser 11. September 2001 ein Wende-
punkt ist, ein Wendepunkt im Zusammenleben der Völker
auf dieser Welt. Spätestens seit dem 7. Oktober, seit Sonn-
tagabend, wissen wir: Dies hat viele Konsequenzen, auch
militärische.
Ich sage dazu: Diese Konsequenzen sind alternativlos.
Mit Recht ich verstehe das stellen sich viele Menschen
in den letzten Wochen die bange Frage: Was bedeuten
diese Terroranschläge für meine eigene Zukunft, für
meine Familie, für meine Kinder? Denn schlagartig sind
für uns alle die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts sicht-
bar geworden. Schlagartig ist klar geworden: Die Illusion
von einer friedlichen Welt bleibt eine Illusion.
Angst darf nicht unser Ratgeber sein. Ein Wendepunkt
des 11. September hat Konsequenzen. Es wäre aber falsch
zu sagen: Dieser Wendepunkt bedeutet, dass nichts mehr
so bleibt, wie es war. Es bleiben unsere Werte, die Ach-
tung der Würde des Menschen, das Eintreten für Freiheit
und Gerechtigkeit und es bleibt vor allen Dingen die
Chance, sie in ihrer Bedeutung stärker zu achten und stär-
ker durchzusetzen.
Sie, Herr Bundeskanzler, waren wie ich finde, leider
recht spät in dieser Woche in den Vereinigten Staaten.
(Beifall bei der CDU/CSU Zurufe von der
SPD: Oh! Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist
doch lächerlich!)
Sie waren an der Stätte des Grauens, an der Stätte des Ter-
rors, an der Stelle, an der Tausende von Menschen ihr Le-
ben verloren haben. Sie haben dort den Ort gesehen, an
dem Hass und Gewalt gewütet haben. Jedem muss klar
sein: Es gibt keine Form der Erklärung für solche Taten
und es darf sie auch nicht geben. Ich sage dies, weil ich
spüre, dass mit dem Abstand von dem Ereignis immer
wieder versucht wird, solcherlei Erklärungen doch auf die
verschiedenste Art und Weise zu finden. Ich sage dies vor
allen Dingen mit großer Bedrückung, weil das selbst im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorkommt. Das dürfen
wir auf keinen Fall zulassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Wir dürfen das nicht zulassen, weil wir es den Opfern
schuldig sind. Wenn dieser schreckliche Tod von Tausen-
den und Abertausenden von Menschen einen Sinn haben
soll, dann müssen wir es entschlossen in die Hand neh-
men, unsere Welt von den Wurzeln dieses Terrors zu be-
freien. Das ist die Aufgabe, die sich für uns aus diesem
11. September ergibt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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(B)
Der 11. September hat uns gezeigt: Wir, unsere offenen
Gesellschaften das gilt für jeden einzelnen Menschen
brauchen die Bereitschaft, diesen Kampf einzugehen. Wir
haben erlebt, dass es nicht ausreicht, gleichgültig gegen-
über uns selbst zu sein. Vielmehr müssen wir uns darüber
klar werden, wofür wir kämpfen. Ansonsten werden der
Krake des Terrors, der Krake der Angst die Menschen
handlungsunfähig machen. Ich werde in diesen Tagen,
wie Sie alle, oft gefragt: Müssen wir nicht noch mehr
Angst haben, wenn es Reaktionen der freien Welt gibt?
Ich sage: Die Angst müsste größer sein, wenn es keine Re-
aktionen gäbe. Deshalb müssen wir handeln.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der 11. September hat noch etwas anderes deutlich ge-
macht: Unsere eine Welt ist eine überschaubare Welt und
wir leben gemeinsam. Wer geglaubt hat, Deutschland
könne sich aus dieser Welt in irgendeiner Weise ausklin-
ken, ist eines Besseren belehrt worden. Terroristen haben
unter uns gelebt oder leben vielleicht noch unter uns. Des-
halb haben wir die Verantwortung, gemeinsam darüber
nachzudenken, wie wir ein Konzept nicht nur im wirt-
schaftlichen Bereich, sondern genauso im Bereich der In-
nenpolitik als Weltinnenpolitik aufstellen.
Ein solches Konzept muss verschiedene Aspekte
berücksichtigen. Der erste Aspekt ergibt sich im Grunde,
seitdem es die deutsche Einheit gibt. Damals hat der Va-
ter des heutigen amerikanischen Präsidenten dem
Bundeskanzler Helmut Kohl partnership in leadership
angeboten. Heute ist die Zeit da, in der wir diese Verant-
wortung einlösen müssen. Geradezu vorausschauend hat
uns der Leiter des Jüdischen Museums in Berlin, Herr
Blumenthal, anlässlich der Einweihung dieses Museums
ins Stammbuch geschrieben: Wir Deutschen haben im
21. Jahrhundert die Aufgabe, eine führende Rolle im
Kampf um Menschenrechte und gegen den Terrorismus
zu spielen. Diese Aufgabe müssen wir einlösen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir müssen diese Aufgabe auch als ein wichtiges, als
ein großes Land in der Europäischen Union einlösen.
Die Wertegemeinschaft der Europäischen Union muss
sich in diesen Stunden und Tagen bewähren. Die Antwort
auf die Frage, wie die Europäische Union und in ihr
Deutschland agieren und wie wir die Vertiefung unserer
Zusammenarbeit ausgestalten, wird entscheiden, welche
Rolle Europa in der Welt des 21. Jahrhunderts spielt. Es
zeigt sich mit großem Drängen, dass die Ausgestaltung ei-
ner gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Si-
cherheitspolitik nicht auf sich warten lassen sollte. Es
zeigt sich mit großem Drängen, dass das Schmieden von
Allianzen nicht ohne die Europäische Union vonstatten
gehen darf; vielmehr wird sie dabei eine wichtige Rolle
spielen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Meine Damen und Herren, selten hat es einen Monat so
vieler diplomatischer Aktivitäten gegeben. Wer geglaubt
hat, nach dem 11. September könnte es das Primat der Po-
litik nicht mehr geben, ist eines Besseren belehrt worden.
Das ist eine gute Erfahrung. Wir müssen aber auch auf-
passen, dass neue Allianzen nicht über unterschiedliche
Wertvorstellungen hinwegtäuschen. Der russische Präsi-
dent hat an dieser Stelle eine bemerkenswerte Rede ge-
halten. Er hat uns alle darauf hingewiesen, dass der Kalte
Krieg lange vorbei ist. Er hat festgestellt, dass wir alle
noch dazu neigen, in den Strukturen des Kalten Krieges
zu denken. All das ist richtig. Aber ich möchte hinzufü-
gen: Der Kalte Krieg ist zu Ende; dies hat aber nicht zu ei-
ner neutralen Wertebasis geführt. Er ist nämlich zu Ende,
weil die Werte von Freiheit und Demokratie gegen Dikta-
tur und Unterdrückung gesiegt haben. Dies ist eine wich-
tige Erfahrung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich sage dies nicht aus nachträglicher Besserwisserei
ich habe nämlich auf der anderen Seite gelebt , sondern
weil wir uns über diesen Punkt im Klaren sein müssen,
wenn wir die Fundamente für eine neue Ordnung des
21. Jahrhunderts legen wollen. Es mag ja sein, dass wir
die Erfahrungen und Geschehnisse in Tschetschenien
auch unter einem anderen Blickwinkel sehen müssen. Es
muss aber auch ausgesprochen werden, dass in Tschet-
schenien Menschenrechtsverletzungen passiert sind und
passieren, die wir auch angesichts neuer Allianzen nicht
dulden dürfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Ich sage Ja zu neuen Allianzen und zu neuen Partner-
schaften in allen Bereichen, wo dies möglich ist. Aber das
darf beispielsweise im Zusammenhang mit Russland
nicht dazu führen, dass wir auf dem Standpunkt stehen,
Russland könne sofort Mitglied der NATO werden. Wir
tun uns alle keinen Gefallen, wenn wir diese Dinge nicht
mehr aussprechen würden; sie müssen auch nach dem
11. September ausgesprochen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen einen Dialog der Religionen und Kul-
turen, entschlossener und offener als bisher. Ich glaube
im Übrigen, dass wir, die Deutschen und die Europäer,
über unsere eigenen Grundlagen sehr viel stärker nach-
denken werden, wenn wir in einen solchen Dialog der
Kulturen offensiv eintreten. Es ist aber auch wichtig, dass
wir uns mit der Frage auseinander setzen, warum viele der
Terroristen nicht aus der Schicht der Ärmsten der Armen
kommen, sondern Mitglieder der gebildeteren und reiche-
ren Schichten ihrer Länder sind. Deshalb sage ich: Der
Dialog der Kulturen und Religionen ist wichtig. Aber er
findet dort seine Grenzen, wo Religion für politische
Machtstrukturen missbraucht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP und des Abg. Gert Weisskirchen
[Wiesloch] [SPD])
Für die Bekämpfung des Terrorismus brauchen wir
eine Doppelstrategie wie die, die zum Untergang des So-
zialismus und des Kommunismus geführt hat. Diese Stra-
tegie muss auf der einen Seite hart, unerbittlich und kom-
promisslos mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Angela Merkel
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(B)
gegen bestimmte Werteverletzungen angehen. Auf der an-
deren Seite muss sie denjenigen Menschen eine Perspek-
tive geben, die sich für die Werte von Freiheit und Demo-
kratie einsetzen.
Wenn wir diese Strategie durchführen wollen, dann
muss das Konsequenzen für die Prioritäten unserer Poli-
tik haben. Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen deshalb
diese Bemerkung nicht ersparen: Der Haushalt des Jahres
2000 mit den dramatischen Kürzungen im Bereich der
Entwicklungshilfe war genau das falsche Signal für eine
solche notwendige Politik des 21. Jahrhunderts.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch die 200 Millionen DM, die jetzt aus den zusätzlich
aufgebrachten 3 Milliarden DM zusätzlich für die Ent-
wicklungshilfe ausgegeben werden, sind nicht mehr als
ein Tropfen auf den heißen Stein. Der 11. September muss
stärkere Konsequenzen nach sich ziehen beispielsweise
hinsichtlich der Verhandlungen bei der Welthandelsorga-
nisation , weil es notwendig ist, den armen Ländern auf
der Welt zu helfen. Wenn wir dies nicht bedenken, sind
unsere Worte nur Lippenbekenntnisse.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Für mich hat der 11. September gezeigt, dass die Gren-
zen von innerer und äußerer Sicherheit zunehmend ver-
schwimmen. Bei ganz nüchterner Betrachtung müssen
wir zu dem Schluss kommen, dass plötzlich aus dem In-
neren offener Gesellschaften nicht staatliche Akteure
quasi militärisch agieren. Dies ist eine Form von Bedro-
hung, die wir nicht gekannt haben. Deshalb kann ich mich
mit Ihrem Satz: An der Unterscheidung von innerer und
äußerer Sicherheit werden wir festhalten nicht einver-
standen erklären. Dieser Satz beschreibt das, was wir ge-
meinsam erlebt haben, nicht ausreichend. Dieser Satz be-
schreibt nicht die eigentliche Veränderung. Denn es gibt
nicht die äußere Sicherheit und die innere Sicherheit, son-
dern es gibt die Frage der Bedrohung. Wir leben in einer
gemeinsamen Welt. Das ist doch die Erfahrung; das sagen
Sie doch selber auch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
In gewisser Weise haben Sie sich selbst in Ihren weite-
ren Ausführungen widersprochen, als Sie darüber redeten,
dass es natürlich ganz neue Verzahnungen geben werde.
Niemand in dieser Bundesrepublik Deutschland, jeden-
falls nicht in meiner Partei, wird in irgendeiner Weise Po-
lizei und Bundesgrenzschutz durch Kräfte der äußeren
Sicherheit ersetzen wollen. Vielmehr geht es um die
Frage, ob in bestimmten Bedrohungssituationen, ergän-
zend zu dem, was wir von Polizei und Bundesgrenzschutz
brauchen, und ergänzend zu dem, was bereits heute das
Grundgesetz ermöglicht, vielleicht bestimmte Dinge zu-
sätzlich angewandt werden sollten. Es geht um die Frage,
ob wir es schaffen, nicht immer in rechtlichen Grauzonen
zu arbeiten. Denn auch das ist kein politisches Handeln
auf Dauer.
(Beifall bei der CDU/CSU Gert Weisskirchen
[Wiesloch] [SPD]: Ein Blick in das Grundge-
setz reicht schon!)
Nun hat der Bundeskanzler selbst eben deshalb brau-
chen Sie sich doch auch gar nicht aufzuregen davon ge-
sprochen, dass man über diesen und jenen Artikel des
Grundgesetzes noch einmal nachdenken müsse. Ich lade uns
alle ein, dies ohne alle ideologischen Scheuklappen zu tun
(Beifall bei der CDU/CSU Joachim Poß
[SPD]: Nachdenken ist immer gut!)
und dabei eines zu beachten: Bundeswehr, Polizei und
Bundesgrenzschutz müssen finanziell ausreichend ausge-
stattet sein.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Herr Bundeskanzler, es ist eine zweite Rechnung nicht
aufgegangen. Sie haben gedacht, mit Ihrer Konzeption
der Haushaltskonsolidierung könnten Sie vor allen Din-
gen die Bereiche herunterfahren, in denen sich die Schä-
den nicht so schnell zeigen würden. Sie haben sich die
Entwicklungshilfe vorgenommen. Sie haben sich die
Bundeswehr vorgenommen. Sie haben sich Teile der
inneren Sicherheit vorgenommen.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ja falsch!
Joachim Poß [SPD]: Alles falsch!)
Es hat sich gezeigt, dass die 20 Milliarden DM, die Sie ge-
genüber unserer ursprünglichen Finanzplanung bei der
Bundeswehr einsparen, genau die 20 Milliarden DM sind,
die fehlen, um die Bundeswehr auf die Aufgaben vorzu-
bereiten,
(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Nichts
verstanden, Frau Kollegin! Joachim Poß
[SPD]: Deutlich fehlende Kompetenz!)
die sie im Bereich der europäischen Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik, im Bereich der neuen internationalen
Herausforderungen hat. Das werden wir auch immer wie-
der ansprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Diese neuen Bedrohungen haben einen weiteren
Aspekt: Sie stellen uns vor die Aufgabe die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion hat dazu ein umfassendes Konzept
vorgelegt ,
(Dr. Peter Struck [SPD]: Abgeschrieben!)
mit neuen Mitteln und Möglichkeiten auf bestimmte
Dinge zu reagieren. Herr Struck, wenn Sie hier von ab-
geschrieben reden,
(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, bei Otto Schily
haben Sie abgeschrieben! Michael Glos
[CDU/CSU]: Das ist wirklich schwach!)
dann muss ich Ihnen wirklich sagen: Sie sollten sich ein-
mal die Freude machen, die Reden Ihres Bundesinnenmi-
nisters
(Gernot Erler [SPD]: Bei dem haben Sie doch
abgeschrieben!)
und anschließend die Kommentierung durch die Bundes-
justizministerin im öffentlichen Radio
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Tja!)
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Dr. Angela Merkel
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sowie das Herumeiern über die Frage zu hören, ob man
nun Fingerabdrücke in Pässen braucht. Da haben wir eine
ganz klare Haltung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich sage Ihnen: Sicherlich will niemand die Freiheit in
unserem Land beschränken oder aufheben.
(Jörg Tauss [SPD]: Ja, Sie schon!)
Aber lassen Sie uns bitte in voller Klarheit deutlich ma-
chen: Die Freiheit von Millionen Menschen kann nur gesi-
chert sein, wenn die wenigen, die aus dieser Freiheit nega-
tiv Profit ziehen wollen, energisch und mit aller
Konsequenz bekämpft werden. Deutschland ist dafür bis
jetzt weltweit nicht bekannt. Daran muss sich etwas ändern.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, wir werden in der Verzah-
nung der Aufgaben, aber vor allen Dingen auch in der Ko-
ordination von Informationen voranschreiten müssen.
Wir werden sehr deutlich machen müssen, dass die vielen
Informationen, die in einer offenen Gesellschaft gesam-
melt werden, aber heute völlig unabhängig voneinander
existieren, im internationalen Kampf gegen den Terroris-
mus gebündelt werden müssen. Dies wird sich nicht auf
die Dienste beschränken, wo das natürlich heute schon
vollzogen wird. Vielmehr wird sich dies auf eine Vielzahl
von Informationen ausdehnen, die in verschiedenen Bun-
des- und Landesbehörden ermittelt werden. Ich bin dafür,
dass diese Informationszusammenführung institutionali-
siert wird, und zwar an einer Stelle, an der mit diesen In-
formationen kein Missbrauch betrieben werden kann.
Das sage ich im Hinblick auf den Bundesfinanzminis-
ter.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wo ist der ei-
gentlich?)
Ich glaube schon, dass wir eine stärkere Kontrolle aller
Geldbewegungen brauchen. Die Geldbewegung ist eine
wesentliche Indizienkette. Dadurch können wir die Be-
ziehungen zwischen den Terroristen erfassen. Aber ich
persönlich bin dagegen, dass all diese Daten direkt beim
Bundesfinanzminister erhoben werden und ihm zugäng-
lich sind. Denn dann kann der Missbrauch immer wieder
Triumphe feiern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Joachim Poß [SPD]: Wasch mir den Pelz, mach
mich nicht nass! Das ist ein schönes Thema! Da
sieht man, wie ernst Sie es meinen!)
Ich muss ehrlich sagen: Das müsste doch auch Ihnen
recht sein.
(Weitere Zurufe von der SPD Glocke des
Präsidenten)
Diese Aufregung verstehe ich wirklich nicht.
Auch die globale wirtschaftliche Ordnung wird auf
dem Prüfstand stehen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Das Bankgeheim-
nis ist heilig, das Menschenleben nicht! Das ist
der Punkt!)
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen davon, dass die Bun-
desrepublik Deutschland im internationalen Bereich ei-
nen wichtigen Beitrag leisten will und muss; das wollen
auch wir. Wenn das so ist, dann muss eine so große Nation
wie wir auch ihren Beitrag zur Stabilität der weltweiten
Wirtschaftsordnung leisten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist sicherlich richtig, dass wir in einer globalen Welt
leben, die zu gegenseitigen Abhängigkeiten führt. Es ist
mit Sicherheit richtig, dass wir heute nicht mehr das Wirt-
schaftswachstum der einen völlig von dem der anderen
separieren können. Aber dass wir, die Bundesrepublik
Deutschland, mit unseren Möglichkeiten und den Fähig-
keiten der Menschen in unserem Land innerhalb der Eu-
ropäischen Union in diesem Zusammenhang den letzten
Platz belegen, hat nichts mit den Amerikanern zu tun, son-
dern mit unserer nationalen Politik und die, Herr Bun-
deskanzler, muss sich schlagartig ändern.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP Joachim Poß [SPD]: Das hat et-
was mit Ihrer Erbschaft zu tun! Mit nichts an-
derem!)
Ich spreche deshalb über die wirtschaftliche Lage,
weil die globale Wirtschaftsordnung, die Freiheit ge-
währleisten soll, und unsere soziale Marktwirtschaft in
der Bundesrepublik Deutschland immer die eine Seite
der Medaille waren. Auf der anderen Seite stand immer
die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Über-
zeugungskraft der freiheitlichen Demokratien entwickelt
sich auch aus ihrer Dynamik im Bereich des Wirtschafts-
wachstums und des Lebensstandards der Menschen in
diesen Gesellschaften. Wenn es uns in Deutschland nicht
gelingt, an dieser Stelle vorne zu liegen und die Maßnah-
men einzuleiten, die wirklich notwendig sind, und nicht
solche, die kontraproduktiv sind, dann werden wir in der
Weltgemeinschaft nicht die Rolle einnehmen, die wir
einnehmen könnten.
Herr Bundeskanzler, ich halte es nach dem 11. Sep-
tember 2001 für eine massive Fehlentscheidung strategi-
scher Art,
(Joachim Poß [SPD]: Bei Ihrer Bilanz wäre
ich da sehr vorsichtig!)
dass Sie das erste Mehr an Sicherheit durch ein Mehr an
Steuern erkauft haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Joachim Poß [SPD]: Sie werden uns jetzt sagen,
wo Sie das Geld herholen! Sie werden uns jetzt
Vorschläge machen, wo man einsparen kann!)
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in einer ver-
gleichbaren Situation genau das Gegenteil getan.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Joachim Poß [SPD]: Die hatten ja auch Haus-
haltsüberschüsse! Sie haben uns 1,5 Billio-
nen DM Schulden hinterlassen! Bei Ihrer Bi-
lanz wäre ich ganz ruhig!)
Die Bundesregierung hätte dem deutschen Parlament
mühelos den Auftrag geben können, im Rahmen der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Angela Merkel
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anstehenden Haushaltsberatungen Einsparungen von
3 Milliarden DM vorzunehmen.
(Joachim Poß [SPD]: Machen Sie Vorschläge!
Bei der Entwicklungshilfe, bei der Bundes-
wehr?)
Dies ist möglich und oft geschehen. Die Bereitschaft dazu
wäre da gewesen. Der Weg der Steuererhöhung ist falsch.
Dabei bleiben wir!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Joachim Poß [SPD]: Machen Sie doch einmal
Vorschläge! Gernot Erler [SPD]: Peinlich,
peinlich!)
Die Bedrohungen haben sich verändert. Neue Bedro-
hungen erfordern neues Denken und entschlossenes Han-
deln. Neue Bedrohungen erfordern vor allen Dingen auch
entschiedenes und in sich konsistentes Handeln. Herr
Bundeskanzler, es hat in den vergangenen Wochen in die-
sem Hause eine große Einigkeit über die strategischen,
politischen Notwendigkeiten einer gemeinsamen Politik
nach außen gegeben. Wir alle haben die Erfahrung ge-
macht, dass eine einzige Partei in diesem Hause zu dieser
Gemeinsamkeit nicht bereit ist: Dies ist die PDS. Herr
Bundeskanzler, ich muss es deshalb noch einmal sagen:
(Gernot Erler [SPD]: Nein, lassen Sie es!)
Ich halte es für vollkommen inakzeptabel, dass Sie als
Parteivorsitzender zulassen, dass es im Augenblick in der
deutschen Hauptstadt einen Regierenden Bürgermeister
gibt, der mit den Stimmen dieser Partei gewählt ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das passt
nun wirklich rein! Sehr angemessen! Das ist ja
nun wirklich lächerlich!)
Sie können Ihr politisches Handeln nicht auf die Ebenen
der Länder und des Bundes und des Handelns nach außen
aufteilen. Die Aufgabe für Deutschland im 21. Jahrhun-
dert wird sein, konsistent, besonnen und konsequent zu
handeln, und dies ohne Kompromisse.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Union ist dafür präpariert.
Die Union ist bereit, diesen Beitrag für die Bundesrepublik
Deutschland zu leisten. Die Union ist bereit, dann mit Ih-
nen zusammenzustehen, wenn Sie die Interessen der Bun-
desrepublik Deutschland nach außen vertreten. Aber die
Union ist auch bereit, ein unbequemer Gesprächspartner
zu sein, wenn es um die Interessenvertretung nach innen
und um das Wohl der Menschen in diesem Lande geht.
Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU Bei-
fall bei Abgeordneten der FDP)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt wird ge-
holzt!)
Dr. Peter Struck (SPD) (von der SPD mit Beifall be-
grüßt): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Herr
Bundeskanzler, für die großartige und große Rede dan-
ken, die Sie hier gerade gehalten haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diese Bewertung gilt nicht für die Rede meiner Vor-
rednerin. Das war eine kleinkarierte, innenpolitische
Rede, Frau Merkel, die der Vorsitzenden einer großen Par-
tei völlig unwürdig und unangemessen ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Als wir am 12. September, einen Tag nach den bruta-
len Angriffen auf New York und Washington, hier zusam-
mengekommen sind, waren wir uns einig, dass uns die
schrecklichen Bilder nie mehr loslassen werden. Heute,
nur einen Monat später, habe ich den Eindruck, dass es
schon notwendig geworden ist, manchen an diese Bilder
zu erinnern, daran zu erinnern, dass die brutalen Massen-
morde in den USA die Ursache für jene Bilder sind, die
uns seit Sonntag aus Afghanistan erreichen, und daran zu
erinnern, dass die amerikanisch-britischen Luftan-
griffe auf die militärische Infrastruktur der Taliban ein un-
erlässlicher Bestandteil des Kampfes gegen den interna-
tionalen Terrorismus sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sie sind ein Akt der Selbstverteidigung.
Die amerikanische Regierung geht dabei besonnen vor.
Sie ist daran interessiert, die breite internationale Koali-
tion gegen den internationalen Terrorismus fortzuführen.
Wer bisher an der Urheberschaft von Osama Bin Laden
und seiner Terrororganisation al-Qaida an den Anschlä-
gen gezweifelt hat, ist in den zurückliegenden Tagen eines
Besseren belehrt worden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD
Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Da hat
er Recht!)
Das Videoband mit einem Kampfaufruf Bin Ladens gegen
die USA und die Ankündigung weiterer Terrorakte
Attacken durch Flugzeugangriffe durch einen Spre-
cher von al-Qaida sind das Eingeständnis der grausamen
Anschläge und sie belegen auch die enge Verflechtung
und wechselseitige Abhängigkeit zwischen Bin Laden
und den Taliban.
Zweifellos hat die NATO in den letzten Wochen rich-
tig gehandelt, als sie nach Unterrichtung durch die ameri-
kanische Regierung den Bündnisfall festgestellt hat; denn
die kollektive Verteidigung der USA gegen kriegerische
Terrorangriffe ist für die Verbündeten nicht nur eine Frage
der Solidarität. Sie ist zugleich für jedes NATO-Mitglied,
also auch für unser Land, ein Akt der Selbstverteidigung;
denn angegriffen wurde die tolerante, freiheitliche Le-
bensform aller westlichen Demokratien.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des
Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Angela Merkel
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(D)
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(B)
Im Visier der islamischen Terroristen sind Deutschland
und auch andere EU-Staaten. Deswegen unterstützt die
SPD-Fraktion ohne Wenn und Aber die Bereitschaft der
Bundesregierung, den USA AWACS-Flugzeuge zur
Überwachung des amerikanischen Luftraums zur Verfü-
gung zu stellen. Die Mehrheit in diesem Haus ist mit uns
der Meinung, dass diese Maßnahme nicht vom Parla-
mentsvorbehalt betroffen ist. Deshalb bedarf es für die
Entsendung auch allein der Entscheidung der Bundesre-
gierung.
Seit dem 11. September 2001 ist das ganze Ausmaß des
Kampfes gegen den internationalen Terrorismus immer
deutlicher geworden. Es ist eine äußerst komplexe und
komplizierte Strategie notwendig, die sich auf politische,
wirtschaftliche, finanzielle, entwicklungspolitische, kul-
turelle und militärische Elemente stützen muss.
Bezüglich der finanziellen Elemente möchte ich von
Ihnen, Frau Kollegin Merkel, dann aber schon einmal
Klarheit haben, ob Ihnen das Bankgeheimnis tatsächlich
noch wichtiger ist als das Leben von Menschen, die von
terroristischen Anschlägen bedroht sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS Widerspruch bei der CDU/CSU)
Es ist schon peinlich, wenn Sie die Maßnahme der Bun-
desregierung, eine Stelle im Finanzministerium einzu-
richten, an der Person des Bundesfinanzministers schei-
tern lassen wollen. Das ist ja absolut lächerlich, was Sie
hier vorgetragen haben.
(Beifall bei der SPD)
Sie sollten nicht vergessen, meine Damen und Herren,
dass die Taliban Afghanistan okkupiert haben. Sie sind
nicht die legitime und völkerrechtlich anerkannte Regie-
rung. Zur Durchsetzung ihrer Macht haben sie grausams-
te Menschenrechtsverletzungen begangen und die Frauen
in dem Land regelrecht versklavt. Sie haben Afghanistan
zu einer Brutstätte des Terrorismus und der organisierten
Kriminalität gemacht. Sie destabilisieren mit ihren fun-
damentalistischen Glaubenskriegern die gesamte Region.
Unter der Herrschaft der Taliban wird das afghanische
Volk unterdrückt, und es leidet Hunger und große soziale
Not. Es ist deshalb sehr wichtig, bei allen Aktionen zwi-
schen den Taliban und dem afghanischen Volk streng zu
unterscheiden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Taliban und nicht das afghanische Volk machen mit
den Terroristen gemeinsame Sache.
Wir begrüßen daher sehr die amerikanische Initiative,
die militärischen Angriffe mit Hilfen für die darbende
Bevölkerung zu flankieren. Das ist Bestandteil einer um-
fassenden Initiative der westlichen Staaten und der Afgha-
nistan Support Group, dem afghanischen Volk mit huma-
nitärer Hilfe beizustehen.
Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Struck, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Repnik?
Dr. Peter Struck (SPD): Nein, im Augenblick nicht.
Ich bitte um Entschuldigung.
Allein die europäischen Staaten und die Europäische
Union haben 314 Millionen Euro für diesen Zweck zur
Verfügung gestellt. Ich danke der Bundesregierung, dass
sie darüber hinaus weitere 51 Millionen DM für huma-
nitäre Hilfe in der Region bereitgestellt hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir müssen auch die Zukunft Afghanistans im Auge
haben. Es ist völlig klar, dass ein wirtschaftlicher und po-
litischer Aufbau unter einer legitimen Regierung mit brei-
ter internationaler Unterstützung nur möglich ist, wenn
die Taliban nicht mehr an der Macht sind. Bei der Schaf-
fung neuer politischer Strukturen in diesem Land soll den
Vereinten Nationen eine entscheidende und besondere
Rolle zukommen.
Diese neuen politischen Strukturen können sich nur
entwickeln, wenn sie die Akzeptanz der afghanischen
Stammesgesellschaft finden. Aus ihr heraus muss eine le-
gitime Übergangsregierung gebildet werden, die den
schwierigen und mühevollen Wiederaufbau Afghanistans
beginnen kann.
Ich stimme Bundeskanzler Gerhard Schröder und In-
nenminister Otto Schily ausdrücklich darin zu, dass der
Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht allein
mit Militär, Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zu
gewinnen ist.
(Beifall bei der SPD)
Wir brauchen eine geistig-politische Auseinandersetzung
mit einem Denken, das alle freiheitlich-demokratischen
Werte infrage stellt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir dürfen die Lüge nicht zulassen, hier werde ein
Kampf für die Unterdrückten der Welt geführt. Bin Laden
ist nicht Robin Hood.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Er und seine Helfershelfer in aller Welt betreiben organi-
sierte Kriminalität in bisher nicht vorstellbarer Brutalität.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Sie kämpfen nicht für unterprivilegierte Muslime, son-
dern sie benutzen sie, um ihre weltzerstörerische Aktivität
zu rechtfertigen. Sie wollen die Werte zerstören, die die
Welt menschlich gemacht haben. Wer bei uns die Reli-
gionsfreiheit ausnutzt und in Moscheen auch hier in
Deutschland predigt, um in Wahrheit unsere freiheitlich-
demokratische Grundordnung anzugreifen, hat keinen
Anspruch darauf, dass ihn diese freiheitliche Grundord-
nung gewähren lässt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ebenso falsch ist es wie geschehen , Bin Laden bei öf-
fentlichen Diskussionen als Freiheitskämpfer zu verherr-
lichen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Peter Struck
18689
(C)
(D)
(A)
(B)
Deutschland muss und wird ein weltoffenes Land blei-
ben. Wir haben es nicht hingenommen, dass Rechtsradi-
kale diese Weltoffenheit untergraben. Und wir werden es
nicht hinnehmen, dass uns terroristische Feinde des frei-
heitlich-demokratischen Westens dieser Weltoffenheit be-
rauben wollen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen, dass die drei Millionen Muslime in
Deutschland eine sichere Heimat haben. Aber wir wollen
auch, dass alle, deutsche wie ausländische Mitbürger, wis-
sen: Diese Sicherheit gibt es nur auf der Grundlage unse-
rer Gesetze und unserer Verfassung. Daran lassen wir
nicht rütteln.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Bundesinnenminister ist dabei, die nötigen Maß-
nahmen einzuleiten, um die Sicherheitsrisiken zu mini-
mieren. Im Anschluss an diese Debatte werden wir über
das erste Antiterrorpaket beraten, das zweite wird noch
Ende dieses Monats im Kabinett und anschließend in den
Koalitionsfraktionen behandelt.
Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Ar-
beit von Otto Schily ist so groß, dass es der Opposition
keinen realen Raum lässt, um sich zu profilieren. Deshalb
wirken Ihre Versuche, Frau Merkel, daran etwas herum-
zureden, eher hilflos. Sie tun mir in diesem Zusammen-
hang Leid.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD Lachen
bei der CDU/CSU)
Der Innenminister kündigt nicht an, sondern er handelt. Er
handelt so, dass den Sicherheitsinteressen Rechnung ge-
tragen wird, ohne die freiheitliche Ordnung über Gebühr
zu strapazieren. Die innere Sicherheit in Deutschland hat
in Otto Schily einen guten Anwalt.
(Beifall bei der SPD)
Nun haben Sie, Frau Kollegin Merkel, Ihre eigenen
Sicherheitsvorstellungen offenbar in dieser Woche in Ih-
rer Fraktion diskutiert und abgestimmt. In den Teilen, die
Sie von Otto Schily abgeschrieben haben, gebe ich Ihnen
Recht. Hier sind Sie auf dem richtigen Weg. Aber ich kann
das will ich für meine Fraktion deutlich sagen Ihrer
Forderung, die Bundeswehr im Innern einzusetzen, nicht
zustimmen. Im Übrigen habe ich Ihren Versuch einer Be-
gründung dessen nicht verstanden. Dies wird nicht die Zu-
stimmung meiner Fraktion finden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörg van Essen
[FDP])
Wenn wir in wenigen Wochen über die Pakete zur
Terrorbekämpfung abstimmen, haben alle Fraktionen in
diesem Haus die Möglichkeit, zu zeigen, ob sie es mit der
Unterstützung der Regierung bei dieser schwierigen Auf-
gabe ernst meinen. Ich bedanke mich ausdrücklich ich
will das unterstreichen, was der Kanzler in diesem Zu-
sammenhang gesagt hat
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich bin schwer
beeindruckt!)
für die große außenpolitische Zusammenarbeit, die wir in
Krisengesprächen auch von Vertretern der Oppositions-
fraktionen, die PDS ausgenommen, erfahren haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Für uns ist die Unterstützung der Maßnahmen der Bun-
desregierung überhaupt keine Frage. Sie wird auch keine
Frage der Koalitionsfraktionen sein. Beide Fraktionen
werden den Kurs der Bundesregierung unterstützen, um
unsere internationale Freiheit nicht durch Terrorismus
zerstören zu lassen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Präsident Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Hans-Peter Repnik das
Wort.
Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Kollege
Struck, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen ha-
ben, möchte ich Sie hiermit auf folgenden Sachverhalt
hinweisen. Wir begrüßen ganz ausdrücklich Ihre Aussage,
dass durch die Videoaufnahmen Bin Ladens seine Schuld
als Verursacher der Terroranschläge anerkannt ist.
Die Frage an Sie lautet: Wie verhält es sich mit der
Aussage, die Ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsfüh-
rer Wilhelm Schmidt heute in der Frankfurter Rund-
schau getroffen hat? Ich darf zitieren:
Vor einem Einsatz der Bundeswehr im aktuellen
Afghanistankonflikt erwartet die SPD-Bundes-
tagsfraktion von der Bundesregierung die Offenle-
gung von Beweisen gegen das Terrornetzwerk von
Osama Bin Laden.
Die Abgeordneten des Bundestages würden mehr In-
formationen von der Bundesregierung bekommen,
wenn sie
Zitat Wilhelm Schmidt
über einen Einsatz der Bundeswehr abstimmen sol-
len. Derzeit weigert sich die Bundesregierung, das
von den USA vorgelegte Beweismaterial vorzulegen.
Meine konkrete Frage an Sie: Ist das die Auffassung
der SPD-Bundestagsfraktion oder stimmt Ihre Aussage
von vorhin, dass die Videoaufnahmen Bin Laden eindeu-
tig der Schuld überführt haben?
Darüber hinaus habe ich eine Bitte an den Bundesmi-
nister der Verteidigung, der anschließend noch das Wort
ergreifen wird: Mich würde interessieren, wie die Bun-
desregierung zu diesem Sachverhalt steht, das heißt, ob
sie die Beweise als gegeben betrachtet bzw. welche Pro-
bleme sie noch sieht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Struck,
Sie haben die Möglichkeit zu einer Antwort.
Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Repnik, um Ih-
nen eine Antwort zu geben: Ich kommentiere nicht Äuße-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Peter Struck
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rungen meines Ersten Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rers
(Lachen bei der CDU/CSU)
ja, langsam! , die in der Presse wiedergegeben worden
sind. Ich sage nur: Die Bundesregierung hat Sie konn-
ten leider nicht dabei sein, aber Ihr Fraktionsvorsitzender
war dabei in den Besprechungen, die wir mit allen Ver-
tretern unserer Sicherheitsorgane zur aktuellen Lage ge-
führt haben, deutlich gemacht, dass es eigene Erkennt-
nisse der Bundesregierung über die Urheberschaft
Bin Ladens gibt. Das steht für mich außer Frage. Diese
Urheberschaft ist im Übrigen nach den Ereignissen vom
vergangenen Sonntag von den Taliban und von Bin Laden
selbst bestätigt worden. Wir erinnern uns alle an das Vi-
deo, das offenbar vor den Angriffen aufgezeichnet und
später veröffentlicht wurde.
Die Bundesregierung informiert die Fraktionen nicht
nur die Koalitionsfraktionen, sondern auch die Opposi-
tionsfraktionen in umfassendem und ausreichendem
Maße, Herr Kollege Repnik. Ich habe in diesem Punkt
nichts zu beanstanden und werde die Bundesregierung in
diesen Fragen nach wie vor uneingeschränkt unterstützen.
Davon können Sie ausgehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion, das Wort.
Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Freien Demokraten sind
mit großen Teilen der vom Bundeskanzler abgegebenen
Regierungserklärung einverstanden. Was er zum Bünd-
nis, zur Solidarität, zur Lage in Afghanistan und zu den
militärischen Notwendigkeiten gesagt hat, trifft auf un-
sere Zustimmung. Seine Aussagen sind eine Konsequenz
aus den Verabredungen, den vertrauensvollen Gesprächen
und deren Ergebnissen. Damit ist dies ein Stück konstante
deutsche Außenpolitik. Ich muss das nicht weiter aus-
führen.
Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen ausdrücklich
zu, dass die gezielten Militärschläge gegen terroristische
Einrichtungen, gegen Ausbildungscamps und gegen In-
frastruktureinrichtungen richtig sind. Es ist entscheidend
darum bemühen sich die Vereinigten Staaten , logisti-
sche Ziele zu treffen und die Zivilbevölkerung zu scho-
nen.
Im Übrigen begrüßen wir es, dass die Angriffe durch
Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
völkerrechtlich abgesichert sind. Sie sind legitim.
(Beifall bei der FDP)
Es ist auch richtig, dass gleichzeitig eine Versorgung mit
humanitären Gütern erfolgt. In wenigen Wochen be-
ginnt in dieser Gegend der Winter. Dort lebt eine ge-
schundene Zivilbevölkerung, die außerdem noch niemals
gefragt worden ist, wie ihr Land aufgebaut werden und
wer sie regieren soll. Die humanitäre Hilfe sollte ein ers-
tes Zeichen der freien Welt sein, auf politische Lösungen
hinzuwirken, die wir nicht nur dort, sondern auch an an-
deren Orten dieser Welt, zum Beispiel im Nahen Osten,
brauchen.
Natürlich gibt es Konfliktlagen, die einen solchen Ter-
rorismus speisen, ohne ihn direkt verantworten zu wollen.
Deshalb gibt es keine Notwendigkeit, eine Diskussion
über diesen Teil Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundes-
kanzler, zu führen. Ihre Ausführungen treffen auf unsere
Zustimmung. Wir sind zu internationaler Verantwortung
bereit. Wir kennen das und dabei soll es auch, soweit es
nach den Freien Demokraten geht, bleiben. Wir werden
unsere Bereitschaft in den vertrauensvollen Gesprächen,
die demnächst sicher wieder stattfinden müssen, zeigen.
Darüber gibt es keinen Zweifel.
Aber, Herr Bundeskanzler bei aller Zurückhaltung :
Die Hausaufgaben in der Bundesrepublik Deutschland
dürfen darunter nicht leiden. Darauf muss jetzt aufmerk-
sam gemacht werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Übereinstimmung in der Außenpolitik ist das eine,
aber ebenso notwendig sind die sachlichen Kontroversen
in der Innenpolitik, soweit sie mit Ihrer Regierungs-
erklärung zusammenhängen.
Sie sagen, Deutschland könne nicht immer alle Risiken
vermeiden, wenn es international Verantwortung über-
nehme. Das sei eine neue Situation in der deutschen
Außenpolitik. Richtig, das ist eine Veränderung. Aber
dann muss ich Sie fragen: Was tun Sie und die rot-grüne
Koalition, um die Voraussetzungen für die Bewältigung
der neuen außenpolitischen Aufgaben zu schaffen? Sie
wissen genauso gut wie ich, dass die deutsche Bundes-
wehr stark unterfinanziert ist. Sie haben einen europä-
ischen Vertrag mitbeschlossen, mit der Absicht, eine eu-
ropäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität zu
schaffen. Trotzdem lassen Sie nicht die geringsten Anzei-
chen erkennen, wie Sie die sich aus diesem Vertrag erge-
benden neuen Sicherheitsaufgaben im Verteidigungs-
haushalt zu finanzieren gedenken. Sie sagen: weiter so,
obwohl Sie genau wissen, dass durch Ihre so finanzierte
Sicherheitspolitik die Glaubwürdigkeit Deutschlands in
der Außenpolitik bei seinen Partnern leidet. Das wird so
nicht gehen. Sie können nur in begrenztem Umfang sol-
che Erklärungen abgeben, wenn Sie im Innern Ihren Wor-
ten nicht auch Taten folgen lassen. Das wissen Sie ge-
nauso gut wie wir.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie haben zu Recht erklärt, dass sicherheitspolitische
Entscheidungen im Bereich der Gesetzgebung zwar not-
wendig seien, dass aber auch die Vollzugsdefizite im Be-
reich der inneren Sicherheit beseitigt werden müssten.
Wir folgen Ihnen auf diesem Weg. Aber ich möchte den
Bundesinnenminister, den Bundesfinanzminister, die Bun-
desjustizministerin sowie die zuständigen Landesmi-
nisterinnen und -minister auffordern, zuallererst die beste-
henden Defizite zu beseitigen. Wenn beispielsweise 2 000
DNA-Analysen nicht bearbeitet werden können und wenn
es nur 16 Beschäftigte im Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen gibt, die im Hinblick auf die Geldwäsche die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Peter Struck
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(B)
Aufsicht über rund 3 000 Banken haben, dann stimmt et-
was nicht und dann beraten wir gerne mit Ihnen über ent-
sprechende gesetzliche Änderungen. Es darf jedenfalls
kein Tag verloren werden, hier für Verbesserungen zu sor-
gen. Das ist die Aufgabe, die zuallererst zu erledigen ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir werden konstruktiv über Gesetzesänderungen
beraten. Wir wissen, dass die Teilhabe an der Freiheit Si-
cherheit voraussetzt. Sie finden uns bei der Entscheidung
über die Abschaffung des Religionsprivilegs an Ihrer
Seite. Das wollten wir übrigens schon früher einmal ab-
schaffen, und zwar gegen Widerstände in der Bundes-
republik Deutschland. Wir beraten gerne konstruktiv über
die Straftatbestände, die terroristische Aktivitäten, die
vom Ausland ausgehen, betreffen. Wir werden auch kon-
struktiv über eine rechtstaatlich einwandfreie, verbesserte
Kronzeugenregelung beraten. Darüber wird es keinen
Streit geben.
Ich als Bürger bin aber nicht bereit, mich als gläserner
Mensch zur Verfügung des Staates zu halten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Struck: Durch das
Bankgeheimnis wird kein Terrorist geschützt. Eine solche
Behauptung wäre völlig falsch. Wer in Deutschland ein
Bankkonto hat und darauf mindestens 30 000 DM in bar
einzahlt, muss identifiziert werden. Bei Geldwäschever-
dacht ist die Bank zur Anzeige verpflichtet. Deshalb in-
teressiert mich, wie die von Ihnen geplante Konten-
evidenzzentrale letztlich aussehen soll. Ich sage Ihnen als
Bürger der Bundesrepublik Deutschland: Ich möchte,
dass mein Konto auch nach der Einrichtung einer solchen
Zentralstelle noch immer bei einer Bank und nicht beim
Bundesfinanzminister geführt wird, so treuherzig er auch
dreinschauen mag.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es sei mir an dieser Stelle auch eine Bemerkung in Rich-
tung unserer Freunde in den Vereinigten Staaten gestattet.
Ich kann mich gut erinnern, dass der US-amerikanische
Finanzminister noch in diesem Sommer die Financial
Action Task Force kritisiert hat. Das ist eine Gruppe aus
Schwellenländern und Ländern der freien Welt, die sich der
Bekämpfung der Geldwäschekriminalität an Offshore-
plätzen und in Steueroasen widmet. Das hat der US-ameri-
kanische Finanzminister noch im Sommer als Angriff auf
souveräne Staaten betrachtet. Deshalb sage ich unseren
amerikanischen Freunden: Sie müssen sich manchmal an-
gesichts dessen, was sie früher gesagt und getan haben, an
die eigene Nase fassen. Es ist wichtig, dass sich die Bun-
desregierung zusammen mit anderen Ländern die Verei-
nigten Staaten scheinen jetzt auch so weit zu sein jetzt der
Bekämpfung der Geldwäsche an den Finanzplätzen in der
Welt intensiv widmet und entsprechende internationale
Vereinbarungen schließt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Herr Bundeskanzler, ich muss Sie auch daran erinnern,
dass durch die dramatischen Ereignisse der letzten Woche
die ökonomische Situation in Deutschland überlagert
worden ist. Das wollen wir nicht zulassen. Ich muss fest-
stellen: Sie sind mit Ihrem wirtschaftspolitischen Latein
am Ende. Die terroristischen Anschläge haben Ihnen zwar
ein Zeitguthaben verschafft, das Sie aber nicht nutzen
sollten. Sie müssen von Ihrer Politik der ruhigen Hand
wegkommen. Sie müssen ganz entschieden die Beschäf-
tigungsdynamik in Deutschland wieder auf Touren brin-
gen. Sie müssen einen wirtschaftspolitischen Kurs fahren,
der die Menschen ermutigt. Angst ist nicht nur Angst vor
terroristischer Bedrohung. Soziale Sicherheit für Men-
schen die größte soziale Sicherheit ist ein Arbeitsplatz
gehört dazu, wenn man freie Gesellschaften stabil halten
will.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Zuruf
von der SPD: Ist Rexrodt nicht mehr Mitglied
bei Ihnen?)
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Sie sa-
gen in jeder Erklärung: Notwendig ist Solidarität mit
den Vereinigten Staaten. Dem stimmen wir zu. Diese
Solidarität ist selbstverständlich. Sie haben das oft wie-
derholt und es ist auch gut, wenn Sie es wiederholen. Wir
sind alle Amerikaner, hat uns neulich der Kollege Struck
hier gesagt. Das ist ein kluger Satz gewesen. Darauf baut
Amerika. Darauf schaut Amerika. Amerika schaut im
Übrigen dann auch auf diese Stadt, auf Berlin. Deshalb
sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Lassen Sie Ihren
Worten Taten folgen! Keine Koalition mit der PDS in
Berlin ist die notwendige Konsequenz aus Ihrer Er-
klärung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Zu-
rufe von der SPD und der PDS)
Wir stimmen weiten Teilen Ihrer Regierungserklärung
zu. Wir vermissen aber deren Konsequenz für innenpoli-
tische Taten in der Bundesrepublik Deutschland sicher-
heitspolitisch und wirtschaftspolitisch. Das zu sagen ist
die Aufgabe einer Opposition. Unsere Institutionen funk-
tionieren. Die demokratische Auseinandersetzung zwi-
schen Regierung und Opposition funktioniert ebenfalls.
Sie schadet auch nicht. Wenn man sich über die Konstan-
ten deutscher Außenpolitik, die Sie vorgetragen haben,
klar ist und wenn man die Staatsräson der Bundesrepublik
Deutschland, die das Land aus der größten Katastrophe
herausgebracht hat, beherzigt, dann finden Sie uns an Ih-
rer Seite. Ansonsten melden wir uns als Opposition zu
dem, was Sie hier vorgetragen haben trotz jener Ereig-
nisse , weil auch danach das politische Leben in der
Bundesrepublik Deutschland weitergehen muss.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Joseph Fischer, Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 11. Sep-
tember hat uns einen Kampf aufgezwungen, den niemand
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt
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von uns wollte, nicht die Menschen in den USA, nicht die
Regierung der USA, nicht die Führung der NATO, auch
nicht die Bundesregierung und die Menschen in Deutsch-
land. Dieser 11. September war ein Angriff auf die Men-
schen in New York, auf die Regierung der Vereinigten
Staaten, er war ein Angriff auf unseren wichtigsten Bünd-
nispartner. Insofern ist Solidarität, umfassende Solida-
rität, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Er war auch
ein Angriff auf die offene Gesellschaft, ein Angriff auf
unsere Demokratie. Insofern sind es unsere elementaren
Interessen, die uns zwingen, hier zu widerstehen, ja Wi-
derstand zu leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Es ist eine mörderische, eine totalitäre Herausforde-
rung, vor der wir stehen. Wer gestern im Fernsehen gese-
hen hat, wie neue Massenmorde angekündigt werden, und
wer weiß, dass es sich hierbei nicht mehr nur um Rheto-
rik handelt, der stellt nicht mehr die Frage nach den Be-
weisen, die ja vorliegen, die vorhanden sind. Alles zieht
sich dorthin zu. Es gibt keine alternativen Erkenntnisse,
nicht nur bei uns nicht, sondern auch im gesamten Bünd-
nis und bei anderen Diensten nicht. Nach den vorbereite-
ten Erklärungen von Bin Laden und nach dem gestrigen
Aufruf zu neuen Massenmorden ist völlig klar: Wir stehen
hier vor einer internationalen totalitären Herausforde-
rung, die den Islam missbraucht, die die religiösen Ge-
fühle von Menschen missbraucht, um ihre totalitären
Ziele mit dem Mittel des Massenmordes durchzusetzen.
Und das darf nicht siegen, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
Die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus ist kein
Kampf der Kulturen das anzunehmen wäre der größte
Fehler, den wir innen- wie außenpolitisch machen könn-
ten , aber sie ist ein Wertekonflikt. Die Grundwerte der
Demokratie, die Grundwerte der Menschenrechte werden
hier infrage gestellt auf mörderische Art und Weise.
Deswegen geht es um die Verteidigung dieser Grundwerte
und nicht um ihre Infragestellung. Wie der Bundeskanz-
ler in seiner, wie ich finde, großen Rede heute Morgen
klar gemacht hat,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
muss die Linie sein: Festigkeit und Besonnenheit, Ent-
schlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus, Ent-
schlossenheit aber auch in der Verteidigung der offenen
Gesellschaft, der Demokratie sowie ich betone dies
des multikulturellen Charakters der offenen Gesellschaft,
den wir haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich finde, das verdient nachdrücklich Unterstützung.
Die Antwort auf den Terrorismus muss umfassend sein.
Das Militärische steht jetzt sehr stark im Vordergrund. Ich
kann hier nur unterstreichen, was der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung gesagt hat: Die Antwort muss
auf die Lösung ökonomischer und politischer Probleme
ausgerichtet sein und wird sehr stark auch des kulturellen
Dialogs bedürfen. Die eine Welt ist eben nicht nur eine
Sonntagsveranstaltung, sondern sie ist auch voller Kon-
flikte und voller Gefahren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aber die eine Welt ist unsere Zukunft. Die Pluralität der
Kulturen bedarf nicht der kulturellen Konfrontation, son-
dern des interkulturellen Dialogs im Zentrum der interna-
tionalen Politik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir reden hier über nichts Geringeres als über den Ent-
wurf einer Friedenspolitik im 21. Jahrhundert. Anders als
zu Zeiten des Kalten Krieges bedeutet Friedenspolitik in
der einen Welt im 21. Jahrhundert internationale Ord-
nungspolitik im Kampf gegen den internationalen Terro-
rismus. Das heißt, es geht darum, eine Weltordnung zu
schaffen, die Zonen der Ordnungslosigkeit oder gar, wie
es in weiten Teilen der Fall ist, des völligen politischen
Ordnungsverlustes nicht mehr zulässt. Ich sage das nicht
nur unter dem Gesichtspunkt der Bedrohungen, die durch
Zonen der Ordnungslosigkeit für uns erwachsen können;
die eigentliche Gefahr besteht vielmehr in dem Leid der
betroffenen Zivilbevölkerung. Das ist der entscheidende
Punkt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido
Westerwelle [FDP])
Wenn wir uns in letzter Zeit, was die Schaffung einer
Weltordnung angeht, alle miteinander selbstkritisch etwas
vorzuwerfen haben, dann vielleicht, dass wir der Illusion
einer friedlichen Welt zu sehr erlegen waren. Für die Eu-
ropäer gilt das zwar weniger, weil der Balkan so nahe ist
aber nur deswegen! Wenn Sie dem zustimmen, dann
komme ich völlig unpolemisch zu der Frage, ob ange-
sichts der neuen Herausforderungen über das Ziel eines
Niedrigsteuerstaats nicht völlig neu diskutiert werden
muss. Ich möchte einmal sehr ernsthaft die Frage disku-
tieren, ob das neue Engagement für eine auf Pluralität
gründende Weltordnung, das ein Mehr an Sicherheit im
Inneren und Äußeren erfordert und mehr Einsatz in der
Außenpolitik, in der Friedenspolitik und in der Entwick-
lungspolitik notwendig macht, mit den Vorstellungen von
einem Niedrigsteuerstaat, denen wir alle angehangen ha-
ben, tatsächlich noch vereinbar ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Eine Weltordnung schaffen, die allen Völkern die Per-
spektive voller Teilhabe ermöglicht, das klingt zwar sehr
ambitioniert, ist aber nur die Konsequenz aus einem er-
folgreichen Kampf gegen den Terrorismus. Lassen Sie
mich hier unterstreichen: Multilateralismus und nicht
Unilateralismus wird die Welt im 21. Jahrhundert zu be-
stimmen haben. Auch das ist eine wichtige Konsequenz
dessen, was wir erlebt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Joseph Fischer
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(D)
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(B)
Dabei gewinnen die Vereinten Nationen eine völlig
neue Bestimmung. Bei all den Tragödien, die sich ereig-
net haben, müssen wir auch das Positive herausarbeiten:
dass der Sicherheitsrat jetzt geschlossen handelt, dass
das Völkerrecht fortentwickelt wird, und zwar auf eine
sehr robuste, handlungsfähige Art und Weise, wie es im-
mer gefordert worden ist. Ich erinnere mich an all die
Auseinandersetzungen über die Einsätze auf dem Balkan.
Jetzt handelt der Sicherheitsrat geschlossen.
Ich stimme auch Frau Merkel völlig zu wir haben das
schon vorher nachdrücklich unterstrichen , dass diese
Koalition der Staaten die Gemeinsamkeit in den Grund-
werten nicht vergessen machen darf: Menschenrechtsver-
letzungen sind Menschenrechtsverletzungen, auch wenn
sie von Koalitionspartnern begangen werden; Unterstüt-
zung von Terrorismus ist Unterstützung von Terrorismus,
auch wenn sie durch Koalitionspartner erfolgt. So wichtig
es ist, dass wir in dieser Auseinandersetzung Festigkeit
bewahren, so wichtig ist es auch, dass wir mehr und nicht
weniger an Menschenrechtsorientierung brauchen, wenn
wir diesen Kampf bestehen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der in
vielen Reden, vor allen Dingen sonntags, diskutiert wird
allerdings weiß ich von vielen Kollegen, dass sie auf
diesem Gebiet auch werktags sehr praktische Arbeit ge-
leistet haben : Was sind die Ziele des islamistischen
Terrorismus? Ziel ist die Befreiung der islamischen Welt
von äußerem Einfluss, was sich aktuell an den USA fest-
macht. Ziel ist aber auch das ist eines der wichtigsten
Ziele die Zerstörung Israels. Hier sind wir besonders ge-
fordert, wenn all die Erklärungen, die wir fraktionsüber-
greifend immer abgegeben haben und die ich immer ernst
genommen habe, ernst gemeint waren. Hier haben wir
eine besondere, auch historische Verantwortung und Ver-
pflichtung. Eine Politik, die mit den Mitteln des Terroris-
mus und des Massenmordes auf die Zerstörung Israels
zielt, verdient unseren energischsten Widerstand und den
Einsatz aller Möglichkeiten, die wir haben.
(Beifall im ganzen Hause)
Terror gegen Israel ist von uns ohne Wenn und Aber zu
verurteilen, egal, ob dieser von Bin Laden, von Hamas,
von einem islamischen Dschihad, von der Hisbollah oder
von wem auch immer ausgeht. Terrorismus gegen Israel
wird von uns nicht akzeptiert. Hier wissen wir uns mit
dem Staate Israel und den Menschen dort einig.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der
CDU/CSU)
Wir betonen hier noch einmal ausdrücklich das Exis-
tenzrecht Israels und seinen Anspruch auf sichere Gren-
zen und Frieden. Hier möchte ich als Freund Israels auch
betonen, dass wir, weil wir das Existenzrecht Israels
sichern wollen, den Friedensprozess wollen und alles tun
werden, um diesen Friedensprozess weiter voranzubrin-
gen. Dazu gehört auch die Berücksichtigung der legitimen
Interessen des palästinensischen Volkes; das schließt sein
Selbstbestimmungsrecht und die Option auf einen eige-
nen Staat ein, wie es in der Berliner Erklärung der Euro-
päischen Union während der deutschen Präsidentschaft
hier geheißen hat; allerdings unter Wahrung des Existenz-
rechtes und der Sicherheitsinteressen Israels.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Herr Westerwelle, ich möchte hier keine falsche Pole-
mik betreiben; ich fände es aber gut, wenn Sie die doch
sehr merkwürdigen Äußerungen des Kollegen Möllemann
für die FDP wirklich einmal klarstellen würden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/
CSU Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] mel-
det sich zu einer Zwischenfrage)
Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Westerwelle,
ich unterstelle, dass Ihre Meldung bedeutet, dass Sie eine
Zwischenfrage stellen wollen.
Dr. Guido Westerwelle (FDP): Selbstverständlich
möchte ich eine Zwischenfrage stellen, Herr Präsident
Präsident Wolfgang Thierse: Bitte schön.
Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Minister, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass dies bereits am
Montag unverzüglich durch den stellvertretenden Frakti-
onsvorsitzenden und früheren Außenminister, der auch
jetzt hier anwesend ist, erfolgt ist? Ich erkläre hier auch
noch einmal ausdrücklich, dass das, was Herr Kinkel ge-
sagt hat, auch die Meinung der Freien Demokraten ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich schließe
mich voll an!)
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
Dafür bedanke ich mich. Ich denke, das war eine wichtige
Klarstellung, denn in Israel schaut man schon sehr genau
danach, wie geschlossen unsere Haltung in diesem Punkt
ist. Mir geht es hier gar nicht um kleinliche parteipoliti-
sche Aufrechnung. Was wir hier, und zwar alle Fraktio-
nen, in Deutschland bezüglich Israel sagen, tun oder nicht
tun, wird dort aufgrund der tragischen historischen Be-
ziehungen besonders wahrgenommen. Ich erlebe das als
Außenminister. Insofern weiß ich, wie wichtig es ist, dass
wir hier einen partei- und fraktionsübergreifenden Kon-
sens im Deutschen Bundestag haben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der CDU/
CSU Michael Glos [CDU/CSU]: Jawoll, Herr
Schulrat!)
Für mich ist, meine Damen und Herren, neben der Lö-
sung der Regionalkonflikte noch ein anderer Punkt ganz
entscheidend: Die Lösung des Nahostkonflikts wird von
ganz entscheidender Bedeutung für das Gelingen des
Kampfes gegen den Terrorismus sein, nicht aufgrund
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Joseph Fischer
18694
(C)
(D)
(A)
(B)
eines unmittelbaren Zusammenhangs, sondern weil die
Gefühle von Millionen von Menschen in der Region miss-
braucht werden können. Andere Regionalkonflikte, zum
Beispiel in Zentralasien oder auch im südlichen Kauka-
sus, spielen ebenfalls eine Rolle; der Maghreb wird mit-
einzubeziehen sein. Das sind alles Regionen, die nicht in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland, aber zu Eu-
ropa liegen.
Gestatten Sie mir, dass ich hier eine Entwicklung an-
spreche, die ich mit einer gewissen Sorge betrachte. Wir
erleben gegenwärtig die Verschiebung der zentralen Ach-
sen der internationalen Politik. Russland wird sich völlig
neu aufstellen. Das liegt in unserem Interesse. Die ernst-
hafte Öffnung Russlands, die sich, wie Präsident Putin
hier in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, in einer
neuen russischen Politik niederschlägt, liegt im deutschen
und im europäischen Interesse. Wenn wir nicht Acht ge-
ben, könnte das ungewollte Konsequenzen haben. Ich
halte überhaupt nichts davon, hier eine Entwicklung ne-
gativ zu bewerten, die in unserem Interesse liegt und
eigentlich positiv ist. Wenn wir sie allerdings national be-
trachten und in einem rückwärts gewandten Sinne miss-
verstehen, das heißt, wenn wir gewissermaßen diesen
Schönheitswettbewerb der europäischen Nationalstaaten
mitmachen, ohne zu begreifen, wie kurzsichtig ein sol-
cher ist, und die Europäische Union dafür verbal kritisie-
ren oder ihr sogar mit einer gewissen Arroganz entgegen-
treten, weil sie noch nicht so weit ist, wie sie sein müsste,
dann laufen wir Gefahr, einem historischen und strategi-
schen Irrtum zu unterliegen. Wir müssen nämlich sehen,
dass in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der sich die Zen-
tralachsen verschieben, nicht Deutsche, Franzosen oder
Briten eine Rolle spielen werden, sondern nur ein inte-
griertes Europa.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU)
Deswegen wird es von entscheidender Bedeutung sein,
jetzt das europäische Engagement zu stärken. Wir werden
weniger Zeit haben, als viele von Ihnen und ich bisher
dachten, weil sich die Welt jetzt dramatisch verändert.
Das ist ein weiteres Argument dafür, dass Deutschland
nicht abseits stehen darf. Wir sind im europäischen Kon-
zert zu groß und zu wichtig. Es geht hier nicht um Schön-
heitswettbewerbe, sondern es geht neben der Solidarität,
die sehr wichtig ist, auch um Humanität, Menschenrechte
und ein neues Engagement in einer globalen Welt. All das
wird nur eine Zukunft haben, wenn wir den europäischen
Integrationsprozess mit dem ganzen Gewicht unseres
Landes in der Außen- und Sicherheitspolitik und durch
die Schaffung einer europäischen Demokratie voranbrin-
gen. Wenn wir jetzt am nationalen Denken festhielten,
würden wir einen großen Fehler machen.
Meine Damen und Herren, Kampf gegen den Terroris-
mus bedeutet deswegen nicht nur das Eintreten für eine
neue, humanere Weltordnung und ein neues Engagement,
mit dem wir ein Mehr an Leistungen aufzubringen und ein
Mehr an Risiken zu schultern haben, es müssen auch Re-
gionalkonflikte gelöst und interkulturelle Dialoge geführt
werden. Er bedeutet vor allen Dingen auch, dass wir bei
der europäischen Integration vorankommen müssen.
Wenn wir getrennt bleiben, werden die Europäer in der
neuen Weltordnung marginalisiert.
Ich bedanke mich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Roland Claus (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Was erwarten die Menschen in
diesen Tagen von der Politik, also von ihrem Parlament
und ihrer Regierung? Ich denke, sie erwarten, dass sie vor
terroristischer Bedrohung geschützt, somit auch die Täter
vom 11. September bestraft und die von den terroristi-
schen Strukturen ausgehenden Gefahren andauernd und
wirksam überwunden werden.
(Beifall bei der PDS)
Sie erwarten, dass ihr Leben nicht durch Terror und Angst
entwürdigt wird. Das Bekennervideo von Bin Laden ist
nichts anderes als der Versuch, die Würde der Welt, die
Würde aller Kulturen und Religionen mit Mitteln jenseits
jeder Achtung vor dem Leben anzugreifen. Regierung und
Opposition müssen sich diesen Erwartungen gemeinsam
stellen, sie müssen dabei aber nicht zwangsläufig die glei-
chen Antworten geben.
(Beifall bei der PDS)
So hat sich, finde ich, die ja nicht nur die von der PDS
immer wieder vorgetragene Mahnung zur Besonnenheit
im Handeln der Regierenden durchaus widergespiegelt.
Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit und ausdrücklich:
Die am Sonntag begonnenen militärischen Aktionen hal-
ten wir für den falsch Weg.
(Beifall bei der PDS)
Der Kampf gegen den Terrorismus, auch ein langwie-
riger Kampf, ist gewinnbar, ein Krieg nicht. Auch lange
Wege beginnen mit dem ersten Schritt. Entschieden wich-
tig ist darum, in welche Richtung dieser erste Schritt ge-
gangen wird. Bomben auf Afghanistan, die bekanntlich
nicht nur terroristische Strukturen getroffen haben, sind
falsche erste Schritte in die falsche Richtung.
(Beifall bei der PDS)
Diese Kritik an den Militäreinsätzen in Afghanistan be-
deutet für die PDS nicht das Ende der kritischen Solida-
rität mit Amerika, obwohl uns das häufig unterstellt wird.
Günter Grass sagte vorgestern, dass ein wirklicher Freund
auch die Kraft aufbringen müsse, einem Freund in den
Arm zu fallen, wenn er der Überzeugung ist, dass dieser
falsch handelt.
Nach den nun begonnenen Militäreinsätzen haben wir
nicht kurzschlüssig oder antiamerikanisch reagiert, son-
dern wir haben gefragt: Sind diese Mittel geeignet, den
Terror zu bekämpfen? Führen sie zu mehr Sicherheit in
Amerika oder Deutschland? Besteht nicht eher die Ge-
fahr, dass in der Logik des Wahnsinns Gegenschläge
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Joseph Fischer
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infolge des 11. September einkalkuliert sind? Werden die
Terroristen die Bomben auf Afghanistan nicht dazu be-
nutzen, neuen Fanatismus anzuheizen? Natürlich ist eine
kritische Minderheit hier im Parlament in schwieriger
Lage, weil ihr unterstellt wird, sie wolle nichts tun,
während die hinter der Regierung Stehenden für sich öf-
fentlich durchaus in Anspruch nehmen: Wir tun wenigs-
tens etwas! Nur, meine Damen und Herren, wird ihr Tun
dem angestrebten Ziel gerecht? Das glaube ich nicht.
(Beifall bei der PDS)
Diese Bomben schaffen weder mehr Sicherheit in den
USA und in Europa noch wird damit das internationale
Netzwerk des Terrorismus erreicht. Aber ich glaube, dass
es noch nicht zu spät ist, einen anderen Weg einzuschla-
gen. Ein von der UNO legitimierter internationaler Po-
lizeieinsatz gegen die Strukturen des Terrors wäre geeig-
neter. Ein souveränes Agieren der Vereinten Nationen
anstelle der nachträglichen Befassung steht noch aus. Den
Flüchtlingen, die aus Afghanistan kommen, könnte mit
geöffneten Grenzen und einem kombinierten Handeln
von Polizeikräften und Hilfsorganisationen wirksamer
geholfen werden. Das hätten die Flüchtlinge auch bitter
nötig. Denn Hilfsorganisationen kritisieren, dass die Hilfe
mit Nahrungsmitteln nach den Angriffen nicht vermehrt,
sondern verringert wurde. Deutschland sollte seine Ver-
sprechen bei der Flüchtlingshilfe und nicht bei Militär-
operationen einlösen.
(Beifall bei der PDS)
Afghanistan braucht nach 23 Jahren Krieg die Hoff-
nung auf ein vertrauensbildendes Aufbauprogramm. Die
Nordallianz birgt diese Hoffnung nicht. Schließlich muss
die Weltöffentlichkeit über das militärische Vorgehen
tatsächlich informiert werden. Denn Solidarität kann nur
als informierte Solidarität, nicht aber als blindes Ver-
trauen gedeihen.
(Beifall bei der PDS)
Auch wir, meine Damen und Herren, wollen die offene
Gesellschaft sicherer gestalten. Sie sollten der PDS nicht
unterstellen, sie sei zum radikalen Pazifismus übergegan-
gen. Sie wissen wie wir, dass das nicht stimmt. Die PDS
ist keine pazifistische Partei, gleichwohl Pazifistinnen
und Pazifisten und deren grundsätzlicher Widerstand ge-
gen Waffengewalt in den Reihen der PDS geachtet sind.
(Beifall bei der PDS)
Es sind eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde,
also auch in der Politik, als purer Pazifismus einerseits
und uneingeschränkter Bündnisfall andererseits.
(Beifall bei der PDS)
Politik hat die Aufgabe, aufzuklären und nicht in der Ge-
sellschaft zu polarisieren. Wenn die Bundesregierung den
SPD-Generalsekretär in dieser Situation erklären lässt,
dass eine kritische Minderheit im Parlament weniger als
andere informiert wird, sagt das nichts anderes, als dass
sie eine andere Meinung nicht ertragen kann.
(Beifall bei der PDS)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, die Hoff-
nungen der Menschen auf ein Leben ohne Terror und
Angst wollen wir alle nicht enttäuschen. Es ist noch nicht
zu spät, andere als kriegerische Wege zu gehen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der PDS)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Bun-
desminister Rudolf Scharping das Wort.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seitens der
Bundesregierung haben wir hier immer wieder darauf
aufmerksam gemacht, dass im Rahmen einer umfassen-
den Antwort auf die Herausforderung des Terrorismus mi-
litärische Maßnahmen notwendiger und unerlässlicher
Bestandteil sein würden. Seit Sonntag ist das so. Umso
mehr fragen sich die Menschen in Deutschland: Mit wel-
cher Art von Bedrohung haben wir es zu tun? Wie können
wir uns wirksam und gemeinsam dagegen schützen?
In diesem Zusammenhang taucht immer wieder das
Wort Krieg auf. Wir sind nicht im Krieg; jedenfalls
dann nicht, wenn uns mit diesem Wort immer noch die
alten Assoziationen und Vorstellungen vom Krieg zwi-
schen Staaten mit dem Ziel, ein Territorium zu erobern
und zu beherrschen, verbinden. Die Bedrohung richtet
sich nicht gegen ein Territorium. Sie zielt nicht auf die Be-
herrschung. Sie zielt auf etwas ganz anderes. Sie zielt auf
die innere Stabilität, auf den inneren Frieden und auf den
inneren Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft.
Man spürt übrigens, dass die Verwendung des Wortes
Krieg in der bloßen, nackten Übersetzung des Wortes
war zwischen uns und unseren amerikanischen Freun-
den aufgrund anderer historischer Erfahrungen schon zu
Missverständnissen führen kann. Deshalb diese Bemer-
kungen.
Im Übrigen wird deutlich, dass die klassische Tren-
nung zwischen äußerer und innerer Sicherheit ange-
sichts dieser Bedrohungen, angesichts dieser Herausfor-
derungen nicht mehr völlig tauglich ist.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das sagt Frau
Merkel auch!)
Daraus den Schluss zu ziehen, dass über die notwendige
Kooperation aller, die für innere und äußere Sicherheit
verantwortlich sind, in der Vergangenheit praktizierte, für
die Zukunft zu gewährleistende Zusammenarbeit hinaus
eine Änderung der Verfassung oder der Gesetze erforder-
lich ist, ist schlicht falsch.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Denn ohne alle Einzelheiten aufzublättern : Wir haben
in der Vergangenheit genügend Erfahrungen damit ge-
sammelt, dass die Bundeswehr im Innern in der Lage ist,
den für die innere Sicherheit unseres Landes verantwort-
lichen Institutionen dann zu helfen, wenn diese Hilfe er-
forderlich wird. Wir sollten eine Grenze nicht überschrei-
ten, gar nicht den Eindruck entstehen lassen, wir wollten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Roland Claus
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sie überschreiten, dass nämlich niemand anders als die für
die innere Sicherheit unseres Landes verantwortlichen In-
stitutionen darüber entscheiden, ob sie der Hilfe bedürfen
oder nicht, ob sie sie anfordern oder nicht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Auf diese Grenze sollten wir unverändert, so wie der Bun-
deskanzler das in seiner Regierungserklärung gesagt hat,
Wert legen.
In diesen Zusammenhang gehört auch ein anderer, wie
ich finde, falscher Widerspruch,
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Gibt es nicht!)
nämlich der irreführende Widerspruch, ein Element der
Antwort für die gesamte Antwort zu halten, so wie Herr
Claus das eben wieder getan hat. Umfassend lässt sich Si-
cherheit nur gewährleisten, wenn die wirtschaftlichen, die
ökologischen, die kulturellen, die sozialen, die huma-
nitären Dimensionen der Sicherheit mit betrachtet wer-
den. Das wird mit Blick auf diese Region überdeutlich.
Wir wissen doch alle, dass zum Beispiel die weltwirt-
schaftliche Stabilität und die weltwirtschaftliche Sicher-
heit von dieser Region sehr stark beeinflusst werden
können, von jener Region, in der 70 Prozent der Erdölre-
serven des Globus und 40 Prozent der Erdgasreserven des
Globus liegen.
(Zuruf von der PDS: Jetzt sind wir beim
Thema!)
Wir wissen, dass in dieser Region nicht nur beachtliche
natürliche Ressourcen sind, sondern, wie mir das ein in-
discher Gesprächspartner sagte, ein unverändert risikorei-
cher, wahrscheinlich der gefährlichste Mix von Risiken,
den man auf der ganzen Erde finden kann: Fanatismus,
Hass, der Besitz von Massenvernichtungswaffen, der Ver-
such, solche zu erwerben, und zwar jeder Art von Mas-
senvernichtungswaffen, bis hin zu dem Versuch, sie ent-
weder terroristisch oder als Bedrohung der Integrität von
Staaten und ihrer Territorien einzusetzen. Wir wissen
der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen ,
dass der Nahostkonflikt, gelingt seine Lösung nicht, zur
Antriebskraft dafür werden könnte, dass die in den arabi-
schen Gesellschaften relativ isolierten terroristischen
Gruppierungen genau jenen Katalysator, jenes Ferment
gewinnen könnten, aus dem dann mehr entstehen wird als
eine terroristische Bedrohung. Es darf also das will ich
mit diesen Bemerkungen deutlich machen keine Domi-
nanz des Militärischen in einer politischen Strategie ge-
ben. Es darf aber auch keine Vernachlässigung des Mi-
litärischen in einer politischen Strategie geben.
Wir werden uns also der Frage zuwenden müssen, dass
die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf nicht
nur reflektiert, was im strategischen Konzept der NATO
über politischen Terror und seine Herausforderungen
steht, was wir uns gemeinsam an Fähigkeiten vorgenom-
men haben. Man wird angesichts dessen, was man verall-
gemeinernd Kontinuum an Fähigkeiten nennt, von der
Landes- und Bündnisverteidigung über die Krisenpräven-
tion und Krisenreaktion bis hin zur Bekämpfung terroris-
tischer Bedrohungen, auch überlegen müssen, diese
Fähigkeiten schneller und zum Teil sogar neu zu erwer-
ben. Dem dient das Paket der Bundesregierung zur Ver-
besserung der inneren und äußeren Sicherheit. Ich füge
hinzu: Man wird diese Fähigkeiten in angemessener Zeit
und vollständig nur erwerben können, wenn über dieses
Paket hinaus alle Schritte im Zusammenhang mit der ver-
einbarten Erneuerung der Bundeswehr gegangen werden.
Die Soldaten leisten für die Sicherheit unseres Landes das
Beste. Sie haben auch das Beste verdient.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Einen besse-
ren Minister vor allen Dingen!)
Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nie ganz frei sind
von dem, was Sie jetzt wieder dokumentiert haben. Das
ist mir im Moment aber ein bisschen zu klein.
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist die
Wahrheit!)
Ich will Ihnen nur eins sagen: In diesem Zusammen-
hang sollten wir nicht gering schätzen, aber auch nicht
überbewerten, was zwischen 1993 in Somalia und heute
tatsächlich geschehen ist. Es wurden nämlich nicht nur
schrittweise die praktischen Konsequenzen aus einer
grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Situation
gezogen, sondern es wurde auch die Erkenntnis gewon-
nen mit ihren praktischen Konsequenzen , dass diese
Veränderung der sicherheitspolitischen Lage in Europa
die Welt nicht unbedingt sicherer gemacht hat. Wir dürfen
nicht nur die Vorteile beanspruchen, sondern müssen für
die dauerhafte Gewährleistung der Sicherheit auch die
notwendige Verantwortung übernehmen. Wir dürfen nicht
nur die Rechte beanspruchen, sondern müssen auch die
Verpflichtungen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Ko-
sovo, Mazedonien und anderes sind die Stichworte dafür.
Damit bin ich bei meinem letzten Hinweis. Wir ma-
chen die Erfahrung, dass das alte Muster des zwi-
schenstaatlichen Krieges immer weiter in den Hinter-
grund tritt, jedenfalls im euroatlantischen Raum und
hoffentlich zunehmend auch auf der gesamten gemeinsa-
men Erde. Wenn Terrorismus wie jener glasklar bewie-
sene von Osama Bin Laden und al-Qaida von Staaten
beheimatet, unterstützt und geduldet wird oder gar Staa-
ten in den Händen von Terroristen sind, dann ist das Ver-
wenden des Militärischen gegen den Terrorismus und ge-
gen die Staaten, die Terroristen Unterstützung oder Hafen
bieten, nicht etwa der klassische Krieg, sondern im Kern
eigentlich eine Polizeiaktion mit den Mitteln des Mi-
litärischen.
(Beifall bei der SPD)
Vor diesem Hintergrund zeigt sich, warum im Rahmen
der gemeinsamen Antwort auf die Herausforderung des
internationalen Terrorismus die Bundesregierung unein-
geschränkt unterstützt, was zurzeit von den USA und
Großbritannien getan wird. Darüber hinaus hat die
Bundesregierung in den Vereinten Nationen, in der NATO
und im bilateralen Verkehr deutlich gemacht, dass sie sich
weder duckt noch drängelt. Die fundamentale Verände-
rung bei der Entwicklung des Völkerrechts ist vermutlich
noch gar nicht so gut erfasst, wie wir alle sie in Zukunft
werden erfassen müssen; denn dass der Weltsicherheitsrat
zum ersten Mal gesagt hat, internationaler Terrorismus sei
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
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eine Bedrohung des Weltfriedens und der weltweiten Sta-
bilität, dass er die Staaten mit sehr konkreten Hinweisen
aufgefordert hat, etwas zu tun, und dass er im Übrigen
eine Frist gesetzt und diese Frist zu überwachen sich
entschlossen hat, ist eine weit reichende Veränderung.
Diese Veränderung bietet eine sehr starke Legitimation
für das jetzt gewählte Vorgehen das ist im Weltsi-
cherheitsrat ausdrücklich so beschlossen worden. Mit den
praktischen Konsequenzen dieser Veränderung müssen
wir uns bei der Verbesserung der inneren wie der äußeren
Sicherheit unseres Landes sehr konkret beschäftigen und
müssen entsprechende Entscheidungen treffen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS. Wer stimmt für
den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/7079?
Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Vereinsgesetzes
Drucksache 14/7026
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsände-
rungsgesetzes § 129 b StGB (... StrÄndG)
Drucksache 14/7025
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Ände-
rung der Strafprozessordnung
Drucksache 14/7008
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung von Straftaten der organisierten
Kriminalität und des Terrorismus
Drucksache 14/6834
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Kron-
zeugenregelungen im Strafrecht (KrZErgG)
Drucksache 14/5938
Überweisungsvorschläge:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Straf-
prozessordnung (§ 110 Abs. 1, § 111 f Abs. 3,
§ 163 a Abs. 6 StPO)
Drucksache 14/6079
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminis-
terin Herta Däubler-Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus-
tiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
schrecklichen Anschläge in New York und Washington
vor einem Monat stellen uns vor ganz neue Herausforde-
rungen und in eine neue Verantwortung. Es ist dabei völ-
lig klar, dass unser Mitleiden mit den ermordeten Men-
schen und mit ihren Angehörigen fortbesteht. Es wurden
so viele Lebenspläne zerstört und so viel Leiden verur-
sacht. Auch unser Entsetzen über den Hass und über das
Ausmaß der Zerstörungswut bleibt natürlich weiter beste-
hen.
Neben unserem Mitgefühl und neben der Solidarität
mit den USA müssen gerade wir hier uns der Verantwor-
tung stellen, im Lichte dessen, was wir heute über die Tä-
ter und über die Unterstützer wissen, diesen Terrorismus
zu bekämpfen, die Täter, die Schuldigen und die Unter-
stützer zur Rechenschaft zu ziehen und unsere Bevölke-
rung dort zu schützen, wo wir das können und wo das er-
forderlich ist. Das tun wir.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, aber auch der
Landesregierungen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbe-
reichen und auch die Aufgabe des Deutschen Bundesta-
ges. Deshalb sprechen wir heute im Rahmen des ersten
Sicherheitspaketes, das die Bundesregierung vorgelegt
hat, auch über Vorschläge für Gesetzesänderungen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
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Sie werden festgestellt haben, dass sich nur relativ
knappe Gesetzesänderungen unter den Vorschlägen der
Bundesregierung befinden. Das ist beabsichtigt. Dennoch
sind diese Änderungen wichtig. Dabei handelt es sich um
die Einführung des neuen § 129 b des Strafgesetzbuches
und um eine Nachfolgeregelung für § 12 des Gesetzes
über Fernmeldeanlagen im Rahmen der Strafprozessord-
nung. Ergänzt werden wird das Paket um das, was in der
Öffentlichkeit als Kronzeugenregelung bezeichnet
wird. Wir werden Ende des Monats gemeinsam eine neue
Regelung vorlegen, die unter bestimmten Voraussetzun-
gen Strafmilderung für Täter beinhaltet, denen selbst
schwerste Verbrechen zur Last gelegt werden, die aber zur
Aufklärung oder Verhinderung schwerer Straftaten we-
sentlich beigetragen haben.
Lassen Sie mich zu allen drei Punkten ganz kurz etwas
sagen. Der Vorschlag der Bundesregierung, den neuen
§ 129 b in das Strafgesetzbuch einzuführen, macht es
möglich, die Mitglieder und Unterstützer terroristischer
Vereinigungen, die ihre Verbrechen in anderen Staaten be-
gehen, in die Strafbarkeit in Deutschland einzubeziehen.
Das ist richtig und wichtig. Die schrecklichen Anschläge
in New York und Washington vor einem Monat haben je-
dem gezeigt das wurde durch die Videoaufnahmen von
Erklärungen aus den Reihen von al-Qaida bestätigt , dass
sich dieser Terrorismus gegen alle offenen Gesellschaften
und nicht nur gegen die der Vereinigten Staaten von Ame-
rika richtet.
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje
Vollmer)
Es ist besonders augenfällig, dass die Bekämpfung
speziell dieses Terrorismus nicht in einem Lande allein
durchgeführt oder auf ein Land beschränkt werden kann.
Es handelt sich hierbei vielmehr dies haben auch die Er-
klärung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und
die Erklärungen auf europäischer Ebene sehr deutlich
gemacht um ein Anliegen der gesamten Völkerge-
meinschaft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Max
Stadler [FDP])
Täter und Unterstützer terroristischer Vereinigungen
sollen in jedem Land mit Bestrafung rechnen müssen.
Ruhe- und Rückzugsräume darf es nicht geben. Deshalb
erweitert der Vorschlag der Bundesregierung den straf-
rechtlichen Schutz und wendet das umfangreiche Instru-
mentarium des § 129 StGB einschließlich der flankierenden
verfahrensrechtlichen Vorschriften an. Deshalb überprüfen
wir zurzeit im Zusammenhang damit weitere Folgeände-
rungen.
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt etwas sagen, näm-
lich zur Nachfolgeregelung zu § 12 des Fernmeldeanla-
gengesetzes. Er gestattete es den Strafverfolgungsbehör-
den, von den verpflichteten Diensteanbietern Auskunft
über die zulässigerweise gespeicherten Daten über Te-
lekommunikationsverbindungen zu verlangen. Das ist ge-
nauso kompliziert, wie es klingt. Aber für die notwendige
Arbeit der Strafverfolgungsbehörden handelt es sich da-
bei um ein wichtiges Ermittlungsinstrument beispiels-
weise zur Beschaffung von Beweismitteln, zur Bestim-
mung des Tatorts und der Tatzeit eines Verbrechens oder
zur Klärung des Aufenthaltsortes oder auch zur Abklä-
rung, ob und bezüglich welcher Personen eine Telekom-
munikationsüberwachung erforderlich und unabdingbar
ist. Diese Regelung brauchen wir auch weiterhin.
Wir halten die bloße Verlängerung des § 12 FAG, so
wie er heute besteht, indes nicht für richtig, weil die Vor-
schrift wegen der zunehmenden Digitalisierung des Tele-
kommunikationsverkehrs einfach zu wenig differenziert
ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Genau diese Differenzierung nehmen wir mit dem Vor-
schlag der Bundesregierung vor. Er bringt Verbrechens-
bekämpfung und den notwendigen Datenschutz in die
nötige Balance und berücksichtigt beide Gewichte da, wo
sie berücksichtigt werden müssen.
Außerdem fügt der neue Vorschlag die Regelung in die
rechtsstaatliche Systematik der Strafprozessordnung ein
und ist so insgesamt eine wesentliche Verbesserung ge-
genüber der geltenden Rechtslage.
Sie werden gesehen haben, dass wir auch diese Vor-
schrift bis zum 31. Dezember des Jahres 2004 befris-
ten wollen. Der Grund dafür liegt nicht nur darin das
wird gerade in den Reihen der Kolleginnen und Kollegen
der Opposition immer wieder diskutiert , dass es manch-
mal ganz vernünftig ist, Regelungen zu befristen. Viel-
mehr liegt der Grund darin, dass es wichtig ist, in Zukunft
zu einem in sich stimmigen und harmonischen Gesamt-
system der strafprozessual zulässigen heimlichen Ermitt-
lungsmaßnahmen zu kommen.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das wollten Sie aber
schon dieses Jahr vorlegen!)
Ja, und es war auch schon zu der Zeit, als Sie die Re-
gierung hier verantworteten, Herr Stadler, natürlich erfor-
derlich. Aber die Vorarbeiten sind halt nicht in dem Maße
geleistet worden,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Alles konnten wir
nicht leisten! Wir haben viel geleistet!)
wie wir es jetzt unter dem Aspekt der Sicherheit und der
Freiheit, also der Balance zwischen innerer Sicherheit und
Rechtsstaatlichkeit, brauchen. Deswegen arbeiten wir da-
ran, übrigens mithilfe von zahlreichen Experten und
Sachverständigen. Ich denke, wir werden das auch hier im
Bundestag sehr detailliert diskutieren müssen.
Auch die übrigen Vorschläge zur Änderung der Straf-
prozessordnung, die von verschiedenen Seiten kommen,
sollten wir in aller Ruhe, aber nicht überhastet diskutie-
ren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe den Eindruck, dass eine Menge ältere Überle-
gungen mit vorgetragen werden, die übrigens die Verän-
derungen durch die terroristischen Anschläge von Anfang
September noch nicht berücksichtigen konnten. Diese
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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aber müssen wir analysieren und diskutieren. Ich denke,
auch dazu wird in den kommenden Monaten Zeit sein,
wenn wir das mit einer Gesamtreform des Strafverfah-
rensrechts verbinden.
Lassen Sie mich jetzt noch etwas zu dem dritten Punkt
sagen, der in der Öffentlichkeit unter der nicht immer
ganz richtigen Bezeichnung Kronzeugenregelung be-
kannt ist. Die alte Regelung haben wir auslaufen lassen,
weil sie erheblichen Bedenken tatsächlicher und rechts-
staatlicher Art gegenüberstand. Das ist ja bekannt. Des-
halb halten wir es übrigens auch nicht für richtig, jetzt ein-
fach zu dieser alten Regelung zurückzukehren.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das macht keiner!
Ich auch nicht!)
Wir wollen auch den vorliegenden Entwürfen des Bun-
desrates und der Opposition, denen man gelegentlich an-
sieht, dass sie ganz schnell zusammengeflickt wurden,
nicht näher treten, sehr geehrter Herr Geis.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Zusammengeflickt
worden sind sie nicht!)
Wir werden darüber im Detail noch ausführlich diskutie-
ren können. Man merkt einfach, dass da die eine Vor-
schrift mit der anderen und die eine Intention mit der vor-
hergehenden nicht so ganz zusammenpasst.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich sehe das nicht
so!)
Wir werden Ende dieses Monats einen neuen Entwurf
vorlegen, der den Grundsatz berücksichtigt, dass es sich
hierbei um Straftäter handelt, denen schwerste Verbre-
chen zur Last gelegt werden. Dass deshalb natürlich
das Angebot einer Strafmilderung bestimmter Voraus-
setzungen, Regelungen, Begründungen und Sicherungen,
die gerade unter rechtsstaatlichen Aspekten sehr sorgfäl-
tig abgewogen werden müssen, bedarf, darüber sollte in
diesem Hause kein Zweifel bestehen. Wir werden mit Ih-
nen darüber diskutieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem
anderen Punkt kommen, der viele Menschen beschäftigt.
Wir werden in der Öffentlichkeit häufig gefragt, ob die im
Rahmen des Antiterror- bzw. des Sicherheitspaketes vor-
geschlagenen Gesetze und Maßnahmen nicht zu einer zu
starken Einschränkung des Rechtsstaats, wie es formuliert
worden ist, führen würden. Ich antworte, bezogen auf die
Vorschläge, die wir vorlegen, mit einem eindeutigen
Nein. Wir halten die erforderliche Balance zwischen Si-
cherheit auf der einen und Rechtsstaatlichkeit und Frei-
heit auf der anderen Seite.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dies ist nicht ganz leicht. Ich darf in diesem Zusam-
menhang an die Rede erinnern, die der Bundespräsident
vor wenigen Tagen in Leipzig gehalten hat. Er hat davon
gesprochen, dass die gelungene Verbindung von Freiheit
und Sicherheit nichts Selbstverständliches sei. Er hat
Recht. Gerade in dieser neuen Situation, in der wir uns
jetzt befinden, diese Verbindung herzustellen ist unsere
Aufgabe. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Ich will
Ihnen sehr deutlich sagen: Wir tun das auch.
Dabei halte ich die öffentliche Diskussion und die von
vielen geäußerte Sorge darüber, ob diese Balance auch er-
halten bleibt, für im Prinzip gut.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist ein Kennzeichen einer offenen Gesellschaft, dass
immer wieder sehr sorgfältig darauf geschaut wird, ob
eine Maßnahme bzw. eine Gesetzesänderung geeignet, er-
forderlich und im Sinne unserer freiheitlichen Grundord-
nung verhältnismäßig ist.
Nur, wir haben in unserem Land bereits Erfahrungen
mit der Terrorismusbekämpfung gemacht. Auch da-
mals, als dies aktuell war, gab es diese Diskussionen. Wir
sollten uns nicht nur an die damals geführten Diskussio-
nen erinnern, sondern auch an die Erfahrungen, die wir im
Anschluss an die in diesem Zusammenhang durchgeführ-
ten Gesetzesänderungen gemacht haben. Die sind näm-
lich außerordentlich positiv. Wir haben den Terrorismus
besiegen können, ohne den Rechtsstaat oder die Freiheit
zu beschädigen und ohne die Balance zwischen Sicherheit
und Freiheit in unserer Gesellschaft aus dem Gleichge-
wicht zu bringen.
(Beifall bei der SPD)
Das gibt mir die Zuversicht, dass wir dann, wenn wir die
derzeit anstehenden Maßnahmen sorgfältig erwägen,
diese Balance auch dieses Mal erhalten können.
Allerdings muss man immer wieder auf die Klarheit
der Ziele hinweisen. Ich füge hinzu: Durch das ständige
Wiederholen von Befürchtungen erreicht man diese Aus-
gewogenheit von Sicherheit und Freiheit noch nicht.
(Jörg van Essen [FDP]: Das ist sehr richtig!)
Das Ziel ist klar: Wir wollen eine offene Gesellschaft auf
der Grundlage unserer Verfassung. Denn wir leben gerne
in einer solchen Gesellschaft. Genau diese offene Gesell-
schaft greifen Terroristen an. Klarheit muss auch dahin
gehend bestehen, dass wir den Terrorismus bekämpfen,
Unterstützer zur Rechenschaft ziehen und keine Ru-
heräume zulassen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe erwähnt, dass das eine Aufgabe ist, deren Be-
wältigung wirklich schwierig wird, und dass dies nicht
nur in einem Land vollbracht werden kann. Das ist der
Grund dafür, warum wir uns so außerordentlich stark im
Bereich der Europäischen Union und im Bereich des Eu-
roparates engagieren.
Im Bereich der Europäischen Union arbeiten wir mit
Nachdruck an einer gemeinsamen Grundlage zur straf-
rechtlichen Bekämpfung des Terrorismus. Das fängt bei
einer Definition des Terrorismusbegriffes an und geht
dann bis zu einem europäischen Haftbefehl weiter, den
der Bundeskanzler schon angesprochen hat und den wir
benötigen. In diesem Zusammenhang werden auch die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Institutionen Europol und Eurojust, die wir befürworten,
genutzt. Auch hier besteht übrigens diese Balance zwi-
schen innerer Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und
der Bekämpfung von Straftaten und des Terrorismus, und
zwar auf der Basis dessen, was die Europäische Grund-
rechte-Charta für den Raum der Europäischen Union vor-
sieht.
Im Bereich des Europarates ist ein gemeinsames Vor-
gehen nicht ganz so leicht. Aber wir gehen mit Nachdruck
in diese Richtung, auch wenn hier noch viel zu tun bleibt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Dinge erwäh-
nen. Das eine ist die Abscheu vor und die Ablehnung von
irgendwelchen Trittbrettfahrern und Nachahmertaten, mit
denen die Öffentlichkeit derzeit immer stärker verun-
sichert wird. Dass das schwerste Straftaten sind, die wir
ablehnen, ist völlig klar. Aber in diesem Zusammenhang
richte ich auch an die Medien die Bitte, sich zu überlegen,
wie sie mit solchen Erscheinungen umgehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Auch hier muss man Besonnenheit und Entschlossenheit
miteinander verbinden.
Der zweite Punkt ist der Dank, den ich denen abstatten
möchte, die heute nicht nur bei uns vor der Türe stehen,
sondern in den letzten Tagen und Wochen verstärkt für die
Sicherheit aller sorgen: Das sind die Polizeibeamten und
natürlich auch die Beamten der Staatsanwaltschaften, die
über ihre Dienstzeit hinaus eine Menge tun. Ich glaube,
sie verdienen nicht nur unseren Dank, sondern auch den
Dank der Öffentlichkeit. Herzlichen Dank!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der FDP und der PDS)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bosbach.
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Diese Debatte findet zu einem
entscheidenden Zeitpunkt statt. Denn wir befinden uns
mitten in der Phase drei des folgenden Ablaufs, den wir in
den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon oft wie
wir meinen, zu oft hatten:
Erste Phase: Es geschieht ein fürchterliches Verbre-
chen. Die Menschen sind entsetzt. Die Folgen sind Trauer,
Wut, Empörung. Wir alle sind uns einig, dass sich eine
solche Katastrophe nicht wiederholen darf.
Es folgt dann die Phase zwei: Die Politik wird aufge-
fordert, nun endlich die notwendigen Konsequenzen zu
ziehen; so jedenfalls gehe es nicht mehr weiter.
Sobald die ersten Vorschläge erarbeitet und konkrete
Maßnahmen ergriffen werden, beginnt dann die Phase
drei: In düsteren Farben wird das Bild eines Furcht er-
regenden Polizei- und Überwachungsstaates an die Wand
gemalt. Angeblich sind die Bürgerrechte in akuter Gefahr.
Der Staat dürfe jetzt nicht überreagieren; die Gesetze wür-
den ausreichen, man müsse sie nur anwenden.
Zum Schluss kommt dann die Phase vier: Alles bleibt
beim Alten, und zwar genauso lange, bis wiederum ein
fürchterliches Verbrechen geschieht. Dann beginnt alles
wieder von vorne.
Diesen Teufelskreis müssen wir diesmal durchbrechen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
An starken Worten hat es seit dem 11. September nicht
gefehlt, im Gegenteil. Entscheidend sind jetzt starke Ta-
ten. Wenn wir in dieser schwierigen Situation nicht un-
verzüglich die Maßnahmen ergreifen würden, die not-
wendig und zum Teil längst überfällig sind, um die Bürger
wirksamer vor dem Terrorismus und anderen Formen der
Kriminalität zu schützen, würden wir unverantwortlich
handeln. Seit dem 11. September ist genau ein Monat ver-
gangen. Es ist jetzt nicht nur unsere Aufgabe, sondern es
ist unsere Pflicht, das im wahrsten Sinne des Wortes Not-
wendige zu tun.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat lange vor dem
11. September einen Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Bekämpfung von Straftaten der organisierten Krimi-
nalität und des Terrorismus vorgelegt
(Zuruf von SPD: Abgeschrieben habt ihr den!)
und darüber hinaus vor wenigen Tagen ein Konzept für
mehr innere und äußere Sicherheit. Wenn Sie sagen, er sei
abgeschrieben, dann können Sie ihm ja zustimmen, dann
gibt es keinen einzigen Grund, diesen Gesetzentwurf ab-
zulehnen.
(Beifall bei der CDU/CSU Alfred Hartenbach
[SPD]: Wer sich mit fremden Federn schmückt!)
Es gibt kein Patentrezept für einen allumfassenden
Schutz vor Anschlägen oder anderen Formen der Krimi-
nalität. Daher muss eine Fülle von einzelnen Maßnahmen
ergriffen werden. Das Entscheidende aber ist, dass jetzt
Schluss gemacht werden muss mit der Diffamierung der-
jenigen, die für mehr äußere und innere Sicherheit plä-
dieren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
CDU und CSU wollen keinen allmächtigen Staat, kei-
nen Überwachungsstaat, aber einen starken Staat, der
seine Bürger wirksam vor Verbrechen zu schützen weiß.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze. Ohne aus-
reichende Sicherheit gibt es keine wirkliche Freiheit.
Mehr noch: Weniger Sicherheit bedeutet niemals mehr
Freiheit, sondern mehr Schutzlosigkeit gegenüber Verbre-
chen aller Art. Vor allem die Grünen werden sich ent-
scheiden müssen, ob sie bei ihren traditionellen poli-
tischen Positionen bleiben
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir sind entschieden!)
oder ob sie spät, aber immerhin, einsehen, dass ihre Hal-
tung in vielen Fragen der Sicherheitspolitik unverant-
wortlich ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Eigentlich müssten mittlerweile wir alle wissen, dass
wir von unseren Diensten mehr sicherheitsrelevante In-
formationen benötigen und nicht etwa weniger.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die richtigen!)
Im Programm der Grünen noch für die letzte Bundes-
tagswahl heißt es wörtlich:
Geheimdienste haben fast alle Aufgaben verloren.
Zwecks Arbeitsbeschaffung werden krampfhaft neue
Betätigungsfelder gesucht, zum Beispiel Scientolo-
gy ... Die Geheimdienste sind schrittweise aufzu-
lösen.
Wo stünden wir eigentlich in Deutschland heute, wenn
sich die Grünen in diesem Punkt bei den Koalitionsver-
handlungen durchgesetzt hätten?
Deswegen die Frage an die Grünen mit der Bitte um
eine klare Antwort: Ist das nach wie vor Ihre Auffassung,
was ich aus Ihrem Programm für die Bundestagswahl zi-
tiert habe, oder sind Sie mittlerweile auf dem Weg der
Besserung?
(Beifall bei der CDU/CSU)
Anderes Beispiel: Der Innenminister will zukünftig in
den Personalausweis oder Reisepass zum Bild des Inha-
bers einen Fingerabdruck aufnehmen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Es sollen keine neuen personenbezogenen Daten darüber
hinaus gespeichert werden. Der Kollege Özdemir lässt
sich in der Welt von gestern wie folgt ein:
Es blüht die Gefahr, dass man aus dem Fingerab-
druck auch noch andere Daten ablesen kann.
(Lachen bei der CDU/CSU Friedrich Merz
[CDU/CSU]: Den Kontostand! Jörg van
Essen [FDP]: Man muss schon grüner Politiker
sein, um so etwas zu äußern!)
Dabei geht es allein um die Erhöhung der Fälschungssi-
cherheit. Herr Kollege Özdemir, hier blüht in der Tat ei-
niges, und zwar blüht hier Unsinn. Wenn es so wäre, dass
man aus einem in Folie eingeschweißten Fingerabdruck
andere sensible personenbezogene Daten ablesen könnte,
dann müsste man konsequenterweise jeden Fingerab-
druck verbieten.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das sind doch
Straftäter! Sie reden Unsinn!)
Dann müsste man im Übrigen auch nach jeder Trunken-
heitsfahrt die Abnahme einer Blutprobe verbieten; denn
aus einer Blutprobe könnten Sie auch mehr Informationen
herausfiltern als nur die Blutalkoholkonzentration. Das ist
blühender Unsinn!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Alfred Hartenbach [SPD]: Wollen Sie jetzt die
Blutprobe abschaffen? Volker Beck [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die
Blutprobe in den Pass einschweißen oder wie
soll ich das verstehen?)
Die innere Unsicherheit der Koalition über das, was
jetzt zu tun ist, darf nicht die innere Sicherheit des Landes
gefährden.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Auch Teile der SPD ich sage ausdrücklich: Teile der
SPD müssen sich fragen lassen, ob sie noch auf der
Höhe der Zeit sind. Im gleichen Moment, in dem diese
Bundesregierung einen neuen § 129 b StGB kreiert, um
auch die Unterstützung ausländischer Terrorgruppen im
Inland strafrechtlich verfolgen zu können, startet der rot-
grüne Übergangssenat in Berlin eine Gegeninitiative
mit dem Ziel, die Werbung für eine terroristische Vereini-
gung zukünftig straffrei zu stellen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wissen das die
Berliner Wähler schon?)
Gibt es hier im Hause tatsächlich irgendjemanden, der
ernsthaft glaubt, man könne den Terrorismus dadurch
wirksamer bekämpfen, dass man Werbung für terroristi-
sche Gruppen zukünftig nicht mehr strafrechtlich ver-
folgt?
Wenn einzelne Politiker solche Thesen vertreten, ist es
schlimm. Wenn Regierungen solche Thesen vertreten,
dann müssen sie abgewählt werden!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zum Thema Einsatz der Bundeswehr im Innern.
Schon diese Formulierung löst ja bei einigen Empörung
aus. Aufgabe der Bundeswehr sei die Landes- und die
Bündnisverteidigung und dabei müsse es bleiben. Das ist
richtig und falsch. Natürlich hat die Bundeswehr die Auf-
gabe der Landes- und der Bündnisverteidigung. Deswe-
gen müssen wir sie personell und technisch so ausstatten,
dass sie bündnisfähig wird und auf Dauer bleibt. Aber
schon nach jetzt geltender Rechtslage kann sie im Inland
eingesetzt werden, ohne dass dies bislang für Aufregung
gesorgt hätte: nach Art. 35 GG im Wege der Amtshilfe,
zum Beispiel bei der Bewältigung von Naturkatastrophen,
und nach Art. 87 a GG im Spannungs- und im Verteidi-
gungsfall sowie beim inneren Notstand.
Richtig ist auch: Wenn es Defizite im Bereich der Si-
cherheit gibt, dann müssen wir die Dienste, Polizeien und
Strafverfolgungsbehörden so ausstatten, dass sie ihre Auf-
gaben wahrnehmen können. Die Bundeswehr kann nicht
eine Art zweiter Bereitschaftspolizei sein, zumal sie ja
nicht nur andere Aufgaben, sondern auch eine andere Aus-
rüstung hat und die Soldaten eine andere Ausbildung als
unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten haben.
Aber es gibt zwei Fragen, die wir ernsthaft prüfen und
rasch beantworten müssen:
Erstens. Ist es richtig, dass die Bundeswehr außerhalb
des Verteidigungs- und des Spannungsfalles nicht zum
Schutz ziviler Objekte, zum Beispiel lebenswichtiger In-
frastruktureinrichtungen, eingesetzt werden kann, auch
wenn wir eine ganz konkrete Gefährdungslage haben und
die Polizeien und der Grenzschutz nicht mehr in der Lage
sind, die notwendigen Aufgaben zu erledigen, weil sie
schon jetzt an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt sind?
Wollen wir auf den Schutz, den die Bundeswehr in diesen
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Wolfgang Bosbach
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Situationen bieten kann, verzichten? Die Bundeswehr
kann und soll Polizei und Bundesgrenzschutz nicht erset-
zen. Es geht ausdrücklich und ausschließlich um deren
Unterstützung in einer besonderen Gefährdungslage, wie
wir sie ganz unzweifelhaft heute haben.
Zweitens. Müssen wir die Bundeswehr nicht dann ein-
setzen dürfen, wenn nur sie über diejenigen Fähigkeiten
verfügt, die notwendig sind, um eine ganz konkrete Ge-
fahr abzuwehren? Eigentlich müsste bekannt sein, dass in
bestimmten Situationen, zum Beispiel bei inländischen
Angriffen aus der Luft, nur die Bundeswehr über diejeni-
gen Fähigkeiten verfügt, die benötigt werden, um die Ge-
fahr abwehren zu können. Es soll niemand glauben, dass
solch fürchterliche Anschläge, wie wir sie vor einem Mo-
nat in den USA erlebt haben, ausgerechnet in unserem
Land nicht stattfinden könnten. Eine solche Annahme
wäre irreal.
Ich empfehle jedem, das 12. Kapitel in Georg Lebers
Buch Vom Frieden zu lesen. 11. September 1972:
Schlussfeier der Olympischen Spiele in München. Wenige
Tage zuvor hatte es das fürchterliche Massaker auf dem
Flugplatz von Fürstenfeldbruck gegeben. Leber beschreibt
eindrucksvoll die Lage, als ihn die Nachricht ereilte, dass
ein gestohlenes Flugzeug Kurs auf das Olympiastadion ge-
nommen habe, um dort Bomben abzuwerfen. Von der Po-
lizei in München sei er gebeten worden, die Luftwaffe zur
Abwehr eines solchen Vorhabens einzusetzen. In dem
Buch von Georg Leber heißt es wörtlich:
Der Vorgang war ungewöhnlich und gleichzeitig
schaffte er einen zeitlichen Zwang, der langes Nach-
denken ausschloss. Dass jede Entscheidung, die zu
treffen war, eine Fülle staatsrechtlicher und politi-
scher Probleme in sich barg, war mir sofort klar ...
Als feststand, dass das Flugzeug den angegebenen
Kurs in Richtung München fortsetzte, gab ich den
Befehl zum Start einer Alarmrotte mit scharfen Waf-
fen und weitere Befehle abzuwarten ... Kurz vor dem
Punkt, an dem ich nach meiner Einschätzung nicht
mehr warten durfte, wenn der Waffeneinsatz nicht in
der Nähe des Olympiastadions erfolgen sollte, kam
die Meldung, das unbekannte Flugzeug habe sich
verirrt und bitte um die Erlaubnis zur Landung in
München-Riem. Höchstens zwei Minuten später
hätte dieser Vorgang, der sich jetzt wie eine Episode
anhört, einen anderen Verlauf genommen ... Seit die-
sem Tag sind Jahre vergangen. Vor dem Vorfall blieb
vieles im Dunkeln. Es wäre aber gut, wenn er einmal
juristisch und politisch aufgearbeitet würde. Nie-
mand kann ausschließen, dass es sich in ähnlicher
Form wieder einmal ereignet. Wieder wäre derje-
nige, der dann ohne sich in der Kürze der Zeit mit
Krisenstäben beraten zu können zu entscheiden
hätte, neben der Last der direkten Verantwortung in
der Sache auch noch mit einer außerordentlich kom-
plizierten Rechtslage konfrontiert.
Seit diesem Vorfall sind 29 Jahre vergangen, seit dem
Erscheinen des Buches 20 Jahre. Die Kritiker unserer Vor-
schläge sollten sich einmal gut überlegen, ob sie ange-
sichts unserer Erfahrungen bei ihrer Kritik bleiben.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Es könnte nämlich
sein, dass diesmal ein Gesinnungswandel zu spät wäre.
Danke fürs Zuhören.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geschätzter
Kollege Bosbach, wir befinden uns eben nicht in der eben
von Ihnen beschriebenen Phase 3. Die Phase 3 gibt es bei
dieser Bundesregierung nicht, sondern wir sind gerade da-
bei, den ersten Teil der notwendigen Maßnahmen zu er-
greifen. Deshalb stimmt es nicht, dass sich hinterher
nichts geändert haben wird.
Die rot-grüne Koalition hat zügig eine Reihe von Maß-
nahmen auf den Weg gebracht, um der neuen Dimension
des internationalen Terrorismus auch in Deutschland ge-
recht zu werden. Rot-Grün stellt damit unter Beweis: Wir
sind im Kampf gegen diese in ihrem Ausmaß und in ihrer
Brutalität völlig neue Form des Terrorismus nicht hilflos.
Wir sind entschlossen, als Teil der internationalen Staa-
tengemeinschaft gemeinsam mit den USA die Verant-
wortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Mit dem so genannten Sicherheitspaket 1, das wir
heute beraten, knüpfen wir die Verbindung zwischen der
notwendigen Effektivität bei der Kriminalitätsbe-
kämpfung einerseits sowie der strengen Beachtung rechts-
staatlicher Prinzipien andererseits, beispielsweise des Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Denn eines ist klar: Wir lassen uns von den Terroristen
nicht dazu verleiten, Freiheits- und Bürgerrechte in unse-
rem Land abzubauen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun. Die Freiheit
zu sichern und zu verteidigen ist die Aufgabe des Rechts-
staates in unserer Demokratie. Deshalb werden sich sämt-
liche Maßnahmen, die diese Regierung bereits auf den
Weg gebracht hat und in absehbarer Zeit noch auf den
Weg bringen wird, an folgenden Kriterien orientieren: Sie
müssen geeignet, erforderlich, zielgerichtet, verhält-
nismäßig, effektiv und zugleich praktikabel sein, um das
Ziel der Terrorismusbekämpfung zu erreichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Es wird in Zukunft möglich sein, extremistische Grup-
pen, die sich bisher im Schein der bei uns zu Recht ver-
bürgten Religionsfreiheit gesonnt haben, nach den Vor-
schriften des Vereinsgesetzes zu verbieten. Wir begrüßen
es sehr, dass uns zahlreiche muslimische Organisationen
hierfür ihre Zustimmung erklärt haben. Die ganz über-
wiegende Anzahl der bei uns lebenden Muslime weiß:
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Wolfgang Bosbach
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Unsere Maßnahmen richten sich nicht gegen sie und nicht
gegen den Islam, sondern gegen diejenigen, die Religion
instrumentalisieren, um Terror, Gewalt und Schrecken zu
säen. Für solche Gruppen gilt künftig das Privileg der Re-
ligionsfreiheit zu Recht nicht mehr.
Herr Bosbach, Sie haben vorhin die Frage der Ge-
heimdienste angesprochen. Unsere Fraktion und unsere
Partei spricht sich dafür aus, nicht eine Abschaf-
fungsdebatte, sondern eine Qualitätsdebatte über die Ar-
beit der Geheimdienste zu führen. Ich meine, eine solche
Debatte ist trotz aller Erfolge, die die Geheimdienste in
den letzten Wochen seit dem 11. September haben
durchaus angebracht, denn wir müssen uns fragen:
Warum haben wir so spät von dem Anschwellen rechts-
extremistischer Gewalt in den letzten Jahren Warnungen
erhalten, warum gab es keine Hinweise auf die Anschläge
vom 11. September? Wenn Sie mit Geheimdienstleuten
sprechen ich habe das in den letzen Wochen getan; ein
Grüner tut dies vielleicht nicht jeden Tag , dann können
Sie erkennen, dass es in bestimmten Bereichen der Ge-
heimdienste personelle und strukturelle Versäumnisse
gibt, die man aufarbeiten muss.
(Albert Deß [CDU/CSU]: Sie hätten ja die
Geheimdienste ganz abgeschafft!)
Allein die Forderung nach mehr Geld bringt kein Mehr an
Qualität. Wir müssen vielmehr genau hinsehen und das
werden wir auch tun.
Ein weiterer Punkt: In der Gesellschaft gibt es eine De-
batte über die Kronzeugenregelung. Sie wollen mit Ihren
Initiativen im Prinzip zurück zur alten Kronzeugenrege-
lung.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben unsere
Vorschläge ja nicht gelesen! Genau das schla-
gen wir nicht vor!)
Sie wollen den schmutzigen Deal des Staates mit
Schwerverbrechern einführen. Dazu sagen wir als Koali-
tion ganz klar Nein.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Schmutziger Deal? Norbert Geis
[CDU/CSU]: Sie sind die Saubermänner!)
Die alte Kronzeugenregelung hat schon bei der
Bekämpfung des deutschen Linksterrorismus nichts be-
wirkt. Nicht in einem einzigen Fall ist es gelungen, einen
aktiven Terroristen aus dem terroristischen Zusammen-
hang mit den Verlockungen der Kronzeugenregelung her-
auszubrechen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum wollen Sie
dann jetzt die Kronzeugenregelung? Das ist
doch inkonsequent!)
Wir sollten der Öffentlichkeit nicht sagen, dass so
etwas bei islamisch verblendeten, zum Selbstmord ent-
schlossenen Kamikaze-Terroristen gelingen könnte.
Gleichwohl sagen wir: Eine rechtsstaatlich vernünftige
und vertretbare Regelung, die kein Sondergesetz schafft,
sondern eine neue Strafzumessungsregel für Aufklärungs-
und Präventionsgehilfen vorsieht, ist sinnvoll. Darüber
werden wir in der Koalition reden und über dieses Thema
führen wir bereits Fachgespräche. Ich bin sicher, dass wir
auch unter Zuhilfenahme des Rats der Fachleute bei der
Anhörung im Rechtsausschuss, die wir gestern be-
schlossen haben zu einem vernünftigen Gesetz kommen
werden.
Ihre Aufregung zeigt: Die Kompetenz und Entschie-
denheit dieser Koalition auf dem Feld der inneren
Sicherheit steht außer Frage. Der Stern schreibt, das
Thema Sicherheit werde von der Regierung so gut abge-
deckt, dass die Gegner von der Union keinen Ball sehen,
obwohl es eigentlich ein Heimspiel für sie sein müsste.
Der Stern hat Recht, sehr verehrte Damen und Herren
von der Union. Soweit sie nicht unsere Vorschläge be-
grüßen, sind die Rezepte, die Sie selber vorlegen, gänz-
lich unbrauchbar und purer Aktionismus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihre Parteivorsitzende Angela Merkel stolpert derzeit
nur so durch die innenpolitische Landschaft. Mit Vor-
schlägen nach einem Bundessicherheitshauptamt oder
Polizeibefugnissen für die Bundeswehr macht sie sich
von Woche zu Woche lächerlicher. Es ist nur zu leicht zu
durchschauen, wozu der Prüfauftrag in Sachen vermehr-
ter Einsatz der Bundeswehr im Inland und Grundge-
setzänderung, den Ihre Gremien vorsichtig erteilt haben,
dienen soll: Sie wollen Ihre taumelnde Parteivorsitzende
stützen, obwohl Herr Stoiber längst das Ruder übernom-
men hat.
(Lachen bei der CDU/CSU Dr. Wolfgang
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: So etwas
Blödes!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, sollte
Ihnen jemals Kompetenz in Sachen innere Sicherheit zu-
geschrieben worden sein: In den letzten Tagen und Wo-
chen haben Sie die endgültig verspielt.
Mittlerweile hat man bei der Union längst den
Überblick verloren, welches Sicherheitspapier gerade ak-
tuell ist; denn wöchentlich gibt es ein neues. Im Paper, das
Herr Bosbach Ende September vorgelegt hat, steht kein
einziges Wort zur internationalen Dimension des Terrors.
In der letzten Woche haben Sie einige diesbezügliche Vor-
schläge von der Koalition übernommen. Das ist auch gut
so. Selbstverständlich sind auch wir für den Ausbau von
Europol und Eurojust. Wir wollen den Ausbau zwar aus-
drücklich. Aber wir wollen auch, dass die Fundamente
stimmen. Wir wollen, dass es hier eine justizielle und
parlamentarische Kontrolle gibt. Manche bestehenden Re-
gelungen bezüglich Europol sind das muss ich deutlich
sagen ein Hindernis, um die erforderliche Ausweitung
der europäischen Kooperation im Bereich der Polizei
voranzutreiben. Wir wollen diese Hindernisse beseitigen.
Ein weiterer Punkt ist die Bekämpfung der Geldwä-
sche. Diese scheint Teilen des Hauses große Sorgen zu be-
reiten. Ich muss Ihnen ganz deutlich sagen: Wer den
Terroristen nicht durch Lockerung des Bankgeheimnis-
ses den Geldhahn zudrehen will, stellt ein Sicherheitsri-
siko für diese Republik dar.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN Dr. Wolfgang Freiherr
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Volker Beck (Köln)
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von Stetten [CDU/CSU]: Das müssen Sie uns
sagen, Herr Beck! Das ist ja unglaublich!)
Das, was Herr Eichel dazu vorgelegt hat, ist in keiner
Weise zu kritisieren. Das ist wohl abgewogen und klug
durchdacht. Es muss niemand Angst haben, dass unbe-
scholtenen Bürgern in die Konten geschaut wird. Mich
verwundert in diesem Zusammenhang nur: Sie haben
zwar keine Scheu, den Lausch- und Spähangriff einzu-
führen, um Menschen in ihren Privatwohnungen abhören
zu können,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
aber wenn es an das heilige Konto und das Bankgeheim-
nis geht,
(Margot von Renesse [SPD]: Dann ist alle!)
dann stehen Union und FDP auf einmal auf den Bänken,
dann gibt es Proteststürme und dann sind die Bürgerrechte
in Gefahr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)
Ich glaube, angesichts der terroristischen Gefahr setzen
Sie die falschen Prioritäten. Ich bin deshalb froh, dass wir
eine so kooperative, vernünftige, entschlossene, aber auch
besonnene Bundesregierung haben.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Norbert Geis [CDU/CSU]:
Dann werden auch Ihre Bankkonten offen sein!
Dann werden wir sehen, was Sie so alles in An-
spruch nehmen!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Jörg van Essen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die FDP sagt ein klares Ja zur
notwendigen Verbesserung der inneren Sicherheit. Für
uns Liberale ist es selbstverständlich, dass die Freiheit des
Bürgers wirksam geschützt werden muss. Sicherheit und
Freiheit gehören für die FDP eng zusammen.
(Beifall bei der FDP)
Der Staat muss die Grundrechte und die Freiheit seiner
Bürger gewährleisten. Nur ein Staat, der in der Lage ist,
die Grundrechte seiner Bürger zu schützen, wird auch als
Rechtsstaat akzeptiert.
(Beifall des Abg. Dr. Max Stadler [FDP])
Es gibt einen doppelten Anlass, über das Thema Si-
cherheit neu nachzudenken. Es ist zum einen die bisher
nicht gekannte Herausforderung durch den internationa-
len Terrorismus und zum anderen auch das Hamburger
Wahlergebnis, das signalisiert, dass eine große Zahl unse-
rer Bürger mit der Behandlung des Themas innere Si-
cherheit nicht zufrieden ist. Die Bestandsaufnahme macht
für die FDP deutlich, dass die notwendige Verbesserung
der inneren Sicherheit auf zwei Säulen fußen muss: der
Beseitigung des Vollzugsdefizits auf der einen und der
Prüfung der Frage auf der anderen Seite, welche gesetzge-
berischen Konsequenzen zusätzlich notwendig sind.
Wer sich die Frage des Vollzugsdefizits stellt, muss
feststellen, dass die alte Koalition unter maßgeblicher Be-
teiligung der FDP in über 50 Gesetzen zwischen 1990 und
1998 zusätzliche Instrumentarien geschaffen hat, um bes-
ser gegen Rauschgifthandel, Geldwäsche, Korruption und
organisierte Kriminalität vorgehen zu können.
(Joachim Stünker [SPD]: War alles
Flickwerk!)
Viele dieser Gesetze haben schon deshalb auch bei der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus Bedeutung,
weil sich Terroristen häufig durch Drogenhandel und an-
dere Delikte der Schwerstkriminalität finanzieren.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Das Sicherheitsrisiko ist Herr Beck!)
Die in Afghanistan hergestellten Heroinmengen sind
dafür ein Beispiel.
(Beifall bei der FDP Joachim Stünker [SPD]:
Ja, und?)
Diese Gesetze bleiben auf weiter Strecke unwirksam,
weil bundesweit bei der Polizei 30 000 Stellen unbesetzt
sind und bei den Nachrichtendiensten und Katastrophen-
schutzorganisationen Stellen in unverantwortlicher Weise
abgebaut worden sind. Wenn im rot-grün-regierten Berlin
aus Personalmangel zum Beispiel 2 000 genetische Fin-
gerabdrücke nicht bearbeitet und 60 ich wiederhole:
60 richterlich angeordnete Telefonüberwachungen nicht
umgesetzt werden können,
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Hört! Hört!)
dann ist das ein unerträglicher Skandal.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das 1992 beschlossene polizeiliche Informationssystem
INPOL neu ist trotz der Ausgabe dreistelliger Millionen-
beträge immer noch nicht realisiert und es ist auch nicht
abzusehen, wann dies jemals umgesetzt werden kann.
Personal- und Ausstattungsverbesserungen bei den
Strafverfolgungsbehörden und den Nachrichtendiensten
sind deshalb diese Beispiele machen es deutlich für die
FDP unverzichtbar.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg.
Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU])
Noch so viele Gesetzesänderungen, die beschlossen wer-
den, können nicht umgesetzt werden, wenn das Personal
nicht vorhanden ist, das diese Gesetze anwendet. Hier ist
nicht nur der Bund, hier sind in besonderer Weise auch die
Länder gefordert.
Die FDP ist darüber hinaus selbstverständlich auch be-
reit, die Bundesregierung bei all den Vorstellungen zu un-
terstützen, die notwendig und geeignet sind, die innere Si-
cherheit zusätzlich zu verbessern. Wir sprechen uns für
die Wiedereinführung einer rechtsstaatlichen Kronzeu-
genregelung aus. Ich erinnere an die Debatte, die wir hier
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Volker Beck (Köln)
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geführt haben. Ich habe noch sehr genau im Ohr, was die
Kollegen aus der SPD-Fraktion und insbesondere aus der
Fraktion der Grünen gegen die Kronzeugenregelung ge-
sagt haben. Ich bin froh darüber, dass es jetzt hier ein ver-
nünftiges Umdenken gibt; denn die Kronzeugenregelung
ist ein wichtiges Mittel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Was der Kollege Beck hier wieder aufzeigen wollte,
nämlich dass die alte Kronzeugenregelung nichts ge-
bracht hat, ist schlicht falsch
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
und macht für mich deutlich, dass es bei Ihnen offen-
sichtlich immer noch Widerstände gegen diese notwen-
dige Kronzeugenregelung gibt. Wer beispielsweise sieht,
welchen Erfolg wir mit dieser Regelung im Bereich der
Terrororganisation PKK hatten,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)
der weiß, wie viel sie gebracht hat, auch an Aufklärung
und an Überführung von Schwersttätern.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das macht deutlich, dass sie offensichtlich auch Sie ha-
ben das bestritten in ethnisch abgeschotteten Strukturen
wirkt.
Für uns als Liberale ist aber auch klar, dass wir eine
Kronzeugenregelung wollen, bei der es keine Verurtei-
lung allein auf der Grundlage der Aussage eines Kron-
zeugen geben darf; es müssen weitere Gesichtspunkte
hinzukommen.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker
Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wie ver-
steht sich das mit dem, was Sie eben gesagt ha-
ben? Sie widerlegen Ihre eigene Polemik!
Margot von Renesse [SPD]: Das haben Sie vor-
her nicht vorgetragen!)
Wir begrüßen es ganz außerordentlich, dass die auf ge-
setzlicher Grundlage, nämlich in der Strafprozessordnung
und in vielen Polizeigesetzen, klar geregelte Rasterfahn-
dung jetzt zum Einsatz kommt. Es ist schlicht falsch zu
behaupten, dass die Rasterfahndung in der Vergangenheit
keine Erfolge gebracht hat. Sie hat Erfolge in vielfältiger
Form gebracht.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
[CDU/CSU]: So ist es!)
Wir haben übrigens das muss in diesem Zusammenhang
auch erwähnt werden einen erheblichen Zeitverlust da-
durch, dass einige Länder jetzt erst überhastet gesetzliche
Regelungen für die Rasterfahndung einführen müssen.
(Albert Deß [CDU/CSU]: Zum Beispiel dort,
wo der Bundeskanzler Ministerpräsident
war!)
Die Aufhebung des Religionsprivilegs im Vereins-
recht ist ein weiterer Vorschlag, der von uns unterstützt
wird. Ich übersehe nicht, dass er durchaus verfassungs-
rechtliche Fragen aufwirft. Es macht uns große Sorgen,
dass sich extremistische Vereinigungen als Religions-
oder Weltanschauungsgemeinschaften tarnen. Es ist auch
im Interesse der Kirchen und der vielen rechtstreuen Mus-
lime in unserem Land, dass Religion nicht missbraucht
wird.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD
und der CDU/CSU)
Wir als FDP sind auch für die Schaffung eines § 129 b
StGB, der die Tätigkeit und Unterstützung für ausländi-
sche terroristische Organisationen unter Strafe stellt. Wer
die dringende Notwendigkeit dieser Vorschrift sieht, är-
gert sich umso mehr darüber, dass noch im März dieses
Jahres die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, und die
Bundesministerin Renate Künast in einer Zeitungsan-
zeige die Aufhebung des Terrorismusparagraphen 129 a
des Strafgesetzbuches gefordert haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU
Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss man mal
sagen!)
Man muss es sich noch einmal vor Augen führen: Eine
Ministerin dieser Regierung forderte im März dieses Jah-
res in einer Zeitungsanzeige, dass Terroristen in Deutsch-
land nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden können.
Unerträglich!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU Albert Deß [CDU/CSU]: Frau
Künast hat sich bis heute nicht distanziert!)
Aber die Bürger erwarten von der FDP auch ein klares
Nein da, wo wir uns von einem Vorschlag keine Verbes-
serung der Sicherheit erwarten.
(Margot von Renesse [SPD]: Das Bankge-
heimnis!)
Das gilt zum Beispiel für die hochgespielte Frage des Ein-
satzes der Bundeswehr im Inneren. Der Kollege Bosbach
hat zu Recht gesagt: Die Bundeswehr wird bereits jetzt im
Rahmen der geltenden Verfassung im Innern eingesetzt
und das ist auch gut so. Sie hilft bei Naturkatastrophen
wie dem Oderhochwasser und sie leistet Amtshilfe, wenn
beispielsweise Aufklärungsflugzeuge nach verschwunde-
nen Kindern suchen.
Ich möchte auch klar stellen Herr Bosbach, Sie haben
daran sozusagen ein Fragezeichen angebracht : Es
gehört beispielsweise zu den klassischen Aufgaben der
Bundeswehr, für die Luftverteidigung in ganz Deutsch-
land zuständig
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)
und deshalb mit Flugzeugen und Flugabwehrstellungen
im Inneren präsent zu sein.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Richtig!)
Es ist völlig wurscht, woher diese Flugzeuge kommen und
wohin sie fliegen. Wir brauchen keinerlei neue Regelung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD)
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Wer die Bundeswehr zusätzlich zu den immer neuen
Aufgaben auf dem Balkan und bei der Bekämpfung des
Terrorismus zum Lückenfüller, zur billigen Hilfspolizei
machen will, der hat die Zeichen der Zeit nicht verstan-
den.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD Norbert Geis [CDU/CSU]: Das will
keiner!)
Polizei und Bundeswehr müssen gleichzeitig für ihre ei-
gentlichen Aufgaben gestärkt werden.
Das Gleiche gilt für den Vorschlag zur Einführung ei-
nes Sicherheitsamtes.
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Richtig!)
Nicht neue Bürokratie ist gefragt, sondern bessere Koor-
dinierung und Zusammenarbeit. Das erwartet die FDP
auch auf europäischer Ebene, weil sonst angesichts der of-
fenen Grenzen viele Maßnahmen ins Leere laufen wür-
den.
Wir wenden uns auch Frau von Renesse, Sie haben
danach schon gefragt gegen die Abschaffung des Bank-
geheimnisses.
(Margot von Renesse [SPD]: Das ist kein
Wunder!)
Im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen darauf
darf ich als Oberstaatsanwalt hinweisen gibt es gar kein
Bankgeheimnis.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Beim Verdacht auf eine Straftat, auch steuerlicher Art,
sind Banken ganz selbstverständlich auskunftspflichtig.
(Joachim Stünker [SPD]: Da hat er Recht!)
Wir wünschen uns auch in diesem Punkt einen besse-
ren Vollzug. Wer sich anschaut, dass beim Bundesauf-
sichtsamt für das Kreditwesen lediglich 16 Beschäftigte
die Geldwäscheaufsicht über rund 3 000 Banken und
1 700 Finanzdienstleistungsinstitute wahrnehmen müs-
sen, der sieht, dass es auf diesem Gebiet Defizite gibt, die
dringend beseitigt werden müssen.
(Beifall bei der FDP)
Das würde auch die flächendeckende Registrierung von
Bankkonten überflüssig machen.
Dass dies nicht erforderlich ist, zeigt im Übrigen ein
weiterer Umstand: Nach wenigen Tagen waren alle deut-
schen Banken in der Lage, die Konten beispielsweise von
Bin Laden und anderen zu benennen, sodass sie danach
gesperrt werden konnten. Das ist gut und richtig so.
Aus all dem folgt, dass der Bundesinnenminister auf
die Unterstützung der FDP bei vielen seiner Überlegun-
gen für die Verbesserung der inneren Sicherheit rechnen
kann. Wir erwarten von ihm aber auch, dass er sich inner-
halb der eigenen Koalition schnell durchsetzt. Wer die,
insbesondere aufgrund des Widerstandes der Grünen, im-
mer wiederkehrenden Verschiebungen der Verabschie-
dung der verschiedenen Terrorpakete sieht, der ärgert sich
über den Zeitverlust. Wir brauchen dringend eine Verbes-
serung der inneren Sicherheit. Die FDP ist zu konstrukti-
ven Gesprächen bereit.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU Alfred Hartenbach [SPD]:
Schwacher Beifall!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Seit den Terroranschlägen vom
11. September haben wir eine neue Lage. Eine neue Lage
erfordert neues Nachdenken, auch über die öffentliche Si-
cherheit. Unsere Fraktion beschäftigt sich mit diesem
Thema sehr intensiv. Wir kennen die Sorgen, die Ängste
und ebenfalls die Verunsicherungen, die es in der Bevöl-
kerung gibt. Wir teilen sie im Wortsinne; denn auch wir
haben Ängste und Sorgen.
Unser Nachdenken und unser Prüfen geschieht nicht
ideologisch, sondern sehr pragmatisch. Wir stellen uns bei
jedem neuen Vorschlag drei Fragen: Bringt dieser Vor-
schlag mehr Sicherheit oder gibt er dies nur vor? Stärkt er
den Rechtsstaat oder unterläuft er seine Regeln? Was
überwiegt, der Heilstoff oder die Nebenwirkungen?
Ich möchte Ihnen das gerne an einem Beispiel illus-
trieren: In allen Bundesländern ist inzwischen eine
Rasterfahndung angelaufen, also ein umfangreicher Ab-
gleich persönlicher Daten. Das sei unumgänglich, drän-
gen CDU und CSU.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Wir sind genau der Meinung!)
Das sei eine normale Ermittlungsmethode, beschwichtigt
mein Berliner SPD-Innenminister. Das sei gerade noch
hinnehmbar, knurren Bündnis 90/Die Grünen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Knurren, das ist richtig! Mehr können
die Grünen auch nicht!)
Ganz anders der Präsident des Landeskriminalamtes
Sachsen, also offenbar ein Mann vom Fach. Er sagte die-
ser Tage: Die Rasterfahndung ist untauglich. Auf die
Nachfrage, warum sie denn trotzdem durchgeführt werde,
meinte er: Nun, wir haben kein besseres Mittel.
Das heißt, obwohl das Ganze untauglich ist, wird der
Datenschutz ausgehöhlt und werden viele Bürgerinnen
und Bürger ob ihrer Herkunft unter Generalverdacht ge-
stellt. Das ist ein klassischer Fall, in dem die Nebenwir-
kungen die positiven Effekte eher erdrücken.
Dasselbe wird eintreten, wenn Sie den Fingerabdruck
von ausländischen Mitbürgern in den Pass prägen lassen
und sie damit diskriminieren. Nun habe ich heute Morgen
mit großer Sorge vernommen, dass der Herr Bundeskanz-
ler noch weitere erkennungsdienstliche Daten in Pässe prä-
gen lassen will. Ich sage für die PDS: Wir lehnen beides ab.
(Beifall bei der PDS)
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Diese Vorschläge bringen nämlich nicht mehr Sicherheit,
sondern unterlaufen nur rechtsstaatliche Ansprüche. Jene,
die das trotzdem tun wollen, sollten doch dann wenigstens
den Mut aufbringen, dies ehrlich zu sagen, anstatt, wie
heute Morgen Frau Merkel, zu behaupten, dass das alles
alternativlos und ungefährlich sei.
Nun zu unserer Positivliste. Es steht ja außer Frage,
dass es Handlungsbedarf, und sogar sehr dringenden, gibt.
Wir brauchen erstens eine Polizeireform. Wir brauchen
zweitens einen effektiven Katastrophenschutz. Wir brau-
chen drittens eine bessere internationale Kooperation.
Viertens brauchen wir mehr Prävention, übrigens welt-
weit. Fünftens schließlich brauchen wir mehr öffentliche
Sicherheit in der offenen Gesellschaft.
Mehr öffentliche Sicherheit in einer offenen Gesell-
schaft verträgt allerdings dreierlei nicht: erstens die Kap-
pung von Bürgerrechten, zweitens das Unterlaufen von
Rechtsstaatsprinzipien und drittens die Privatisierung
öffentlicher Sicherheit. Damit zu den konkreten und aktu-
ellen Vorschlägen, die auf dem Tisch dieses Hauses liegen.
Stichwort Flugsicherheit: Es liegt nahe und ist richtig,
die Flugsicherheit zu erhöhen. Dazu sollten natürlich ver-
besserte Gepäck- und Personenkontrollen und auch die
Sicherung des Cockpitbereichs gehören. Sofern es sich
um ausgebildete Polizeibeamte handelt, spricht meines
Erachtens auch nichts gegen so genannte Skymarshals,
also Flugbegleiter mit Sicherheitskompetenzen. Gerade
am Beispiel Flugwesen zeigt sich dann aber auch: Der
Teufel steckt im Detail. Immer mehr Leistungen werden
in diesem hochsensiblen Bereich inzwischen von Be-
schäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen erbracht,
wenn sie nicht sogar auf Billigjobbasis arbeiten. Das ist
nicht nur ein sozialer Skandal, sondern auch ein Sicher-
heitsproblem.
(Beifall bei der PDS)
Das gilt übrigens nicht nur für das Flugwesen. Ich
denke da nur an U- und S-Bahnhöfe, auf denen inzwi-
schen kein Personal mehr eingesetzt wird. Hier ist Um-
denken gefragt. Das ist nicht nur eine Frage der Innenpo-
litik, sondern wir müssen in allen Ressorts prüfen, wo wir
mehr öffentliche Sicherheit herstellen können.
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das wäre wirklich mal
notwendig!)
Die FDP ist nicht nur deshalb ein Sicherheitsrisiko,
weil sie ihre Abteilung Bürgerrechte derzeit in den Koali-
tionsverhandlungen mit dem Herrn Schill entsorgt,
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wider-
spruch bei der FDP)
sondern auch deshalb, weil ihr hemmungsloser Privatisie-
rungskurs in der Wirtschaftspolitik soziale und öffentliche
Sicherheit beseitigt.
Stichwort Kronzeugenregelung: Wer Straftaten be-
geht und danach sagen kann, er wisse noch etwas, wird
mit Straferlass belohnt.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das steht jetzt schon
im StGB!)
Das ist und bleibt mittelalterlicher Ablasshandel.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das steht in § 46!)
Kollege Stadler, auch deshalb und weil sie nichts erbracht
hat, wurde die Kronzeugenregelung 1999 zu Recht ad acta
gelegt. Nun soll sie neu aufgelegt und so sagen es die
Grünen in Strafzumessungsregelung umbenannt wer-
den.
Liebe Kerstin Müller, ich verrate Ihnen, was eine Kol-
legin aus Ihrer Regierungskoalition, die sich noch SPD-
links fühlt, dieser Tage zu solchen Vorschlägen und Ver-
renkungen zu mir sagte. Sie meinte: Wir können gar nicht
so schnell aufstehen, wie die Grünen umfallen.
(Beifall bei der PDS Rainer Brüderle [FDP]:
Ja, das ist wahr!)
Mit Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechten und Terror-
bekämpfung hat das gar nichts zu tun ganz im Gegen-
teil.
Dasselbe trifft auf § 129 b des Strafgesetzbuches zu.
Trotzdem wider besseres Wissen wollen Sie ihn. Sie
wissen hoffentlich wenigstens, warum und zu welchem
Preis Sie ihn einführen wollen.
Damit komme ich zum dritten Stichwort, nämlich der
Bundeswehr im Innern. Zu Beginn des Jahres habe ich
aus SPD-berufenem Mund, von einer Staatssekretärin,
gehört: Wer sich künftig bei der Bundeswehr bewirbt,
muss wissen, dass sein Arbeitsplatz im Ausland ist. Nun
höre ich dazu keinen Widerruf, wohl aber eine neue Dro-
hung aus den Reihen der CDU/CSU: Die Bundeswehr
solle nicht nur weltweit, sondern auch zu Hause eingrei-
fen, vor allem dort, wo sie besser gerüstet sei als die Poli-
zei.
Kritische Stimmen haben es derzeit schwer. Selbst vom
öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird nur noch eingela-
den, wer Kaiser Wilhelm II. folgt oder wie die FDP
verkündet, dass man keine Parteien mehr kenne. Dieser
Tage fand ich in der Basler Zeitung doch noch eine kri-
tische und obendrein liberale nämlich von der FDP
Stimme, und zwar die von Burkhard Hirsch. Er warnte
meines Erachtens zu Recht dringend davor, die Bun-
deswehr über das ohnehin mögliche Maß hinaus im In-
nern einzusetzen.
(Dr. Max Stadler [FDP]: Das steht auch in un-
serem Fraktionspapier!)
Dies sei in der Sache falsch und obendrein ein Einfallstor
für nicht absehbaren Missbrauch. Sie wollen es trotzdem.
Wir werden es ablehnen.
(Beifall bei der PDS)
Ich nenne ein letztes Stichwort, nämlich das Bank-
geheimnis. Jeder weiß, dass der internationale Terroris-
mus viel mit Geld zu tun hat. Dies gilt übrigens nicht nur,
um ihn auszuüben, sondern auch, um mit Terror Kasse zu
machen. Es liegt doch nahe, Geldströme zu kontrollieren.
Wir aber nicht nur die PDS fordern das seit langem.
Ich lese und höre heute, dass die FDP dagegen sei, weil
damit die Privatsphäre unbescholtener Bürger betroffen
werde. Ich frage die Herren Westerwelle und Rexrodt, ob
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sie vergessen haben, dass das so genannte Bankgeheimnis
für Millionen Betroffene hierzulande längst nicht mehr
gilt, nämlich für die Sozialhilfeempfänger und all diejeni-
gen, die mit ihnen verwandt sind. Wollen Sie denen durch
die innenpolitische Brille etwa sagen, sie seien beschol-
tene Bürger, nur weil sie arm sind?
(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist aber
eine Argumentation!)
Ich komme zu meinem Schlussgedanken. Ich kann uns
alle nur warnen und zugleich werben: Auch im Parlament
der USA wird über Maßnahmen gegen den Terrorismus
gestritten und werden Wege für mehr öffentliche Sicher-
heit gesucht. Auch dort werden Antiterrorpakete ge-
schnürt und geprüft. Das muss auch sein. Aber selbst in
den USA haben jene, die sich als Liberale engagieren, in
dieser Woche ein klares Stoppzeichen gesetzt. Sie haben
sortiert, was der Sicherheit dient und was mit Sicherheit
falsch läuft. Sie wollen alles, was ihnen im Wortsinne
fragwürdig erscheint, zumindest unter einen Prüfvorbe-
halt stellen und zugleich all diese Maßnahmen zeitlich be-
grenzen. Ich finde, zur kritischen Solidarität gehört es,
nicht schlechter, sondern möglichst besser sein zu wollen
als die liberalen Innenpolitiker in den USA. Die PDS, die
Opposition zur Linken, ist dazu bereit.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Rechtsstaat
lebt von Reformen. Daran sollten wir denken, wenn wir
neuen oder größer werdenden Gefährdungen der Sicher-
heit unserer Bürgerinnen und Bürger durch neue Gesetze
zu begegnen versuchen. Wir sollten aber auch daran den-
ken, dass die Reformen den Rechtsstaat am Leben erhal-
ten sollen und nicht ruinieren dürfen. Denn das wäre der
größte Triumph der Terroristen, mit dem wir uns ausei-
nander zu setzen haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb bin ich froh, dass wir uns verständigt haben,
keinen der vielen Vorschläge für neue Gesetze übereilt
umzusetzen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Faule Ausreden!)
Wir werden diese Vorschläge zum Gegenstand einer kri-
tischen Überprüfung und einer öffentlichen Sachverstän-
digenanhörung am 7. November dieses Jahres machen.
Bis dahin gilt es, die bereits geltenden Gesetze konse-
quent anzuwenden. Wie notwendig eine kritische Prüfung
ist, will ich mit zwei Beispielen belegen.
Mein erstes Beispiel: Unter den hier Anwesenden bin
ich wohl einer, der sich länger als andere, nämlich seit
mehr als 25 Jahren, mit rechtsvergleichenden und krimi-
nologischen Argumenten gegen die missbräuchliche Ver-
wendung von Kronzeugen im Strafverfahren engagiert.
Dabei stört mich weniger die gedankenlose Übersetzung
des englischen Begriffs crown witness, obwohl wir die
Monarchie vor immerhin 83 Jahren abgeschafft haben.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Aber Herr Meyer, so kleinkariert kann
man doch nicht sein.)
Mehr stört mich schon die Verwendung des Begriffs als
einer Art Ehrenbezeichnung, einer Nobilitierung für Ver-
brecher, welche die gewiss dringend benötigten Informa-
tionen über ihre Komplizen vor allem um ihres Vorteils
willen liefern. Die italienische Bezeichnung pentiti, die
so etwas wie Reue unterstellt, ist da schon erträglicher,
wenn auch sehr euphemistisch. Am schlimmsten aber ist
der Kuhhandel um Gerechtigkeit mit Straftätern, die nicht
selten zur Erlangung von Vergünstigungen das Blaue vom
Himmel herunterlügen.
(Beifall bei der SPD)
Deshalb haben wir die alte Kronzeugenregelung auslau-
fen lassen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann hätten Sie
eine neue machen können! Gegenruf des Abg.
Alfred Hartenbach [SPD]: Machen wir ja!
Norbert Geis [CDU/CSU]: Ja, nach zwei Jah-
ren! Nach dem 11. September!)
So wird sie auch nicht wiederkehren.
Ich vertraue darauf, dass wir uns auf eine neue Rege-
lung verständigen werden, die den bereits geltenden § 46
des Strafgesetzbuches für Verhalten nach der Tat konkre-
tisiert und keine Straffreistellung für Verbrecher oder eine
absurd niedrige Strafe, etwa für Mord, vorsieht,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da müssen Sie
natürlich Anreize schaffen! Dafür brauchen Sie
die Kronzeugenregelung nicht!)
sondern sich charakterisieren lässt als Strafzumessungs-
regel für Aufklärungshelfer. Das dient dem Interesse po-
tenzieller Verbrechensopfer und ist in Fällen des so ge-
nannten Ermittlungsnotstandes ausnahmsweise sehr wohl
zu rechtfertigen.
(Beifall bei der SPD)
Mein zweites Beispiel ist der Vorschlag der CDU/
CSU-Fraktion, die Gewinnabschöpfung durch erweiter-
ten Verfall auch für solche Fälle vorzusehen, in denen Ge-
winne nur mittelbar aus rechtswidrigen Taten stammen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, übersehen dabei
wohl, dass in dem von Ihnen genannten Fall der Einnah-
men eines Restaurants, das mit Drogengeldern finanziert
wird,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Zum Beispiel!)
längst mit dem vor über fünf Jahren auf meine Initiative
weiterentwickelten § 443 StPO geholfen werden kann;
(Beifall bei der SPD Norbert Geis [CDU/
CSU]: Der wird aber nicht angewendet! Wir
müssen da eine bessere Formulierung haben!)
übrigens auch mithilfe der vom Bundesgerichtshof ver-
fassungskonform interpretierten Vermögensstrafe mit
vorausgehender Beschlagnahme. Ihr Vorschlag gehört
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also gestatten Sie diese Charakterisierung in das Ka-
pitel Aktivismus.
(Beifall bei der SPD Norbert Geis [CDU/
CSU]: Nein, nein! Die Vermögensstrafe ist wie-
der etwas anderes!)
Schlimmer allerdings ist, das Sie bisher den ins Zen-
trum der organisierten Kriminalität zielenden Vorschlag,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Machen wir gar
nicht!)
die gewerbsmäßige oder durch Banden begangene Steu-
erhinterziehung zur Vortat des Geldwäschetatbestan-
des zu machen, ablehnen.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Hört, hört!)
Ich zitiere zwei Sätze aus dem Minderheitenvotum der
CDU/CSU im Zwischenbericht der Enquete-Kommission
Globalisierung der Weltwirtschaft:
Eine Einbeziehung der schweren Steuerhinterziehung
in den Vortatenkatalog der Geldwäschestrafnorm
wäre wegen der damit verbundenen automatischen
Erweiterung der Anzeigepflicht des Geldwäschege-
setzes nicht nur für die Adressaten dieses Normgefü-
ges höchst bedenklich. Selbst die ganz überwiegende
Anzahl redlich handelnder Bürger müsste befürch-
ten, nicht nur bewacht, sondern rein zufällig den
Strafverfolgungsbehörden gemeldet zu werden.
(Joachim Stünker [SPD]: Sieh mal an!)
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Fraktion, übersehen bei Ihren Einwänden,
dass redlich handelnde Bürger nur höchst selten in den
Verdacht schwerer Steuerhinterziehung geraten
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
SPD)
und dass es geradezu unerträglich ist,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Kommt darauf an,
wer regiert! Gegenruf des Abg. Alfred
Hartenbach [SPD]: Ein ehemaliger Innenminis-
ter! Norbert Geis [CDU/CSU]: Kanther hat
keine Steuern hinterzogen!)
die Anlage und den Transfer von Schwarzgeld im großen
Stil durch Kreditinstitute schönzumalen. Das ist Geldwä-
sche. Ohne die Mitwirkung von Kreditinstituten sind or-
ganisierte Kriminelle und auch Terroristen nicht lebens-
fähig.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns also
gemeinsam das Übel bei der Wurzel packen und mit Au-
genmaß für den Rechtsstaat arbeiten, getreu dem Motto
von Willy Brandt aus dem Jahre 1969: Wer morgen sicher
leben will, muss heute für Reformen kämpfen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]:
Sehr gut der Schlusssatz!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Norbert Geis (CDU/CSU): Verehrte Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ers-
ten Debatte nach dem 11. September sagte unser Frakti-
onsvorsitzender, als über den Angriff auf New York und
Washington diskutiert wurde: Dies war ein Angriff aus
der Hölle! In der Tat, wir haben eine derartige Konzen-
tration des Bösen erlebt, dass sie unser Fassungsvermö-
gen übersteigt. Nie hätten wir glauben mögen, dass Men-
schen zu solchen Taten fähig sind, dass sie ihr Leben
wegwerfen und damit Tausende anderer Menschen in den
Tod reißen.
Die Attentäter haben sich auf den heiligen Krieg beru-
fen. In Wirklichkeit haben sie sich wie Besessene verhal-
ten. Bei einer solchen Tat kann man sich auf keine Reli-
gion berufen. Keine Religion wird je eine solche Tat
rechtfertigen. Das entspringt einem Wahn, hat mit Reli-
gion nichts zu tun, sondern vielleicht mit Krankheit, mit
einer eingeschränkten Denkweise oder auch mit Beses-
senheit. Das ist es, was uns beunruhigt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem
11. September müssen wir mit allem rechnen. Der Wahn
der Terroristen ist die eine Seite. Aber die andere Seite ist,
dass sie von Ländern unterstützt werden, die arm sind und
nicht an dem Ölreichtum teilhaben. Dort wachsen Neid
und Wut. Dort wächst die Atmosphäre, die zur Unterstüt-
zung solcher terroristischen Taten notwendig ist. Dorthin
ziehen sich die Terroristen zurück. Dort bilden sie ihre
Zellen. Dort haben sie ihre Basen, in denen sie neue An-
schläge vorbereiten. Wir müssen deswegen in einer klu-
gen Weise versuchen, diese Länder von einem solchen
Verhalten abzuhalten, und das kann auch mit Hilfe wirt-
schaftlicher Unterstützung geschehen.
Wir müssen aber auch mit dem Islam ins Gespräch
kommen. Das ist Aufgabe der westlichen Welt. Der Papst
hat von Kasachstan aus unmittelbar nach diesen Anschlä-
gen dazu aufgerufen, dass die Kulturen miteinander ins
Gespräch kommen. Es muss in der Welt eine Atmosphäre,
eine Zivilisation des Verständnisses herrschen. Es muss,
wie Paul VI. es Mitte der 70er-Jahre gesagt hat, eine Zi-
vilisation der Liebe entstehen, damit die Völker und die
Menschen in Zukunft überhaupt noch in Freiheit leben
können.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Auch das sollten wir uns in diesen Tagen einmal durch
den Kopf gehen lassen.
Jetzt kommt es darauf an, die unmittelbare Gefahr des
Terrorismus zu bekämpfen. Es geht darum, dass wir die
Gruppen der Terroristen, die Zellen in den fraglichen
Ländern, auch mit Waffengewalt bekämpfen. Es geht aber
auch darum, dass wir solche terroristischen Erscheinun-
gen in unserem Land genau beobachten und entschieden
bekämpfen. Die Toleranz gegenüber ausländischen Extre-
misten und die mangelnde Entschlossenheit, gegen diese
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
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vorzugehen, waren gewiss falsch. Eine solche Nachläs-
sigkeit können wir uns in Zukunft nicht mehr leisten.
Wir haben schon vor dem 11. September lange über
diese Fragen diskutiert. Wir haben uns sowohl hier als
auch im Ausschuss sehr kontrovers damit auseinander ge-
setzt. Aber ich glaube, dass nun, nach dem 11. September,
ein anderes Bewusstsein, auch in der Regierungskoali-
tion, entstanden ist. Wir jedenfalls werden alle Maßnah-
men unterstützen, die der Sicherheit unserer Bevölkerung
dienen. Wir werden auch, lieber Herr Meyer, über alle
Maßnahmen diskutieren; wir sind keinen Vorschlägen ge-
genüber verschlossen.
Allerdings dürfen wir auch nicht verschweigen, dass
die Regierungskoalition in den letzten drei Jahren keinen
einzigen zählbaren Gesetzentwurf vorgelegt hat, der im
Kampf gegen den Terrorismus und gegen die Kriminalität
eine Rolle gespielt hätte.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Jetzt sind Sie endlich aufgewacht.
So bei der Kronzeugenregelung: Wir können hier
doch nicht verschweigen, dass Sie die Kronzeugenrege-
lung einfach haben auslaufen lassen, ohne sich Gedanken
darüber zu machen, wie es danach weitergehen soll. Es
gab vielleicht wenige unter Ihnen, die sich doch Gedan-
ken gemacht haben das will ich nicht verschweigen ;
sicherlich haben Sie, Herr Innenminister, sich darüber Ge-
danken gemacht und sich auch dazu geäußert. Es gab in
den vergangenen zwei Jahren aber keinen Vorschlag von
Ihnen nicht und von der Koalition nicht , die Kronzeu-
genregelung wieder wenn auch vielleicht in Ihrem Sinne
in einer verbesserten Weise wieder einzuführen.
Jetzt machen Sie diesen Vorschlag; wir werden ihn prü-
fen. Wir selbst haben diesen Vorschlag bereits in unserem
Gesetzentwurf gemacht, den wir vor der Sommerpause
eingebracht haben. Wir differenzieren im Übrigen in die-
sem Gesetzgebungsvorschlag; wir übernehmen nicht ein-
fach die alte Kronzeugenregelung. Wir sind der Meinung,
dass sich ein Straftäter, der das Blaue vom Himmel he-
runterlügt, nicht auf die Kronzeugenregelung berufen kön-
nen darf. Vielmehr muss er, wenn sich seine Lügen als sol-
che herausstellen, auch nachträglich verurteilt werden
können. Da differenzieren wir also. Was immer Sie aber
auch vorschlagen werden: Es wird besser sein als die
zweijährige Gesetzeslücke, mit der wir bislang auskom-
men mussten.
Nun mag jemand sagen vielleicht hat er damit auch
gar nicht Unrecht , der 11. September wäre auch durch
die Kronzeugenregelung nicht verhindert worden; aber
darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass die
Terroristen in unserem Land gelebt und hier einen Ruhe-
raum gesucht und gefunden haben. Sie haben sich unter
dem Dach unserer Rechtsordnung gewissermaßen sicher
gefühlt.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Seit 1996! Als Sie
Regierungsverantwortung hatten!)
Das kann aber nicht die Aufgabe unserer Rechtsordnung
sein. Deswegen müssen wir jetzt da bleibt kein anderer
Weg; es sind auch entsprechende Maßnahmen von Ihrer
Seite, also vonseiten des Innenministeriums und des Jus-
tizministeriums, vorgeschlagen worden versuchen, un-
sere Rechtsordnung so auszurichten, dass solche terroris-
tischen Machenschaften aufgedeckt werden können. Wir
sehen ebenfalls die rechtsstaatlichen Bedenken gegen die
Kronzeugenregelung; das wollen wir nicht verschweigen.
Dort aber, wo es um die Sicherheit unserer Bevölkerung
geht, dort, wo es darum geht, Terror und schwere Krimi-
nalität zu bekämpfen, hat die Sicherheit, hat der Kampf
gegen schwere Kriminalität Vorrang vor dem Strafan-
spruch des Staates.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wer die Verhältnisse hier umkehren wollte, würde den
Strafanspruch überhöhen. Das will hoffentlich keiner von
uns. Diese Zeit haben wir längst überwunden.
Einen wichtigen Punkt hat Herr Meyer eben angespro-
chen: Es geht natürlich darum, der organisierten Krimina-
lität, aber auch dem Terrorismus den Geldhahn abzudre-
hen. Hier gibt es, auch von Ihnen, viele Vorschläge. Wir
haben sogar gemeinsam Ihre und unsere Vorschläge noch
am Ende der letzten Legislaturperiode umgesetzt. Das
war aber nicht vollständig genug. Ich weiß auch, wie
schwierig es ist, an den Gewinn der Verbrecher heranzu-
kommen. Ich bin allerdings nicht Ihrer Auffassung, was
das Bankgeheimnis angeht. Ich glaube, in diesem Punkt
wird die Diskussion zu sehr aufgeplustert. Wir wissen
doch alle Sie wissen es genauso gut wie ich , dass bei
der Strafverfolgung Herr van Essen hat es gesagt das
Bankgeheimnis keine Rolle spielt. Natürlich können wir
im Ermittlungsfall schon jetzt die Geldströme verfolgen.
Die Staatsanwaltschaften können schon jetzt die Bankbe-
bediensteten und deren Mitarbeiter vor Gericht zitieren
und als Zeugen oder Sachverständige vernehmen. Des-
wegen glaube ich, dass diese Diskussion ein wenig über-
zogen ist. Aber bitte, wir werden darüber im Ausschuss
beraten und versuchen, auf einen gemeinsamen Nenner zu
kommen.
Wir meinen schon, Herr Meyer, dass der Weg, den wir
jetzt vorschlagen vielleicht ist es nicht der letzte Vor-
schlag, den wir im Rahmen der Gewinnabschöpfung ma-
chen , eine Möglichkeit ist. Wir müssen zu einer präzise-
ren gesetzlichen Formulierung kommen, damit wir besser
an den mittelbaren Gewinn, wie Sie ihn richtig bezeichnet
haben, herankommen. Das gelingt uns im Moment nicht.
(Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Das liegt
nicht an den Gesetzen!)
Die Gewinnabschöpfung klappt nicht. Sie führt nicht zu
den gewünschten Zielen. Deswegen müssen wir uns im-
mer wieder aufs Neue Gedanken machen. Insoweit bin ich
für jeden Vorschlag dankbar.
Wir brauchen im Rahmen der Bekämpfung der organi-
sierten Kriminalität, aber auch des Terrorismus das ha-
ben wir uns immer vorgenommen eine Verbesserung der
Telefonüberwachung. Wir haben schon lange gefordert,
Delikte wie Kreditkartenfälschung und Fälschung von
Euroschecks sowie Bestechung, Menschenhandel, Com-
puterbetrug, Investitionsbetrug und den betrügerischen
Bankrott in die Überwachung einzubeziehen. Wir halten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Norbert Geis
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dies für notwendig und bitten Sie, sich in dieser Frage of-
fen zu zeigen.
Ich weiß aber nicht, ob die von Ihnen vorgeschlagene
Hochstufung der schweren Steuerhinterziehung zu ei-
nem Verbrechen wirklich zum Erfolg führt. Wir werden
darüber diskutieren. Aber es ist zu bedenken, dass die
Steuerhinterziehung nicht das klassische Betätigungsfeld
der Mafia und der Terroristen ist. Deswegen sollte man mit
solchen Vorschlägen vorsichtig sein. Aber, Herr Meyer,
wir werden diese Vorschläge diskutieren und werden ver-
suchen, zu einer gemeinsamen Regelung zu kommen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Meyer?
Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte sehr.
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege Geis,
stimmen Sie mit mir darin überein, dass die von Ihnen ge-
nannten Gruppen wie Mafia und Terroristen ihre Einkom-
men nicht versteuern, die sie aus Drogenhandel, aus illega-
lem Waffenhandel und aus Frauenhandel beziehen? Diese
Gruppen betreiben zwangsläufig Steuerhinterziehung
großen Stils, weil sie sich ansonsten durch eine entspre-
chende Steuererklärung der Staatsanwaltschaft als Straftä-
ter zu erkennen geben würden. Meinen Sie nicht, dass Ihre
Auffassung, die schwere Steuerhinterziehung sei keine
klassische Straftat der Mafia und der Terroristen, überdacht
werden muss, weil sie für die organisierte Kriminalität so-
gar notwendig ist, um ihre Gewinne zu sichern?
(Beifall bei der SPD Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten [CDU/CSU]: Kein Mensch hat es
verstanden!)
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Meyer, wir überden-
ken alles. Einen Punkt sollten aber auch Sie dabei beden-
ken, nämlich dass die eigentliche Straftat der Drogenhan-
del ist, aus dem die Gelder fließen. Wir müssen in erster
Linie also die Ursprungstat und nicht die Steuerhinterzie-
hung ich gebe zu, dass sie daraus folgt bekämpfen. Wir
müssen die aus dem Drogenhandel fließenden Gelder ein-
ziehen, die wir im Übrigen jetzt schon einziehen können,
da für diesen Fall der erweiterte Verfall gilt. Ich bleibe
deswegen dabei: Wir sollten uns nicht so schnell dort auf
neue Strafnormen einlassen, wo es sich nach meiner
Auffassung nicht um ein klassisches Betätigungsfeld der
Mafia und des Terrorismus handelt.
Wir brauchen eine Erweiterung der Möglichkeit, die
Bewegungsabläufe von Tätern festzustellen, die den Mo-
bilfunk benutzen. Wir brauchen die Einführung der
Speicherungspflicht von Daten wer telefoniert wann
und wo , die bei Telekommunikationsgesellschaften an-
fallen. Das könnte für die Polizei interessant sein. Wir
brauchen eine bessere rechtliche Grundlage, an solche
Daten heranzukommen. § 12 des Gesetzes über Fernmel-
deanlagen darf nicht in seiner Wirkung geschmälert wer-
den. Wir sind froh, dass er verlängert wird.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Nicht verlängert,
sondern neu gefasst, Herr Geis!)
Der Zugriff der Ermittler auf diese Daten, wie er jetzt nach
§ 12 FAG möglich ist, muss natürlich erhalten bleiben.
Ich möchte noch eine Bemerkung zum verdeckten Er-
mittler machen. Dieser Punkt ist ebenfalls in unserem
Gesetzentwurf enthalten. Wir sind der Meinung, dass es
ein wichtiges Mittel ist, verdeckte Ermittler in terroris-
tische Organisationen einzuschleusen. Wir wissen, dass es
möglich ist. Das gilt für die organisierte Kriminalität ge-
nauso wie für den Terrorismus. Wir müssen die Situation
der verdeckten Ermittler das sind Menschen, die bereit
sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um die Rechtsord-
nung zu schützen rechtlich anders werten. Wer bereit ist,
sein Leben einzusetzen, um die Rechtsordnung zu schüt-
zen, und dabei geringfügige Straftaten begeht, durch die
andere nicht geschädigt werden, der handelt nicht gegen
die Rechtsordnung. Dieses Vorgehen ist nach unserer Auf-
fassung gerechtfertigt. Darüber sollten wir nachdenken.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, auf dem Gang ist ein Brillenglas ge-
funden worden. Es scheint ein rechtes Brillenglas zu sein.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das kann nur von
der CDU/CSU sein!)
Schauen Sie bitte einmal nach, ob es jemandem von Ihnen
fehlt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gespräche in
Sachen zweites Sicherheitspaket sind in vollem
Gange. Für uns ist die Bekämpfung des Terrorismus in
drei Richtungen von entscheidender Wichtigkeit:
Erstens. Wir müssen klassisch repressiv die Täter
und ihre Helfer festnehmen, sie vor Gericht bringen
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Und sie laufen lassen!)
und sie der Strafe zuführen, die sie verdient haben.
Herr Geis, ich glaube, Sie waren es, der laufen lassen
rief.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Nein, das war ich! Tut mir ja Leid!)
Gut. Ich entschuldige mich bei Herrn Geis und wende
die Kritik an den Freiherrn von Stetten.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie hätten auch
mich gerne kritisiert!)
Alles Unterirdische kann noch unterboten werden.
Freiherr von Stetten, großes Kompliment für das Unter-
irdische.
Zweitens. Wir müssen polizeilich-präventiv alles tun,
um Anschläge bei uns zu verhindern und die Sicherheit
für alle Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Norbert Geis
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Drittens. Wir müssen die Ursachen bekämpfen und den
Nährboden des Terrorismus bei uns wie in den Her-
kunftsländern trockenlegen. Gestatten Sie an dieser Stelle
mir als Innenpolitiker einen Hinweis, der sich vielleicht
etwas fachfremd anhört. Ich glaube aber, dass ich für alle
Innenpolitiker sagen kann, dass dazu auch gehört nicht
weil darin die unmittelbare Ursache besteht, sondern weil
dies als Nährboden dienen kann; der Kanzler hat in seiner
Rede darauf hingewiesen , mehr für die Entwicklungs-
politik und für die Beseitigung der Ursachen in den Ent-
wicklungsländern zu tun, weil das unsere Arbeit in der In-
nenpolitik dramatisch erleichtern würde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass der Kol-
lege Geis darauf hingewiesen hat uns verbindet in der
Auseinandersetzung in der Innenpolitik nicht immer so
viel; aber in diesem Punkt sind wir uns einig , dass wir
dazu beitragen müssen, dass die Integration des Islam in
unsere Gesellschaft weitergeht und dass wir ein Feindbild
Islam, aber andersherum auch ein Feindbild Christen-
tum verhindern.
Wir sind uns einig darin, dass wir entschlossen vorge-
hen. Auf die Frage der Finanzströme ist bereits hinge-
wiesen worden. Auch das ist ein wichtiger Teil der
Bekämpfung der Kriminalität.
Allerdings wundere ich mich schon darüber, dass der
Kollege Bosbach er ist jetzt leider nicht mehr da; des-
halb möchte ich Sie bitten, ihm das bei Gelegenheit aus-
zurichten; ich kann es ihm aber auch gerne noch einmal
persönlich sagen hier so locker über die Bedenken hin-
weggegangen ist, die nicht von uns, nicht von den Grü-
nen, sondern von einem der Hersteller von Finger-
abdrücken in Personalausweisen kommen. Ich darf aus
der Newsweek zitieren, die in diesem Zusammenhang
eher unverdächtig ist. Dort sagt ein Hersteller, dass gene-
tische Dispositionen heute bereits aus Fingerabdrücken
technisch herzuleiten sind. Ich will nicht dramatisieren,
aber ich glaube schon, dass es zu den Aufgaben von Par-
lamentariern gehört, auf solche Gefahren hinzuweisen
und dies in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Auf
die Kritik und die Anregungen des Datenschutzbeauftrag-
ten, der der Fraktion der FDP angehört,
(Dr. Max Stadler [FDP]: Nur der Partei, nicht
der Fraktion!)
möchte ich hier nicht weiter eingehen. Sie kennen sie: Er
warnt vor der Referenzdatei.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Wenn dadurch ein Verbrecher gefasst
wird, ist es doch gut!)
Auch das sollte man in diesem Zusammenhang ernst neh-
men.
Weil von Ihnen, Herr Geis, gerade die rot-grüne Lan-
desregierung in Berlin diskutiert wurde, möchte ich Fol-
gendes sagen: Es ist der Innensenator des Landes Berlin,
der auf die Bedeutung der Flugsicherheit hingewiesen
hat und als eine seiner ersten Maßnahmen angeordnet hat,
dass beispielsweise von Tegel auch Privatflieger künftig
nicht mehr ohne Kontrolle starten können. Dreimal dür-
fen Sie raten, wie der Innenminister des Landes Branden-
burg heißt und welcher Fraktion er angehört, der dies
nicht für notwendig erachtet, was die Flughäfen in Bran-
denburg angeht. Vielleicht, meine Damen und Herren von
der Union, reden Sie noch einmal mit dem Innenminister
von Brandenburg und sagen ihm, dass die Stellungnahme,
dass besondere Sicherheitsvorkehrungen auf Privatflug-
häfen Brandenburgs nicht notwendig seien, nach dem
11. September angesichts der Tatsache, dass die Bürge-
rinnen und Bürger auch in Fragen der Flugsicherheit
Angst haben, vielleicht etwas unangemessen ist und dass
wir das ernst nehmen sollten.
Meine Damen und Herren, ich möchte um das Ge-
sagte nicht zu wiederholen zum Schluss auf einen
Aspekt eingehen, der in der Debatte zur inneren Sicher-
heit bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, der
aber, wenn man die Ängste der Bevölkerung ernst neh-
men möchte, eine zunehmend wichtige Rolle spielen
sollte. Dabei geht es nicht um Panikmache; alle haben da-
rauf hingewiesen, dass wir da vorsichtig sein müssen.
Vielmehr geht es darum, dass wir konkrete Sicherheitsri-
siken auch konkret bekämpfen müssen. Ich rede von der
Frage der Sicherheit der Atomkraftwerke in der Bun-
desrepublik Deutschland. Dass der Innenminister, gleich
nachdem uns die Nachrichten von den schrecklichen Er-
eignissen in den USA erreicht hatten, Gespräche mit den
Betreibern geführt hat, war notwendig und ein wichtiger
Schritt. Aber ich glaube, dass wir jetzt einen Schritt wei-
ter gehen müssen. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger
an den Standorten von Atomkraftwerken haben Angst,
wie es aussieht, wenn das eintritt, was niemand von uns
bisher für möglich gehalten hat: dass Passagiermaschinen
als Waffen eingesetzt werden.
Was heißt das für die Standorte von Atomkraftwerken?
Was heißt es im konkreten Bedrohungsfall? Es muss ge-
sichert werden, dass Atomkraftwerke sofort herunterge-
fahren werden können. Vielleicht braucht man sogar eine
Art rotes Telefon im Zusammenhang mit den Atomkraft-
werken. Wir müssen schauen, ob die bestehenden rechtli-
chen Grundlagen dafür ausreichen. Lange Diskussionen
mit den Betreibern kann es in einer solchen Situation nicht
geben.
Lassen Sie mich zum Schluss ich möchte meine Re-
dezeit nicht überziehen einen Liberalen zitieren, den wir
alle in diesem Haus sehr schätzen, den ersten Bundesprä-
sidenten der Bundesrepublik Deutschland, der meiner
Meinung nach etwas sehr zutreffend formuliert hat, was
ich uns allen ins Stammbuch schreiben möchte: Die
äußere Freiheit der vielen beruht auf der inneren Freiheit
des Einzelnen. Dies sollte die Leitlinie unseres Han-
delns sein, wenn es um die Frage der Sicherung der inne-
ren Freiheit der Bundesrepublik Deutschland geht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Cem Özdemir
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Joachim Stünker (SPD): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster
Lesung ganz konkret ein Konglomerat von sechs Gesetz-
entwürfen, die zwar von unterschiedlichen Verfassern, die
aber alle mit der Zielsetzung eingebracht worden sind,
eine noch effektivere Strafverfolgung in unserem Land zu
gewährleisten und den Menschen ein Mehr an innerer Si-
cherheit zu bringen. Jeder dieser Entwürfe bedarf daher
einer gründlichen und vor allen Dingen das möchte ich
betonen vorurteilsfreien Beratung. Von daher, Herr
Geis, war ich über die moderaten Töne in Ihrer Rede heute
Morgen sehr erfreut. Ich denke, wir sollten bei dem
Thema der inneren Sicherheit den parteipolitischen Streit
wirklich hintanstellen.
Dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, nach
Schutz vor Kriminalität und vor Terrorismus nachzukom-
men ist nämlich ein hohes Gut. Wir als Gesetzgeber ha-
ben uns dieser Aufgabe daher mit großem Ernst und sehr
viel Verantwortung zu widmen. Dazu werden wir in den
vor uns liegenden Wochen und Monaten sicherlich noch
in vielen Bereichen Gelegenheit haben.
Der Gesetzgeber hat bei dieser Aufgabe es ist mir ge-
rade heute wichtig, darauf hinzuweisen das Normen-
und Wertesystem unseres Grundgesetzes nicht nur zu be-
achten, sondern auch strikt einzuhalten. Wir müssen uns
bei jeder einzelnen Regelung immer wieder bewusst ma-
chen, dass jegliche Strafverfolgung an den Geboten der
Rechtsstaatlichkeit auszurichten ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die zu beratenden Vorschläge sind daher samt und son-
ders an diesem Normen- und Wertesystem zu messen. Ich
bin sehr froh darüber, dass der Herr Bundeskanzler heute
Morgen in seiner Regierungserklärung deutlich darauf
hingewiesen hat, dass es keine Schnellschüsse geben darf.
Vor diesem Hintergrund möchte ich kurz zu drei Rege-
lungen Stellung nehmen: Der Entwurf der Bundesregie-
rung zur Einführung eines § 129 b in das Strafgesetzbuch
wird von den Koalitionsfraktionen uneingeschränkt be-
grüßt. Nach heute geltendem Recht ist die Bildung einer
kriminellen Vereinigung ebenso wie die Bildung einer
terroristischen Vereinigung nämlich nur dann strafbar,
wenn diese Vereinigungen zumindest in Form einer Teil-
organisation im Bereich des Bundesgebietes bestehen.
Sind daher Mitglieder einer ausländischen kriminellen
oder terroristischen Vereinigung im Inland tätig, machen
sie sich nach den geltenden Gesetzen nur unter diesem
Gesichtspunkt strafbar. Die Ereignisse des 11. September
2001 und das Ausmaß des Terrorismus, das sich in der
Folgezeit gezeigt hat, haben uns allen aber deutlich ge-
macht, dass die generelle Erstreckung der genannten Vor-
schriften auf im Ausland tätige kriminelle oder terroristi-
sche Vereinigungen, deren Mitglieder bei uns im Inland
tätig sind, notwendig ist.
In diesem Gesetzgebungsverfahren darf bei der kon-
kreten Ausgestaltung der Norm jedoch eine Problemstel-
lung nicht übersehen werden sie bedarf sogar unserer
besonderen Beachtung : Die Neuregelung darf in ihrer
endgültigen Fassung im Ergebnis nicht so ausgelegt wer-
den können, dass andere Widerstandsbewegungen in der
Welt, die diktatorische oder verbrecherische Regime
bekämpfen, ihrerseits zu kriminellen oder terroristischen
Vereinigungen im Sinne des Gesetzes werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Denn jede Unterstützung einer derartigen Widerstandsbe-
wegung auf deutschem Boden würde dann nach dem
Kontext der gesetzlichen Bestimmungen, der ein bisschen
kompliziert ist, ebenfalls strafbar werden. Es ist schade,
dass Herr Bosbach jetzt nicht mehr hier ist, der diesen
Problembereich heute Morgen angesprochen, aber, wie
ich glaube, nicht ganz zu Ende gedacht hat. Denn es gibt
eine ganze Reihe von Vorstellungen und Vorschlägen, die
dazu dienen, dies nicht eintreten zu lassen.
Wir werden im Gesetzgebungsverfahren Vorschläge
hierzu unterbreiten. Zum Beispiel könnte man schon in
Abs. 4 der Vorschrift, auf die Bezug genommen wurde,
das Tatbestandsmerkmal Werben durch das Tatbe-
standsmerkmal Anwerben ersetzen, um derartige Fol-
gen zu umgehen. Ich hoffe daher auf eine fruchtbare Be-
ratung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ein-
führung der §§ 100 g und 100 h in die Strafprozess-
ordnung hat die Frau Bundesjustizministerin umfassend
Stellung genommen. Ich denke, dem ist nichts hinzuzufü-
gen. Hieran ist von allen Fraktionen des Hauses keine Kri-
tik geäußert worden. Es ist notwendig, dass die Ermitt-
lungsbehörden an derartige Daten kommen können. Die
Vorschrift genügt dem Bestimmtheitsgebot der Verfas-
sung. Ich denke, deshalb werden wir schnell einig darüber
werden.
Ein dritter Punkt ist mir wichtig. Das ist ein Entwurf,
der bisher, soweit ich die Debatte verfolgt habe, noch
nicht diskutiert worden ist, und zwar der Entwurf des
Bundesrates zur Änderung der Strafprozessordnung. Die-
sem Entwurf vermag ich ich denke, auch meine Frak-
tion nicht ohne Einschränkung vollinhaltlich zuzustim-
men. Denn dieser Entwurf zielt fast ausschließlich auf
eine Verlagerung von Kompetenzen der Staatsanwalt-
schaft auf die Polizei im Ermittlungsverfahren. Nun ist
es selbstverständlich keine Frage, dass eine effektive und
zugleich an den Geboten der Rechtsstaatlichkeit ausge-
richtete Strafverfolgung der guten und auch vertrauens-
vollen Zusammenarbeit zwischen Polizei und Justiz be-
darf. Darum geht es nicht. Andererseits aber ist gerade in
der jüngsten Zeit deutlich geworden, dass die Staatsan-
waltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens durch die
Strafprozessordnung gestärkt werden muss und nicht ge-
schwächt werden darf.
(Beifall bei der SPD)
Von daher werden wir die Vorschläge des Bundesrates zu
diesen Punkten sehr sorgfältig zu prüfen haben.
Einen Vorschlag des Bundesrates das kann ich,
glaube ich, schon heute hier sagen halten ich und meine
Fraktion für verfehlt. Er wird mit Sicherheit keine Mehr-
heit finden können. Es geht um den Vorschlag, dass Zeu-
gen zukünftig auf Ladung der Polizei verpflichtet sein sol-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118714
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len, zu erscheinen und auch auszusagen. Das ist ein
Grundsatz der Strafprozessordnung und das kann nur Auf-
gabe der Staatsanwaltschaft sein. Dem werden wir mit Si-
cherheit nicht zustimmen können.
(Beifall bei der SPD)
Man sieht an diesen wenigen Beispielen, dass wir
Sach- und Fachpolitiker, die wir uns mit Rechtspolitik
und Sicherheitspolitik zu beschäftigen haben, bei den
Neuregelungen, die jetzt notwendig sind und denen wir
uns auch nicht verweigern, sehr gründlich und genau im
Detail hinsehen müssen. Ich wünsche daher uns allen, die
wir in diesem Hohen Hause für Rechtspolitik und Sicher-
heitspolitik zuständig sind, in den vor uns liegenden Wo-
chen und Monaten in jedem Einzelfall abgewogene Ur-
teile und Beurteilungen und vor allen Dingen den
notwendigen Mut zur Entscheidung.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Kauder.
Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Sicher-
heit für die Menschen in unserem Land hat in diesen Ta-
gen auch im Deutschen Bundestag die Bedeutung be-
kommen, die ihm eigentlich schon immer hätte
zukommen sollen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bedauerlich ist, dass es für diese Diskussion und für die
Fragen sowie manche Gemeinsamkeiten, die sich jetzt
zwischen Opposition und Koalition abzeichnen, eines
furchtbaren Ereignisses in Amerika bedurfte. Dies müs-
sen wir einmal ausdrücklich feststellen.
Die Union, CDU und CSU, hat dieses Thema immer
wieder auf die Tagesordnung gebracht und hat noch vor
der Sommerpause Vorschläge eingebracht. Sie sind im-
mer so beschieden worden, dass das Thema im Augen-
blick nicht auf dem ersten Platz der Agenda stehe.
(Joachim Stünker [SPD]: Welche Vorschläge
denn? Die möchte ich gerne mal sehen!)
So kann man sich täuschen, lieber Herr Stünker.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie haben ja Recht, Herr Kollege Stünker, wenn Sie sa-
gen: Wir müssen jede einzelne Maßnahme, um die es
geht, sehr genau prüfen. Was aber manchen in unserem
Lande und die Menschen, die dieser Debatte folgen, si-
cherlich nachdenklich macht, ist, dass Sie von Wochen
und Monaten sprechen, um notwendige Regelungen
durchführen zu können. Wir wären schon wesentlich wei-
ter, wenn wir auch vonseiten der Regierungskoalition
manche Frage schon früher mit größerem Ernst beant-
wortet bekommen hätten.
(Beifall bei der CDU/CSU Joachim Stünker
[SPD]: 16 Jahre hatten Sie Zeit!)
Freiheit und Sicherheit heißt das eine Thema, mit
dem wir antreten, Rechtsstaat und konsequente Bekämp-
fung des Terrorismus das andere. Herr Kollege Stünker,
Sie haben genauso wie ich heute Morgen die Rede des
Bundeskanzlers gehört. Ich denke, dass sich der Bundes-
kanzler zu Recht an die linke Seite des Hauses gewandt
hat, als er gesagt hat, nicht jede Maßnahme, die jetzt vor-
geschlagen werde, bedeute gleich den Untergang des
Rechtsstaates.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das hat er sicher nicht an unsere Seite, an die Opposition
gewandt, gesagt.
(Zuruf von der SPD: Er meinte etwas
anderes!)
Wir vonseiten der CDU/CSU haben eine Reihe von
Vorschlägen vorgelegt. Sie haben Vorschläge vorgelegt.
Ich habe den Worten des Bundeskanzlers entnommen,
dass die Vorschläge, die Sie vorgelegt haben, nicht aus-
reichend sind, um dem Problem gerecht zu werden; denn
der Bundeskanzler hat angekündigt, dass in der nächsten
Woche ein zweites umfangreiches Sicherheitspaket vor-
gelegt wird. Dem kann ich doch nur entnehmen, dass es
dieses grässlichen Anschlages in Amerika bedurfte, um
offenkundig werden zu lassen, welche Sicherheitslücken
in unserem Lande bestehen.
(Beifall bei der CDU/CSU Joachim Stünker
[SPD]: Das ist ja Sophismus!)
Deswegen sind wir bereit, mit Ihnen zusammen jetzt in
Verhandlungen über ganz konkrete Vorstellungen einzu-
treten, um diese Sicherheitslücken zu schließen.
Ich mache mir natürlich schon die eine oder andere
Sorge, wenn ich höre, dass zu den konkreten Vorstel-
lungen, die von der Bundesregierung auch von der
Bundesjustizministerin, vor allem vom Bundesinnenmi-
nister vorgetragen werden, schon in den eigenen Reihen
Diskussionen darüber beginnen, was möglich und was
nicht möglich ist. Der Herr Bundesinnenminister kann
froh sein, dass er eine Opposition wie die CDU/CSU hat,
die ihn in vielen Punkten unterstützt.
(Beifall bei der CDU/CSU Lachen bei der
SPD)
Wie der Bundeskanzler bei Einsätzen der Bundeswehr, so
kann in diesem Fall der Bundesinnenminister nicht sicher
sein, ob er sich auf eigene Mehrheiten verlassen kann.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Kollege Ströbele wird ja nach mir reden. Ich wun-
dere mich über manche Diskussion, die jetzt gerade von
der Fraktion der Grünen und von deren Landesverbänden
geführt wird. Während hier die Grünen so tun, als ob sie
schon immer Sicherheitspartei Nummer eins gewesen
wären, lese ich heute in Zeitungen aus Baden-Württem-
berg die Auffassung von Kreis- und Ortsverbänden der
Grünen, dass das, was die Bundestagsfraktion vorhabe,
ein Anschlag auf grünes Gedankengut sei; das werde nicht
mitgemacht. Sie müssen einmal klären, ob Sie wirklich
bereit und in der Lage sind und ob Sie die Macht haben,
diese Positionen überhaupt zu vertreten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Joachim Stünker
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Die Grünen waren dies darf man ausdrücklich sagen
noch nie eine Partei, die die innere Sicherheit mit Herz-
blut auf ihr Banner geschrieben hat.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Neue Herausforderungen an die innere Sicherheit
zwingen uns zu neuen Sichtweisen bei so mancher Sach-
frage. Ich hoffe sehr, dass bei den Grünen jetzt nicht nur
über die Notwendigkeit der Verbesserung der Sicherheit
gesprochen wird, sondern dass sich auch die Einstellung
geändert hat; denn wirklich gute Gesetze kann man nur
machen, wenn man auch die entsprechende Einstellung
hat: Es muss etwas getan werden, um die innere Sicher-
heit in Deutschland zu verbessern.
Wo die Bundesregierung vernünftige gesetzgeberische
Maßnahmen durchsetzen möchte, kann sie mit der unein-
geschränkten Unterstützung durch unsere Fraktion rech-
nen. Die Union wird aber das möchte ich nachdrücklich
betonen darauf bestehen, dass ein sauberes und faires
Gesetzgebungsverfahren durchgeführt wird, in dem wir
auch die Gelegenheit haben, unsere Anliegen und Anre-
gungen einzubringen.
Der vorgelegte Gesetzentwurf zur Einführung eines
§ 129 b in das Strafgesetzbuch wurde bereits angespro-
chen. Er hat die Ausdehnung des Strafbarkeitstatbe-
standes krimineller und terroristischer Vereinigungen
zum Ziel und ist ein Beispiel für eine gesetzgeberische
Maßnahme, der wir vonseiten der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion zustimmen können. Damit kann der interna-
tionale Terrorismus in Deutschland mit einer angemes-
senen Strafrechtsreform endlich effektiv bekämpft werden.
Dies ist eine richtige und wichtige Regelung. Ich freue
mich, dass sich die rot-grüne Bundesregierung über die
Empfehlung des europäischen Aktionsplanes zur Be-
kämpfung der organisierten Kriminalität hinaus zu dieser
Erkenntnis hat durchringen können. Die Einsicht kommt
spät, aber immerhin kommt sie.
Diese grundsätzliche Freude über einen Sinneswandel
bei Rot-Grün hin zu mehr innerer Sicherheit wird aller-
dings sofort getrübt. Ich finde, es ist schon ein bemer-
kenswerter Vorgang: Während wir hier alle damit
schließe ich bis auf die PDS wirklich alle ein unter dem
Eindruck dessen, was in New York passiert ist, über eine
Stärkung der inneren Sicherheit sprechen, die Bundesre-
gierung ein Antiterrorpaket schnürt und die Terror-
bekämpfung weltweit an die erste Stelle der Prioritäten-
liste gerückt ist, wagt es die rot-grüne Übergangsregierung
des Landes Berlin tatsächlich, einen Antrag einzubrin-
gen, der genau das, was wir mit dem § 129 b des Strafge-
setzbuches erreichen wollen, im Kern zurücknimmt.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ungeheuer-
lich! Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Herr Kollege Ströbele, dass Ihnen das gefällt, glaube ich
sofort.
Man könnte darüber hinweggehen, wenn es sich nicht
um den Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin han-
delte, der in besonderer Weise Sicherheitsinteressen ver-
treten muss. Vor dem Hintergrund, dass wir besonders
ausländische Einrichtungen in Berlin schützen müssen, ist
dies ein ungeheuerlicher Vorgang.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
Abgeordneten der FDP)
Es wird nicht nur deutlich, dass die Sicherheit des Lan-
des und der Stadt Berlin bei der rot-grünen Übergangs-
regierung in Gefahr ist;
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Jetzt lassen Sie mal den Wahl-
kampf weg!)
es wird auch deutlich, welch Geistes Kind noch viele bei
Rot-Grün in Berlin sind. Die Herren Schröder und Schily
können noch so viel Aktionismus präsentieren: Die SPD
führt hier in Berlin vor, dass sie noch nicht verstanden hat,
worum es geht.
(Joachim Stünker [SPD]: Machen Sie Wahl-
kampf oder reden Sie über die innere Sicher-
heit?)
Es geht um die innere Sicherheit. Herr Kollege Stünker,
ich sage Ihnen jetzt, worum es wirklich geht. Ich werde
den Eindruck nicht los, dass dieser Antrag auch gestellt
worden ist, um der PDS entgegenzukommen, mit der man
nach dem 21. Oktober 2001 eine gemeinsame Regierung
bilden will. Darin sehe ich Gefahren.
(Beifall bei der CDU/CSU Alfred Hartenbach
[SPD]: Putzen Sie mal Ihre Brille, damit Sie
besser sehen!)
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Vorschläge ge-
macht. Wir werden den Vorschlägen der Bundesregierung
dann zustimmen, wenn wir der Meinung sind, dass sie
vernünftig und richtig angelegt sind. Die Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land können sich darauf verlassen: Die
Union wird der Regierung bei den notwendigen Maßnah-
men beistehen, wenn sie auf dem richtigen Weg bleibt.
Bei der Aufgabe, Sicherheit für die Menschen zu schaf-
fen, brauchen wir im Gegensatz zu Rot-Grün keine Nach-
hilfe und haben sie auch noch nie gebraucht.
(Beifall bei der CDU/CSU Dr. Jürgen Meyer
[Ulm] [SPD]: Sie haben sie nie gewollt! Aber
ob Sie sie brauchen, ist eine andere Frage!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Herr Kollege Kauder, ich finde es bemerkenswert,
dass Sie sich um das Herzblut der Bündnisgrünen so
große Sorgen machen; aber ich kann Sie beruhigen: Für
uns und auch für mich persönlich ist es selbstverständlich,
dass wir nach solchen Ereignissen wie den schrecklichen
Anschlägen in Washington und New York darüber nach-
denken, was wir in Deutschland tun können, um zusätz-
liche Sicherheit für die Bevölkerung zu schaffen. Das ist
selbstverständlich; darüber brauchen wir nicht zu reden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
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Volker Kauder
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Herr Kollege Kauder, wir haben uns in Berlin darauf
verständigt, die Anschläge und mögliche Konsequenzen
nicht zum Wahlkampfthema zu machen. Sie haben es
trotzdem versucht. Ich will Ihnen kurz darauf antworten,
weil Ihre Bemerkung sehr unanständig war. Das, was vom
Land Berlin im Bundesrat vorgeschlagen wurde, war ge-
nau das, was der Kollege Stünker angesprochen hat. Es
geht um das schwierige Problem mit ihm schlagen sich
auch die UNO, der Sicherheitsrat und die Vollversamm-
lung, seit Jahren und auch jetzt wieder herum , dafür zu
sorgen, dass der § 129 b StGB in Deutschland sofern er
denn kommen sollte zum Beispiel nicht auf Vertreter
von Befreiungsbewegungen, die in ihren Heimatländern
gegen Diktaturen und unmenschliche Regime kämpfen,
angewandt wird.
Stellen Sie sich doch einmal vor, jemand von der Nord-
allianz käme nach Deutschland und Sie würden ihn vor
Gericht stellen, weil er einer terroristischen Vereinigung
seines Heimatlandes angehört. Stellen Sie sich vor, Men-
schen aus dem Nahen Osten kämen hierher und wären in
Gefahr, hier strafrechtlich verfolgt zu werden. Außerdem
Kollege Stünker hat schon darauf hingewiesen : Wenn
sie in einem Stadtteil Berlins oder Stuttgarts eine Solida-
ritätskundgebung für die Nordallianz, für den Befreiungs-
kampf gegen die Taliban machen, könnte eine solche
Handlung als Werbung für eine terroristische Verei-
nigung ausgelegt werden. Das wollen wir verhindern.
Das bedeutet aber nicht, dass wir es nicht für richtig hal-
ten, Menschen, die in den USA Anschläge verüben oder
in anderen Ländern Europas Anschläge vorbereiten, auch
in Deutschland wegen des Organisationsdelikts zu verfol-
gen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass immer wie-
der unterschlagen wird, dass die betroffenen Personen
selbstverständlich weiterhin wegen Mordes, Totschlags
oder anderer schwerer Straftaten in Deutschland verfolgt
werden können. Es geht allein um die Verfolgung wegen
des Organisationsdelikts. § 129, § 129 a und § 129 b be-
treffen lediglich die Mitgliedschaft in einer terroristischen
oder kriminellen Vereinigung.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, wenn sie kein Beitrag zum Wahlkampf in Ber-
lin ist.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wollen Sie
das?)
Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Kollege Ströbele,
habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie mit Ihrer jetzigen
Aussage der Bundesregierung unterstellt haben, sie habe
keinen sauberen und präzisen Gesetzentwurf vorgelegt?
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich habe in meiner Auskunft Ihnen gegenüber
auch mehrfach gegenüber der Öffentlichkeit zum
Ausdruck gebracht, dass ich eine Klarstellung in dieser
Hinsicht für richtig und erforderlich halte, die nach mei-
ner Auffassung auch im Gesetz stehen sollte, um auf diese
Weise jedes Missverständnis zu beseitigen. Wir würden
uns überall in der Welt nicht nur im Hinblick auf
Afghanistan oder die USA gerade auch vor dem Hinter-
grund der Diskussion, die in der UNO über das Thema
Terrorismus stattfindet, abmelden, wenn wir dieses Pro-
blem nicht sähen und angingen.
In vielen Bereichen in der Öffentlichkeit findet im Au-
genblick geradezu ein Wettlauf statt; in vielen Medien las-
sen sich jeden Tag neue Überlegungen finden, was man
noch tun könnte oder sollte Erlass neuer Gesetze durch
den Deutschen Bundestag oder Zurverfügungstellen von
Finanzmitteln , um die Sicherheit zu verstärken. Dabei
betonen alle immer wieder, dass keine absolute Sicherheit
garantiert werden kann; dieser Aussage kann ich mich nur
anschließen.
In einer Situation wie dieser ist es wichtig und richtig,
dass es eine Partei und eine Fraktion sowie Abgeordnete
nicht nur beim Bündnis 90/Die Grünen; ich nenne auch
die Kollegen Meyer und Stünker gibt, die genau hin-
sehen und sagen: Wir wollen nur Gesetze, von denen wir
uns tatsächliche Erfolge bei der konkreten Terrorismus-
bekämpfung versprechen; wir wollen alle rechtsstaat-
lichen Regelungen behalten und vermeiden, dass mit
neuen Gesetzen zu viel Freiheit über Bord geht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD Norbert Geis
[CDU/CSU]: Das wollen alle! Dazu brauchen
wir die Grünen nicht!)
Ich halte das für notwendig und richtig und dafür stehen
wir Bündnisgrünen als Partei, nachdem sich andere Par-
teien, wie etwa die FDP von ihr habe ich zumindest
keine Bedenken gehört , die ein solches Ziel früher auf
ihre Fahnen geschrieben hatten, verabschiedet haben.
Herr Kollege Geis, Sie können doch nicht sagen, die
potenziellen Täter, die in Hamburg gewohnt haben sollen,
wären infolge der Kronzeugenregelung nicht behelligt
worden
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich doch
gar nicht gesagt!)
und trotzdem bräuchten wir für den Kampf gegen diese
Art von Terrorismus die Kronzeugenregelung.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Natürlich! Wollen
Sie keine Kronzeugenregelung haben?)
Auf irgendeine Weise müssen die Dinge doch zusammen-
passen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich möchte darauf hinweisen, dass bei der Kronzeu-
genregelung einiges durcheinander gebracht wird. Täg-
liche Praxis in allen Gerichten ist, dass Nachtatverhalten,
wie zum Beispiel ein Beitrag zur Aufklärung einer Straftat
oder Verhinderung weiterer Straftaten, strafmildernd
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Hans-Christian Ströbele
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berücksichtigt wird. So etwas geschieht in unendlich vie-
len Strafverfahren jeden Tag. Das Besondere an der ur-
sprünglichen Kronzeugenregelung war doch unter ande-
rem, dass auch Mördern dieses Privileg zustehen sollte
und sie nicht nach § 211 StGB zu einer lebenslangen Frei-
heitsstrafe verurteilt werden mussten. Es kann Situationen
geben, in denen eine solche Strafmilderung erforderlich
ist; aber diese müssen sehr eng eingegrenzt werden, damit
mit einer solchen Regelung kein Missbrauch getrieben
wird.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Damit treibt doch
keiner Missbrauch!)
Ein solcher Missbrauch wäre unerträglich für das Rechts-
bewusstsein der Bevölkerung.
Wenn Sie sich die Anschläge von New York vor Augen
führen, können Sie doch nicht allen Ernstes fordern, dass
ein Verdächtiger, der verurteilt wird, weil das Gericht von
einer Tatbeteiligung überzeugt ist, nicht bestraft wird, nur
weil er zur Aufklärung der Straftat beigetragen hat, ob-
wohl er selbst an ihr beteiligt war.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wollen Sie die
Kronzeugenregelung oder nicht?)
Hier müssen gesetzliche Grenzen mit Augenmaß ein-
gebaut werden. Wir wollen, dass im Gesetz klargestellt
wird unter anderem wäre das in § 46 des Strafgesetzbu-
ches möglich , dass das Nachtatverhalten bei allen De-
likten berücksichtigt werden kann, also auch bei Mord,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Haben wir schon!
Das sagt doch jeder!)
das heißt, wenn eigentlich eine lebenslängliche Freiheits-
strafe verhängt werden müsste.
Wenn Sie sich das heute vorgelegte Gesetzespaket ge-
nau anschauen, dann werden Sie feststellen, dass es auch
einen Gesetzentwurf des Bundesrates enthält, in dem die-
ser vorschlägt, die Möglichkeit der Strafmilderung in
mindestens 20 weiteren Vorschriften einzuführen.
(Joachim Stünker [SPD]: 27!)
Den Gedanken der Strafmilderung kann man aufgrei-
fen; man kann ihn weiterverfolgen und sich schließlich
der Lösung annähern, die wir vorgeschlagen haben. Diese
halten wir für richtig und für eine Regelung mit Augen-
maß. Die alte Kronzeugenregelung, die Ihnen immer vor-
schwebt, lehnen wir ab.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD Norbert Geis
[CDU/CSU]: Das haben wir gar nicht vorge-
schlagen!)
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesinnenminister Otto Schily.
Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich finde, es
ist der gegenwärtigen ernsten Situation angemessen, dass
die demokratischen Kräfte gewillt und entschlossen
sind das ist erfreulicher Weise erkennbar geworden ,
der terroristischen Herausforderung gemeinsam entge-
genzutreten, und dass bei allem Streit im Detail die
heute vorliegenden Gesetzentwürfe begrüßt werden. Das
möchte ich als etwas Positives herausstellen. Ich finde,
der jetzige Zeitpunkt ist nicht geeignet, um über die Ver-
gangenheit zu reden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir sollten in die Zukunft schauen. Auch im Hinblick auf
zukünftige Maßnahmen wird die bisher gezeigte Gemein-
samkeit erforderlich sein.
Es ist manchen in der Vergangenheit zur Gewohnheit
geworden, sich etwas spöttisch über unsere Geheimdiens-
te zu äußern.
(Dirk Niebel [FDP]: Manche wollten die sogar
abschaffen!)
Manchmal fiel die Kritik auch etwas härter aus. Ich
möchte an dieser Stelle das tue ich sehr bewusst ge-
genüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bun-
desamtes für Verfassungsschutz, der Landesämter für
Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes
meinen ausgesprochen herzlichen Dank für ihre Tätigkeit
zum Ausdruck bringen,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)
weil wir uns ohne deren Tätigkeit wahrlich in einer noch
schwierigeren und risikoreicheren Situation befänden.
Ich darf an etwas erinnern, was vier Jahre zurückliegt
und was manchem seinerzeit vielleicht gar nicht so auf-
gefallen ist. Anfang 1997 hat der Sozialdemokrat und Prä-
sident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Dr. Peter
Frisch in einem Interview Folgendes ausgeführt ich be-
tone: 1997 :
Das Sicherheitsproblem Nummer eins für Deutsch-
land sind die islamischen Fundamentalisten.
Er hat auf Nachfrage Folgendes hinzugefügt:
Das ist ein Problem, das die Sicherheitsbehörden
wahrscheinlich im nächsten Jahrhundert vorrangig
beschäftigen wird.
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Da hatte er hellseheri-
sche Fähigkeiten!)
Das ist wahrhaft eine nahezu prophetische Äußerung.
Deshalb verbietet sich jede dümmliche Kritik an dem, was
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes
für Verfassungsschutz und der Landesämter für Verfas-
sungsschutz unter sehr schwierigen Voraussetzungen leis-
ten. Sicherlich ist auch deren Arbeit fehlerbehaftet, so wie
jedes menschliche Verhalten fehlerbehaftet und von Un-
zulänglichkeiten geprägt ist. Aber das eben von mir
vorgetragene Zitat lässt uns ansatzweise erkennen, was
wir solchen Institutionen verdanken.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig!)
Ich will zwar die sachliche Linie der Debatte nicht ver-
lassen. Aber ich muss die Parteivorsitzende der CDU,
Frau Merkel, korrigieren, wenn sie behauptet, wir hätten
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in unserer Regierungszeit vor dem 11. September die Si-
cherheitserfordernisse vernachlässigt. Genau das Gegen-
teil ist richtig. Wir haben in den zurückliegenden Haus-
haltsjahren die Ausgaben für die innere Sicherheit
kontinuierlich erhöht und nicht verringert und wir werden
das auch im bevorstehenden Haushaltsjahr tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben das getan, obwohl wir von Ihnen auch das
muss man an dieser Stelle einmal erwähnen einen na-
hezu konkursreifen Haushalt geerbt haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Widerspruch bei der CDU/
CSU Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann der
Finanzminister so nicht bestätigen!)
Diese Politik werden wir fortsetzen.
Ich bin dankbar dafür, dass wir jetzt unabhängig von
den Konsolidierungsbemühungen, die wir fortsetzen wer-
den und auch fortsetzen müssen, durch die Maßnahmen
des Kollegen Eichel in die Lage versetzt werden, an den
Stellen, an denen das notwendig ist, auch die Ausgaben
für die innere Sicherheit zu erhöhen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Also Steuer-
erhöhungen!)
Das werden wir sehr gezielt und sehr konsequent be-
werkstelligen, weil wir in der Tat auch einen Personal-
aufbau im Bundesamt für Verfassungsschutz, im Bun-
deskriminalamt, beim Bundesgrenzschutz und auch bei
anderen Sicherheitsbehörden benötigen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: 500 Stellen mehr!)
Ich finde es übrigens durchaus begrüßenswert, dass
auch in den Ländern entsprechende Maßnahmen zustande
kommen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie mal, dass
Herr Schröder in Niedersachsen gekürzt hat!
Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Wir reden jetzt nicht über einzelne Landeshaushalte.
Gerade einige Landeshaushalte sind, denke ich, nun
wahrlich in Schwierigkeiten; da kann man die Historie
ebenfalls etwas zurückverfolgen; aber das wollen wir an
dieser Stelle nicht tun.
Meine Damen und Herren, es geht mir darum, in mei-
nem Beitrag auf einige aktuelle Fragen einzugehen, die
heute in der Debatte eine Rolle gespielt haben. Ich teile
die Auffassung des Bundeskanzlers und anderer, dass die
Bundeswehr außerhalb der ihr schon jetzt von der Ver-
fassung gebotenen Möglichkeiten nicht für polizeiliche
Aufgaben im Innern eingesetzt werden kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Max Stadler
[FDP])
Es scheint so zu sein, dass einigen die Lektüre des Grund-
gesetzes noch einmal zu empfehlen ist. Nach einer sol-
chen Lektüre weiß man, welche Möglichkeiten die Bun-
deswehr hat.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Bundeswehr in die-
ser schwierigen Lage, in der wir uns jetzt befinden, in der
die Polizeien der Länder und des Bundes wirklich eine
sehr angespannte Arbeitssituation haben, sehr kooperativ
bestimmte Bewachungsaufgaben übernommen hat. Übri-
gens hat sich auch der Freistaat Bayern ich glaube, dass
man das hier einmal berichten sollte bei der Bundesre-
gierung ausdrücklich dafür bedankt. Da, wo das möglich
ist, etwa bei einem Truppenübungsplatz in Bayern oder
bei militärischen Einrichtungen der US-Streitkräfte in Ba-
den-Württemberg oder in Rheinland-Pfalz, geschieht das
in sehr guter Kooperation. Ich habe auf Anregung des
Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Europa
eine Arbeitsgruppe gebildet, die diese Fragen koordiniert.
Auch ich bin der Meinung, dass wir neben den vor-
handenen Institutionen nicht neue Bürokratien aufbauen
sollten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir haben wirklich, glaube ich, eine gute Sicherheitsar-
chitektur in Deutschland. Wir dürfen auch sagen, dass
wir im internationalen Vergleich diesbezüglich wirklich
sehr, sehr gut aussehen. Es führt nicht weiter, neue Ämter
zu schaffen. Es ist ja auch ganz interessant, wie beredt bei-
spielsweise einige Innenminister, auch aus CDU- oder
CSU-regierten Ländern, zu diesen Vorschlägen schwei-
gen. Entgegen manchen Regeln im Bürgerlichen Gesetz-
buch heißt Schweigen in diesem Fall, glaube ich, eindeu-
tig Ablehnung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich etwas zu
der Frage sagen, zu der hier Ausführungen gemacht wor-
den sind, nämlich zu der Frage, was denn die Bundeswehr
bei bestimmten Situationen vielleicht zu unternehmen
hätte. Das entspricht einer Frage, die in diesen Tagen des
Öfteren an mich gestellt wird. Ich werde gefragt: Sagen
Sie mal, Herr Schily, was tun Sie eigentlich, wenn ein
Passagierflugzeug auf den Potsdamer Platz zufliegt? Ha-
ben Sie da ein Antikollisionssystem geschaffen oder was
wollen Sie tun? Lassen Sie es abschießen? Darauf ant-
worte ich: Alles das sind falsche Überlegungen; denn
dann ist es zu spät. Wir müssen, was Sicherheit angeht,
viel früher ansetzen, und zwar in einer tief gestaffelten
Form.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sicherheitssysteme dürfen nicht so aufgebaut sein, dass
nach dem Versagen der ersten Stufe auch die zweite nicht
funktioniert. Die verbrecherischen Anschläge in New
York und in Washington waren nicht mehr zu verhindern,
als sich die Flugzeuge auf das World Trade Center und auf
das Pentagon zubewegt haben. Sie wären zu verhindern
gewesen, wenn bei der Fluggastkontrolle und auf ande-
ren Gebieten einige andere Möglichkeiten genutzt worden
wären. Wir müssen das ist nicht als ein Vorwurf gegen-
über den US-Behörden zu verstehen, in dieser Hinsicht
versagt zu haben über die Verbesserung entsprechender
Maßnahmen nachdenken. Wir werden also über viele Fra-
gen diskutieren müssen.
Ich bin obwohl es in der Federführung meiner Kolle-
gin Däubler-Gmelin liegt, erlauben Sie mir, einige Sätze
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Bundesminister Otto Schily
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dazu zu sagen sehr dankbar dafür, wie das Thema Kron-
zeugenregelung heute angesprochen worden ist. Ich
denke, der Kollege Ströbele hat vollkommen Recht, wenn
er sagt: Wir müssen eine rechtsstaatsgetreue Regelung
finden. Wir befinden uns in der Koalition in sehr kon-
struktiven Gesprächen. Ich bin entschieden dagegen, eine
Kronzeugenregelung zu schaffen, die auf eine unziemli-
che Weise einen Deal mit einem Verbrecher darüber vor-
sieht, welche Aussage er vor Gericht macht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eine Kronzeugenregelung kann aber ein wichtiges
Hilfsmittel zur Verhinderung und zur Aufklärung von
Straftaten sein, wenn sie so gestaltet ist, dass jemand im
Hinblick auf Sanktionen strafrechtlich milder behandelt
wird, wenn er dazu beiträgt, eine Straftat zu verhindern
oder sie aufzuklären. Das ist beispielsweise der Fall, wenn
er die Ermittlungsbehörden zu einem Sprengstoffversteck
bzw. zu einer konspirativen Wohnung führt oder in ande-
rer objektiv nachweisbarer Weise dazu beiträgt, bei der
Strafverfolgung zu helfen.
Ein weiteres wichtiges Vorhaben ist die Abschaffung
des Religionsprivilegs. Dieses Vorhaben besteht nicht
erst seit dem 11. September, sondern schon viel länger. Es
ist zuzugestehen, dass es einige Zeit gedauert hat, bis wir
es auf den Weg gebracht haben. Die vorgetragenen Be-
denken sind nicht von mir persönlich geltend gemacht
worden, sondern sie kamen aus kirchlichen Kreisen, in
denen man gemeint hat, es handele sich um eine proble-
matische Lösung. Ich freue mich, dass wir diese Beden-
ken durch lange und geduldige Gespräche haben über-
winden können und dass wir jetzt gemeinsam darangehen,
das Religionsprivileg abzuschaffen. Es geht nicht an, dass
wir Vereinen in Deutschland einen Aktionsraum bieten,
die mit Äußerungen operieren, wie ich sie zitieren darf:
Der Islam ist sowohl eine Religion als auch ein Staat,
sowohl Gottesverehrung als auch Politik. Der Islam
erkennt das laizistische Regime nicht an. Der Islam
ist niemals mit der Demokratie vereinbar. Kurzum
läuft das demokratische Regime im Kern, im Grunde
und Endergebnis dem Islam zuwider.
Das ist nur eine von vielen schrecklichen Äußerungen,
auch solchen antiisraelischer bzw. antisemitischer Art.
Solchem Treiben müssen wir in unserer Demokratie ein
Ende machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP)
Ich werde mit der gebotenen Härte vorgehen, damit das
hier nicht weiter geduldet wird.
Wir werden uns in den nächsten Tagen auch auf ein
zweites Paket zu einigen haben. Ich will nicht alle Einzel-
heiten vorwegnehmen. Wir werden Ihnen das, worum es
geht, zu gegebener Zeit vortragen. Wie es der Bundes-
kanzler angekündigt hat, werden wir einen entsprechenden
Kabinettsbeschluss noch in diesem Monat herbeiführen.
Ich will vorweg auf zwei Dinge aufmerksam machen.
Heute ist schon die UN-Sicherheitsratsresolution 1373
erwähnt worden. Ich empfehle allen, diese Resolution
nachzulesen. Das ist keine unverbindliche Resolution, die
zu den Akten gelegt werden kann, sondern diese UN-
Sicherheitsratsresolution müssen wir umsetzen; der Zeit-
raum dazu ist befristet und die Umsetzung wird auch kon-
trolliert werden.
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)
Es wird extra ein Gremium eingesetzt werden, das über-
prüfen wird, ob die einzelnen Mitgliedstaaten sie umge-
setzt haben.
Dort findet sich unter anderem ein Passus, in dem die
Staaten aufgefordert werden, bevor sie einer Person
Flüchtlingsstatus im Einklang mit den entsprechenden
Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und des Völ-
kerrechts einschließlich der internationalen Menschen-
rechtsnormen gewähren, geeignete Maßnahmen zu er-
greifen, mit denen sichergestellt werden kann, dass der
Asyl Suchende keine terroristischen Handlungen geplant,
erleichtert oder sich daran beteiligt hat. Es findet sich
ferner der Passus, dass in Übereinstimmung mit dem Völ-
kerrecht sicherzustellen ist, dass diejenigen, die terroris-
tische Handlungen begehen, organisieren oder erleich-
tern, den Flüchtlingsstatus nicht missbrauchen können
und dass angebliche politische Beweggründe nicht als
Grund anerkannt werden, Anträge auf die Auslieferung
mutmaßlicher Terroristen abzuweisen.
Das sind, meine Damen und Herren, sehr klare Sätze,
mit denen wir uns zu befassen haben werden. Deshalb
kommt es sehr darauf an, dass auch wir unsere Auf-
klärungsmöglichkeiten in dem Bereich durch Vernetzung
von Daten und Ähnlichem verbessern. Ich kann das jetzt
nur andeuten.
Es gehört auch in diesen Bereich, dass wir uns mit der
Frage befassen, wie wir in einer Welt, in der die techni-
sche Entwicklung fortschreitet, die Identität von Men-
schen sicher klären und feststellen können. Altmodische
Methoden dazu kann man heute in jedem Pass finden.
Dort gibt es ein Lichtbild, da stehen Name, Geburtsdatum
und -ort, die Augenfarbe und die Körpergröße. Das alles
sind Identifizierungsmerkmale. Man kann sagen, dass es
sich schon, wenn der Staat einem abverlangt, im Ausweis
solche Identitätsmerkmale aufzunehmen, irgendwie um
einen Eingriff in die Privatsphäre handelt. Dieses Argu-
ment wird aber doch von niemandem ernsthaft vorge-
tragen.
Wenn wir nun neuere Methoden der Identifizierung
wie Fingerabdrücke hinzunehmen, dann müssen wir uns
darüber klar sein, dass in Deutschland hier eine emotio-
nale Barriere besteht, weil wir es gewohnt sind, dass
Fingerabdrücke nur bei Tatverdacht und ähnlichen Vor-
fällen genommen und in eine Datei aufgenommen wer-
den. Das entspricht aber keineswegs der Praxis in allen
anderen Staaten. Ich habe Ihnen hier eine Karte Resident
Alien mitgebracht. Das ist ein Ausweis, mit dem man in
Amerika seit Jahrzehnten ausgestattet wird, wenn man
dort als Ausländer einer Arbeit nachgehen darf. In diesem
Ausweis befindet sich ein Fingerabdruck.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
[CDU/CSU]: Sehr gut!)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Otto Schily
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Ich habe noch nie gehört, dass sich irgendeiner, der nach
Amerika gegangen ist das ist immerhin die Führungs-
macht bei Demokratie und Menschenrechten , in seinen
Menschenrechten verletzt sah, weil er dort diesen Finger-
abdruck abliefern musste.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Herr Beck meint das!)
Wir müssen also versuchen,
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auf dem Teppich
zu bleiben!)
ein wenig Nüchternheit in die Debatte zu bringen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Die modernen Identifizierungsmethoden, die es heute
gibt, wurden immer weiter entwickelt und werden längst
in der Privatwirtschaft angewandt. Gehen Sie doch einmal
auf die CeBIT, da werden Sie entdecken, welche biome-
trischen Methoden heute schon im Interesse von Privat-
heit einschließlich des Fingerabdrucks genutzt wer-
den. Ich bitte doch, so manche krausen Ideen das sage
ich jetzt einmal meinem Freund Cem Özdemir wie die,
dass das womöglich noch die genetische Disposition
eines Menschen zu sehr offenbaren könnte, beiseite zu
lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD,
der CDU/CSU und der FDP)
Ich glaube, dass man die genetische Disposition doch eher
den Gesichtszügen als dem Fingerabdruck entnehmen
kann. Ich finde, man kann alle Sorgen übertreiben. Wenn
es darum geht, verbrecherische Anschläge zu verhindern,
muss man schon einmal gegeneinander abwägen, ob wir
dafür sorgen wollen, dass wir wissen, wer zu uns kommt,
oder ob wir krausen Überlegungen eines so genannten
Sachverständigen folgen wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD,
der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss ich glaube, Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat
das schon getan ausdrücklich noch einmal wiederholen,
weil ich weiß, wie es den Menschen geht: Unsere Poli-
zeien in Bund und Ländern sind in der gegenwärtigen
Lage in einer Weise angespannt, wie es sich mancher von
uns gar nicht vorstellen kann. Der BGS fährt zum Teil
12-Stunden-Schichten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir
als Deutscher Bundestag einmütig sagen: Diesen Män-
nern und Frauen gebührt wahrlich großer Dank dafür,
dass sie diese Arbeit in einer Ausdauer und Anspannung,
die wirklich ganz ungewöhnlich und nicht alltäglich sind,
leisten.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Wir stehen vor der großen Aufgabe, diese Ausdauer,
Disziplin und Einsatzbereitschaft fortzuführen. Wir wis-
sen alle: Die jetzige Auseinandersetzung ist nicht auf Tage
oder Wochen und noch nicht einmal auf Monate angelegt,
sondern sie wird über eine sehr lange Zeit anhalten. Eine
solche Einsatzbereitschaft in dieser Größenordnung auf-
rechtzuerhalten wird besondere Anstrengungen erfordern.
Es erfordert auch von uns viel Ausdauer, Disziplin und
vor allen Dingen Verantwortungsbereitschaft. In diesem
Sinne hoffe ich, dass alle parlamentarischen Fraktionen
auch mit der Bundesregierung zusammenwirken.
Dafür bedanke ich mich im Voraus.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN, der FDP und der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile dem Kolle-
gen Erwin Marschewski für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU)
(von Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zunächst darf ich mich für meine Fraktion bei den
Diensten für ihre Tätigkeit herzlich bedanken. Wer könnte
das besser wissen als jemand, der Mitglied der Kontroll-
kommission der Dienste ist? Herzlichen Dank, meine
Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Herr Bundesinnenminister, Sie haben dieser Debatte
entnommen, dass wir Ihre Vorschläge unterstützen. Sie
sind vernünftig, abgewogen und für sich betrachtet gut.
Meine Damen und Herren der Grünen und zum Teil auch
der SPD, diese Gesetzesvorschläge werden den Rechts-
staat nicht beeinträchtigen und sie werden ihn schon gar
nicht aus den Angeln heben. Deswegen verstehe ich die
vorgestrige ARD/ZDF-Frage an Passanten in Berlin nicht.
Die Frage Wollen Sie mehr innere Sicherheit oder weni-
ger Rechtsstaat?, die das deutschen Fernsehen gestellt
hat, ist absurd. Es handelt sich um Unsicherheit und Angst
erzeugende Stimmungsmache
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sie ist voll berechtigt!)
und entspricht nicht dem Auftrag der deutschen Fernseh-
anstalten. Herr Ströbele, unsere Antwort ist die: Wer Frei-
heit gegen Sicherheit ausspielt, wird beides verlieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD Norbert Geis
[CDU/CSU]: Das ist ein guter Satz!)
Hier will niemand Bürgerrechte einschränken. Wir
wollen die freiheitlichste demokratische Ordnung, die
Deutschland je hatte, erhalten und nach dem 11. Septem-
ber besonders stärken. Wir wissen: Freiheit ist ohne Si-
cherheit nicht denkbar. Deswegen habe ich vor ein paar
Wochen in diesem Hohen Hause gesagt: Unser Gemein-
wesen wird mehr für die innere Sicherheit in Deutsch-
land tun müssen. Meine Damen und Herren der SPD und
der Grünen, Sie haben mir übrigens für diese richtige
Äußerung leider keinen Beifall gespendet. Ich habe wei-
ter gesagt: Wir wollen die wehrhafte Demokratie im
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesminister Otto Schily
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Kampf gegen jede Form von Extremismus. Als ich for-
derte, dass die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ein-
geführt werden sollte, und darauf hinwies, dass in Bayern
seit 1998 rund 200 Einbürgerungen abgelehnt wurden,
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das haben wir möglich gemacht, dass
das Bayern kann!)
haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, von
Ladenhütern der Union gesprochen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, jetzt wollen Sie einführen:
den verdeckten Ermittler, Fingerabdrücke auf dem Aus-
weis. Ferner wollen Sie für eine Verschärfung der Be-
stimmungen beim Kampf gegen die Geldwäsche sorgen.
Das sind Ihre Vorschläge? Ich will in dieser Stunde der
Gemeinsamkeiten nun wirklich nicht nachkarten und
schon gar nicht rechthaberisch sein.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das gelingt Ihnen nicht!)
Herr Bundesinnenminister, meine Parteivorsitzende, Frau
Merkel, hat aber Recht. Sie haben bis vor wenigen Tagen
leider kein einziges neues Gesetz zur wirksamen Be-
kämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität
vorgelegt. Das ist die Wahrheit. Ich will sicherlich einräu-
men, dass das das ist wahr gar nicht Ausdruck Ihrer
persönlichen Meinung ist. Wenn ich aber zur SPD schaue,
stelle ich fest: Ihr ich hoffe, Herr Wiefelspütz, dass die
Einsicht nun da ist hat der Wille gefehlt. Mut und Ent-
schlusskraft waren Ihnen offensichtlich fremd. Bei den
Grünen von ihnen ganz zu schweigen ist eine Rea-
litätsbezogenheit überhaupt nicht vorhanden. Ich finde es
schon bemerkenswert, dass der Bundesinnenminister zum
innenpolitischen Sprecher der Grünen sagt, er habe krause
Ideen. Das zeigt die Situation in der Koalition und ihr Ver-
hältnis zur inneren Sicherheit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):
Ich möchte mit meinen Ausführungen fortfahren.
(Beifall der Abg. Birgit Schnieber-Jastram
[CDU/CSU])
Meine Damen und Herren, ich zitiere aus einer Zeitung
den Herrn Prantl. Er ist wirklich nicht mein Wegbegleiter,
schon gar nicht jener der Union. Ich möchte Ihnen aber
vorlesen, was selbst er geschrieben hat:
Es ist bitter, dass es offensichtlich erst Terror
braucht, um eklatante Missstände abzustellen Miss-
stände, die mit dem Wirrwarr bei der polizeilichen
Datenverarbeitung beginnen
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist auch ein echtes Vergehen der
Länder!)
und die noch lange nicht damit aufhören, dass es
zwar seit geraumer Zeit maschinenlesbare Personal-
ausweise gibt, aber nicht genügend Maschinen, die
diese Ausweise auch lesen können.
Recht hat der Herr Dr. Prantl hier, meine Damen und
Herren.
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Prantl hat Recht?
Das kann ja wohl nicht wahr sein! Gerald
Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es freut
uns, dass Sie Herrn Prantl mal Recht geben!)
Damit sind wir mitten in der Debatte über unsere
Forderungen. Die neuen Herausforderungen zwingen
zu neuen Sichtweisen. Wir brauchen bei allem Dank an
die Dienste mehr hoch qualifizierte Personen, ein bes-
seres Know-how und eine bessere Ausrüstung der Si-
cherheitskräfte. Wir müssen mehr als bisher finanzie-
ren.
Wir haben die strategische Kontrolle eingeführt. Sie
bedeutet, dass der Bundesnachrichtendienst Gespräche
auch aus dem Bereich des Terrorismus aufzeichnen kann.
Max Stadler und ich haben das damals in der Koalition
vorgelegt und das Bundesverfassungsgericht hat dies als
verfassungsgemäß zumindest dem Grunde nach be-
stätigt.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Zumindest dem
Grunde nach!)
Aber diese Kontrolle ist nicht durchführbar, weil Men-
schen und Mittel fehlen. Das ist doch skandalös. Die In-
vestitionen in Sicherheit sind Investitionen in die Zukunft.
(Beifall bei der CDU/CSU Norbert Geis [CDU/
CSU]: Auch wieder ein guter Satz!)
Ein zweites Beispiel auf Länderebene: Richtig ist
doch, dass der Verfassungsschutz in Hessen eine Mittel-
kürzung um 20 Prozent hinnehmen musste und dadurch
weniger Personen einstellen konnte. Richtig ist auch, dass
es eine Reduzierung in Niedersachsen, in Hamburg und in
Rheinland-Pfalz gibt. Wer die Situation kennt, Herr Bun-
desinnenminister, der muss von einer miserablen Lage der
Dienste sprechen; das wird jeder, der mit den Dingen zu
tun hat, bestätigen. Die Lage ist so, obwohl im Verfas-
sungsschutzbericht des Jahres 2000 85 000 Rechts- und
Linksextremisten, 60 000 Mitglieder in extremen auslän-
dischen Organisationen, 31 000 Mitglieder in islamischen
Gruppen verzeichnet sind. Der Personalabbau bei den
Diensten, meine Damen und Herren, war ein schwerer
Fehler.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deswegen ist es kein Wunder, dass das Wissen über die
Islamisten bei den Diensten trotz Herrn Dr. Frisch, den ich
sehr gut kenne, wie Sie wissen, sehr gering ist.
Herr Kollege Ströbele wollte sich gerade zu einer Zwi-
schenfrage melden. Ich möchte ihm etwas sagen: Sie sind
offensichtlich immer noch der Meinung, wie es im Wahl-
programm der Grünen steht, dass wir den Verfassungs-
schutz abschaffen sollten. Wer einen solchen Unsinn, eine
solche Absurdität verkündet, der verzichtet doch auf das
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Erwin Marschewski (Recklinghausen)
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wirksamste Mittel, das es im Einsatz gerade gegen Terro-
risten gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU Jörg van Essen
[FDP]: Die Grünen haben auch noch die Ab-
schaffung des § 129 a StGB gefordert!)
Herr Bundesinnenminister, ich begrüße auch, dass wir
das ist kein neuer Vorschlag das Religionsprivileg ab-
schaffen. Extremistische Organisationen, die sich unter
dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft terroris-
tisch-kriminellen Machenschaften widmen, müssen ver-
boten werden. Dies hat insbesondere für Islamisten zu
gelten, die eine Gesellschaftsordnung nach den Grundsät-
zen der Scharia errichten wollen. Dies steht, um es zu wie-
derholen, in unauflöslichem Widerspruch zum Prinzip der
Volkssouveränität, zum Mehrheitsprinzip und zum
Gleichheitsgrundsatz, also zur freiheitlich-demokrati-
schen Grundordnung schlechthin.
Deswegen müssen wir auch Verbote aussprechen, Herr
Bundesinnenminister: Es darf keinen Platz für Terroristen
in Deutschland geben. Wer sich extremistisch betätigt,
muss ausgewiesen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU Dr. Wolfgang
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ohne Wenn
und Aber!)
Wer eine Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland
darstellt, weil er schwere Straftaten begeht, darf durch das
deutsche Asylrecht nicht geschützt werden. Sie haben zu
Recht auf die UN-Resolution verwiesen.
Ich habe neulich einen Artikel eines Kollegen, der in
der SPD für Innenpolitik zuständig ist, gelesen. Der Kol-
lege Wiefelspütz, der nach mir redet, schrieb: Die Grund-
rechte gelten auch für Extremisten. Meine Damen und
Herren, wer sich extremistisch betätigt, verwirkt diese
Grundrechte; das ist unsere Position.
(Beifall bei der CDU/CSU Ludwig Stiegler
[SPD]: Das entscheidet Karlsruhe! Volker
Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Damit bewegen Sie sich außerhalb unserer Ver-
fassung! Herr Marschewski muss auch ausge-
wiesen werden! Ludwig Stiegler [SPD]: Er ist
schon außerhalb der Verfassung! Wir müssen
ihn beobachten!)
Der Bundesinnenminister hat auch den Datenschutz
angesprochen. Ich bin voll Ihrer Meinung. Sie kennen un-
sere Philosophie: Datenschutz ja, Täterschutz nein! Das
ist keine Leerformel. Können Sie sich vorstellen, dass es
nicht möglich war, in Deutschland die Daten aller Studen-
ten je nach Ländern getrennt die in technischen, si-
cherheitsrelevanten Bereichen studieren, zusammenzufas-
sen? Da legt der Bundesbeauftragte für den Datenschutz
Einspruch ein und den Diensten ist dies untersagt. Das
kann doch nicht sein, gerade angesichts der neuen Er-
kenntnisse, die wir haben. Datenschutz ja, Täterschutz
nein das ist unsere Position!
(Beifall bei der CDU/CSU Ludwig Stiegler
[SPD]: Ein Dampfplauderer bist du!)
Ach, Herr Kollege Stiegler! Es ist nicht einmal ein hal-
bes Jahr her, da habe ich an dieser Stelle das Ausländer-
zentralregister gefordert. Sie haben Nein gesagt. Ich be-
danke mich, dass es jetzt gemacht wird. Bei den
Fingerabdrücken haben Sie vor einem halben Jahr Nein
gesagt ich kann Ihnen die Rede gleich zeigen , wir ha-
ben Ja gesagt. Wir haben gesagt, wir müssten die Not-
wendigkeiten im Datenschutz neu definieren. Wir haben
Ja gesagt, Sie haben Nein gesagt.
(Ludwig Stiegler [SPD]: Fragen Sie sich mal,
aus welchen Gründen Sie das wollten! Das hat
mit dem Terror nichts zu tun! Er kennt nicht ein-
mal sein eigenes Gesetz!)
Wir haben gesagt, wir wollen ausländische Personen und
Organisationen erfassen. Sie haben Nein gesagt, wir ha-
ben Ja gesagt.
Meine Damen und Herren, der Staat darf sich nicht un-
wissender stellen als er ist. Das ist das Problem. Auch Po-
lizeien und Dienste wir haben das ebenfalls gefordert
müssen noch enger, noch mehr zusammenarbeiten. Auch
da sind Verbesserungen möglich. Ich weiß, dass Sie in der
letzten Zeit Maßnahmen ergriffen haben.
Gemeinsam müssen wir auch den Terrorismus
bekämpfen. Sie, Herr Bundesinnenminister, haben Vor-
schläge unterbreitet. Wir, die Union, geben Ihnen hierfür
die politische Rückendeckung.
Wir haben ein Programm in den Deutschen Bundestag
eingebracht mit dem Titel: Sicherheit 2001. Wir sagen
darin, was zur Bekämpfung des internationalen Terroris-
mus zu tun ist. Wir hoffen, meine Damen und Herren, sehr
geehrter Herr Bundesminister, insbesondere auf Ihre Un-
terstützung. Wir bitten auch um die Zustimmung der Mit-
glieder des gesamten Deutschen Bundestages, weil der
Terrorismus uns alle bedroht.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Häfner vom
Bündnis 90/Die Grünen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Jetzt kriegen wir von Herrn Häfner eine Grund-
gesetzerklärung!)
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lie-
ber Herr Marschewski, ich werde es kurz machen, aber
deutlich. Denn Ihr Beitrag hat mich doch
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Tief getroffen!)
erschrocken. Ich habe vor allen Dingen folgende Sätze
mitbekommen: Sie haben gesagt: Wer sich extremistisch
bewegt, darf keine Grundrechte genießen. Damit bewe-
gen Sie sich außerhalb des Konsenses unseres Grundge-
setzes, Herr Marschewski.
Die Grundrechte gelten in der Tat für jeden. Extremis-
tische Äußerungen das gilt auch für das, was Sie heute
vorgetragen haben sind nach geltendem Recht noch kein
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Grund, dass diese verwirkt werden. Ein Zweites, möchte
ich deutlich sagen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war weit über-
zogen, was Sie gerade gesagt haben!)
Herr Geis, Sie kennen das Grundgesetz genauso gut wie
ich. Soll ich Ihnen es vorlesen?
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das brauchen Sie
nicht! Ich habe den Herrn Marschewski ganz
anders verstanden als Sie!)
Da heißt es:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift
und Bild frei zu äußern... Alle Deutschen haben das
Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich
und ohne Waffen zu versammeln.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Ausländer nicht!)
Alle Deutschen, heißt es hier, auch solche mit extremis-
tischen Gesinnungen. Für diese Rechte werden wir kämp-
fen. Wir werden mit Gesetzen und darauf gestützten Ein-
griffsmöglichkeiten verhindern, dass Terror stattfindet
und Gewalt gebraucht wird. Aber wir werden nicht die
Grundrechte zur Disposition stellen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat Kollege
Marschewski auch nicht gesagt!)
Hören Sie doch einmal einen Moment zu und lassen Sie
es mich in einem zweiten Punkt noch deutlicher sagen. Sie
haben gesagt: Wer Freiheit gegen Sicherheit ausspielt,
wird beides verwirken.
Genau dies ist aber der Auftrag der freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung, unserer Verfassung, dass Frei-
heit und Sicherheit immer wieder in jedem einzelnen
Punkt aufs Neue gegeneinander abgewogen werden müs-
sen. Ohne solche Abwägung hätten wir keine freiheit-
lich-demokratische Grundordnung mehr.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber nicht ausge-
spielt!)
Nein, Art. 1 sagt unmissverständlich: Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen
ist oberste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Der
Staat hat diese Würde zu achten. Sicherheit muss gegen
Freiheit abgewogen werden.
Wer hier so redet, als könne man auf diese Abwägung
künftig verzichten oder bräuchte sie von heute an nicht
mehr zu treffen, der macht mir Angst.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie reden wie
ein Obermoralist! Norbert Geis [CDU/CSU]:
Das hat hier keiner gesagt!)
Mir sind Sicherheits- und Innenpolitiker, die diese Abwä-
gung maßvoll und besonnen treffen, lieber.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege
Marschewski, Sie wollen antworten? Bitte sehr.
Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Häfner, der Bundesinnenminister hat vorhin
von krausem Zeug gesprochen. Das war gerade auch
krauses Zeug. Jeder deutsche Bürger hat das Recht, sich
zu versammeln und zu demonstrieren; Versammlungs-
freiheit gilt selbstverständlich für alle. In Art. 18 steht
aber: Wer dies zum Kampf gegen die freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung missbraucht das tun Terroris-
ten , der verwirkt diese Grundrechte. Das sollten Sie als
Parlamentarier zumindest wissen, lieber Herr Kollege.
(Beifall bei der CDU/CSU Volker Beck [Köln]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat immer
noch das Recht auf einen rechtsstaatlichen Pro-
zess!)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Dieter Wiefelspütz von der SPD-
Fraktion.
Dieter Wiefelspütz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach einer weitgehend sach-
lich geführten Debatte gibt es nun doch noch Aufwallun-
gen. Herr Marschewski, ich schätze Sie durchaus als ker-
nigen, kantigen Kollegen im Innenausschuss. Ich meine
das so, wie ich es sage. Lesen Sie aber bitte später einmal
nach, was Sie gesagt haben. Sie haben zumindest den Ein-
druck erweckt, als seien Sie es, der einem Menschen
Grundrechte aberkennen könnte. Das ist nicht der Fall.
Das dürfen Sie nicht. Hinsichtlich der Frage, ob Grund-
rechte verwirkt werden, gilt Art. 18 Grundgesetz. Es steht
ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht zu nicht
Ihnen und auch nicht mir , Menschen Grundrechte abzu-
erkennen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Zuruf von der CDU/CSU:
Herr Wiefelspütz, das weiß doch hier jeder!)
Das hätten Sie etwas anders formulieren können und auch
müssen. Ich bitte Sie in aller Besonnenheit, da noch ein-
mal nachzuschauen.
Die Bundesrepublik Deutschland war vor dem 11. Sep-
tember ein sehr freies und auch ein sehr sicheres Land. Es
macht überhaupt keinen Sinn, wenn wir uns heute im
Nachhinein vor dem Hintergrund des 11. Septembers
wechselseitig vermeintliche Nachlässigkeiten vorhalten,
die wir vor dem 11. September begangen hätten.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss man
schon sagen! Wir haben oft genug auf Granit
gebissen!)
Wen interessiert denn das eigentlich? Die Bürgerinnen
und Bürger, lieber Herr Geis, haben einen Anspruch da-
rauf, dass der Staat innere Sicherheit verbürgt.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Opposition
muss dafür sorgen, dass es auch ge-
schieht!)
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Wofür haben wir denn den Staat? Wir haben den Staat vor
allem dafür, dass den Bürgern Sicherheit vermittelt wird;
denn Sicherheit ist eine unerlässliche Voraussetzung für
Freiheit.
(Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])
Da sind wir alle einer Meinung, Herr Kauder; das wol-
len Sie doch nicht bestreiten?
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hätten Sie
schon vorher machen müssen!)
Lieber Herr Kauder, auch vor dem 11. September war
die Bundesrepublik Deutschland eines der freiesten und
eines der sichersten Länder der Welt. Wollen Sie das
ernstlich bestreiten? Das können Sie doch nicht ernstlich
bestreiten.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir hatten auch da
unsere Probleme! Schauen Sie sich doch die
Kriminalität an!)
Daran wird sich auch nach dem 11. September nichts
ändern. Ich füge allerdings hinzu: Weil niemand von uns,
weder hier in Deutschland noch andernorts bis auf ei-
nige schlimme Verbrecher , sich den 11. September hätte
vorstellen können, werden wir auf die neuen Fragen, die
sich stellen, auch neue Antworten finden müssen. Das tun
wir entschlossen, zielorientiert, kraftvoll, aber auch be-
sonnen. Wir wollen da haben wir keine Einigkeit keine
Militarisierung der inneren Sicherheit. Wir brauchen
keine neuen Vorschriften für die Bundeswehr, die vor al-
len Dingen für die äußere Sicherheit zuständig ist. In Be-
zug auf ihren Einsatz im Innern haben wir völlig ausrei-
chende Vorschriften.
(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])
Polizei kann Militär nicht ersetzen; Militär kann Polizei
nicht ersetzen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das will auch
keiner!)
Das wissen wir alle doch auch. Das sind Geisterdiskus-
sionen, die da geführt werden. Wir brauchen keine neuen
Behörden,
(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])
sondern da und dort bei bestehenden Behörden mehr Ef-
fektivität und auch mehr Geld und Personal, damit sie ihre
Arbeit in den Bereichen, in denen sie überlastet sind, bes-
ser machen können.
(Beifall bei der SPD Norbert Geis [CDU/
CSU]: Und wir brauchen neue Gesetze!)
Wir brauchen auch keine Nationalgarde ein Vorschlag,
der übrigens auch aus unseren Reihen kam , weil das,
was die Amerikaner durchaus erfolgreich machen,
nicht mit dem vergleichbar ist, was wir hier in Deutsch-
land machen. Wir haben ein anderes Verfassungsgefüge.
Wir müssen klar und zielorientiert das tun, was nötig
ist. Wir werden keine totale Sicherheit herstellen können.
Das ist aber auch nicht gefragt. Das Menschenmögliche
muss gemacht werden. Das, was notwendig ist seien wir
doch auch da ganz freimütig , lieber Herr Marschewski,
werden wir hier in diesem Hause mit breiter Mehrheit tun.
Das Sicherheitspaket 1 hat Ihre Zustimmung, die der FDP
und vielleicht auch die der PDS gefunden. Das Sicher-
heitspaket 2, das in Vorbereitung ist, wird ebenfalls mit
breitester Mehrheit beschlossen werden. Ich kann nicht
ausschließen, dass noch ein drittes oder viertes Paket fol-
gen wird.
Ich bin der Auffassung, dass die Sicherheitsphiloso-
phie in Deutschland durch den 11. September nachhaltig
beeinflusst werden wird. Wir werden das Rad nicht neu
erfinden müssen. Dennoch muss man feststellen, dass
sich die Lage verändert hat.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
Wir werden noch viele Monate die Maßnahmen abarbei-
ten müssen, die sich aus den Herausforderungen ergeben.
Wir tun dies aber als freiheitlicher Rechtsstaat, weil wir
dieses kostbare Gut Freiheit nicht gefährden wollen. Wir
werden Antworten finden, die auf den Mitteln eines sich
entschlossen verteidigenden Rechtstaates beruhen. Dazu
gibt es keine Alternative. Das ist die Gemeinsamkeit, die
uns alle eint.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir sollten nicht versuchen, Schlachten der Vergangen-
heit zu schlagen,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Haben wir nicht
gemacht!)
die uns wirklich nicht weiterbringen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wenn Sie in unse-
rer Lage wären: Was würden Sie alles veran-
stalten!)
Lieber Herr Marschewski und lieber Herr Geis, ob Sie es
glauben oder nicht: Sie werden diesem Kurs der Bundes-
regierung folgen.
Ein Schlusssatz. Wer glaubt, er könne bei Rot-Grün auf
Streit über die innere Sicherheit spekulieren, den werden
wir enttäuschen; denn Rot-Grün wird gemeinsam han-
deln.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Erwin Marschewski [Recklinghau-
sen] [CDU/CSU]: Das glauben Sie wohl selbst
nicht!)
Innere Sicherheit ist ein Markenartikel von Rot-Grün.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Lachen bei der CDU/CSU)
Es ist auch ein Markenartikel des Ministers, den wir ge-
meinsam unterstützen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Jetzt haben Sie in die falsche Kiste gegriffen!
Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Ströbele ist ein
Markenartikel der inneren Sicherheit! Herr Beck
ist ein Markenartikel der inneren Sicherheit!)
Herr Marschewski, wir haben den Personalabbau beim
Bundesamt für Verfassungsschutz gestoppt.
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Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, Sie wa-
ren doch schon in der Schlussphase Ihrer Rede.
Dieter Wiefelspütz (SPD): Jawohl. Herr Ströbele
und der innenpolitische Sprecher einer anderen Regie-
rungspartei, den Sie, Herr Marschewski, gerade ange-
sprochen haben, haben das G-10-Gesetz vor dem 11. Sep-
tember verantwortlich entworfen. Im Übrigen haben auch
Sie diesem Gesetz zugestimmt. Dies ist ein Gesetz, das
wir gerade vor dem Hintergrund weltweiter terroristischer
Herausforderungen dringend benötigen. Sie werden sich
wundern, was uns in Sachen innere Sicherheit noch alles
einfällt, Herr Marschewski.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Lachen bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Max Stadler.
Dr. Max Stadler (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der erste Teil der Rede von
Herrn Wiefelspütz danach ist er zum Wahlkampf über-
gegangen und die Kurzintervention des Kollegen
Häfner haben wie manche andere Beiträge das Kernpro-
blem der heutigen Aussprache berührt: das Verhältnis von
Sicherheit und Freiheit. Deswegen möchte ich Sie daran
erinnern, dass dieses Hohe Haus im Frühjahr dieses Jah-
res fraktionsübergreifend einen Beschluss gefasst hat, mit
dem wir uns verpflichtet haben, Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt zu be-
kämpfen. Wir sehen es nämlich als unerträgliche Ein-
schränkung der persönlichen Freiheit an, wenn sich Men-
schen in so genannten national befreiten Zonen nicht
mehr sicher und frei bewegen können. Unser Grundge-
danke war: Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Dieser Grundgedanke gilt angesichts der Bedrohung
durch den internationalen Terrorismus erst recht. Des-
halb unterstützt die FDP als Freiheitspartei ausdrück-
lich die Bemühungen der Bundesregierung und des
Bundesinnenministers Otto Schily, die innere Sicher-
heit in Deutschland zu verbessern.
Ein Kriterium für die Zustimmungen im Einzelnen ist
selbstverständlich, dass die Maßnahmen geeignet und
notwendig sein müssen. In diesem Zusammenhang
kommt man sehr rasch zur Frage des Vollzugsdefizits bei
der inneren Sicherheit: Woran liegt es, dass offenkundig
die zahlreichen zum Beispiel von CDU/CSU und FDP in
den beiden letzten Legislaturperioden beschlossenen Si-
cherheitsgesetze in der Praxis nicht richtig und nicht
ausreichend angewandt werden? Man kommt rasch zu der
Feststellung, dass es den Sicherheitsbehörden an Perso-
nal- und Sachausstattung fehlt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Politik muss bereit sein, den Sicherheitsbehörden das
notwendige Personal und die notwendige Ausstattung zur
Verfügung zu stellen.
(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber für den Haus-
halt waren Sie damals auch zuständig!)
Wir dürfen die Innenminister, die Justizminister und die
Finanzminister von Bund und Ländern aus dieser Verant-
wortung nicht entlassen. Denn das wäre die wirksamste
Maßnahme, die man sofort ergreifen könnte.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Darüber hinaus werden nun zahlreiche Gesetzesände-
rungen diskutiert. Die FDP-Fraktion hat dazu in einem
umfangreichen Thesenpapier bei weitgehender Zustim-
mung zu den Vorschlägen der Bundesregierung eine
differenzierte Position vertreten. Wir werden den notwen-
digen Gesetzesänderungen zustimmen. Aber das heißt
nicht, dass wir alles unbesehen unterschreiben werden.
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Warum nicht?
Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Zum Beispiel bleibt die FDP dabei, dass jetzt nicht unter
dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung der gläserne
Bürger geschaffen werden darf.
(Beifall bei der FDP)
Meine Damen und Herren, es ist dem Vorschlag zuzu-
stimmen, neue identitätssichernde Maßnahmen vorzuse-
hen, etwa Fingerabdrücke oder vielleicht modernere tech-
nische Maßnahmen für die Ausweispapiere.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Genetische Fingerabdrücke?)
Das eigentliche Problem ist doch: Was geschieht mit Da-
ten, die notwendigerweise erhoben werden? Da ist aller-
dings durch die Datenschutzgesetzgebung und auch durch
die verdienstvolle Tätigkeit der Datenschutzbeauftragten
zum Beispiel berichtet Herr Jacob jährlich dem Bun-
destag sichergestellt, dass diese Daten ausschließlich
zweckgebunden verwandt werden. Darauf kommt es an.
(Beifall bei der FDP)
Herr Minister Schily, wir sind Ihnen dankbar, dass Sie
heute klargestellt haben, dass der Einsatz der Bundes-
wehr nach innen über das verfassungsmäßig zulässige
Maß hinaus für Sie nicht infrage kommt, ebenso wenig
die Schaffung unnützer Bürokratien wie eines Bundessi-
cherheitsamts. Das deckt sich voll mit der Auffassung der
FDP.
Meine Damen und Herren, zu einer rationalen Sicher-
heitspolitik gehört auch die ständige Erfolgskontrolle von
gesetzgeberischen Maßnahmen. Die FDP hatte sich dafür
eingesetzt, im Bereich der Telefonüberwachung eine sol-
che Erfolgskontrolle durch den Bundestag einzuführen.
An diesem Modell werden wir uns auch jetzt bei neueren
gesetzlichen Maßnahmen orientieren, weil wir wollen,
dass Gesetzgebung nicht Aktionismus bleibt, sondern
wirklich erfolgsbezogen arbeitet.
(Beifall bei der FDP)
Lassen Sie mich als Letztes noch erwähnen, dass im
Zuge der internationalen Bedrohung vieles Stückwerk
bliebe, wenn Maßnahmen nicht international vereinbart
würden, mindestens EU-weit. Sonst könnte manches, was
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118726
(C)
(D)
(A)
(B)
jetzt vorgeschlagen wird, zu leicht umgangen werden.
Dies ist ein besonders wichtiger Aspekt aus der Sicht der
Freien Demokraten.
Meine Damen und Herren, ich möchte insofern um
Verständnis für den Kollegen Marschewski werben, als
seine Formulierung zu der Frage, wer Grundrechte hat
und wer sie nicht hat, in der Hitze des Gefechts vielleicht
nicht völlig geglückt war. Es ist doch völlig selbstver-
ständlich, dass jeder Mensch das unveräußerliche Recht
auf Leben und die Menschenwürde hat und dass es un-
veräußerliche Menschenrechte gibt.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Alle vier im ersten Artikel sind nicht ein-
schränkbar!)
Weil ein solcher sprachlicher Lapsus eben auch einmal
vorkommen kann, darf ich am Schluss mein ceterum cen-
seo wiederholen: Wir werden die Freiheit und die Sicher-
heit schützen, aber ausschließlich mit rechtsstaatlichen
Mitteln.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/7026, 14/7025, 14/7008,
14/6834, 14/5938 und 14/6079 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dazu
gibt es keine anderen Vorschläge. Dann ist es so be-
schlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz-
punkt 3 auf:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Karl-Josef Laumann, Brigitte
Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Arbeit vermitteln statt Arbeitslosigkeit verwal-
ten Mehr Beschäftigung durch Effizienz,
Transparenz und Subsidiarität im Arbeitsför-
derungsrecht
Drucksache 14/6162
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi
Knake-Werner, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn,
Pia Maier und der Fraktion der PDS.
Der Einstieg in einen öffentlich geförderten Be-
schäftigungssektor ermöglichen.
Drucksache 14/7070
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Damit sind Sie ein-
verstanden.
Nun warte ich, bis der Schichtwechsel sich erledigt
hat. Eigentlich können die Innenpolitiker ruhig zuhören;
das kann sie auch interessieren. Herr Geis bleibt sitzen;
sehr gut.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
[CDU/CSU]: Darf er?)
Ich habe gerade eingeladen, zu dem wichtigen Thema
hier zu bleiben.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann bleibe
ich hier!)
Dann darf ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat
die Kollegin Schnieber-Jastram für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU) (von Abge-
ordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in
diesen Tagen des Terrors und der Bomben an das Redner-
pult dieses Hauses tritt, um über Arbeitsmarktpolitik zu
sprechen, dann hat man immer ein bisschen das Gefühl,
man spreche über Nebensächlichkeiten.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist nicht wahr!)
Ich möchte sehr deutlich machen, dass das nicht der
Fall ist. Wir sprechen hier über das Schicksal von knapp
3,8 Millionen Menschen und deren Familien. Es gibt eine
Reihe von Anzeichen, die sehr sorgenvoll stimmen. Man
muss zur Kenntnis nehmen, dass es 73 Prozent mehr
Kurzarbeiter gibt. Hiervon sind 113 000 Menschen be-
troffen. Wenn vor diesem Hintergrund die stellvertretende
DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sich eher als
Steigbügelhalterin der Regierung betätigt und vergisst,
dass auch die DGB-Mitglieder Interessen haben,
(Zurufe von der SPD: Oh!)
dann versetzt mich das in ziemlich großes Erstaunen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Klaus
Brandner [SPD]: Sprechen Sie zu Ihrem An-
trag!)
Was hat der Bundeskanzler in den vergangenen drei
Jahren für den Abbau der Arbeitslosigkeit getan? Was ist
aus seinen vollmundigen Versprechungen geworden?
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Gute Frage!
Dirk Niebel [FDP]: Heiße Luft! Andrea
Nahles [SPD]: Sehr viel und Gutes!)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Max Stadler
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(B)
Was macht sein Arbeitsminister Riester? Ist es wirklich
ein Zufall, dass man seinen Namen nur noch im Zusam-
menhang mit dem Altersruhegeld hört?
(Andrea Nahles [SPD]: Das ist jetzt aber der
pure Neid!)
Ich zitiere ja immer gerne die Süddeutsche Zeitung
das tun auch viele andere meiner Kollegen , weil ihr
keine übertriebene Nähe zur CDU/CSU nachgesagt wer-
den kann.
(Dirk Niebel [FDP]: Das gilt auch für
die FDP!)
Dort heißt es zu den neuesten Arbeitsmarktzahlen:
Die rot-grüne Koalition hat sich längst mit der
Massenarbeitslosigkeit abgefunden. Für den SPD-
Vorsitzenden Schröder ist dieser Umstand ein Ar-
mutszeugnis.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn wir schon von einem Armutszeugnis sprechen,
dann sollte ich auch auf Ihr so genanntes Job-Aqtiv-Pro-
gramm es enthält ja dieses neckische Q eingehen.
(Renate Rennebach [SPD]: Seit wann ist Qua-
lifizierung neckisch?)
Dazu kann ich nur sagen: Wenn Herr Riester für die Ar-
beitsmarktpolitik so viel Fantasie aufbringen würde wie
für das Erfinden von Namen, dann würden wir heute ein
Stückchen weiter sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es sprengt ein wenig den Zeitrahmen, wenn man hier
alle Kritikpunkte aufzählen will. Auch will ich nicht die
für den nächsten Montag geplante Anhörung vorwegneh-
men.
(Andrea Nahles [SPD]: Da sind wir aber froh!)
Aber eines möchte ich deutlich machen: Ihr neues Instru-
ment, eine beschäftigungsschaffende Infrastrukturför-
derung, ist nicht nur beschäftigungspolitisch unwirksam,
sondern auch ordnungspolitisch völlig verfehlt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte Ihnen hierzu einmal vorlesen, was Ihre
Staatssekretärin Frau Ulrike Mascher
(Andrea Nahles [SPD]: Können Sie außer Zi-
taten noch etwas anderes sagen?)
in der Aktuellen Stunde am 4. April 2001 meiner Kollegin
Dagmar Wöhrl auf die Frage, ob es Überlegungen gebe,
Mittel aus ABM in kommunale Investitionen umzu-
lenken, geantwortet hat. Ihre Staatssekretärin hat dazu
gesagt, eine unmittelbare Förderung kommunaler Investi-
tionen scheide aus. Kommunale Investitionen gehörten
ich zitiere wörtlich
... zu den gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die
aus Steuermitteln finanziert werden müssen.
(Dirk Niebel [FDP]: Da hat sie ausnahmsweise
einmal Recht gehabt!)
In Ihrem hierzu vorliegenden Gesetzentwurf machen
Sie allerdings eine absolute Kehrtwendung hinsichtlich
dieser Aussage. Ich wäre einem Vertreter der Regierung
bzw. der Regierungsfraktionen wirklich sehr dankbar,
wenn er mir die Ursachen für diese Neuorientierung, die
seit April dieses Jahres erfolgt, erläutern könnte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Entwurf eines Job-Aqtiv-Gesetzes beinhaltet of-
fensichtliche Fehler. Dennoch bin ich der Meinung, man
sollte das Angebot des Ministers Riester, bei der Reform
des Arbeitsförderungsgesetzes einen Konsens mit der
Opposition zu erzielen, nicht ignorieren. Ich hoffe, das ist
auch Ihre Position. Nehmen wir also einfach unseren vor-
liegenden Antrag als Grundlage für einen Konsens und er-
gänzen ihn um die guten Ideen aus dem Entwurf Ihres
Job-Aqtiv-Gesetzes!
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!
Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]: Das macht es
auch nicht besser!)
Ich weiß allerdings nicht, ob unser Antrag durch diese Er-
gänzung bedeutend länger wird. Denn obwohl einige
Denkansätze in Ihrem Entwurf in die richtige Richtung
gehen, sind die daraus folgenden Maßnahmen in der Re-
gel so betulich und so vorsichtig, dass jede Wirkung ver-
puffen muss.
Es wird so bleiben, wie es bereits seit langer Zeit unter
der Regierung Schröder ist: Deutschland belegt im euro-
päischen Umfeld Sie wollen das nicht wahrhaben; ich
habe das gestern im Ausschuss gemerkt sowohl bezüg-
lich des Wirtschaftswachstums als auch bezüglich des Ab-
baus der Arbeitslosigkeit einen der hinteren Plätze. Daher
muss man die Frage stellen: Warum ist das so? Weil un-
ter dieser Bundesregierung die drei Kernbegriffe einer
guten Arbeitsmarktpolitik nicht nur vernachlässigt, son-
dern sogar zurückgedrängt wurden. Diese drei Begriffe
sind: Effizienz, Transparenz und Subsidiarität.
(Andrea Nahles [SPD]: Mein Gott, das ma-
chen wir doch, Frau Schnieber-Jastram!)
Ich will diese drei Begriffe hier einmal verständlicher
machen:
Stichwort Effizienz. Die Steuerzahler und diejenigen,
die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, geben
jährlich 40 Milliarden DM und mehr für Arbeitsför-
derungsprogramme aus, aber kein Mensch im Hause
Riester weiß letztendlich, wie viele Erwerbslose durch
diese 40 Milliarden DM wieder in Arbeit gekommen sind.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
[CDU/CSU]: Traurig!)
Wir fordern deshalb eine strikte Kontrolle der arbeits-
marktpolitischen Maßnahmen über eine Auswertung der
vermittelten Personen. Programme, die ihre Wirksamkeit
nicht über eine ausreichende Zahl von Vermittlungen in
den ersten Arbeitsmarkt nachweisen können, müssen ent-
weder verbessert oder eingestellt werden. Arbeitsmarkt-
politik bedeutet für uns nämlich Vermittlung in den ersten
Arbeitsmarkt und sie bedeutet sicher nicht Parken der Er-
werbslosen in Programmen und Maßnahmen, nicht noch
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Birgit Schnieber-Jastram
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leichteres Abschieben der älteren Arbeitnehmer in die
Frühverrentung und nicht das Schieben der Langzeit-
arbeitslosen in die Drehtür zwischen Arbeitslosengeld
und Sozialhilfe.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Genau dies aber fördert die Bundesregierung mit ihrer
Arbeitsmarktpolitik; zumindest unterbindet sie es nicht.
Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass die im Job-Aqtiv-
Gesetz enthaltenen Ausweitungen bei ABM und den
Strukturanpassungsmaßnahmen nicht der richtige Weg
sind, und meine Kollegen teilen diese Position.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber hundert-
prozentig!)
Stichwort Transparenz. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Es kann wirklich nicht angehen, dass ein Hand-
werksmeister, fähig zum Beispiel zum Tischlern, mindes-
tens drei Semester Jura und ein bisschen Betriebswirt-
schaft studiert haben muss, um zu wissen, über welchen
der vielen Töpfe im Arbeitsförderungsgesetz er bei der
Einstellung von Langzeitarbeitslosen finanzielle Hilfe er-
halten kann.
(Klaus Brandner [SPD]: Und was sollen wir
jetzt machen? Klären Sie uns doch einmal auf,
Frau Schnieber-Jastram!)
Dies muss wirklich dringend vereinfacht werden und die
Subventionsmöglichkeiten müssen so durchschaubar und
praxisnah gestaltet werden, dass auch der Handwerker
dieses Instrument beherrschen kann, sodass sein Frust
über seine hohen Beiträge nicht darin mündet, dass er
sagt: Warum zahle ich immer für andere, kann das Instru-
ment aber nie selbst nutzen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dasselbe gilt natürlich für private und öffentliche Ver-
mittlertätigkeit. Wir brauchen klare Grundsätze. Ein Ar-
beitsloser, der nach zehn Bewerbungsgesprächen keine
Stelle bekommen hat, erhält zur Unterstützung eine Assis-
tenz an seine Seite, die ihm bei der Arbeitssuche hilft, aber
auch seine Arbeitsbereitschaft überprüft. Private Vermitt-
ler, die einen Langzeitarbeitslosen in Arbeit bringen, er-
halten eine nach der Schwere der Vermittelbarkeit festge-
legte Prämie, die diesen Vermittlerfirmen auch eine
Kalkulationssicherheit gibt. Nötig sind verlässliche und
einfache Grundlagen des Arbeitsförderungsrechts für Er-
werbslose, Arbeitgeber und Vermittler.
Als letztes Stichwort möchte ich die Subsidiarität an-
sprechen. Probleme am Arbeitsmarkt können am besten
vor Ort gelöst werden. Hier können die lokalen Gege-
benheiten berücksichtigt werden. Hier kann auch der
zielgenaue Einsatz der Hilfsangebote im Vordergrund
stehen.
So fordern wir beispielsweise einen größeren finanzi-
ellen Spielraum für die Arbeitsämter. Wir fordern eine
verbesserte Zusammenarbeit hier müssen Sie wirklich
in die Puschen kommen und etwas vorlegen, das über das
hinausgeht, was Sie jetzt vorhaben von Sozial- und Ar-
beitsämtern und darüber hinaus, dass den Beschäftigten in
den Arbeitsämtern durch eine umfassende Reform des
SGB III die Möglichkeit geschaffen wird, den Erwerbslo-
sen flexibel und zielorientiert zu helfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Effizienz, Transparenz und Subsidiarität, das sind die
Grundsätze, nach denen das Arbeitsförderungsrecht re-
formiert werden muss. Wir sehen diese Grundsätze das
werden Sie am Montag in der Anhörung sicher auch aus
dem Munde vieler Experten hören nur sehr ungenügend
umgesetzt. Deshalb fordern wir diese Bundesregierung
auf, unsere Vorschläge aus dem vorgelegten Antrag zu
übernehmen. Sie sollten dies schnell tun, bevor der Bun-
deskanzler sein Versprechen, die Arbeitslosenzahl auf
3,5 Millionen zu senken, durch das Versprechen ersetzen
muss, sie bei 4 Millionen zu halten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat der Kol-
lege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Beitrag,
den Frau Schnieber-Jastram gerade geleistet hat,
(Dirk Niebel [FDP]: Das war eine gute Rede!)
fiel mir ein, dass der CDU eigentlich die Luft ausgehen
muss. Denn was sie in der letzten Zeit Woche für Woche
an arbeitsmarktpolitischen Debatten hier vorgetragen hat,
zeugt gerade nicht von Sachverstand und von konkreten
Vorschlägen, die den Arbeitslosen helfen könnten, wieder
neue Beschäftigung zu finden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Bei uns steht die Sicherheit in der jetzigen Situation
ganz obenan. Ich meine damit auch die Sicherheit der
Arbeitsplätze. Der Opposition aber das will ich so deut-
lich sagen fällt nichts anderes ein als eine Mischung aus
Miesmachen und unausgegorenen Vorschlägen, die in der
Summe gar nicht zu verkraften sind.
(Heinz Schemken [CDU/CSU]: So kann man
mit uns nicht umgehen! Dirk Niebel [FDP]:
Na, na, na!)
Zur Panik besteht trotz der gebremsten Dynamik über-
haupt kein Anlass. Wir wollen den Menschen Sicherheit
geben.
Rufen wir uns in Erinnerung: gut eine Million Arbeits-
plätze mehr als 1998, obwohl gleichzeitig die Zahl der
ABM-Stellen um 150 000 zurückgegangen ist, und gut
220 000 weniger Arbeitslose als im September 1998. Das
sind eindrucksvolle, nachweisbare Zahlen. So etwas wie
die kohlschen Wahlkampf-ABM haben wir in dem Zu-
sammenhang nicht nötig. Über die Zahlen von 220 000 Ar-
beitslosen und 150 000 ABM-Stellen weniger das macht
zusammen 370 000 Beschäftigte mehr sollten wir uns
freuen. Sie sollten nicht ins Miesmachen verfallen. Das
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Birgit Schnieber-Jastram
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hilft den Arbeitslosen nicht weiter. Das ist keine gute
Stimmung, die Sie im Lande verbreiten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Kommen wir zu den Fakten zurück! Das Statistische
Bundesamt hat die Erwerbstätigenzahlen revidiert und
geringfügige Beschäftigungen, von denen Sie so regel-
mäßig gesprochen haben, auch für die vergangenen Jahre
eingerechnet. Der Zuwachs an Arbeitsplätzen ist also sta-
tistisch abgesichert. Wir können trotz des marginalen
Rückgangs im letzten Monat auf eine Million zusätzliche
Arbeitsplätze stolz sein. Das lassen wir uns von Ihnen,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und von der
FDP, nicht nehmen.
Reichlich unverfroren ist auch die Behauptung, dass
die Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt allein demogra-
phisch bedingt sei. Wenn wesentlich mehr Arbeitsplätze
entstehen, also Arbeitslosigkeit abgebaut wird, ist nach-
weislich der Druck auf den Arbeitsmarkt nicht schwächer,
sondern stärker geworden. Das Erwerbspersonenpoten-
zial steigt nämlich trotz einer Entlastung bei den älteren
Jahrgängen. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle:
Die Jahrgangsstärke der Jugendlichen im Osten nimmt
noch bis 2004 zu und Jugendliche aus der stillen Reserve
treten verstärkt in den Arbeitsmarkt ein. Beides zusam-
men hat dazu geführt, dass die Jugendarbeitslosigkeit
wenn auch noch nicht im gewünschten Umfang abge-
baut werden konnte.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Gerade das insgesamt sehr erfolgreiche JUMP-Pro-
gramm ist auch ein Beispiel dafür, dass es gelingen kann,
Jugendliche zu motivieren, die nicht als Arbeitslose re-
gistriert waren. In der Statistik wirkt sich das zwar nicht
aus. Wir stehen aber das will ich deutlich sagen voll
zu dieser Politik; denn wir machen Politik für die Men-
schen und nicht für die Statistik. Das haben Sie seit 1998
vergessen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die steigende Frauenerwerbstätigkeit ist sehr zu be-
grüßen, und zwar gerade auch vor dem Hintergrund, dass
in einigen Regionen und in bestimmten Berufen bereits
Engpässe an Fachkräften bestehen. Es gibt am Arbeits-
markt immerhin eine leichte Zuwanderung aus dem Aus-
land. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
geht von etwa hunderttausend Personen aus, die zusätz-
lich Jahr für Jahr auf dem Arbeitsmarkt Erwerbstätigkeit
nachfragen. Selbst bei der Erwerbstätigkeit Älterer zeich-
net sich ganz vorsichtig wieder eine Steigerung ab.
Insgesamt geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung bei der Berücksichtigung der von ihm un-
tersuchten Effekte also davon aus, dass das Angebot an
Arbeitskräften selbst in diesem Jahr noch leicht, um etwa
50 000, zunimmt. In den vergangenen zwei Jahren waren
es jeweils 200 000. Erst ab dem Jahre 2010 ist eine Ent-
spannung auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten.
Das belegt meiner Meinung nach, dass wir eine erfolg-
reiche Arbeit betrieben haben, um zusätzliche Erwerbsper-
sonen in Arbeit zu bringen. Die beschäftigungspolitischen
Erfolge lassen wir uns von Ihnen nicht kleinreden. Sie
haben bisher nicht belegt, dass Sie mit Ihren dauernden
Mitteilungen, der Beschäftigungszuwachs sei rein demo-
graphisch bedingt, faktisch Recht haben. Sie haben Luft-
nummern verbreitet. Die Zahlen habe ich Ihnen gerade
vorgetragen. Das ist der Beweis dafür, dass unsere Politik
erfolgreich gewesen ist.
(Beifall bei der SPD)
Die Konjunktur ist momentan der bestimmende Fak-
tor auf dem Arbeitsmarkt. Gerade deshalb muss man et-
was genauer hinsehen, um die strukturellen Verbesserun-
gen zu erkennen. Hier ist eine positive Wirkung unserer
Politik offensichtlich. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen
auch das müssen Sie sich merken ist innerhalb von drei
Jahren überaus deutlich, um exakt 202 000 oder um
14 Prozent, zurückgegangen. Ist das denn nichts? Darüber
sollten wir uns gemeinsam freuen, weil dadurch mehr
Menschen eine positive Zukunft haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die sind in
Altersteilzeit gegangen!)
Noch deutlicher, nämlich um 256 000 oder um 28 Pro-
zent, fällt der Abbau der Arbeitslosigkeit bei älteren Men-
schen ab 55 Jahren aus. Zugegebenermaßen spielt hier die
Veränderung im Altersaufbau eine Rolle.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Alters-
teilzeit!)
Da Herr Meckelburg nun schon zum zweiten Mal das
Stichwort Altersteilzeit einwirft, wird er sich daran er-
innern, was gerade gestern der Präsident der Bundesan-
stalt für Arbeit gesagt hat: Dieser nämlich hat deutlich
gemacht, wie das Bündnis für Arbeit die Altersteilzeit or-
ganisiert: Es hat den Tarifvertragsparteien eine Vorlage
geliefert und ein positives Ausgleiten aus dem Arbeitsle-
ben ermöglicht.
(Dirk Niebel [FDP]: Es ist gleichzeitig die
Frage, ob wir uns das erlauben können!)
Sie reden das Bündnis für Arbeit jeden Tag klein, obwohl
es positive Belege dafür gibt, wie wichtig die arbeits-
marktpolitischen Impulse sind, die genau aus dieser Insti-
tution gekommen sind.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen: Es
geht auch darum, dass wir einen deutlichen Rückgang der
Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderten zu verzeichnen ha-
ben. 23 600 Arbeitslose weniger bedeuten einen Rückgang
von 12,5 Prozent. Dieser Trend hat bei allen drei Gruppen
auch im letzten Monat angehalten. Wir widmen uns also der
strukturellen Arbeitslosigkeit, die sich in Ihrer Regierungs-
zeit verfestigt hat. Das sind Erfolge, auf die wir stolz sind.
Diese lassen wir uns von Ihnen nicht schlecht reden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Klaus Brandner
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Das Job-Aqtiv-Gesetz ist in dieser Situation selbst-
verständlich die richtige Antwort. Öffentliche Beschäfti-
gung bleibt erhalten, aber eindeutig nachrangig. Als neues
Angebot kommt die Beschäftigung schaffende Infrastruk-
tur hinzu. Sie bietet vor allem Kommunen in den neuen
Ländern und strukturschwachen Gebieten die Mög-
lichkeit, Aufträge zu vergeben, indem sie Investi-
tionsförderung und Arbeitsmarktmittel verbindet. Ohne
das neue Förderinstrument käme eine Auftragsvergabe
schlicht nicht zustande. Darüber hinaus gibt es Verfahren
mit klaren Vorgaben, die eine Verdrängung regulärer
Arbeitsplätze verhindern.
Kern des Gesetzes ist ansonsten, eine am Kunden ori-
entierte Arbeitsvermittlung durchzuführen. Die Arbeits-
vermittler sollen sich um jeden einzelnen Arbeitslosen in-
dividuell kümmern und eine Chancenprognose erstellen,
ein so genanntes Profiling. Danach wird in einer Einglie-
derungsvereinbarung festgelegt, welche Maßnahmen er-
forderlich sind. In den meisten Fällen wird eine passge-
naue Vermittlung ausreichen.
(Konrad Gilges [SPD]: Hört genau zu!)
Möglich sind aber auch Vermittlungshilfen von kurz-
fristigen Trainingsmaßnahmen bis zu Eingliederungszu-
schüssen. In schwierigen Fällen kommen Weiterbildungs-
maßnahmen in Betracht. Ganz zuletzt steht die Teilnahme
an Beschäftigungsfördermaßnahmen. Die Koalition setzt
damit einen wesentlichen Vorschlag aus dem Bündnis für
Arbeit um. Auch hier ist der Impuls in dieser funktionie-
renden Einrichtung zu suchen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Union und erst recht die FDP wollen hingegen die
Leistungen für Arbeitslose kürzen und Arbeitnehmer-
rechte abbauen.
(Dirk Niebel [FDP]: Das ist Quatsch!)
Der Vorschlag, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusam-
menzulegen, klingt zwar vordergründig plausibel.
Tatsächlich aber läuft er auf eine Abschaffung der Ar-
beitslosenhilfe hinaus.
(Dirk Niebel [FDP]: Herr Riester will es doch
auch, aber erst ab 2006!)
Wir wollen das nicht. Wir wollen allerdings unnötige
Bürokratie abbauen und die Hilfsangebote so zusammen-
führen, dass die Betroffenen etwas davon haben.
Sicherheit ist für uns unteilbar. Äußere, innere und so-
ziale Sicherheit gehören zusammen. Wir werden zu sol-
chen Vorschlägen der Opposition daher nicht die Hand rei-
chen. Einsparungen können wir auch auf andere Art und
Weise erreichen, durch schnelle Vermittlung und dadurch,
dass Langzeitarbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Klaus Brandner (SPD): Ich komme zum Schluss.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist
das Beste!)
Die Koalition hat ein klares Konzept. Die Kernelemente
dieses Konzepts sind Stabilisierung der Sozialversiche-
rungssysteme auf der Leistungsseite, Beitragsgerechtigkeit
und das systematisch wichtige Zusammenführen von Zu-
schüssen aus öffentlichen Haushalten.
Ich bin davon überzeugt: Spätestens im nächsten Jahr
werden wir bei der Arbeitsmarktentwicklung wieder ein
gutes Stück vorankommen. Sie werden uns daran erinnern
können, dass dank unserer soliden Politik die Arbeitslo-
sigkeit kontinuierlich abgebaut wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile dem Kolle-
gen Dirk Niebel für die FDP-Fraktion das Wort.
Dirk Niebel (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Nach der staatstragenden
Rede des Kollegen Brandner muss man sich darüber
wundern, dass die Arbeitslosenzahlen tatsächlich stei-
gen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Neben der äußeren und inneren Sicherheit, Herr Kol-
lege Brandner, ist die Bekämpfung bzw. der Abbau der
Arbeitslosigkeit das wichtigste innenpolitische Problem.
Bei der Lösung dieses Problems hat Rot-Grün eindeutig
versagt. Das bekommen Sie jeden Monat von Herrn
Jagoda aus Nürnberg erneut gesagt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Am 9. Juli 1998 hat der Bundeskanzler gesagt:
Der Aufschwung, den wir jetzt haben, ist mein Auf-
schwung.
Der Abschwung, den Sie, meine sehr verehrten Damen
und Herren von Rot-Grün jetzt haben, ist auch Ihr Ab-
schwung.
(Klaus Brandner [SPD]: Gehen Sie doch auf
die Datenlage ein!)
Der Kanzler hat versprochen, die Arbeitslosenzahlen
auf unter 3,5 Millionen zu senken ich beziehe mich gar
nicht auf den Versprecher vom März, als er von unter
3 Millionen gesprochen hat , aber diese Zahl wird er
nicht nur dieses Jahr, sondern leider auch nächstes Jahr
nicht erreichen. Das ist eine Katastrophe für die Betroffe-
nen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wir haben im Augenblick 3,743 Millionen Arbeitslo-
se Tendenz steigend! Seit neun Monaten steigt die Ar-
beitslosigkeit saisonbedingt. Erst vorgestern haben wir
wieder Zahlen aus Nürnberg bekommen: reale Steige-
rung um 48 000 Arbeitslose gegenüber dem Vorjahres-
monat.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Klaus Brandner
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Vor diesem Hintergrund erklärte Werner Schulz, grü-
ner Bundestagsabgeordneter aus dem Osten Deutsch-
lands, gestern in der Aktuellen Stunde: Die Situation am
Arbeitsmarkt ist nicht besorgniserregend.
(Klaus Brandner [SPD]: Sie reden an der
Wirklichkeit vorbei!)
Fragen Sie einmal die 3,7 Millionen arbeitslosen Frauen
und Männer in diesem Land, ob die Situation besorg-
niserregend ist, und erklären Sie ihnen, weshalb das so ist.
Der Bundeskanzler zieht sich darauf zurück, die Ar-
beitgeber, die Wirtschaft und die konjunkturelle Ent-
wicklung seien für diese Situation verantwortlich. Das ist
aber nicht wahr. Anhand der Entwicklung der Arbeits-
marktdaten können Sie feststellen, dass allein Ihre sture
Gesetzgebung maßgeblich für die Entwicklung am Ar-
beitsmarkt verantwortlich ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU Klaus Brandner [SPD]: Eine
Million mehr Erwerbstätige!)
Es ging damit los, dass Sie die guten Korrekturen der
alten Regierung zurückgenommen haben.
(Klaus Brandner [SPD]: Ein Glück, dass wir
das getan haben!)
Ich möchte auf das Kündigungsschutzgesetz verweisen.
Allein der Umstand, dass der Schwellenwert in diesem
Zusammenhang von zehn auf fünf Beschäftigte gesenkt
wurde, hat dazu geführt, dass der sechste, siebte, achte
und neunte Arbeitnehmer in kleinen oder mittleren Be-
trieben nicht mehr eingestellt wird. Diese Maßnahme hat
Arbeitsplätze gekostet. Die Regelung wäre ein Konjunk-
turprogramm gewesen, das keinen einzigen Pfennig an
Steuergeldern gebraucht hätte, aber Sie haben es kaputt-
gemacht.
Am 21. September 1998 also vor fast exakt drei Jah-
ren hat der Bundeskanzler in einem Interview des Spie-
gel gesagt:
Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote
signifikant zu senken, dann haben wir es weder ver-
dient, wiedergewählt zu werden, noch werden wir
wiedergewählt.
Dazu kann ich nur sagen, lieber Herr Bundeskanzler:
Versprochen ist versprochen! Bei diesen Arbeitsmarktda-
ten dürften SPD und Bündnis 90/Die Grünen überhaupt
nicht mehr zur Bundestagswahl antreten.
(Andrea Nahles [SPD]: Machen Sie sich keine
Hoffnungen!)
Sie haben Ihr eigenes Ziel verfehlt. Sie wollten sich am
Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen und müssen
sich nun immer wieder sagen lassen, dass Sie den Abbau
nicht geschafft haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Freie Demokratische Partei hat durch ihre Bundes-
tagsfraktion immer wieder gute Vorschläge zur Verbesse-
rung der Arbeitsmarktsituation vorgelegt: zur Integration
älterer Menschen, von Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfe-
empfängern und Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt. Was
sind Ihre Konzepte?
(Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie mal etwas
zu den Fakten! Keine Sprechblasen!)
Ihr Bundesverteidigungsminister in seiner Funktion als
Vorsitzender Ihrer Grundsatzkommission möchte den Ju-
gendlichen, ohne dass er Arbeits- oder Ausbildungsplätze
zur Verfügung stellt, erst einmal die Leistungen kürzen,
während er selbst für 400 000 DM für eine Nacht nach
Mallorca fliegt.
100 000 Arbeitslose mehr kosten 3 Milliarden DM
mehr und sorgen für Mindereinnahmen in Höhe von
300 Millionen DM. Der Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung hat in der gestrigen Ausschusssitzung ei-
nen Haushalt vorgelegt, der auf den überholten Daten
vom Mai dieses Jahres basiert und mit dem angeblich die
Arbeitsmarktpolitik zukunftsweisend gestaltet werden
soll. Das alles ist schon heute Makulatur. Das konnten Sie
spätestens daran erkennen, dass der Präsident der Bun-
desanstalt für Arbeit ebenfalls in der gestrigen Sitzung des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung erklärt hat, er
könne keinen Haushaltsansatz vorlegen, weil jeder Haus-
haltsansatz, den er jetzt ohne Kenntnis der Daten von
Ende Oktober vorlegen würde, ebenfalls Makulatur und
somit unredlich wäre. Mit einem solchen Haushalt könne
man keine Politik machen. Ich frage: Weshalb hat nicht
auch der Bundesarbeitsminister diese Konsequenz gezo-
gen? Weshalb zieht er sein Altpapier nicht zurück? Wes-
halb stellt er nicht auf ehrliche Art und Weise einen Haus-
halt auf, der transparent ist, und legt dem Deutschen
Bundestag ein Konzept vor, aus dem ersichtlich wird, wie
die Arbeitsmarktpolitik tatsächlich finanziert werden
kann?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat mit ihrem An-
trag, über den wir heute debattieren, eine gute Ergänzung
zu unseren bisherigen Anträgen vorgelegt, die wir nur un-
terstützen können.
(Lachen des Abg. Konrad Gilges [SPD])
Es ist angesichts von über 44 Milliarden DM für die ak-
tive Arbeitsmarktpolitik dringend notwendig, einmal zu
evaluieren, was das Ganze bringt. Es bringt überhaupt
nichts, wenn wir einen Wettbewerb um unterschiedliche
Subventionen in Gang setzen; denn ein solcher Wettlauf
würde nur dazu führen, dass gut gemeinte Maßnahmen
wie beispielsweise die Modellprojekte, die im Niedrig-
lohnsektor gerade erprobt werden, gar nicht erst in An-
spruch genommen werden, weil es andere Subven-
tionstatbestände gibt, die einfach günstiger sind.
(Zuruf von der SPD)
Herr Gilges, Sie können noch so sehr schreien.
(Konrad Gilges [SPD]: Ich habe gar nichts ge-
sagt! Das war der Herr Dreßen!)
Dann hat Herr Dreßen geschrien. Ihre beiden Stimmen
klingen sehr ähnlich.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dirk Niebel
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(B)
Es gibt einen Subventionsmarathon im Bereich der
steuerfinanzierten Sozialleistungen. Es gibt 153 verschie-
dene Arten solcher Leistungen, die von 47 verschiedenen
Behörden in Deutschland bewilligt werden. Das Gleiche
ist im Bereich der Arbeitsförderung festzustellen. Dieje-
nigen, die Hilfe brauchen, blicken nicht mehr durch. Die-
jenigen, die durchblicken, brauchen eigentlich keine Hilfe
mehr. Hier werden Steuern und Beiträge verschwendet.
Sie werden nicht darum herumkommen: Sie müssen
Ihren Versprechungen und nicht Ihren Versprechern Taten
folgen lassen. Sie müssen akzeptieren, dass Ihre Arbeits-
marktpolitik gescheitert ist. Sie müssen eine generelle
Kehrtwende einleiten. Dazu haben Sie jetzt eine Chance;
denn die Union hat ein Angebot gemacht, das unseres gut
ergänzt. Nutzen Sie es, damit wir gemeinsam etwas zum
Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt die
Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicherlich
ist es so, dass die aktuelle Entwicklung auf dem Arbeits-
markt in der Bundesrepublik Deutschland das gab es
auch schon in der Vergangenheit eine ernsthafte Dis-
kussion über die Beschäftigungssituation notwendig
macht. Das liegt daran, dass der Arbeitsmarkt ungeheuer
viele Gesichter hat. Natürlich sind wir stolz darauf, dass
wir es in den letzten Jahren durch unsere Steuer- und Ab-
gabenpolitik erreicht haben, dass die Arbeitslosigkeit
39 Monate in Folge Stück für Stück gesenkt worden ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Immerhin sind jetzt 500 000 Menschen weniger arbeitslos
und gibt es jetzt 1 Million Arbeitsplätze mehr als 1998, als
wir die Regierung übernommen haben. Übrigens, Herr
Niebel Sie sind ja noch anwesend , ich möchte Sie da-
rauf hinweisen, dass die neuen Arbeitsplätze hauptsäch-
lich in kleinen und mittleren Betrieben entstanden. Es ist
also nicht so, wie Sie gerade suggeriert haben, nämlich
dass sich dort nichts getan hätte. Das ist eines der vielen
Gesichter des Arbeitsmarktes.
Der Arbeitsmarkt hat aber auch ein anderes Gesicht.
Das ist besonders in den letzten zwei Monaten deutlich
geworden, weil die positive Entwicklung auf dem Ar-
beitsmarkt stagniert hat. Die Arbeitslosigkeit man darf
nicht vergessen, dass die Arbeitslosigkeit bereits auf ei-
nem enorm hohen Niveau war, als wir die Regierung
übernommen haben ist noch immer zu hoch. Es gibt zu
viele Langzeitarbeitslose. Die Arbeitslosigkeit ist vor al-
lem in den ostdeutschen Bundesländern viel zu hoch. Das
ist eben das andere Gesicht des Arbeitsmarktes. Deswe-
gen sage ich: Wir wollen ernsthaft diskutieren. Wir haben
auch ernst zu nehmende Vorschläge gemacht. Wir haben
gerade in der letzten Woche das Job-Aqtiv-Gesetz vor-
gelegt, weil es nach der Untätigkeit der vergangenen Jahre
höchste Zeit wird, dass eine Reform in der Arbeitsmarkt-
politik ernsthaft angegangen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Es lohnt sich in diesen Tagen natürlich darüber zu strei-
ten, ob es noch weitere Brücken in den Arbeitsmarkt für
Personen geben soll, die es besonders schwer haben, in
diesen hineinzukommen. Das tun wir auch.
Was uns die CDU/CSU heute mit ihrem Antrag gelie-
fert hat, sind wirklich alte Kamellen. Es ist schade, dass
Sie so in diese Debatte einsteigen. Ich habe mir heute
Morgen gedacht, Sie hätten vielleicht das Datum ver-
wechselt. Heute ist nicht der 11. November, sondern der
11. Oktober. Heute ist nicht Karnevalsbeginn, bei dem
man sich jeden Unsinn leisten kann.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Andrea Nahles [SPD]: Am
11. November können wir einmal eine Sonder-
sitzung machen!)
Weil ich befürchte, dass gerade Sie von der
CDU/CSU Ihren eigenen Antrag nicht kennen, möchte
ich Ihnen einmal zu Gemüte führen, was darin steht.
Darin steht zum Beispiel in der Überschrift: Arbeit
vermitteln statt Arbeitslosigkeit verwalten. Meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU, was machen wir
denn mit dem Job-Aqtiv-Gesetz? Da haben wir doch ge-
rade angesetzt. Wir haben den Ansatz von Arbeitsmarkt-
politik umgedreht, sodass die Vermittlung von Arbeits-
losen sofort beginnt, dass Langzeitarbeitslosigkeit
dadurch effektiv abgebaut wird, dass die Menschen gar
nicht erst langzeitarbeitslos werden müssen, um in die
Maßnahmen zu kommen.
(Dirk Niebel [FDP]: Das haben wir die ganze
Zeit schon beantragt! Wenn Sie unseren Anträ-
gen zugestimmt hätten, dann hätten wir das
schon! Warum haben Sie es abgelehnt, als wir
es beantragt haben?)
Was soll also diese Forderung? Sie rennen der Realität
hinterher.
Sie fordern des Weiteren mehr Effizienzkontrolle. Das
ist im Job-Aqtiv-Gesetz längst angelegt. Lassen Sie uns
darüber diskutieren!
Ich sage Ihnen noch eines: Das Effektivste am Arbeits-
markt ist das war aber auch schon zu Ihrer Regierungs-
zeit klar die sofortige Vermittlung.
(Dirk Niebel [FDP]: Natürlich!)
Das hätten auch Sie schon wissen können. Das sagt Ihnen
jeder Wissenschaftler, auch ohne Effizienzkontrolle.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja,
sofort.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dirk Niebel
18733
(C)
(D)
(A)
(B)
Das Zweitwichtigste ist die Qualifizierung. Auch da-
rauf hätten Sie mehr Gewicht legen sollen.
Ich gestatte jetzt gern eine Zwischenfrage.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Herr Kol-
lege.
Dr. Klaus Grehn (PDS): Frau Kollegin Dückert, kön-
nen Sie mir bitte sagen, was das Job-Aqtiv-Gesetz jenen
Millionen Arbeitslosen bringt, die sowohl arbeitsbereit als
auch hinreichend qualifiziert sind, die also sofort in den
ersten Arbeitsmarkt einsteigen könnten?
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Kollege Grehn, vielen, die hier zuhören, ist viel-
leicht nicht klar, dass Sie auf die ostdeutschen Bundes-
länder abzielen, in denen die Arbeitsmarktsituation so ist,
dass qualifizierte Arbeitskräfte nicht in den Arbeitsmarkt
hineinkönnen, weil die Arbeitsplätze fehlen. Auch damit,
Herr Kollege Grehn, haben wir uns im Job-Aqtiv-Gesetz
auseinander gesetzt. Das ist der Grund dafür, dass über die
Dezentralisierung der arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente den regionalen Arbeitsmarktakteuren die Möglich-
keit gegeben wird, die Instrumente zu nutzen, die Quali-
fikation und Integration in der Region am erfolgreichsten
fördern. Obwohl ABM, wie wir wissen, in vielen Regio-
nen nicht die höchste Effizienz haben, sind ABM in
bestimmten Regionen, in denen nämlich der erste Ar-
beitsmarkt große Lücken aufweist, gerade auch in den ost-
deutschen Regionen, unbedingt notwendig. Deswegen
haben wir dafür gesorgt, dass dieses Instrument dort wei-
terhin angewandt werden kann.
Das ist die Antwort im Job-Aqtiv-Gesetz. Sie wird
nicht reichen, um die konjunkturell bedingte Situation in
den ostdeutschen Ländern abzufedern. Wir halten weiter-
hin Hilfsmöglichkeiten, gerade auch regional angepasst,
bereit, die die Arbeitsämter nutzen können und nutzen
müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Konrad Gilges [SPD]: Jetzt
müssen Sie ihm noch sagen, er solle das Gesetz
lesen!)
Das können Sie ihm nachher sagen. Ich möchte der
CDU/CSU gern noch etwas zu ihrem Antrag sagen.
In dem Antrag wird beispielsweise gefordert, dass auch
Dritte vermitteln sollen. Das ist im Job-Aqtiv-Gesetz ent-
halten. In dem Antrag wird gefordert, dass Ältere stärker
qualifiziert werden sollen. Das haben wir bereits umge-
setzt. Das ist im Job-Aqtiv-Gesetz enthalten. Sie fordern
Jobrotation. Auch das ist bereits im Job-Aqtiv-Gesetz ent-
halten.
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das haben
Sie vor einem halben Jahr noch abgelehnt!)
Sie fordern Erleichterungen bei der Arbeitnehmerüberlas-
sung. Das ist im Job-Aqtiv-Gesetz enthalten.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Jetzt sa-
gen Sie bitte, wer wann was vorgelegt hat!)
Die Liste könnte ich fortsetzen.
(Dirk Niebel [FDP]: Wenn das enthalten ist,
dann können Sie doch zustimmen, dann macht
das doch nichts kaputt!)
Was Sie uns vorgelegt haben, hinterlässt bei mir wirk-
lich eine gewisse Ratlosigkeit. Es hinterlässt mich auch
ratlos, weil Sie in Ihrem Antrag zum Beispiel behaupten,
dass die Eingliederungsvereinbarungen, die wir vorsehen,
von Ihnen zwar begrüßt werden, in der Realität das hät-
ten Experten der Bundesanstalt für Arbeit behauptet
aber nicht praktikabel sind. Sind Sie eigentlich lernun-
fähig? Können Sie nicht zuhören?
(Renate Rennebach [SPD]: Ja!)
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat uns gestern
noch einmal bestätigt, dass sich die Bundesanstalt und die
Arbeitsämter längst darauf vorbereiten, die Eingliede-
rungspläne ab dem 1. Januar erfolgreich umzusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Was sie uns hier geboten haben, ist eigentlich etwas
traurig. Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht hilft, etwas
genauer hinzusehen, was dieser Antrag sonst noch enthält.
Vielleicht möchten Sie noch etwas anderes zum Ausdruck
bringen und dieser Antrag soll sozusagen als Trojanisches
Pferd eine andere Botschaft transportieren. Ich möchte ein
paar Punkte nennen, durch die ganz deutlich wird, worin
der diametrale Unterschied zwischen Ihren und unseren
arbeitsmarktpolitischen Ansätzen besteht.
Sie fordern, die Meldepflicht wieder einzuführen.
(Dirk Niebel [FDP]: Sehr vernünftig!)
Was soll eigentlich dieser bürokratische Schnickschnack,
der noch keinem Arbeitslosen zu Arbeit verholfen, son-
dern die Arbeitsämter beschäftigt hat. Wir schaffen Ein-
gliederungspläne.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist
dasselbe! Der muss sich melden, damit er ein-
gegliedert werden kann!)
Wir wollen nicht mehr Bürokratie, sondern die Integration
von Arbeitslosen. Was Sie vorschlagen, das ist Schikane
statt Hilfe.
Sie wollen ABM und SAM aus dem Haushalt der Bun-
desanstalt für Arbeit ausgliedern. Es handelt sich um ei-
nen Betrag in Höhe von 11 Milliarden DM. Dieser Vor-
schlag ist Teil eines größeren Pakets: 11 Milliarden DM
an dieser Stelle, 80 Milliarden DM für die vorgezogene
Steuerreform, 60 Milliarden DM für Ihr Kindergeld, das
macht insgesamt ungefähr 150 Milliarden DM. Wo steht
Ihr Goldesel? Ich glaube, Ihr Goldesel sind die Steuer-
zahler. Es ist unredlich von Ihnen, hier zu suggerieren,
über Steuererhöhungen gleichzeitig die Lohnnebenkosten
absenken zu können.
Sie wissen ganz genau das finde ich viel gravieren-
der , dass die ABM in den neuen Bundesländern für ar-
beitslos gemeldete Personen, die versichert sind, nicht
mehr möglich wären, wenn wir Ihren Vorschlag in die
Realität umsetzten. Darauf bin ich eben in meiner Antwort
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Thea Dückert
18734
(C)
(D)
(A)
(B)
auf die Frage von Herrn Grehn eingegangen. Dadurch
würde gerade in denjenigen Regionen, wo ABM bitter
nötig sind, ein Kahlschlag betrieben. So sieht eine der Fa-
cetten der von Ihnen vorgeschlagenen Arbeitsmarktpoli-
tik aus.
Außerdem schlagen Sie in Ihrem Antrag vor ich finde
das ausgesprochen interessant, weil es zeigt, welche De-
batten uns in der Zukunft hier erwarten , für Arbeitslo-
senhilfeempfänger analog dem Bundessozialhilfegesetz
gemeinnützige Arbeiten einzuführen. Ich frage Sie im
Ernst: Was hat das mit dem Vorhaben zu tun, jemanden in
den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?
(Dirk Niebel [FDP]: Anreize erhöhen!)
Laubharken ist keine Integration. Gerade anders herum
das ist der Ansatz unseres Job-Aqtiv-Gesetzes muss
ein Schuh daraus werden: Es geht darum, dass langzeitar-
beitslose Menschen Mittel an die Hand bekommen, die
ihnen den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ermöglichen
und nicht das Gegenteil bewirken. Deswegen sorgt eine
Klausel des Job-Aqtiv-Gesetzes dafür, dass sich der Pro-
zentsatz von Menschen ohne Lohnersatzanspruch, die in
den Genuss von aktiver Arbeitsmarktpolitik, Qualifizie-
rung, Lohnnebenkostenzuschüssen und vor allen Dingen
ABM kommen, auf 10 Prozent erhöht. Ihre Logik und un-
sere Logik sind ganz unterschiedlich: Während Sie aus-
grenzen wollen, wollen wir integrieren. Deswegen sehen
unsere Instrumente anders aus.
(Dirk Niebel [FDP]: Allein die Doppelverwal-
tung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe kos-
tet 7 Milliarden DM!)
Ich möchte zwei weitere Beispiele anführen, durch die
deutlich wird, dass sie den Gedanken der Arbeitsmarkt-
politik, nämlich die Integration in den ersten Arbeits-
markt, nicht verstanden haben. Sie haben sowohl in der
gestrigen Debatte als auch im Ausschuss vorgeschlagen,
die Möglichkeit des Zuverdienstes von Sozialhilfeemp-
fängern zu verbessern. Das finde ich vernünftig. Wenn
das, was Sie vorschlagen, zeitlich begrenzt geschieht,
dann kann das für den Weg in den Arbeitsmarkt eine gute
Hilfe sein. Allerdings kombinieren Sie Ihre Idee Sie ha-
ben sie groß gefeiert mit dem Vorschlag des Herrn Koch,
in Deutschland das Wisconsin-Modell einzuführen.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Falsch!)
Das Einzige am Wisconsin-Modell, was es in der Bun-
desrepublik Deutschland nicht gibt, ist der in hohem
Maße unsoziale Aspekt, den Anspruch auf Sozialhilfe
zeitlich zu begrenzen. Durch die Umsetzung des Vor-
schlags, Menschen nach einer gewissen Zeit die Sozial-
hilfe zu streichen, würde diese Hilfe zur Integration letz-
ten Endes mit dem Damoklesschwert verbunden.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, es gibt
den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Gestatten Sie die?
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Ich frage Sie,
Frau Kollegin, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu neh-
men, dass der Kollege Koch zwar über das Wisconsin-
Modell geredet hat,
(Zuruf von der SPD: Es aber nicht verstanden
hat!)
es aber in der Bundestagsfraktion der CDU/CSU ein sehr
ausgewogenes Konzept der Zusammenführung von Ar-
beitslosen- und Sozialhilfe mit dem Ziel gibt, gerade die-
jenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wie-
der in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dabei sollen
bestimmte Möglichkeiten zugelassen werden, die Sie
nicht bereit sind zuzulassen. Das ist der Unterschied. Re-
den Sie bitte nicht über Dinge, die in der Fraktion nicht
beschlossen wurden!
(Dirk Niebel [FDP]: Es steht nichts über eine
Befristung drin!)
Damit das klar ist, sage ich: Das Wisconsin-Modell hat
negative Begleitumstände, die wir nicht wollen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Meckelburg, ich nehme mit Freude
zur Kenntnis, dass Sie sich offenbar von den Äußerungen
aus dem Vorstand Ihrer Partei und Ihrer Fraktion, die den
Vorschlag des Herrn Koch sehr begrüßt haben,
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein!)
und offenbar auch von dem Vorschlag Ihres Fraktions-
vorsitzenden Merz aus dem Frühjahr dieses Jahres es
war sogar im März, wie ich glaube , die Arbeitslosenhilfe
zu reduzieren und stattdessen Essensmarken zu verteilen,
jetzt distanzieren. Wenn Sie das heute nicht mehr unter-
stützen,
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Steht da
auch nicht drin! Sie müssen das Papier einmal
lesen!)
ist das gut und ein Anknüpfungspunkt für eine weitere De-
batte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch wenn der Kollege Meckelburg es hier so freund-
lich vorträgt, habe ich ein gewisses Misstrauen gegenüber
den Vorschlägen, die vonseiten der CDU/CSU kommen.
Das bezieht sich beispielsweise auch auf die Frage der In-
tegration von Teilzeitbeschäftigten durch die Subventio-
nierung der Lohnnebenkosten über 630 DM. Neben
diesem sinnvollen Ansatz des Mainzer Modells schlagen
Sie nämlich gleichzeitig vor, dass die Regelungen bezüg-
lich der 630-DM-Jobs gestrichen werden sollen. Durch
die Streichung der Regelungen zu den 630-DM-Jobs, die
für uns eine soziale Errungenschaft darstellen, haben Sie
letzten Endes im Hinterkopf, wieder und neu ein Heer von
sozial ungesicherten Arbeitnehmern zu schaffen. Das
heißt, Sie kommen mit Zuckerbrot und Peitsche daher.
Diese Methode darf nicht zum Bestandteil von Arbeits-
markt- und Sozialpolitik werden.
Ich denke, dass die Vorschläge, die Sie machen, wenn
man sie als Ganzes sieht, sozialpolitisch nicht verant-
wortbar und arbeitsmarktpolitisch sowieso von gestern
sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Thea Dückert
18735
(C)
(D)
(A)
(B)
Schönen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner für die PDS-Fraktion.
Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gründe für diese De-
batte zur Arbeitsmarktpolitik gibt es wahrlich mehr als
nur diesen CDU/CSU-Antrag. Es lohnt sich eigentlich
kaum, sich richtig damit auseinander zu setzen. Ich werde
es trotzdem gleich tun.
Die Arbeitslosenzahlen vom September signalisieren
eine bedrohliche Entwicklung. Ich denke, das macht uns
allen hier Sorgen, vor allem auch deshalb, weil dadurch
die Menschen deprimiert werden, die seit Jahren arbeits-
los sind oder sich vor neuer Arbeitslosigkeit fürchten.
Diese Menschen erwarten von uns die Lösung dieses Pro-
blems und wollen auch ganz persönlich Hilfe in ihrer Si-
tuation. Da sind neue Ideen gefragt. Da haben Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, leider gar
nichts zu bieten.
(Beifall bei der PDS Karl-Josef Laumann
[CDU/CSU]: Warten Sie einmal ab!)
Ihr Antrag atmet den Geist von vorgestern.
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie können
ja wieder eine Mauer bauen!)
Sie scheinen wirklich das ist mir gestern schon aufge-
fallen völlig zu vergessen, dass Sie dieser Regierung
4,3 Millionen Arbeitslose hinterlassen haben, trotz reich-
lich Wahl-ABM.
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die haben
Sie uns hinterlassen!)
Das ist wahrlich eine schwere Bürde.
Nun schreiben Sie einerseits in Ihren Antrag Vor-
schläge, die Sie während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit
längst hätten realisieren können. Ich nenne als Beispiele
nur, dass beschäftigte Sozialhilfeberechtigte 50 Prozent
ihres Einkommens behalten sollen das hätten Sie doch
umsetzen können
(Beifall bei der PDS)
oder dass die Arbeitsmarktpolitik zukünftig aus Steuer-
geldern bezahlt werden soll. Danke schön, im Schulden-
machen waren Sie ja schon bisher immer sehr gut.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das müsst ihr
uns erzählen!)
Andererseits bieten Sie Rezepte aus der Mottenkiste
an, obwohl Sie selber wissen, dass sie keinen einzigen zu-
sätzlichen Arbeitsplatz bringen. Ich nenne in diesem Zu-
sammenhang als Stichwort nur die Meldepflicht.
Schon die Überschrift Ihres Antrages drückt das ganze
Dilemma dieser Situation aus: Arbeit vermitteln statt Ar-
beitslosigkeit verwalten .... Nehmen Sie doch einfach
einmal zur Kenntnis, dass die 3,7 Millionen Menschen,
die im September dieses Jahres arbeitslos waren, nicht
deshalb arbeitslos waren, weil die Arbeitsämter ineffi-
zient gearbeitet haben, sondern deshalb, weil man nicht
vermitteln kann, was es nicht zu vermitteln gibt.
(Beifall bei der PDS Wolfgang Meckelburg
[CDU/CSU]: So ist das! Wer regiert denn seit
drei Jahren? Sie doch auch nicht! Die redet ei-
nen Stuss!)
Dieser Zustand wird sich in den nächsten Monaten leider
noch dramatisch verschlechtern, weil zu der schon heute
bestehenden Arbeitslosigkeit wegen Rationalisierung und
weiterer tief greifender Schwierigkeiten im Arbeitssystem
noch andere konjunkturelle Probleme und Einbrüche hin-
zukommen. Die Situation in der Bauwirtschaft steht
ebenso dafür wie die zahllosen Ankündigungen weiterer
Entlassungswellen. Wie man der Wirtschafswoche ent-
nehmen kann, kündigen dies vor allen Dingen große Un-
ternehmen an, wie Siemens, Daimler-Chrysler. Diese
haben von der Steuerreform der rot-grünen Bundesregie-
rung wirklich sehr profitiert.
In Berlin kommen heute 33 Arbeitslose auf einen offe-
nen Arbeitsplatz. Vor allen Dingen in den anderen ost-
deutschen Ländern sieht es nicht wesentlich besser aus.
Was wollen Sie unter diesen Bedingungen eigentlich noch
vermitteln? Ich denke, es geht Ihnen in der Tat um etwas
ganz anderes: Es ist nur ein ganz kleiner Schritt von den
angeblichen falschen Vermittlungsstrategien hin zur Fau-
lenzer-Debatte. Ich muss es Ihnen einfach deutlich sagen:
Die Sündenbocktheorie schimmert an allen Ecken und
Enden deutlich durch Ihren Antrag. Dabei ist die Melde-
pflicht wirklich nur ein Punkt. Ansonsten geht es um die
Kontrolle der Arbeitsbereitschaft, um effiziente Leis-
tungskürzung und um die Verhängung von Sanktionen.
Die Kolleginnen und Kollegen in den Arbeitsämtern
werden sich ebenso wie die Arbeitslosen dafür, dass Sie
Politik durch Drohgebärden ersetzen, wirklich bedanken.
(Beifall bei der PDS Karl-Josef Laumann
[CDU/CSU]: Es kann doch niemand sagen,
dass die Arbeitslosenzahlen in Deutschland in
Ordnung sind!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie brauchen diese Drohgebärden auch, weil Sie den Ar-
beitslosen eben nichts anderes anzubieten haben als Stel-
len im Niedriglohnbereich. Sie sollen gezwungen werden,
diese Billigjobs anzunehmen.
(Albert Deß [CDU/CSU]: Wo gibt es denn die
wenigsten Arbeitslosen? Dort, wo die CDU
oder die CSU in Deutschland regiert!)
Ach, bleiben Sie doch ganz gelassen! Der Nied-
riglohnsektor ist für Sie das schlummernde Beschäfti-
gungswunder. Für mich ist dies völlig unverständlich.
Ich möchte dazu drei Bemerkungen machen:
Erstens. Im letzten Jahr das ist richtig konnten
1 Millionen Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Knapp
200 000 standen für gering Qualifizierte zur Verfügung.
Was ist die Schlussfolgerung daraus? Die Schlussfolge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Thea Dückert
18736
(C)
(D)
(A)
(B)
rung muss sein: Wir brauchen Qualifikation und noch ein-
mal Qualifikation, aber keine Billigjobs.
(Beifall bei der PDS Wolfgang Meckelburg
[CDU/CSU]: Ziemlich unlogisch, was Sie hier
erzählen!)
Zweitens. In der Bundesrepublik arbeiten schon heute
7 Millionen Menschen in prekärer Beschäftigung.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Pre-
kärer Beschäftigung?)
Das wissen Sie sehr gut, denn Sie haben wesentlich dazu
beigetragen. Die Zahl der Menschen, die bitterarm sind,
obwohl sie eine Arbeit haben, nimmt zu. Dabei werden
von den Menschen erbärmliche Löhne in Kauf genom-
men. Gucken Sie zum Beispiel nach Thüringen, wo Leute,
die im Wachdienst arbeiten, mit einem Stundenlohn von
7 DM nach Hause gehen.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist in Meck-
lenburg-Vorpommern besser, oder was?)
Damit komme ich zu meiner dritten und letzten Be-
merkung: Schauen Sie sich, weil wir in diesen Tagen
natürlich zu Recht so viel über Sicherheit reden, ein-
mal an, was durch Privatisierung und Deregulierung ge-
rade im Bereich der öffentlichen Sicherheit, zum Beispiel
bei der Sicherung der öffentlichen Gebäude und an den
Gepäckbändern der Flughäfen, angerichtet worden ist!
Hier sind Löhne auf Sozialhilfeniveau und die ständige
Fluktuation zu einem höchst brisanten Sicherheitsrisiko
geworden. Ich weiß nicht, ob wir uns das länger leisten
können. Ich meine, nein.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Sie ha-
ben Ihre Redezeit weit überzogen.
Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Ich komme sofort
zum Schluss.
Wenn wir Sicherheit wirklich ernst nehmen und sie uns
wirklich etwas wert ist, dann müssen wir auch die Men-
schen, die sie gewährleisten sollen, anständig bezahlen.
(Beifall bei der PDS Wolfgang Meckelburg
[CDU/CSU]: Lesen Sie den Antrag einmal rich-
tig! Dann haben Sie die Antwort! Es ist un-
glaublich, was Sie da erzählen!)
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehe ich da-
von aus, dass öffentlich geförderte Beschäftigung auch
zukünftig unverzichtbar sein wird. Ich wünsche mir sehr
Ihre Zwischenbemerkungen deuten das zwar nicht an,
aber ich gebe die Hoffnung ja nicht auf , dass wir es viel-
leicht doch einmal schaffen, den Streit um die besten Kon-
zepte statt um fade Ideologien zu führen. Wir jedenfalls
sind dazu bereit.
(Beifall bei der PDS Wolfgang Meckelburg
[CDU/CSU]: Sie müssen einmal bereit sein,
Anträge zu lesen, und sollten nicht einen sol-
chen Blödsinn erzählen! Das ist völlig dane-
ben!)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile der Kolle-
gin Andrea Nahles, SPD-Fraktion, das Wort.
Andrea Nahles (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist nicht gut, wenn die Oppo-
sition Regierung und Regierungsfraktionen so unterfor-
dert, wie es heute hier der Fall ist.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Es ist
auch nicht gut, wenn Regierungsparteien so ar-
rogant reagieren wie Sie!)
Außer professioneller Schwarzmalerei haben wir heute
nichts von Ihnen gehört.
(Beifall bei der SPD)
Wenn wir uns die Mühe machen und einen Blick in
Ihren Antrag werfen, dann finden wir in ihm außer La-
denhütern, längst umgesetzten Forderungen wie der nach
mehr Dezentralisierung und Transparenz, undurchführba-
ren Vorschlägen wie dem, eine Mindestquote für schwer
vermittelbare Arbeitslose einzuführen, und der Schika-
nierung von Arbeitslosen durch eine Meldepflicht nichts,
was uns eine Realisierung lohnenswert erscheinen lässt.
Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen, meine
Damen und Herren von der Opposition.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das alles wundert mich aber nicht, wenn man Ihre Re-
gierungspolitik Revue passieren lässt. Sie scheinen ja
diese 16 Jahre mit den in der Spitze 4,8 Millionen Ar-
beitslosen in einem Anfall kollektiver Amnesie völlig ver-
drängt zu haben. Ich habe das Gefühl hier müssen wir
ganz ehrlich sein , dass Sie aus dieser Phase, in der Sie
arbeitsmarktpolitisch massenhaft Konfektionsware gelie-
fert haben ein Beispiel dafür ist die Wahlkampf-ABM,
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wann war
das denn?)
mit der Sie nur Ihre Unfähigkeit zu kaschieren versucht
haben , nichts gelernt haben. Daher haben Sie heute auch
nichts anzubieten.
Wir hingegen haben in den letzten Jahren gezielte
Schwerpunkte bei Zielgruppen gesetzt. Trotz der gegen-
wärtig schwierigen konjunkturellen Lage haben wir im
Vergleich zum September 2000 eine deutliche Verbesse-
rung erreicht: bei Langzeitarbeitslosen minus 6,7 Prozent,
bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer minus
15,9 Prozent und bei Schwerbehinderten das war eine
ganz besondere Anstrengung minus 7,2 Prozent. Das ist
effizient und erfolgreich; das sollten Sie würdigen, statt
hier Schwarzmalerei zu betreiben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diese Zielgruppenarbeit haben wir auch in Bezug auf die
Jugendlichen zu einem Erfolg geführt: 330 000 junge
Menschen sind in Arbeit, in Qualifizierung, weg von der
Perspektivlosigkeit.
Jetzt gehen wir einen weiteren Schritt, mit dem wir die
Zielgruppenorientierung verlassen. Mit dem Job-Aqtiv-
Gesetz wollen wir an die einzelnen Menschen herankom-
men. Jeder einzelne Arbeitslose bekommt im Rahmen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Heidi Knake-Werner
18737
(C)
(D)
(A)
(B)
einer Eingliederungsvereinbarung, die Rechte und Pflich-
ten nicht nur für die Arbeitslosen, sondern auch für das
Arbeitsamt vorsieht,
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Pflich-
ten würden Sie bei uns Druck nennen!)
ein individuell auf ihn zugeschnittenes Angebot. Diesen
Quantensprung erreichen wir mit dem Job-Aqtiv-Gesetz.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Das hätten wir schon lange haben können!
Früher haben Sie sich gegen solche Überlegun-
gen gesperrt!)
Besonders stolz bin ich, dass in diesem Gesetz eine
Gruppe von Arbeitslosen, der Sie sich in den 16 Jahren
kaum gewidmet haben, nämlich die der Frauen, eine ganz
entschiedene Rolle spielt. Wir werden die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, die für Frauen das Haupthinder-
nis darstellt, in Arbeit zu kommen, erheblich verbessern,
indem wir den Missstand beheben, dass Frauen während
des Mutterschaftsurlaubs aus der Versicherungspflicht
herausfallen. Heute fallen sie während der Erziehung von
Kindern, was eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist,
aus der Versicherungspflicht heraus. Diese Lücke in der
sozialen Sicherung werden wir schließen.
(Beifall der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Das stellt, wie gesagt, einen Quantensprung dar, über den
ich mich ganz besonders freue.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Aber es geht nicht nur darum, dass hier Leistungs-
lücken geschlossen werden. Man hat danach nämlich
nicht bloß Anspruch auf Leistungen, sondern vor allem
Möglichkeiten, durch Umschulung, Qualifizierung und
andere Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik Brücken ge-
baut zu bekommen und Hilfen zu erhalten. Deswegen ha-
ben wir auch den Berufsrückkehrerinnen im Job-Aqtiv-
Gesetz die Möglichkeit verschafft, in ABM zu kommen.
Wir haben den Zuschuss zu den Kinderbetreuungskosten,
die bei Weiterbildung anfallen, auf 130 Euro angehoben.
Wir haben es besonders Frauen für die ist das sehr
wichtig ermöglicht, nicht nur Vollzeitqualifizierungen
zu machen, mit denen sie ihre familiären Verpflichtungen
auch nicht vereinbaren können, sondern auch Teilunter-
haltsgeld bei Teilzeitweiterbildung zu nutzen. Teilzeit-
weiterbildung wird für Frauen eine Möglichkeit sein, de-
zidierte Schritte in den ersten Arbeitsmarkt zurück zu
machen, wenn sie die Kindererziehungszeiten hinter sich
haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Insoweit darf ich Ihnen auch Ihnen, Herr Grehn sagen,
dass wir glauben, dass für viele Frauen und für viele an-
dere, die arbeitslos sind, in dem Paket Job Aqtiv eine
Menge Chancen sind.
Eines halte ich für eine wichtige Neuerung: Wir wer-
den nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefal-
len ist, im Rahmen des Job-Aqtiv-Gesetzes aktiv.
(Klaus Brandner [SPD]: Präventiv!)
Ungelernte und gering qualifizierte Arbeitnehmer, vor al-
lem in Kleinbetrieben, in denen Weiterbildung nicht selbst-
verständlich ist, können durch Lohnkostenzuschüsse von
bis zu 100 Prozent an Weiterbildungsmaßnahmen teilneh-
men, und zwar nicht erst, wenn sie arbeitslos geworden
sind das ist ja nicht die große Kunst , sondern bereits
dann, wenn im Rahmen unserer Eingliederungsvereinba-
rung ein erhöhtes Risiko festgestellt worden ist. Das ist nun
wirklich ein gutes Angebot an die Gruppe von Ungelernten
und gering Qualifizierten. Das ist eine echte Chance. Ich
hoffe, dass davon viel Gebrauch gemacht wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir reden heute über Arbeitsmarktpolitik. Ich möchte
deswegen auch über die Grenzen von Arbeitsmarktpoli-
tik reden.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ha-
ben Sie gerade gemacht! Quantensprünge am
laufenden Band! Albert Deß [CDU/CSU]:
Luftsprünge!)
Es werden ja immer wieder Wunderwaffen ausgepackt:
Kombilohn,
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Erzählen
Sie doch lieber, was Sie beim Wirtschafts-
wachstum in diesem Jahr erreicht haben!)
die Zusammenlegung von was auch immer. Ich will Ihnen
einmal etwas sagen: Wir brauchen eine bessere Konjunk-
tur. Wir brauchen Wachstum. Wir können das mit den Mit-
teln der Arbeitsmarktpolitik nicht erreichen, aber wir kön-
nen dazu beitragen. Ich wünsche mir, dass zum Beispiel
im europäischen Kontext, was Leitzinssenkungen und an-
deres angeht, konjunkturelle Entwicklungen begünstigt
werden. Ich erwarte von den Arbeitgebern und auch von
den Gewerkschaften, dass sie in der Frage des Abbaus von
1,8 Milliarden Überstunden ganz konkrete Fortschritte er-
reichen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS
Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
Das, was wir als Arbeitsmarktpolitiker tun können, haben
wir getan, indem wir das Job-Aqtiv-Gesetz auf den Tisch
gelegt haben. Daran können Sie sich eine Weile abarbei-
ten. Aber tun Sie uns einen Gefallen: Langweilen Sie uns
nicht weiter mit Ladenhütern!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt der
Kollege Karl-Josef Laumann für die CDU/CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Andrea Nahles
18738
(C)
(D)
(A)
(B)
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer diese
Debatte verfolgt hat, hat verschiedene Eindrücke bekom-
men.
Frau Dückert, zunächst zu Ihnen. Ich kenne niemanden
unter den Sozialpolitikern im Deutschen Bundestag, bei
dem das, was er in Interviews äußert, derart dem wider-
spricht, was er im Deutschen Bundestag vertritt, wie bei
Ihnen. In Interviews erklären Sie, dass wir die Zusam-
menlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe brau-
chen. In Interviews erklären Sie, dass Sie für Zeitarbeit
und ähnliche Dinge sind. Was Sie dann aber in der politi-
schen Debatte hier letzten Endes mit Vehemenz vertreten,
passt damit überhaupt nicht zusammen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Inwieweit das ehrlich ist, darüber mag jeder selber urteilen.
Bei den Ausführungen von Frau Nahles konnte man
vor lauter Quantensprüngen die Politik gar nicht mehr er-
kennen.
(Andrea Nahles [SPD]: Wo wir gut sind, da
sind wir eben gut!)
Warum streiten wir eigentlich über die Arbeitsmarkt-
politik? Wir streiten über die Arbeitsmarktpolitik, weil
wir alle wissen, dass sie in Deutschland große Defizite hat
und wir mit viel Geld nicht das erreichen, was wir uns alle
vorstellen. Wir geben für den zweiten Arbeitsmarkt mitt-
lerweile 48 Milliarden DM aus.
(Andrea Nahles [SPD]: Für den ersten Arbeits-
markt! 46 Milliarden sind für allgemeine
Arbeitsmarktpolitik!)
Die Funktion des zweiten Arbeitsmarktes als Brücke in
den ersten wird auch in den Bereichen, wo das klappt, im-
mer schlechter erfüllt. Jetzt wollen wir einmal überlegen,
woran das liegt.
(Klaus Brandner [SPD]: Lassen Sie sich nicht
aus dem Konzept bringen, aber bei der Wahrheit
müssen Sie schon bleiben!)
Ich glaube, dass man die Instrumente der Arbeits-
marktpolitik weiterentwickeln muss. Jetzt greifen wir ein-
mal einen Punkt heraus, der in Deutschland offensichtlich
ist: Wir haben die Situation, dass es unbesetzte Stellen
gibt, und zwar dort,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 1,5 Millionen!)
auch im tarifgebundenen Bereich, wo wir niedrige Löhne
haben. Es ist nun einmal so Sie brauchen nur einmal mit
Vertreterm des Dehoga zu sprechen , dass es selbst in
Gebieten, in denen wir eine hohe Arbeitslosigkeit haben,
faktisch unmöglich ist, für Löhne von 12 oder 13 DM Rei-
nigungspersonal für die Gastronomie zu bekommen.
(Konrad Gilges [SPD]: Würdest du für
12 Mark arbeiten?)
Das sind doch abgeschlossene Tarifverträge in dem Be-
reich, Konrad Gilges.
(Konrad Gilges [SPD]: Das spielt doch keine
Rolle!)
50 Prozent der Langzeitarbeitslosen sind ohne abge-
schlossene Berufsausbildung.
(Ute Kumpf [SPD]: Und warum, Kollege
Laumann? Wo wart ihr?)
Es ist sowieso schon ein Unding, dass wir über die Bun-
desanstalt für Arbeit für Tausende von jungen Menschen
den Hauptschulabschluss finanzieren müssen, weil un-
sere Schulen nicht dazu in der Lage sind, die Schüler dort-
hin zu führen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist in Nordrhein-Westfalen, wo Sie seit 30 Jahren die
Politik bestimmen, ein großes Problem.
(Beifall bei der CDU/CSU Konrad Gilges
[SPD]: In Bayern und Baden-Württemberg
auch!)
Es wäre doch vielleicht sinnvoll bevor Sie jetzt im-
mer nur schreien , in aller Ruhe darüber nachzudenken,
ob wir in der Politik nicht ein Mittel in die Hand nehmen
könnten und sollten, mit dem wir in dem Bereich der
niedrigen Löhne die Schere zwischen brutto und netto
wieder stärker schließen, damit die Menschen auch einen
Sinn in einer solchen Beschäftigung sehen.
(Beifall bei der CDU/CSU Klaus Brandner
[SPD]: Warum haben wir denn die Lohnneben-
kosten gesenkt?)
Jetzt will ich Ihnen nur einmal ein Beispiel vorrechnen.
In der Steuerpolitik hat die alte Regierung durch relativ
hohe Steuerfreibeträge erreicht, dass bei niedrigen Ein-
kommen die Steuer keine große Rolle spielt; das wissen
Sie auch.
(Klaus Brandner [SPD]: Dank unserer Steuer-
politik! Weil wir 200 DM mehr Steuerfreiheit
im Monat gewähren!)
Wenn wir jetzt einmal von einem Lohn von 13 DM bei nor-
malen Arbeitszeiten ausgehen, dann kommen wir auf ei-
nen Bruttolohn von 2 184 DM. Das unsoziale ist, finde ich,
dass wir einem Menschen mit diesem Bruttolohn 436 DM
für die Sozialversicherung wegnehmen 436 DM! Dann
hat er noch 1 748 DM netto.
(Peter Dreßen [SPD]: Wieso das?)
Die Steuern habe ich nicht eingerechnet. Gehen wir ein-
mal davon aus, dass er aufgrund seiner Familiensituation
so hohe Steuerfreibeträge hat, dass Steuern keine Rolle
spielen.
(Renate Rennebach [SPD]: Was erzählen Sie
denn da, Herr Laumann?)
Wäre es denn nicht wirklich sinnvoll, das zu tun, was wir
Ihnen jetzt schon seit Jahren sagen? Kombilohnmodelle,
degressive Gestaltung der Sozialversicherungsbeiträge,
höhere Einstiegsgelder nehmen Sie meinetwegen alle
drei Instrumente, geben Sie sie den Behörden an die Hand
und sagen Sie ihnen: Bitte wendet diese Instrumente an,
damit die untere Lohngrenze nicht so nah an die Sozial-
hilfe reicht.
(Beifall bei der CDU/CSU Konrad Gilges
[SPD]: Das wird doch gemacht!)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18739
(C)
(D)
(A)
(B)
Gehen Sie endlich aus den Modellprojekten heraus.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege
Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Nein, ich möchte
jetzt im Zusammenhang vortragen.
Ein weiterer Punkt. Wir alle wissen doch, dass uns auf
dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland schlicht und er-
greifend die Arbeitsplätze fehlen. Nur, wahr ist auch: Der
Unterschied in der wirtschaftlichen Entwicklung zwi-
schen West- und Ostdeutschland ist in den letzten drei
Jahren eher größer als kleiner geworden.
(Lachen der Abg. Renate Rennebach [SPD])
Frau Rennebach, da können Sie ruhig lachen. Das ist die
Wahrheit.
(Renate Rennebach [SPD]: Ihr habt gesät und
wir haben geerntet! Hartmut Schauerte [CDU/
CSU]: Da lacht die Dummheit!)
Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die großen
Lohnunterschiede zu Polen, die dort gerade wegen der
Nähe zur deutsch-polnischen Grenze bestehen, faktische
Auswirkungen haben. Das ist im Übrigen unabhängig
davon, wer regiert. Wir müssen uns in der Strukturpoli-
tik Mühe geben, dort mehr Arbeitsplätze, vor allem ren-
table Arbeitsplätze, zu schaffen; denn nur diese werden
auf Dauer überleben. Ich kann in Ihrem Haushalt wirklich
nicht erkennen, dass Sie das Richtige tun.
Ich nehme ein weiteres Beispiel. Wir sind uns in der
Arbeitsmarktdebatte darüber einig, dass Arbeitsplätze
wenn noch welche geschaffen werden von den Klei-
nen geschaffen werden. Erklären Sie mir einmal, warum
Sie eine Steuerreform gemacht haben, die die AGs das
sind eher die Großen sehr bevorteilt und dem Mittel-
stand nichts gebracht hat.
(Widerspruch bei der SPD)
Warum muss auf der einen Seite die Deutsche Bank keine
Steuern zahlen, wenn sie einen Teil ihres Geschäfts-
bereichs verkauft, wenn doch auf der anderen Seite der
Gärtnermeister in meinem Dorf er ist 67 Jahre alt und
hat keine Kinder den Erlös aus dem Verkauf seines Be-
triebs an seinen Meister versteuern muss?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Ute
Kumpf [SPD]: Das stimmt nicht!)
Das ist doch Ihre Politik und Ihr Versagen.
Warum haben Sie bezüglich des Arbeitsrechts so viele
neue Hürden für den Mittelstand aufgebaut? Die größte
Herausforderung ist doch, solche Rahmenbedingungen zu
schaffen, dass mehr Arbeitsplätze entstehen. Da sind wir
in Deutschland seit zwei Monaten leider auf einer radika-
len Talfahrt. Ihr Wahlkampfversprechen, mehr Arbeits-
plätze zu schaffen, sollten Sie zurücknehmen.
(Klaus Brandner [SPD]: Du hast es doch gerade
gehört; lies es im Protokoll nach! 1 Million Ar-
beitsverhältnisse!)
Ich nenne Ihnen einen weiteren Punkt, der uns nach-
denklich machen muss. Frau Nahles, Sie haben gesagt,
was die Arbeitsämter gemäss dem Job-Aqtiv-Gesetz un-
ternehmen sollen. Das war im Grunde genommen das
Bild der Arbeitsämter nach dem Vorbild Arbeits-
amt 2000. Die Arbeitsämter sollten sich schon immer so-
fort mit den Arbeitslosen beschäftigen und sich direkt da-
rum kümmern, dass sie wieder in Arbeit kommen. Sie
sollten sich schon immer um Menschen kümmern, bei de-
nen die Gefahr besteht, dass sie bald arbeitslos werden.
Ich frage mich mittlerweile, ob die hierarchischen Struk-
turen der Bundesanstalt für Arbeit wirklich noch die rich-
tige Antwort auf den flexiblen Arbeitsmarkt sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD])
Ich glaube schon, dass man darüber reden muss.
Angesichts der Situation, dass in vielen Kommunen
und kreisfreien Städten Beschäftigungsgesellschaften
größere Vermittlungserfolge haben als die Bundesanstalt
für Arbeit, werde ich sehr nachdenklich. Ich glaube, dass
Ihr Entwurf des Job-Aqtiv-Gesetzes und in Teilen auch
unser Antrag, der ebenfalls zu stark von administrativen
Aufgaben ausgeht, nicht weit genug führen. Wir müssen
nach meiner Auffassung den Niedriglohnbereich stärken.
Die Arbeitsplätze dort sind nun einmal so, wie sie sind.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bei jungen Leu-
ten die Unterstützung grundsätzlich mit der Forderung
verbinden sollten, dass sie selbst etwas tun müssen: Aus-
bildung, Sprachkurse, notfalls auch gemeinnützige Ar-
beit. Wenn Menschen jahrelang von der Arbeit entwöhnt
sind, dann ist es sehr schwer, sie wieder zu integrieren.
Auch im Schulsystem müssen wir darauf achten, wie
wir die Schüler, die sich in der schulischen Ausbildung
schwerer tun, zu Schulabschlüssen führen, die ihnen die
Möglichkeit geben, im gewerblichen Bereich eine Be-
rufsausbildung zu absolvieren. Ich würde mir sehr wün-
schen, dass auf Landesebene die Hauptschule gestärkt
wird und dass die Verwissenschaftlichung der Schule in
diesem Bereich ein Stück weit aufgegeben wird.
Ich hoffe, dass ich durch meinen Beitrag deutlich ma-
chen konnte, wo die Probleme objektiv liegen, und dass
es uns gar nichts bringt, in einen parteipolitischen Schlag-
abtausch einzutreten, wer das bessere Instrument in der
Tasche hat. Wir brauchen einen großen Instrumentenkof-
fer für die örtliche Arbeitsverwaltung. Dies gilt es zu er-
reichen.
(Konrad Gilges [SPD]: Ihr seid beim Job-
Aqtiv-Gesetz eingeladen!)
Ich glaube, dass unsere Überlegungen in der Arbeits-
marktpolitik weitreichender sind als Ihre. Wenn ich die
Interviews mit Frau Dückert richtig lese, dann komme ich
zu dem Schluss, dass sie lieber mit uns als mit Ihnen
zusammenarbeiten würde.
Schönen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Andrea Nahles [SPD]: Oh, Mann!)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Karl-Josef Laumann
18740
(C)
(D)
(A)
(B)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt erteile ich der
Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion, das Wort.
Ute Kumpf (SPD): Lieber Kollege Laumann, ich bin
voller Bewunderung
(Beifall bei der CDU/CSU Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Das ist auch ein guter Mann!)
für Ihre Wandlungsfähigkeit. Ich habe Sie vor 1998 als ei-
nen Kollegen mit anderen Ansichten kennen gelernt, der
auch für die sozialen Belange der Arbeitnehmer gestritten
hat. Ich bin auch voller Bewunderung für die Kollegen
der CDU/CSU Herr Niebel von der FDP ist nicht mehr
anwesend aufgrund ihrer Starrköpfigkeit und vor allem
aufgrund ihrer Vergesslichkeit.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sind höchstens
voller Verwunderung! Seit wann bewundern
Sie Starrköpfigkeit?)
Ich bewundere, dass Sie nach Ihrem Politikwandel ab
dem Jahre 1998 nicht schlaflose Nächte haben.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Haben Sie mal
Ihre eigene Rolle überlegt?)
Sie bieten jetzt in Ihrem Antrag Konzepte von gestern
an. Ich will einfach daran erinnern: Diese Konzepte von
gestern haben uns nicht nur einen nie gekannten Berg von
Schulden hinterlassen. Wir erbten 1998 auch ein Chaos
auf dem Arbeitsmarkt: 4,4 Millionen Menschen waren da-
mals als Arbeitslose registriert, über 2 Millionen waren in
der stillen Reserve, 6 Millionen in prekären Beschäf-
tigungsverhältnissen. Sie haben einen Dschungel hinter-
lassen: Abschaffung des Kündigungsschutzes, Kürzung
bei der Lohnfortzahlung, Kürzung auf der Leistungsseite
bei den Arbeitslosen.
Jetzt wollen Sie uns in Ihrem Antrag diese alten Denk-
muster wieder als Muster für die Zukunft verkaufen. Wir
machen an dieser Stelle nicht mit. Ihr Weg führt in das Ab-
seits, von der Problemlösung weg und in die Sackgasse.
Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Er weist nicht in
die Zukunft und ist nicht zielführend.
(Konrad Gilges SPD: Sehr richtig!)
Herr Kollege Laumann hat es eben ausgeführt: Die
Ausweitung des Niedriglohnsektors ist für Sie das All-
heilmittel. Auch Ihnen sind die Ergebnisse aus den Bun-
desländern bekannt. Ich nenne nur das Mainzer Modell
und das Saarbrücker Modell. Diese Konzepte werden
nicht aufgegriffen, weil sie schlichtweg nicht greifen. Wir
werden uns gegen die Ausweitung des Niedriglohnsektors
wehren, weil sie letztendlich dazu führt, dass normale
Beschäftigung subventioniert wird. Dies können wir uns
nicht leisten.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea
Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir wollen mit unserem Job-Aqtiv-Gesetz die Pro-
bleme konsequent angehen. Wir richten die Arbeitsmarkt-
politik neu aus. Wir sorgen dafür, dass besondere Ziel-
gruppen am Arbeitsmarkt Un- und Angelernte, Ältere
wie Jüngere zusätzlich gefördert werden, dass die Ver-
mittlung beschleunigt und verbessert wird. Das hat posi-
tive Folgen nicht nur für die Arbeitslosen, sondern auch
für die Kassen der Bundesanstalt für Arbeit. Eine um drei
Tage verkürzte Verweildauer in der Arbeitslosigkeit, un-
ter anderem bezogen auf 200 000 Arbeitslose, verringert
die Kosten der Arbeitslosigkeit um rund 2,6 Milliar-
den DM. Dies ist keine Rechnung von uns und auch keine
Rechnung vom BMA, sondern eine Rechnung von Pro-
fessor Egle von der Fachhochschule der Bundesanstalt für
Arbeit in Mannheim, nachzulesen in seiner Stellung-
nahme für die Anhörung am Montag.
Wir machen mit dem Job-Aqtiv-Gesetz Ernst mit dem
lebensbegleitenden Lernen, unterstützen und fördern
eine Kultur des Lernens. Die Unterweisung muss künftig
mehr gelten als die Überweisung.
(Beifall bei der SPD)
Qualifizierung und Beschäftigung hängen eng zusammen.
Wir wissen: je niedriger die berufliche Qualifikation, des-
to schlechter die Stellung und die Chancen auf dem Ar-
beitsmarkt. Regelmäßige berufliche Qualifizierung für die
dauerhafte Sicherung und Stärkung der Beschäftigungs-
fähigkeit, das ist unser Angebot an Arbeitslose wie an Be-
schäftigte, die womöglich von Arbeitslosigkeit bedroht
sind. Das ist auch unser Angebot an die Arbeitgeber, vor
allem die kleinen und mittleren Unternehmen, denen wir
bei der Qualifizierung mit Job Aqtiv unter die Arme grei-
fen. Das ist eine Antwort auf die Herausforderung, wie
wir uns künftig wettbewerbsfähig in der Wirtschaft bewe-
gen können, sowohl für die Beschäftigten- als auch für die
Arbeitgeberseite.
Dass dieses Konzept erfolgversprechend ist, zeigen die
aktuellen Arbeitslosenzahlen. Trotz der schwierigen Ge-
samtsituation gibt es Erfolge bei dieser wichtigen Ziel-
gruppe. Die Arbeitslosigkeit Älterer Menschen über 55
wurde gegenüber dem Vorjahr um mehr als 16 Prozent ab-
gebaut. Das ist ein Minus von 126 000. Ebenso sank die
Zahl der Langzeitarbeitslosen um mehr als 12 Prozent.
Damit haben wir Bewegung in den Abbau auch der struk-
turellen Arbeitslosigkeit gebracht.
Für uns heißt es, die internen Wachstumskräfte zu stär-
ken. Das haben wir mit einer Politik der Haushaltskonso-
lidierung, mit deutlichen Steuersenkungen, mit der Ren-
tenreform, mit der Modernisierung der Mitbestimmung
und auch mit dem Erschließen von Talenten getan. Die in-
ternen Wachstumskräfte zu stärken heißt vor allem auch,
der Qualifizierung eine Chance und ein solides Funda-
ment zu geben.
Alle hier im Hause fordern immer lebenslanges Lernen
und beschwören dies. Ich spreche lieber vom lebensbe-
gleitenden Lernen. Denn das Wort lebenslang weckt ein
wenig die Assoziation von lebenslänglich und das ist nicht
gerade positiv.
Wer in Zukunft auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben
will, muss sein Wissen immer wieder überprüfen und sich
den veränderten Bedingungen anpassen. Das gilt auch für
uns als Abgeordnete. Diese Feststellung ist nicht neu. Im
Gegensatz zur CDU/CSU und zur FDP reden wir aber
nicht nur darüber, sondern wir handeln auch. Seit 1998 ha-
ben wir die berufliche Aus- und Weiterbildung besonders
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18741
(C)
(D)
(A)
(B)
ausgebaut. Noch nie wurde so viel für Bildung und For-
schung ausgegeben wie von dieser Bundesregierung.
(Beifall bei der SPD)
Auch im Bündnis fürArbeit besteht Einigkeit darüber,
alle Qualifikationspotenziale erschließen und fördern zu
müssen. Wir können es uns nicht leisten, das Potenzial der
Frauen nicht voll auszuschöpfen und das Potenzial und
den Erfahrungsschatz älterer Menschen brachliegen zu
lassen. Alt ist man für manchen Arbeitgeber schon mit
40 Jahren. Es ist erschreckend man kann dies in einer
IAB-Studie nachlesen , dass in 60 Prozent der Betriebe
keine Beschäftigten mehr vorzufinden sind, die älter als
55 Jahre sind.
Die Klagen über eine Überforderung der Rentenver-
sicherung und das gleichzeitige Hinausdrängen der Älte-
ren aus dem Erwerbsleben sowie die mangelnde Bereit-
schaft, Ältere einzustellen, passen nicht zusammen.
Dieses Problem ist mit einem gelockerten Kündigungs-
schutz, so wie vor allem Sie von der CDU/CSU und auch
Sie von der FDP ihn fordern, nicht anzugehen. Wir da-
gegen wollen eine Vermittlungs- und Qualifizierungs-
offensive gerade für Ältere. Im Bündnis für Arbeit haben
sich alle Akteure darauf verpflichtet und die Weichen
dafür wurden gestellt.
Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz erledigen wir unsere Haus-
aufgaben, neue Rahmenbedingungen zu gestalten: durch
moderne Instrumente der Weiterbildung, und zwar vor al-
lem der Weiterbildung von gering Qualifizierten und älte-
ren Beschäftigten, und durch die Einführung der Jobrota-
tion. Angesichts von 1,8 Milliarden Überstunden in
Deutschland sind nun vor allem auch die Arbeitgeber ge-
fordert, die im Bündnis für Arbeit verabredeten Aktivitä-
ten zur Reduzierung der Mehrarbeit und zur Umwandlung
in neue Beschäftigung umzusetzen.
(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])
Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz liefern wir arbeitsmarktpo-
litische Instrumente wie zum Beispiel Eingliederungs- und
Lohnkostenzuschüsse und begleitende Hilfen bei der Qua-
lifizierung. Ich kann hier alle im Interesse der Arbeitslosen
nur auffordern: Ergreifen wir die Chancen! Nutzen wir die
Instrumente und gehen wir auf Schatzsuche!
Danke schön.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/6162 und 14/7070 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j sowie
Zusatzpunkt 4 auf es handelt sich um Überweisungen im
vereinfachten Verfahren ohne Debatte :
25 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau
Drucksache 14/7009
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der
Entschließung vom 22. Mai 1995 zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 18. Dezem-
ber 1979 zur Beseitigung jeder Form von Dis-
kriminierung der Frau
Drucksache 14/7011
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999
zum Übereinkommen vom 18. Dezember
1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskri-
minierung der Frau
Drucksache 14/7012
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Schuldbuchrechts des Bundes
und der Rechtsgrundlagen der Bundesschulden-
verwaltung (Bundeswertpapierverwaltungs-
gesetz BWpVerwG)
Drucksache 14/7010
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch,
Gerhard Jüttemann und der Fraktion der PDS ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG)
Drucksache 14/6796
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Bundeszentralregister-
gesetzes (4. BZRGÄndG)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ute Kumpf
18742
(C)
(D)
(A)
(B)
Drucksache 14/6814
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
der Verwaltungsgerichtsordnung
Drucksache 14/6856
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Rainer Funke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschungsstandort Deutschland stärken
Zukunftsprojekt TESLA nicht gefährden
Drucksache 14/4646
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Förderung der Alterungsforschung
Drucksache 14/5464
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch,
Gerhard Jüttemann und der Fraktion der PDS
Zugangsverordnung für Stromnetze erlassen
Drucksache 14/6795
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 4 Erste Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des
Vermögenszuordnungsgesetzes
Drucksache 14/7035
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Dann ist das
so beschlossen.
Wir kommen nun zur Behandlung von Beschlussfas-
sungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung bilanzrechtlicher Bestimmungen
an die Einführung des Euro, zur Erleichterung der
Publizität für Zweigniederlassungen ausländischer
Unternehmen sowie zur Einführung einer Qua-
litätskontrolle für genossenschaftliche Prüfungs-
verbände (Euro-Bilanzgesetz EuroBilG)
Drucksache 14/6456
(Erste Beratung 182. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
Drucksache 14/7081
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
Dr. Susanne Tiemann
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge-
genprobe! Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist ein-
stimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Beruf der Podologin und des Podologen
(Podologengesetz PodG)
Drucksache 14/5593
(Erste Beratung 164. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)
Drucksache 14/7107
Berichterstattung:
Abgeordnete Eva-Maria Kors
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Bei Ent-
haltung der FDP ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-
tung angenommen. Die Podologinnen und Podologen
werden dies kritisch würdigen, meine Damen und Herren
von der FDP.
Dritte Beratung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
18743
(C)
(D)
(A)
(B)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Die
Gegenprobe! Enthaltungen? Bei Enthaltung der FDP
ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher
Bestimmungen zur Altölentsorgung
Drucksachen 14/6653, 14/6907 Nr. 2.1, 14/7056
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold)
Georg Girisch
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung zuzustim-
men. Wer ist für diese Beschlussempfehlung? Die Ge-
genprobe! Enthaltungen? Gegen die Stimmen der FDP
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher
Nachweisbestimmungen
Drucksachen 14/6808, 14/6907 Nr. 2.2, 14/7055
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold)
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung zuzustim-
men. Ich bitte diejenigen, die ihr zustimmen wollen, um
das Handzeichen. Gegenprobe! Diesmal ist auch die
FDP dabei. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder (17. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul
Krüger, Ulrich Adam und der Fraktion der
CDU/CSU (zurückgezogen)
Ansiedlung einer Produktionsstätte für den
Airbus A 3XX in Mecklenburg-Vorpom-
mern
zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar
Bartsch, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Ansiedlung einerAirbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern
Drucksachen 14/161, 14/25, 14/2689
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/25 zur Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Die Gegenprobe! Enthaltungen?
Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c sei-
ner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschlie-
ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die
Gegenprobe! Das ist einstimmig.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim), weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der SPD sowie den
Abgeordneten Volker Beck (Köln), Grietje Bettin,
Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Modernisierung des Schuldrechts
Drucksache 14/6040
(Erste Beratung 171. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)
Drucksache 14/7052
Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Hans-Joachim Hacker
Alfred Hartenbach
Dirk Manzewski
Norbert Geis
Ronald Pofalla
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Volker Beck (Köln)
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Modernisierung des Schuldrechts
Drucksache 14/6857
(Erste Beratung 190. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)
Drucksache 14/7100
Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Hans-Joachim Hacker
Alfred Hartenbach
Dirk Manzewski
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
18744
(C)
(D)
(A)
(B)
Norbert Geis
Bernd Wilz
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Volker Beck (Köln)
Jörg van Essen
Christina Schenk
Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion das Wort.
Hermann Bachmaier (SPD): Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir diskutieren, wie wir das
auch gerade wieder gesehen haben, und verabschieden im
Bundestag häufig Gesetze, mit denen die Mehrzahl der
Menschen in ihrem Alltag nicht allzu viel zu tun hat. Bei
der heute zu verabschiedenden Modernisierung des
Schuldrechts handelt es sich aber um ein Gesetz, mit des-
sen Auswirkungen wir praktisch ständig konfrontiert sein
werden. Ob wir Einkäufe im Kaufhaus tätigen, ob wir ei-
nen Neu- oder Gebrauchtwagen kaufen, ob wir einen
Handwerker rufen, in einen Verkehrsunfall verwickelt
sind, ein Haus bauen oder eine Eigentumswohnung kau-
fen, ein Darlehen aufnehmen oder einen Mietvertrag ab-
schließen, immer handelt es sich um Anwendungsfälle
des Schuldrechts.
Als das Bürgerliche Gesetzbuch am 1. Januar 1900 in
Kraft trat, galt es als großer Wurf. Es hat die Rechtszer-
splitterung auf dem Gebiet des Zivilrechts in Deutschland
beendet; es war das zentrale Gesetz zur Regelung der
zivilrechtlichen Fragen. Das BGB war ein Spiegelbild der
politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver-
hältnisse des heraufziehenden industriellen Zeitalters.
Vertragsfreiheit, Gewerbefreiheit, umfassende Eigen-
tumsrechte und Testierfreiheit waren die Schlüsselbe-
griffe, auf denen sich die Wirtschaftsordnung des begin-
nenden 20. Jahrhunderts aufbaute.
Zum Teil geistern noch heute typische Vertragsformen
der damaligen Zeit durch unser Zivilrecht, wenn man an
die Verjährung der Ansprüche von Lohnkutschern, Ta-
gelöhnern und Wundärzten denkt. Leitbild des Zivilrechts
war der selbstbewusste, eigenverantwortliche Bürger, von
dem man annahm, dass er seine Interessen im Rechtsle-
ben jederzeit zur Geltung bringen kann. Ein sozial-
reformerischer Anspruch war dem BGB fremd. An die oft
schwerwiegenden Folgen höchst unterschiedlicher wirt-
schaftlicher Macht hat der damalige Gesetzgeber mit Si-
cherheit kaum gedacht. Schon deshalb wurde die soziale
Kälte des Gesetzes, wie es hieß, von Anfang an beklagt.
Das ursprüngliche Familienrecht des BGB mit seiner
patriarchalischen Grundstruktur war erzkonservativ, die
Behandlung der so genannten unehelichen Kinder diskri-
minierend. Gustav Radbruch hat deshalb zutreffend fest-
gestellt, dass das BGB bei seinem In-Kraft-Treten mehr
das Endprodukt des 19. als der Auftakt des 20. Jahrhun-
derts gewesen sei.
(Beifall bei der SPD)
Unbestreitbar bleibt aber, dass das Bürgerliche Gesetz-
buch als Gesamtkodifikation des Zivilrechtes von großer
dogmatischer Präzision und Konsequenz geprägt ist.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Eine rechtsphilo-
sophische Vorlesung ist das!)
Ich komme schon noch dazu; das gefällt Ihnen wohl
nicht so ganz. Dadurch haben zentrale Rechtsinstitute
unserer Wirtschaftsordnung, wie zum Beispiel das Eigen-
tum, klare Konturen erhalten.
Schon bald wurde jedoch erkannt, dass insbesondere in
zwei Bereichen des Bürgerlichen Gesetzbuches grundle-
gender Reformbedarf besteht. Das galt zum einen für das
Familienrecht und zum anderen für das Schuldrecht. Es ist
sicherlich kein Zufall, dass es immer sozialdemokratisch
geführte Regierungen waren, die den Reformbedarf nicht
nur sahen, sondern die notwendigen Reformen auch um-
setzten.
(Beifall bei der SPD)
Die überfällige Reform des Ehe- und Familienrechts
wurde in den 70er-Jahren durch die sozialliberale Koali-
tion vollzogen, obwohl Sie zuvor fast 20 Jahre regiert hat-
ten.
Nach jahrzehntelangen Vorarbeiten durch Gutachter
und Kommissionen verabschieden wir heute ein moder-
nisiertes Schuldrecht. Wir wollen es nicht weiter hinneh-
men, dass das Schuldrecht des BGB wegen seiner offen
zutage liegenden Defizite einer weiteren Erosion ausge-
setzt wird. Schon längst haben Richterrecht und eine Viel-
zahl von Nebengesetzen den Kernbereich schuldrechtli-
cher Regelungen sukzessive verändert.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir werden in der
nächsten Zeit noch mehr haben!)
Das Schuldrecht des BGB ist zum Teil einfach lebens-
fremd, wenn man zum Beispiel an das Recht der Leis-
tungsstörungen, also zum Beispiel an die verschiedenen
Unmöglichkeitsregelungen denkt, die die Examensklau-
suren vieler Studenten, aber weniger den Alltag prägen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da hat er Recht!
Alfred Hartenbach [SPD]: Da nickt sogar Herr
Funke)
Darüber hinaus gibt das Gesetz auf viele drängende
Fragen überhaupt keine Antwort.
(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto
Solms)
Deshalb mussten die Gerichte beispielsweise für das Ver-
schulden beim Vertragsabschluss, für die positive Ver-
tragsverletzung und auch für den Wegfall und die Verän-
derung der Geschäftsgrundlage eigenständig Lösungen
entwickeln, die im BGB nicht vorgesehen waren.
(Rainer Funke [FDP]: Na und?)
Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat die notwendi-
gen und zeitgemäßen Standards gesetzt, die man im BGB
vergebens sucht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
18745
(C)
(D)
(A)
(B)
Viele Nebengesetze haben inzwischen das Schuld-
recht des BGB in den Schatten gestellt und seiner zentra-
len Bedeutung beraubt. Das gilt vor allem für das Recht
der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, das den Betrof-
fenen bei der erdrückenden Fülle des Kleingedruckten zu
mehr Gerechtigkeit verhilft, für das Verbraucherkreditge-
setz und für das Gesetz zum Widerruf von Haustürge-
schäften. Es ist gut, dass wir das Verbraucherschutzrecht
jetzt wieder in das BGB integrieren und damit verhindern,
dass es zu einem Sonderprivatrecht wird.
(Beifall bei der SPD)
Die unübersichtlich gewordenen und zerklüfteten Ver-
jährungsregeln lassen inzwischen jedwede innere Logik
vermissen und sind zu Fallgruben für die Betroffenen ge-
worden. Nur noch Spezialisten finden sich in diesem La-
byrinth zurecht. Da Richter hier nicht korrigierend ein-
greifen können, ist der Gesetzgeber gefordert.
Das heute zu verabschiedende Gesetz zur Modernisie-
rung des Schuldrechts ist deshalb zwingend geboten. Wir
schaffen damit transparente und gerechtere Regelungen
für den zivilrechtlichen Alltag. Unbestreitbar ist, dass das
vorliegende Gesetz grundlegende Defizite des geltenden
Schuldrechts beseitigt und das BGB wieder zum zentra-
len Ort der Regelung der Rechtsgeschäfte des täglichen
Lebens macht. Es ist lange genug und hoch qualifiziert
über diese Reform diskutiert und gestritten worden. Jetzt
gilt es, das umzusetzen, was sich jeweils als eine ver-
nünftige Lösung herauskristallisiert hat.
Über mangelnden Dialog kann sich niemand beklagen.
Wohl deshalb findet dieses Gesetz auch eine so weitge-
hende Zustimmung in den gesellschaftlichen Gruppierun-
gen und Organisationen, denen die schon lange erkannten
Defizite des Zivilrechts vertraut sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Schuldrechtsmodernisierung ist ein Vorhaben, das
1978 von dem damaligen Bundesjustizminister Hans-
Jochen Vogel begonnen und von seinen Nachfolgern,
Hans Engelhard und Klaus Kinkel, fortgeführt und weiter
vorangebracht wurde. Es ist dankenswert, dass unsere
Bundesjustizministerin diese Arbeiten jetzt zu einem ge-
lungenen Abschluss gebracht hat.
(Beifall bei der SPD Norbert Geis [CDU/
CSU]: Mithilfe des Herrn Bachmaier!)
Hundert Jahre nach In-Kraft-Treten des BGB war es
höchste Zeit, das Schuldrecht einer gründlichen Renovie-
rung zu unterziehen und es für das 21. Jahrhundert fit zu
machen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ronald Pofalla
von der CDU/CSU-Fraktion.
Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Offensichtlich will die
Bundesjustizministerin dafür habe ich Verständnis als
die große Reformerin in die Rechtsgeschichte unseres
Landes eingehen.
(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin:
Ich bin schon lange drin! Alfred Hartenbach
[SPD]: Ist sie schon!)
Anders kann man sich die rastlose Suche nach vermeint-
lich reformbedürftigen Gesetzen nicht erklären.
Bewundernswert ist der Elan der Bundesjustizministe-
rin deshalb, weil sie wider besseres Wissen und gegen
noch so vehement und fundiert vorgetragenen fachlichen
Rat jeden noch so falsch eingeschlagenen Weg konse-
quent und munter zu Ende geht.
(Beifall bei der CDU/CSU Widerspruch bei
der SPD)
Ermöglicht wird ihr die Tabula rasa des Rechtssystems
einzig durch die Stimmenmehrheit der Regierungskoali-
tion.
Nach diversen Reformen und Reförmchen wird vor al-
lem bei der so genannten großen Reform des Schuldrechts
klar: Sie ist in dieser Form unnötig. Im Laufe des Gesetz-
gebungsverfahrens wurden circa 200 Änderungen in dem
Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuld-
rechts sprich: der Schuldrechtsreform durchgesetzt.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen!)
Diese Änderungen basieren im Wesentlichen auf Anträ-
gen der unionsregierten Länder.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Hierdurch wurde der Gesetzentwurf im Vergleich zur Ur-
sprungsversion zwar verbessert, aber bereits die Notwen-
digkeit einer solchen Masse an Veränderungen, die durch
die Regierung und die Regierungskoalition auch bereit-
willig akzeptiert wurden, zeigt, welch mangelnde Qualität
der Gesetzentwurf ursprünglich aufwies.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist der Punkt!)
Hier auf dem Rednerpult liegt das Ergebnis der Bera-
tungen. Eine Zusammenfassung von 369 Seiten mit über
200 Änderungsanträgen macht deutlich, dass der Aus-
gangsentwurf eben nicht ausgereift war. Das lässt be-
fürchten, dass selbst diese, jetzt zu entscheidende Fassung
darauf werde ich näher eingehen für die Rechtspraxis auf
Dauer nicht zu gebrauchen sein wird.
Die Folge dieser mangelnden Qualität wird sein, dass
es eine Anzahl von unerkannten Fehlern geben wird, die
erst in den nächsten Jahren bemerkt werden dürften. Ein
solch umfangreicher, übers Knie gebrochener Gesetzent-
wurf
(Joachim Stünker [SPD]: So ein Quatsch!)
birgt nun einmal viele Unwägbarkeiten, die offenbar von
der Frau Ministerin und den Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition billigend in Kauf genommen
werden. Aber die besonders betroffenen Rechtsanwen-
der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Hermann Bachmaier
18746
(C)
(D)
(A)
(B)
(Dirk Manzewski [SPD]: Sind alle dafür!)
vom Kaufmann über den Rechtsanwalt bis hin zum
Richter werden nicht vergessen, wer ihnen diese Re-
form ich bin geneigt, es so zu nennen eingebrockt hat.
Wäre der Gesetzentwurf zur Modernisierung des
Schuldrechts ein Auto, das neu auf den Markt käme, so
drohte Ihnen, meine Damen und Herren von der Regie-
rungskoalition, die Produkthaftung; denn Sie hätten zu
verantworten, dass die Serientauglichkeit nicht überprüft
worden ist und das Produkt daher mit mangelnder Qua-
lität auf den Markt kommt. Unter diesen Umständen be-
dauert man fast, dass es eine Produkthaftung für Geset-
zesvorhaben wie dieses nicht gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Aber die Wähler werden Sie für diese unnötigen und für
andere mangelhafte Reformen schon zur Rechenschaft
ziehen.
Die so genannte große Reform des Schuldrechts weist
einige gravierende Fehler auf. Ich werde einige davon be-
nennen.
Erstens. Nur durch erheblichen Weiterbildungsauf-
wand werden sich Justiz und Anwaltschaft wie auch die
anderen Rechtsanwender mit den anstehenden Neurege-
lungen vertraut machen können. Abgesehen davon, dass
Anwaltschaft und die meisten anderen Rechtsanwender
bereits ab dem 1. Januar kommenden Jahres alle neuen
Verträge nach neuem Recht erstellen müssen und somit
die Zeit zur Vorbereitung viel zu kurz bemessen ist, wer-
den auch erhebliche Kosten entstehen.
(Beifall bei der CDU/CSU Zurufe von der
SPD)
Ich habe gelernt: Wer keine Argumente hat, wird laut.
Ich entnehme Ihrer Lautstärke, dass Sie dem inhaltlich
das ist für mich nicht überraschend nichts entgegen-
zusetzen haben.
(Lachen bei der SPD)
Die Rechtsanwender werden Weiterbildungskurse, Li-
teratur und Ähnliches benötigen, um die umfangreichen
Gesetzesänderungen in der vorhandenen Zeit verinnerli-
chen zu können. Die hierbei zu erwartenden Kosten für
die Praxis werden erheblich unterschätzt.
Ganz im Gegensatz zur Einschätzung der Frau Ministe-
rin, die in dem Gesetzentwurf für die öffentlichen Haus-
halte keinerlei Kosten veranschlagt, werden auch auf die
öffentliche Hand nicht unerhebliche Kosten zukommen,
wenn ganze Schuldrechtsbibliotheken in der Nacht vom
31. Dezember 2001 zum 1. Januar 2002 Makulatur werden.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Müll!)
Zahllose Kommentare, Lehrbücher und Gesetzestexte
müssen in den vorhandenen Bibliotheksbeständen, in de-
nen sonst nur in unregelmäßigen Abständen eine Aktuali-
sierung notwendig ist, ersetzt werden.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das spricht gegen jede Gesetzesände-
rung!)
Zweitens. Die vollständige Reform des deutschen
Schuldrechts ist auch deswegen sinnlos, weil es mit aller-
größter Wahrscheinlichkeit bald von einem allgemein
gültigen europäischen Schuldrecht abgelöst wird. Über-
legungen zu einem europäischen Schuldrecht sind in der
EU-Kommission bereits angelaufen. Im Rahmen der Eu-
ropäisierung des Schuldrechts wird eine umfassende Ko-
difizierung und Vereinheitlichung des Schuldrechts der
Mitgliedstaaten angestrebt. Die von der jetzt beabsichtig-
ten Reform betroffenen Rechtsanwender in Deutschland
werden also in einem überschaubaren Zeitraum gleich
zweimal mit erheblichen Umstellungen eines wichtigen
Bereichs des Zivilrechts konfrontiert. Genau das ist unzu-
mutbar.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Damit wird in unverantwortlicher Weise Rechtsunsicher-
heit in Kauf genommen.
Drittens. Bereits bei der jetzigen Umstellung wird auf-
grund der geplanten gravierenden Änderungen und der
knapp bemessenen Übergangszeit mit erheblicher Rechts-
unsicherheit zu rechnen sein, bis sich die Justiz und die
Rechtsanwälte auf das neue Recht eingestellt haben und
Grundsatzurteile in strittigen Fragen gefällt worden sind.
Erst dann werden auch die aufgrund der kurzen Vorberei-
tungszeit mit Sicherheit vorhandenen rechtstechnischen
Mängel des Entwurfes zutage treten. Bereits das wesent-
lich sorgfältiger vorbereitete zurzeit geltende Schuldrecht
wies Fehler auf, die in mühevoller Arbeit durch jahrzehn-
telange richterliche Rechtsfortbildung behoben wurden.
Ich denke, dass Sie den Gerichten mit der Umsetzung die-
ses Entwurfes erneut viel Arbeit und den Parteien eines
Zivilrechtsstreits viel Frustration bereiten werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wohl wahr!)
Viertens. An dieser Stelle möchte ich auf den Faktor
Zeit in diesem Punkt verstehe ich Sie, Herr Kollege
Bachmaier, überhaupt nicht im Zusammenhang mit die-
sem Gesetzentwurf etwas genauer eingehen. Für eine
wissenschaftliche Durchdringung des zur Diskussion ste-
henden Gesetzentwurfes hat die Zeit nicht ausgereicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die alten Vorschläge der Schuldrechtskommission, deren
Arbeit überhaupt nicht abgewertet werden soll, sind kein
Beleg für eine gründliche und sorgfältige Vorbereitung
der Reform. Das umso weniger, als vom ursprünglichen
Entwurf nach den bereits erwähnten circa 200 Änderun-
gen nicht mehr viel übrig ist. Die wissenschaftlichen Vor-
arbeiten der Schuldrechtskommission waren im Hinblick
auf den vorliegenden Entwurf nur in ganz engen Grenzen
verwendbar.
In einem sagenhaften Tempo wurde der Gesetzentwurf
zudem an allen Gremien des Bundestages und den Be-
troffenen vorbei durch das Gesetzgebungsverfahren ge-
hetzt. Die mangelnde Einbeziehung des Deutschen Bun-
destages ist eine Entwicklung, die mir am allermeisten
Sorge bereitet und über die wir uns an anderer Stelle
gesondert unterhalten sollten. Angesichts des Umfangs
der Reform habe ich einen solchen Zeitdruck in den letz-
ten mehr als zehn Jahren in diesem Haus noch nicht erlebt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ronald Pofalla
18747
(C)
(D)
(A)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Eine solche Eile wird dem hohen Anspruch einer um-
fassenden Reform des Schuldrechts nicht gerecht. Die
Diskussion wurde am Parlament vorbei geführt. Ich be-
tone: Die in der Verfassung und in der Geschäftsordnung
vorgesehenen Beteiligungen sind formal in diesem
Punkt gibt es keinen Streit alle eingehalten worden.
Aber eine wirkliche Beteiligung des Parlamentes hat es
nicht gegeben.
(Rainer Funke [FDP]: Sie war auch nicht ge-
wollt! Gegenruf des Abg. Alfred Hartenbach
[SPD]: Herr Funke, mäßigen Sie sich!)
Bei einer so grundlegenden Reform des Zivilrechtes soll-
ten Sie als Abgeordnete der Koalitionsfraktionen darüber
nachdenken, ob Sie sich von Ihrer Regierung das bieten
lassen, was wir uns angesichts dieser Zeitknappheit haben
bieten lassen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es kann nicht richtig sein, dass die Diskussion über die
fachlichen Aspekte quasi ausschließlich auf der Ebene der
Fachbeamten und der Ländervertreter geführt wurde. Ich
betone noch einmal: Die Länder, insbesondere der CSU-
regierte Freistaat Bayern, haben sehr gute Vorschläge ge-
macht, die auch übernommen worden sind.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: 120!)
Aber es war doch eine Diskussion der Beamten und keine
der Parlamentarier.
Als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie Sie,
Herr Manzewski, waren damals in der Tat noch nicht Mit-
glied des Bundestages; ich meine die zahlreich vertrete-
nen älteren Kollegen Ihrer Fraktion immer die man-
gelnde Beteiligung des Parlamentes beklagt. An manchen
Stellen das möchte ich im Rückblick zugeben haben
Sie Recht gehabt. Aber eine solch große Reform wie die
jetzige faktisch an den Parlamentariern des Deutschen
Bundestages vorbei durchzuführen kann nicht im Inte-
resse dieses Hauses und kann schon gar nicht im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger sein, deren Repräsentanten
wir im Deutschen Bundestag sind. Damit ist die Diskus-
sion über die Modernisierung des Schuldrechts auch am
deutschen Volk vorbei geführt worden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Hermann Bachmaier [SPD]: So einen breit an-
gelegten Diskussionsprozess haben Sie nie
gemacht!)
Herr Bachmaier, ich sage Ihnen ehrlich: Ich hätte von
Ihnen an dieser Stelle etwas mehr Kritikfreudigkeit er-
wartet.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die hat er unter
vier Augen auch gezeigt!)
Ihre Regierung vertrat im Zusammenhang mit einem be-
stimmten Ratifizierungsverfahren die Auffassung, dass es
nur der einfachen Mehrheit im Deutschen Bundestag be-
dürfe. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe Hochachtung vor
Herrn Professor Meyer, Ihrem Kollegen, der den Mitglie-
dern Ihrer Regierung deutlich gemacht hat,
(Alfred Hartenbach [SPD]: Das gehört doch
nicht hierher!)
dass diese Auffassung nicht dem geltenden Recht ent-
spricht, weil eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Die brauchen wir
hier doch nicht!)
Darüber ist nun Konsens erzielt worden. Ich habe mir von
Ihnen, Herr Bachmaier, gewünscht ich kann mich an die
Kampfreden, die Sie acht Jahre lang gehalten haben, be-
vor Ihre Partei die Regierung übernommen hat, noch sehr
gut erinnern , dass Sie wenigstens einmal kritisch ange-
merkt hätten, dass die Bundesregierung in Zukunft nicht
mehr so mit den Abgeordneten des Deutschen Bundesta-
ges verfahren darf.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich verstehe ja, dass sich die Bereitschaft, kritische An-
merkungen zu machen, mit Blick auf mögliche Beförde-
rungen, die hin und wieder anstehen, reduziert.
(Hermann Bachmaier [SPD]: Soll ich Oberab-
geordneter werden?)
Auch die Justizministerin hätte sich, als sie noch Spre-
cherin der SPD-Arbeitsgruppe im Rechtsausschuss war,
niemals bieten lassen, dass eine Bundesregierung eine
solche Reform am Bundestag vorbei durchzieht. Sie hätte
Recht gehabt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Fünftens. Die so genannte große Reform löst zudem
längst nicht alle im Laufe der Rechtsanwendung aufge-
laufenen Probleme. Vereinfachungen wurden keineswegs
in allen Bereichen erreicht. Längst nicht alle privatrecht-
lichen Sondergesetze mit Schuldrechtsbezug wurden
so integriert, wie Sie es vorgeben. Ausgerechnet das
Produkthaftungsgesetz, eines der bedeutendsten Neben-
gesetze, wurden außen vor gelassen. Es kann also summa
summarum von einer Beseitigung des Wildwuchses der
Sondergesetze überhaupt keine Rede sein. Auch für den
einfachen Rechtsanwender wird das Gesetz nicht ver-
ständlicher. Die Bildung abstrakter Begriffe und die schon
legendäre Verweisungstechnik des bisherigen Schuld-
rechtes werden noch exzessiver genutzt und gleichsam
auf die Spitze getrieben.
Weiterhin sind auch noch grobe Wertungswider-
sprüche im Gesetz enthalten, die auch im Gesetzgebungs-
verfahren nicht beseitigt werden konnten. Auf die Be-
seitigung dieser offensichtlichen Ungereimtheiten zielten
einige Änderungsanträge der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion ab; doch stießen diese Änderungsvorschläge unver-
ständlicherweise auf den Widerstand der Regierungsko-
alition. Um Ihnen einmal vor Augen zu führen, warum
diese Änderungsanträge von der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion auch ins Plenum eingebracht worden sind,
möchte ich Ihnen zwei offensichtliche Wertungswider-
sprüche aufzeigen.
Erstens geht es um die viel zu kurze Frist in dem ge-
planten § 196 BGB. Bereits der Bundesrat hat empfohlen,
die Verjährungsfrist bei Ansprüchen auf Eigentums-
übertragung und auf die Übertragung von Rechten an
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ronald Pofalla
18748
(C)
(D)
(A)
(B)
Grundstücken auf 30 Jahre zu erhöhen. Aufgrund der
bestehenden Praxis und der Unzahl von weiterhin beste-
henden derartigen Grundschulden um solche geht es
ja ist der Standpunkt der Bundesregierung unverständ-
lich. Krasser Missbrauch könnte im Einzelfall die Folge
sein, wenn Sie hier nur eine kurze Verjährungsfrist vorse-
hen. Das wird zulasten vor allem von Eigentümerinnen
und Eigentümern von Häusern und Grundstücken gehen,
die entsprechende Eintragungen im Grundbuch vorge-
nommen haben und diese, selbst wenn Tilgungen vorge-
nommen worden sind, im Grundbuch stehen lassen, weil
sie Eintragungskosten sparen wollen. Wenn die Banken
dann die Verjährungseinrede erheben, werden diese Ei-
gentümerinnen und Eigentümer von Grundstücken und
Häusern letztlich vor den Gerichten unter Verweis auf
diese kurze Verjährungsfrist abgewiesen werden. Sie rich-
ten damit großen Schaden an.
Zweitens. Eine weitere von vielen Unverständlichkei-
ten ist der Wertungswiderspruch des § 199 Abs. 2 BGB in
der Entwurfsfassung. Hier wird völlig zu Unrecht mit
zweierlei Maß gemessen. Zum einen unterliegen An-
sprüche selbst aus geringfügigster Körperverletzung,
auch im Falle leichtester Fahrlässigkeit, der 30-jährigen
Verjährungsfrist des § 199 Abs. 2 BGB in der Entwurfs-
fassung. Gleiches gilt im Fall der Gefährdungshaftung
ohne jedes Verschulden des Schädigers. Zum anderen ver-
jähren Schadensersatzansprüche wegen einer vorsätzli-
chen sittenwidrigen Schädigung oder wegen der vorsätzli-
chen Begehung einer Straftat nach § 823 Abs. 2 spätestens
nach zehn Jahren. Das heißt: Fahrlässigkeitstaten, zum
Beispiel eine kleine Verletzung durch eine Ohrfeige, ver-
jähren nach 30 Jahren. Wenn aber jemand absichtlich je-
manden wirtschaftlich ruiniert, gilt eine kürzere Ver-
jährungsfrist.
Diese Wertungswidersprüche sind in dem Gesetzent-
wurf enthalten. Deshalb das will ich noch einmal deut-
lich machen, da meine Redezeit gleich endet lehnen wir
diesen Gesetzestext so, wie er in der Ausschussfassung
heute zur Entscheidung ansteht, ab. Sie geben vor, eine
Reform vorzunehmen. Es ist aber keine Reform. Sie wer-
den Rechtsanwender verunsichern, haben neue Wertungs-
widersprüche eingeführt und einen Teil der alten Pro-
bleme nicht gelöst. Sie tragen die Verantwortung dafür.
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb aus innerer
Überzeugung ab.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Beck
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr
Kollege Pofalla, manche Argumente nutzen sich durch
ständige Wiederholung ab.
(Joachim Stünker [SPD]: Hat er welche ge-
habt?)
Bei jedem Gesetzentwurf, ob es zur Lebenspartnerschaft
war, ob es zur Zivilprozessordnung war oder jetzt bei der
Schuldrechtsreform
(Alfred Hartenbach [SPD]: Mietrechtsreform
nicht vergessen!)
Mietrechtsreform, ja; wenn wir eine Weile nachdenken,
fallen uns noch zehn andere ein , erzählen Sie uns, es sei
alles zu schnell gegangen, Sie kämen nicht mehr hinter-
her, Sie kämen nicht mit. In der Tat, die Koalition hat sich
einiges vorgenommen. Wenn Sie das aber bei jeder Re-
form vortragen, dann muss das Publikum langsam nach-
denklich werden und sich fragen, ob das denn sein kann
und wie wir bloß diese Geschwindigkeit aushalten.
Auch ein anderes Argument, das Sie vorgetragen ha-
ben, lässt sich eigentlich schlecht gegen diese Reform an-
führen, nämlich dass durch die Gesetzesänderung neue
Gesetzessammlungen und neue Kommentarliteratur fällig
werden. Wenn man diesem Argument folgt, dann heißt
das natürlich letztlich: Wir machen nichts mehr. Dann
können die Bibliotheken ihre Anschaffungsetats reduzie-
ren. Aber das kann ja wohl nicht ernsthaft gewollt sein.
Nach rund 20 Jahren Diskussion in Wissenschaft und
Praxis über die Modernisierung des Schuldrechts hat Rot-
Grün jetzt gehandelt. Diese Reform ist die lang erwartete
umfassende Generalinventur des Bürgerlichen Gesetzbu-
ches.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir bringen unser angestaubtes BGB auf Vordermann.
Wir werden mit diesem modernen Zivilrecht auf interna-
tionaler Ebene wieder ernst genommen. Im Hinblick auf
ein europäisches Zivilgesetzbuch wird unser neues BGB
Vorbildfunktion haben.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Genau!)
Herr Kollege Pofalla, obwohl sich Ihre Fraktion in den
Ausschüssen zumindest in den Berichterstatterge-
sprächen der Mitarbeit an diesem Jahrhundertwerk weit-
gehend verweigert hat, hat der Kollege Geis in der Debatte
über den Justizhaushalt treffende Worte gefunden. Er
sagte, das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz sei ich zi-
tiere zweifellos das bedeutendste zivilrechtliche Vorha-
ben dieser Legislaturperiode.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ausnahmsweise haben Sie Recht, Herr Geis. Ich teile
diese Einschätzung.
Umso bedauerlicher ist es, dass die Fraktion der Union
dieses bedeutende Vorhaben wegen einiger im Detail ab-
weichender Vorstellungen nicht mittragen will.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Die FDP auch!)
Manchmal übertreiben Sie es mit Ihrer Oppositionsrolle
einfach ein bisschen. In der Rechtspolitik verpassen Sie
mit dieser Blockadehaltung den Modernisierungszug.
Dasselbe gilt für die FDP. Obwohl Sie, Herr Kollege
Funke, in den Berichterstattergesprächen, an denen Sie
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Ronald Pofalla
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immerhin teilgenommen und zu denen Sie einiges beige-
tragen haben, Zustimmung signalisiert haben, wollen Sie
diese Reform nun offensichtlich nicht mehr unterstützen.
Ich finde es wirklich beschämend, wie Sie sich aufgrund
ideologischer Zwänge mit dem Hinweis auf einzelne Vor-
schriften offensichtlich haben Sie Angst, mit einer Zu-
stimmung der Banken- und Wirtschaftslobby auf die Füße
zu treten zu einer Ablehnung durchgerungen haben.
Übrigens tut es mir auch für Ihren Parteifreund Klaus
Kinkel Leid er ist anwesend ; schließlich hat der Kol-
lege Kinkel noch im Jahre 1991 den Abschlussbericht der
Schuldrechtskommission mit der Hoffnung versehen, es
werde alsbald auch zu einem entsprechenden Gesetzent-
wurf kommen. Rot-Grün macht jetzt Kinkels Träume
wahr, so wie Rot-Grün bereits bei der ZPO-Reform
die Träume Ihres Kollegen Schmidt-Jortzig verwirklicht
hat; aber das Im-Regen-stehen-Lassen der eigenen
Justizministerin und Justizminister hat bei der FDP ja
durchaus eine gewisse Tradition. Auch die Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger kann aus der Vergangenheit
manches berichten.
Die Resonanz bei den Expertinnen und Experten in der
umfassenden Rechtsausschussanhörung war überwälti-
gend. Nahezu die gesamte Praxis unterstützt die Schuld-
rechtsmodernisierung. Der von uns gewählten so genann-
ten großen Lösung wurde von der großen Mehrheit der
Verbände gegenüber einer Art Salamitaktik, wie sie die
Opposition vorgeschlagen hat, der Vorzug gegeben, und
das zu Recht. Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern
sowie den Rechtsanwendern in diesem Land nicht jedes
Jahr eine neue Rechtslage zumuten. Wenn wir zunächst
nur die EU-Richtlinien umgesetzt hätten, dann hätten wir
ein unüberschaubares Chaos an geltenden Rechtszustän-
den bekommen.
Die renommierte Zivilrechtsexpertin Frau Professor
Dauner-Lieb vom Deutschen Anwaltverein hat im letzten
Anwaltsblatt gesagt, der Diskussionsentwurf des BMJ
vom August 2000 sei in einer beispiellosen Kraftanstren-
gung des BMJ unter Mitwirkung von Wissenschaft und
Praxis überarbeitet, geglättet und auch deutlich verbessert
worden. Ich will mich diesem Lob an dieser Stelle aus-
drücklich anschließen. Die Fachebene des Bundesminis-
teriums der Justiz hat in der Tat eine ganz bemerkenswerte
Arbeit geleistet. Mein Respekt gilt den zuständigen Refe-
rentinnen und Referenten, die übrigens bis zuletzt auch
gegenüber den Vorschlägen meiner Fraktion aufgeschlos-
sen waren. Herzlichen Dank!
Vielen Dank auch dafür, dass die Referenten des BMJ
jetzt den verschiedenen Berufsgruppen bei den erforder-
lichen Fortbildungsveranstaltungen mit ihrem Sachver-
stand zur Seite stehen. Vor dem Hintergrund dieser vor-
trefflichen und verantwortungsvollen Hilfeleistung durch
das Ministerium bin ich sehr zuversichtlich, dass die
Rechtsanwender im Hinblick auf die neue Rechtslage ab
Januar 2002 bestens gerüstet sein werden.
Die Reform des Schuldrechts ist in erster Linie eine
Reform für die Verbraucherinnen und für die Verbraucher
in unserem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das freut die Verbraucherpartei Bündnis 90/Die Grünen.
Die Verbraucher werden ab Januar 2002 von einer ganzen
Reihe von Neuregelungen profitieren. Die spürbarste ver-
braucherfreundliche Regelung ist sicherlich die Auswei-
tung der Gewährleistungsfrist im Kaufrecht von sechs
Monaten auf zwei Jahre. Wir haben darauf geachtet, dass
diese Rechtsverbesserung den Verbrauchern an anderer
Stelle des Gesetzes nicht wieder genommen wird. Eine
Pflicht zur Rüge innerhalb der ersten zwei Monate, ähn-
lich wie unter Kaufleuten, bleibt den Verbrauchern er-
spart.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Unter Kaufleuten war das unverzüglich,
nicht zwei Monate! Das ist ein Schmarren!)
Das ist auch richtig so, weil sich viele Mängel naturgemäß
erst nach viel längerer Zeit herausstellen.
Gleichzeitig wird bei Schadenseintritt innerhalb der
ersten sechs Monate nach Lieferung eine Beweislast-
umkehr zugunsten der Verbraucher eingeführt.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Das ist ein Schmarren!)
Die Haftung der Verkäufer wird auf Herstellerangaben
und fehlerhafte Montageanleitungen erweitert und der
Leistungsverzug das hat meine Fraktion durchgesetzt
tritt bei Verbrauchern nur dann ohne vorangegangene
Mahnung nach 30 Tagen automatisch ein, wenn in der
Rechnung auf diese Rechtslage hingewiesen wurde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, diese Schuldrechtsmoder-
nisierung trägt damit an vielen Stellen eindeutig die grüne
Handschrift. Auch in den letzten Zügen des Gesetzge-
bungsverfahrens haben wir noch diverse Verbesserungen
im Detail erreichen können. So haben wir dafür gesorgt,
dass die Verjährung von Ansprüchen bei Verletzung des
Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung künftig bis zum
21. Lebensjahr gehemmt ist. Sie ist im Übrigen auch so
lange gehemmt, wie Opfer und Täter in einem Haushalt
leben. Das ist eine vernünftige Regelung, die den tatsäch-
lichen Umständen in solchen Fällen angemessen Rech-
nung trägt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Bislang waren Schmerzensgeldansprüche ja häufig schon
verjährt, bevor das Opfer überhaupt anfing, über solche
Ansprüche nachzudenken.
Bei der Neugestaltung der Verjährungsfristen ge-
lingt dem Entwurf die notwendige, weitgehende Verein-
heitlichung des derzeitigen Wirrwarrs. Gleichzeitig wird
dem Gläubiger auch eine faire Chance eröffnet, seinen
Anspruch geltend zu machen. Das Gesetz stellt deshalb
beim Verjährungsbeginn auf die Kenntnis oder die grob
fahrlässige Unkenntnis des Gläubigers von den an-
spruchsbegründenden Umständen ab.
(Rainer Funke [FDP]: Auch grüne Ideologie!)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Volker Beck (Köln)
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Meine Damen und Herren, die Schuldrechtsmoderni-
sierung ist nicht nur eine Reform für alle Rechtsanwender,
sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer
täglichen Arbeit nicht mit Paragraphen zu tun haben.
Durch das Gesetz wird das Vertragsrecht wesentlich ver-
einfacht. Es wird damit auch für die Bürgerinnen und Bür-
ger durchschaubarer. Wir verhelfen dem BGB wieder zu
dem Stellenwert, den es ursprünglich einmal besitzen
sollte. Dies tun wir, indem wir zahlreiche Verbraucher
schützende Nebengesetze in das BGB integrieren. Damit
wird sich die Rechtslage in Zukunft wieder allein aus dem
BGB ergeben. Richterrecht, das bislang nur Juristen und
welche, die es werden wollten, kannten, wird jetzt aus-
drücklich in das Gesetz integriert.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Am Ende ver-
stehen es auch noch die Rechtspolitiker!)
Ich nenne als Stichworte: positive Vertragsverletzung,
Culpa in contrahendo oder Wegfall der Geschäftsgrund-
lage all diese Rechtsinstitute stehen jetzt endlich im Ge-
setz. Das schafft nicht nur mehr Rechtssicherheit, auch
der beliebte Hinweis: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die
Rechtsfindung! wird mit dieser Reform wieder uneinge-
schränkt Geltung beanspruchen können.
Deshalb ist es eine gute und eine bürgerfreundliche Re-
form. Ich glaube, Sie bieten hierzu einfach keine Alterna-
tive.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Ein Wunschtraum!)
Wenn wir Ihrem Weg gefolgt wären, hätten wir jetzt in
schöner Regelmäßigkeit neue Rechtszustände in unserem
Land.
Zu dem, was Sie zur europäischen Entwicklung gesagt
haben, erwidere ich Ihnen, dass ich glaube, dass diese Re-
form richtungsweisend werden wird, wenn sie denn zu-
stande kommt. Wir können aber den Verbraucherinnen
und Verbrauchern in unserem Land nicht zumuten, noch
länger zu warten und sich auf den europäischen Weg zu
verlassen, nur weil dort Diskussionen begonnen worden
sind.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort
hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.
Rainer Funke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das so genannte Schuldrechtsmodernisie-
rungsgesetz, das heute in zweiter und dritter Lesung be-
handelt werden soll, wird da gebe ich Ihnen völlig
Recht das Bürgerliche Gesetzbuch grundlegend verän-
dern. Es hat aber noch nie ein so bedeutsames und um-
fangreiches Gesetz gegeben, bei dem der Bundestag als
zentrales Gesetzgebungsorgan eine solch untergeordnete
Rolle gespielt hat.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dafür trägt die Bundesjustizministerin Verantwortung;
dies zeigt aber auch die Schwäche der die Regierung tra-
genden Koalitionsfraktionen.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Mir kommen die
Tränen!)
Der Bundestag, der Rechtsausschuss und seine Bericht-
erstatter haben auf dieses Gesetzgebungswerk kaum Ein-
fluss nehmen können, auch wenn Herr Beck meint, dass
er als Grüner besonders Einfluss genommen hätte.
Aus Sicht des Parlaments handelt es sich um einen völ-
lig übereilten Gesetzentwurf. Zwar gab es sicherlich viele
Beratungen zwischen dem Bundesjustizministerium, den
Ländern und auch einem Teil der Wissenschaft, an denen
sich auch die Ministerialbürokratie der Bundesländer
intensiv beteiligt hat, auf der anderen Seite ist aber das
parlamentarische Beratungsverfahren trotz der anerken-
nenswerten Bemühungen, die Opposition in die Bericht-
erstattergespräche einzubeziehen, von Anfang an ohne
jegliche Auswirkung auf das Gesetzgebungsverfahren ge-
blieben.
(Dr. Klaus Kinkel [FDP]: Das ist sehr
bedauerlich!)
Der heute zu beschließende Gesetzentwurf weist
ebenso wie die noch geltende Regelung des
§ 284 Abs. 3 BGB erhebliche Mängel auf. In rund
150 Fällen sind Mängel das ist unbestreitbar und aus-
drücklich zu erwähnen aufgrund der Korrekturwünsche
des Bundesrates abgestellt worden. Dennoch haben wir
mit Sicherheit in der Kürze der Zeit nicht alle Fehler ent-
deckt. Vor allem aber wird es neue Fehler gegeben haben.
Die FDP hatte sich zu Beginn der Beratungen stets für
die kleine Lösung ausgesprochen. Eine solche kleine Lö-
sung ist aufgrund des Vorgehens der Bundesregierung
heute nicht mehr möglich. Das Gesetzgebungsverfahren
hätte im Rahmen einer kleinen Lösung, die sich auf die
Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie konzen-
triert, zu Beginn der Legislaturperiode in Gang gesetzt
werden müssen. Dieses Gesetz wäre dann hier auch zügig
beraten worden. Stattdessen hat man mit einem großen
Gesetzentwurf, der erst zur Mitte der Legislaturperiode
eingebracht wurde, darauf hingearbeitet, dass letztlich nur
noch mittels einer großen Lösung vorgegangen werden
konnte.
Der Entwurf lässt die europäischen Entwicklungen
völlig unberücksichtigt. Ich will hier nicht weiter darauf
eingehen, weil der Kollege Pofalla hierzu schon alles We-
sentliche gesagt hat.
Einige Punkte könnte man inhaltlich sicherlich kriti-
sieren. Ich will aber auch positive Aspekte des Gesetzent-
wurfes hervorheben: Die FDP begrüßt, dass durch den
Gesetzentwurf nunmehr endlich ein weit transparen-
teres Vertragsrecht entsteht.
(Beifall bei der FDP)
Dies gilt auch für die vereinfachten Bestimmungen im
Leistungsstörungsrecht, das in der Tat im alten BGB zum
Schrecken der Studenten und sonstiger Rechtsanwender
reichlich kompliziert gewesen ist. Auch die Handhabbar-
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Volker Beck (Köln)
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keit des BGB dürfte in vielen Bereichen durch das Gesetz
verbessert werden. Wir halten es jedoch für einen Irrglau-
ben, dass durch die Aufnahme von bisher nicht gesetzlich
kodifizierten Rechtsregeln, wie etwa der positiven Ver-
tragsverletzung oder des Grundsatzes culpa in contra-
hendo, eine leichtere Handhabbarkeit des Gesetzes für ju-
ristische Laien ermöglicht wird.
Die FDP unterstützt ausdrücklich die Vereinfachung
des in den letzten Jahrzehnten vollkommen unübersicht-
lich gewordenen Verjährungsrechts. Die Verlängerung
der Gewährleistungsfrist auf zwei Jahre wird von der
Regierungskoalition als großer Erfolg verkauft. Ich weiß
nicht, worin der große Erfolg besteht. Es handelt sich um
eine 1:1-Umsetzung der europäischen Richtlinie. Die Ver-
braucherfreundlichkeit, die hiermit erreicht werden sollte,
wird dadurch minimiert, dass Industrie und Handel jetzt
dazu übergehen müssen, ihre Preise neu zu kalkulieren,
weil sie inzwischen höhere Haftungsrisiken haben.
Wir halten die Einarbeitung des AGB-Gesetzes in das
Bürgerliche Gesetzbuch für unzweckmäßig das haben
wir in den Berichterstattergesprächen immer gesagt ,
nachdem das AGB-Gesetz auch durch die Recht-
sprechung ein wirksames Instrument für den Verbrau-
cherschutz geworden ist. Bewährtes sollte man nicht ohne
Not verändern.
Auch auf die Einarbeitung bisheriger Nebengesetze
hätte man aus systematischen Gründen verzichten kön-
nen. Ich glaube, dass es richtig war, was die damalige Op-
positionsführerin im Rechtsausschuss, Frau Däubler-
Gmelin, vertreten hat, dass nämlich die Nebengesetze
außerhalb des BGB geregelt werden sollten.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Jürgen
Gehb [CDU/CSU] Dr. Herta Däubler-Gmelin,
Bundesministerin: Das ist doch falsch!)
Das ist kein Quatsch, Frau Ministerin, das halte ich
wirklich
(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin:
Quatsch ist das nicht!)
Das hatten Sie aber gesagt.
(Susanne Kastner [SPD]: Sie hat gesagt: Das
ist falsch!)
Dann entschuldige ich mich; das habe ich eben falsch
verstanden.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ungeachtet des
Inhaltes darf man von der Regierungsbank ei-
gentlich nichts sagen! Alfred Hartenbach
[SPD]: Herr Senator in spe, gut aufpassen!)
Lieber Herr Hartenbach, Sie wissen doch, wie gerne ich
bei Ihnen bin.
(Joachim Stünker [SPD]: Das kann nicht sein!)
Ausdrücklich zu kritisieren ist, dass nunmehr nach
§ 310 Abs. 4 BGB das individuelle Arbeitsrecht auch
den Kontrollmechanismen der allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen unterliegen wird. Das macht das Verfahren für
die Arbeitgeber, insbesondere die mittelständischen Ar-
beitgeber, noch schwieriger. Interessanterweise regeln Sie
das kollektivrechtliche Arbeitsrecht nicht im BGB, son-
dern belassen es außerhalb des BGB. Das ist in meinen
Augen bezeichnend.
(Beifall bei der FDP)
Der Gesetzentwurf wurde, wiewohl die Einflüsse der
Koalitionsfraktionen auf den Entwurf sehr marginal wa-
ren, an einigen Stellen in den Beratungen dadurch sogar
noch verschlechtert, dass die Grünen Herr Beck, hören
Sie ruhig zu, es betrifft Sie; es ist wirklich eine Unver-
schämtheit, dass Sie sich immer dann, wenn Sie ange-
sprochen werden, mit anderen unterhalten
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der Kollege Geis hat mich angespro-
chen! Da bin ich so höflich gewesen und habe
ihm zugehört!)
sozusagen als Anwalt der Verbraucherverbände Formu-
lierungen in das Gesetz eingebaut haben, die dem System
des bisherigen BGB vollkommen widersprechen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]:
Sie sind ja Soziologen, keine Rechtler!)
Beispielhaft nenne ich hier § 286 Abs. 3 des Entwur-
fes, der bei einem Schuldner, der Verbraucher ist, einen
Verzugseintritt selbst dann nicht annimmt, wenn dieser
die bestellte Ware bekommen hat Sie haben es erwähnt
und Unsicherheit über den Zugang der Rechnung besteht.
Eine solche Regelung hat noch nicht einmal die EU-
Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf gefordert.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber ausdrücklich für möglich gehal-
ten!)
Es schien aber der Wille der Verbraucherverbände zu sein,
dass ein Schuldner zukünftig bereits durch die schlichte
Behauptung, es habe keine Rechnung beigelegen, einen
Monat kostenlos und ohne die Möglichkeit des Gläubi-
gers, die Forderung beizutreiben, über den Kaufgegen-
stand verfügen kann.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann man so
nicht hinnehmen!)
Man kann also künftig jedem Verbraucher empfehlen, er
solle sich die Ware liefern lassen und behaupten, er habe
keine Rechnung bekommen, weil er dann erst einen Mo-
nat später zahlen muss.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist unmög-
lich!)
Wie eine solche Regelung der Behauptung der Bun-
desregierung, sie wolle die so genannte schlechte Zah-
lungsmoral bekämpfen, entgegenkommen kann, ist nicht
nachvollziehbar. Das kann auch nicht in ihrem Interesse
sein;
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Beck kennt
sein Interesse nicht so genau!)
denn der Käufer, der seine Rechnung bekommen hat und
dann nicht zahlt, indem er behauptet, er habe diese Rech-
nung noch nicht bekommen, bereichert sich zulasten der-
jenigen Käufer, die ordnungsgemäß zahlen.
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Rainer Funke
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(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert
Geis [CDU/CSU])
Das kann auch nicht im Sinne der Marktwirtschaft sein.
Die Justizministerin mutet mit diesem Gesetz, das in-
nerhalb von kürzester Zeit beschlossen und in Kraft treten
wird, den beteiligten Berufsgruppen und Wirtschaftskrei-
sen erhebliche Umsetzungsarbeit zu. Wir beraten dieses
Gesetz dreieinhalb Monate vor seinem In-Kraft-Treten.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Es kommt auch
noch in den Bundesrat!)
Es muss auch noch durch den Bundesrat. Ich gehe da-
von aus, dass es dort weitestgehend unverändert bleibt.
Die Wirtschaft muss sich aber noch auf dieses Gesetz
einstellen. Die AGB-Bestimmungen müssen verändert
werden. Die Wirtschaft muss sich zugleich auf viele an-
dere Dinge einrichten, etwa die Änderung der ZPO und
der Insolvenzordnung, sowie die Formulare und das ge-
samte Softwareprogramm für den Kaufvertrag verändern.
Dies ist schlicht unzumutbar und zeigt, dass diese Bun-
desregierung kein Interesse am Gedeihen der Wirtschaft
hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Jella Teuchner von der
SPD-Fraktion das Wort.
Jella Teuchner (SPD): Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen heute die Bera-
tungen über die Modernisierung des Schuldrechtes ab.
Damit stärken wir gleichzeitig den Verbraucherinnen und
Verbrauchern den Rücken.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine Fest-
stellung!)
Wir stärken wesentliche Verbraucherrechte, wir verein-
heitlichen und vereinfachen das Schuldrecht und wir wer-
ten die Verbrauchergesetze durch ihre Integration in das
BGB auf.
Verbraucherinnen und Verbraucher stehen oft vor dem
Problem, dass sie die Eigenschaften und die Qualität von
Produkten nicht oder nur mit sehr hohem Aufwand fest-
stellen können. Sie sind oft auf die Auskünfte von Handel
und Hersteller angewiesen. Auch Mängel sind oft nicht
sofort sichtbar. Hier werden wir die Rechte der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher stärken: Erstmals wird jetzt im
BGB geregelt, dass der Verkäufer mangelfreie Produkte
übereignen muss; der Käufer bekommt einen Anspruch
auf Nacherfüllung. Die Beweislast wird beim Auftreten
von Mängeln in den ersten sechs Monaten nach Lieferung
zugunsten der Käufer umgekehrt. Insgesamt wird die Ver-
jährungsfrist bei mangelhaften Produkten zugunsten des
Käufers auf zwei Jahre ausgedehnt. Es wird eine Haftung
für Herstellerangaben und Werbeaussagen über be-
stimmte Eigenschaften der Ware eingeführt.
Ich bin mir sicher: Mit diesen Verbesserungen im
Kaufrecht wird sich auch die Qualität der Produkte in den
Regalen verbessern.
(Beifall bei der SPD)
Die Produktinformation wird besser werden. Dies nützt
den Verbraucherinnen und Verbrauchern, dies nützt aber
genauso den Herstellern, die hochwertige Produkte auf
den Markt bringen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Reines Wunsch-
denken!)
Meine Damen und Herren, für die Verbraucherinnen
und Verbraucher sind die Änderungen im Kaufrecht wahr-
scheinlich die Änderungen, mit denen sie in ihrem tägli-
chen Leben am häufigsten zu tun haben. Die Änderungen
bei den Regelungen zu Darlehensverträgen schützen sie
bei ihrer wahrscheinlich größten Ausgabe. Als Reaktion
auf die Probleme von Verbraucherinnen und Verbrauchern
bei fehlgeschlagenen Immobilienkäufen wurden von der
Rechtsprechung entwickelte Sonderkündigungsmöglich-
keiten aufgegriffen. Auch die Formvorschriften zum Ver-
braucherdarlehensvertrag und zu den Vollmachten zum
Darlehensvertrag helfen, die Informationsvorschriften
zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher durch-
zusetzen.
Die Modernisierung des Schuldrechts bringt weitere
Verbesserungen für den Verbraucher mit sich: Die Rege-
lungen über Widerrufsrechte bei den verschiedenen Ver-
braucherverträgen werden vereinheitlicht. Die Verbrau-
cherzentralen können sich die Ansprüche gegen ein
Unternehmen abtreten lassen und dann gerichtlich durch-
setzen. Damit sinkt das Prozesskostenrisiko für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher. Zudem werden die
Verbandsklagemöglichkeiten des ABG-Gesetzes verein-
heitlicht.
Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher die
Stellungnahmen der Verbraucherverbände unterstützen
dies verbessert sich mit dem Projekt, über das wir heute
abstimmen werden, deren Stellung gegenüber den Anbie-
tern. Wir geben ihnen die Möglichkeit, ihren Anspruch
auf mangelfreie Waren, ihren Anspruch auf wahrheitsge-
treue Informationen und ihre wirtschaftlichen Interessen
besser durchsetzen zu können, ohne die Anbieter über Ge-
bühr zu belasten. Darüber freue ich mich und darin sehe
ich einen Teil der Modernisierung des Schuldrechts, die
längst notwendig war.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Evelyn
Kenzler von der PDS-Fraktion.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Januar des Jahres 1900
trat das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft ein denkwür-
diges Datum für ein außergewöhnliches Gesetz, das im
Laufe von über 100 Jahren mehrere geschichtliche Um-
brüche und zwei Weltkriege überlebt hat. Es hat sich aber,
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Rainer Funke
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wie wir alle wissen, in bestimmten Teilen im Laufe der
Jahrzehnte schlichtweg überlebt. Nicht umsonst wurde
vor wenigen Jahren das Kindschaftsrecht reformiert. Es
ist deshalb endlich an der Zeit, dass auch die Einzelge-
setze und richterlichen Rechtsfortbildungsakte, die das
Schuldrecht weiterentwickelt haben und damit letztlich
das BGB am Leben halten, integriert werden. Dass uns
nach jahrzehntelangen Bemühungen um eine Reform
nunmehr europäische Richtlinien auf die Sprünge helfen,
mag man bemängeln. Wichtig ist jedoch letztlich das Er-
gebnis und nicht der Anlass.
Positiv werte ich allerdings, dass von der Bundesregie-
rung nicht die kleine, sondern die so genannte große Lö-
sung gewählt wurde. Leider sind die großen Lösungen
trotz Vorarbeiten offenbar selten auch als schnelle Lösun-
gen zu realisieren. Es ist ein Problem, dass der Gesetzent-
wurf in der endgültigen Fassung sehr spät gekommen ist.
Das dürfte für die Rechtspraxis, die sich erfahrungs-
gemäß schon aus Zeitgründen erst mit dem Endresultat
des Gesetzgebers vertraut macht, Schwierigkeiten mit
sich bringen. Beim In-Kraft-Treten des BGB waren die
ersten Kommentare schon ein Jahr vorher auf dem Markt.
Auf der Frankfurter Buchmesse dürfte man heute vergeb-
lich nach einem Kommentar oder Lehrbuch suchen.
(Hermann Bachmaier [SPD]: Zuerst müssen
wir dies verabschieden!)
Zutreffend hat die Ministerin bei der Beschlussfassung
im Bundeskabinett seinerzeit festgestellt, dass mit dem
vorliegendem Gesetzentwurf sichergestellt werden soll
ich zitiere , dass das Schuldrecht im BGB auch
zukünftig eines der wichtigsten Gesetze im Alltag der
Bürgerinnen und Bürger bleibt. Daran dürfte kein Zwei-
fel bestehen. Doch es sollte auch ausgesprochen bür-
gerfreundlich nicht nur im Sinne von besser verständ-
lich und vor allem sozialer werden.
Wer die Entstehungsgeschichte des BGB einigermaßen
kennt, der wird sich an die alte Forderung seiner Kritiker,
zum Beispiel von Anton Menger, erinnern ich zitiere :
Unser Privatrecht muss ein Tropfen socialistischen
Öles durchsickern!
Nun trieft der vorliegende Gesetzentwurf keineswegs vor
sozialistischen Rechtsvorstellungen keine Angst , doch
er wird ohne Zweifel ein sozialeres Schuldrecht bringen,
ohne gleich eine Rechtsrevolution für den Verbraucher
auszulösen. Nebenbei bemerkt: Der Verbraucher be-
kommt nichts geschenkt. Die Belastungen, die auf die
Wirtschaft und den Handel zum Beispiel durch die ver-
längerte Gewährleistungsfrist zukommen, wird er mittra-
gen müssen. Man wird sie auf ihn umlegen. Das Schuld-
recht bleibt also bürgerlich.
Auch wenn nicht alle Wünsche gereift sind: Es ist in
der Tat bis zu einem gewissen Grad gelungen, den ange-
strebten Zuwachs an Übersichtlichkeit, Rechtssicherheit
und Europafähigkeit zu erreichen. Positiv sind grundsätz-
lich die Schaffung eines einheitlichen Tatbestandes der
Pflichtverletzung, die Verlängerung der gesetzlichen Ge-
währleistungsfrist, die konsumentenfreundliche Beweis-
lastumkehr in § 476 BGB, die Verpflichtung des Verkäu-
fers, eine mangelfreie Ware zu liefern, einschließlich
seiner Haftung für die versprochenen Eigenschaften, und
die Integration der verstreuten Verbraucherschutzgesetze
in das Schuldrecht zu werten. Auch konnten seit der ers-
ten Lesung einige Verbesserungen gegenüber dem Ur-
sprungsentwurf erreicht werden, zum Beispiel hinsicht-
lich des Beginns der Verjährungsfrist in § 199 BGB oder
auch der Verlängerung der Verjährung für Mängel-
ansprüche bei Bauwerken nach § 438 BGB.
Problematisch dagegen erscheint mir weiterhin die
Reduzierung der regelmäßigen Verjährungsfrist auf
drei Jahre. Diese Frist ist extrem knapp und wird wohl
nicht selten zum Verlust berechtigter Ansprüche führen.
Schließlich wird die Chance versäumt, auch völlig über-
holte Vorschriften anderer Titel des BGB der europä-
ischen Rechtslage anzupassen. So ist die Stellung einer
Bürgschaft gemäß § 232 Abs. 2 BGB weiterhin als Aus-
nahmefall geregelt und § 239 BGB verlangt noch immer
einen inländischen Sitz.
Angesichts der Komplexität des Reformprojektes ist es
sehr schwierig, einzelne Änderungsvorschläge zu ma-
chen, da sie zumeist die gesamte Systematik berühren.
Wir haben daher einen Änderungsantrag verfasst, der
einige Teilaspekte erfasst und sich weiterhin um die so ge-
nannten Häuslebauer kümmert; denn die Verbrauchs-
güterkaufrichtlinie ordnet eine Reihe von Verträgen, für
die bisher Werkvertragsrecht Anwendung fand, nun-
mehr dem Kaufrecht zu. Das verbleibende Werkvertrags-
recht findet auf die Reparatur- und Wartungsverträge, auf
die Transportverträge, auf das geistige Werk sowie auf
den Bauvertrag Anwendung. Das übrig gebliebene Werk-
vertragsrecht des BGB bietet jedoch keine verlässliche
Grundlage für die Regelung der Rechtsverhältnisse am
Bau. Der überragenden Bedeutung des Bauens für die
Wirtschaft und für den Verbraucher wird nicht genügend
Rechnung getragen.
Ich weiß, dass die Bundesregierung, so die Wähler es
wollen, in der nächsten Legislaturperiode rechtliche Re-
gelungen im Bereich des Baurechts plant. Nichtsdes-
totrotz halte ich bereits jetzt die von uns vorgeschla-
genen Ergänzungen wie den Schutz vor möglicher Ver-
kürzung der Verjährung im Teil B der Verdingungsord-
nung für Bauleistungen, die Einfügung eines Rechts auf
Sicherheitsleistung für den Verbraucher, die Verpflich-
tung zur genauen Beschreibung der Bauleistung durch
den Erbringer, die Aufnahme eines Rechts auf Kündi-
gung des Vertrages, wenn einer Vertragspartei ein Fest-
halten am Vertrag nicht mehr zugemutet werden kann,
und die Ablehnung der Nachbesserung, wenn der Unter-
nehmer unzuverlässig war, für nützlich und auch mach-
bar. Ich bitte daher um Zustimmung für unseren Antrag.
Ich möchte zusammenfassen: Wir halten die Schuld-
rechtsreform, mit der das aus der Jahrhundertwende stam-
mende Schuldrecht modernen Entwicklungen angepasst
wird, grundsätzlich für erforderlich, und zwar über die
Umsetzung der drei EG-Richtlinien hinaus. Wir hätten
uns durchaus noch weiter gehende Änderungen vorstellen
können. Wir sind jedoch mit der eingeschlagenen Grund-
richtung trotz Kritik an Einzelpunkten einverstanden. Wir
werden deshalb dem vorliegenden Gesetzentwurf zustim-
men.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Evelyn Kenzler
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(B)
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta
Däubler-Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts ist wirk-
lich etwas Besonderes. Da sich die Kolleginnen und Kol-
legen der CDU/CSU bei den Berichterstattergesprächen
nie haben sehen lassen,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!
Das ist nicht wahr!)
hatte ich eigentlich gehofft, wir könnten wenigstens heute
eine inhaltliche Auseinandersetzung führen. Ich hatte
mich auf die Rede von Herrn Pofalla schon richtig gefreut.
Leider Gottes hat er seine Standardrede, die er hier schon
oft gehalten hat, wieder aus der Schublade gezogen. Ob-
wohl Sie mich sozusagen ins Geschichtsbuch einsortieren
das ist aber mittlerweile auch schon so häufig passiert,
dass es nicht mehr originell ist , finde ich das ein biss-
chen schade.
Die Schuldrechtsmodernisierung ist wirklich etwas
Besonderes, weil sie die erste systematische und grundle-
gende, aber auch dringend notwendige Änderung unseres
Schuldrechtes seit dem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1900
ist. Es ist schade, dass die Auseinandersetzung in der Sa-
che fehlt. Hätten Sie diese Modernisierung vollbracht es
war genügend Zeit während der Regierung von CDU/
CSU und FDP ,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben viel ge-
leistet! Wir konnten nicht alles machen!)
dann hätten Sie Jubelgesänge angestimmt. Ein bisschen
mehr Beteiligung und ein bisschen mehr Anerkennung
hätte auch der größten Oppositionsfraktion, der CDU/
CSU, nicht schlecht angestanden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Sie wissen natürlich ganz genau, dass es kaum ein so
grundlegendes zivilrechtliches Modernisierungswerk ge-
geben hat, das so breit, so intensiv und nehmen wir al-
les zusammen so lange diskutiert worden ist.
(Widerspruch bei der CDU/CSU Dr. Wolfgang
Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Frau Minis-
terin!)
Ihre Zwischenrufe gehören zum Geschäft.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Von hier dürfen
Sie rufen, aber nicht von der Regierungsbank!)
Für die Öffentlichkeit sage ich: Schon 1978 wurde die
Frage der Schuldrechtsmodernisierung ich war damals
bereits Mitglied des Rechtsausschusses, Herr von Stetten
erörtert.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum haben wir
so spät den Referentenentwurf bekommen?)
Dann ist mit Ihrer Beteiligung eine Kommission einge-
setzt worden, die 1992 ihre Ergebnisse vorlegte. Sie wur-
den nicht nur von uns, sondern auch von der CDU/CSU,
vom Deutschen Juristentag und von anderen begrüßt.
Dann ist Ihnen aber die Luft unter dem Hut ausgegangen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Zu der Diskussion
sind wir erst vor einem Jahr gekommen!)
Offiziell haben Sie erklärt, Sie warten noch auf die euro-
päische Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.
Nun liegt diese Richtlinie vor. Sie wissen ganz genau,
dass sie darüber wurde so furchtbar gejammert bis
zum 1. Januar 2002 umgesetzt werden muss.
Dann müssen Sie sich einfach entscheiden. Wollen Sie
es machen wie der von mir sehr geschätzte Kollege
Pofalla, der dieses Datum gar nicht erwähnt? Dann wun-
dert es mich aber überhaupt nicht, dass in Ihrer
Regierungszeit die Reisevertragsrichtlinie nicht rechtzei-
tig umgesetzt wurde, was dazu geführt hat, dass die Bun-
desrepublik Deutschland Schadensersatz in Millionen-
höhe zahlen musste.
Meine Damen und Herren, wenn wir dieses Datum
nicht einhielten, wäre die Schadensersatzverpflichtung
ungleich höher. Aber wenn wir dieses Datum akzeptieren
das mussten wir, weil es einfach eine Vorgabe war ,
dann hat es überhaupt keinen Sinn, so zu tun, als könne
man das alles ad calendas graecas hinausschieben.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Wir hätten eine Seite gebraucht!)
Ich hätte erwartet, dass jemand von Ihnen, der sich be-
teiligen will, an den zahllosen Symposien, an den Ge-
sprächen, an den Möglichkeiten, sich im Bereich der
Wissenschaft oder der Öffentlichkeit einzuklinken, teil-
genommen hätte. Dies ist nicht erfolgt.
Es gab in der Wissenschaft auch andere Meinungen,
zum Beispiel von den Kollegen Professoren Altmeppen
und Wilhelm. Ich habe ihren fachlichen Standpunkt nicht
geteilt; aber sie hatten wenigstens einen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Herr Pofalla hat sei-
nen Standpunkt in fünf Punkten dargestellt!)
Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was sie geschrieben
haben, nachdem sie ihren Widerstand eingestellt hatten:
Sie seien auch bei den Vertretern der Oppositionsparteien
gewesen. Diese seien naturgemäß einer Kritik aufge-
schlossen gewesen, hätten sich aber in grundsätzlichen
und in Detailfragen des Entwurfs als überraschend wenig
informiert präsentiert. Ich zitiere wörtlich:
Sie waren ersichtlich mehr daran interessiert, von
uns irgendwelche Munition gegen die Regierungs-
arbeit zu erlangen, als dass sie sich für die Proble-
matik einer derartigen Gesetzgebungsarbeit interes-
sieren ließen.
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! Na so
was! Norbert Geis [CDU/CSU]: Wer hat denn
das geschrieben?)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18755
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Ich habe dies mit Abscheu und Empörung zurückge-
wiesen.
(Beifall bei der SPD)
Allerdings muss ich den Standpunkt überdenken, nach-
dem ich die Rede von Herrn Pofalla gehört habe.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine Ver-
leumdung!)
Sie können das Dokument gern haben. Der Punkt ist:
Das ist in der Öffentlichkeit bekannt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns festhalten:
Dieses Gesetz wurde nicht nur mit den Ländern diskutiert
dafür danke ich übrigens ganz besonders , sondern
auch von einer sehr breiten wissenschaftlichen kriti-
schen und auch durchaus unterstützenden Diskussion
begleitet. Wir haben einen sehr breiten Diskurs organi-
siert. Deswegen ist es keine Schande, sondern gut, dass
wir die Überlegungen und Anregungen aufgenommen ha-
ben, die ja im Vergleich zu denen der Schuldrechts-
modernisierungskommission vernünftiger und besser wa-
ren. Nur so kann ein solches Gesetz entstehen. Wir hätten
es aber begrüßt, wenn Sie sich da ein bisschen stärker ein-
gebracht hätten.
Wertvolle Unterstützung erhielten wir übrigens nicht
nur von Wissenschaftlern, von der Schuldrechtskommis-
sion, von Gerichten und gerade auch von Praktikern, son-
dern auch aus den Berufsverbänden. Schauen Sie sich
doch die Stellungnahmen des Richterbundes, des Anwalt-
vereins, der Anwaltskammern, der Notarkammern oder
der Handwerkskammern an! Sie waren alle der Meinung:
Jawohl, das muss jetzt sein.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Mir schreiben sie aber anderes!)
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns noch einmal
den Anlass hervorheben. Dies war zunächst einmal die
Umsetzung von drei wichtigen europäischen Richtlinien.
Eine dieser Richtlinien ist die europäische Verbrauchsgü-
terkaufrichtlinie. Über das Zeitlimit und über die Folgen
habe ich schon gesprochen. Jetzt ist aber noch die Frage:
Hätte man das sinnvollerweise in zwei oder drei Stufen
umsetzen sollen? Darüber kann man doch reden. Darüber
haben wir auch geredet, auch wenn Sie sich nicht daran
beteiligt haben.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir sind doch zu
Berichterstattergesprächen ohne Absprache
einbestellt worden! Dann sind sie wieder ver-
legt worden!)
Die Zwischenrufe des allseits verehrten und geschätzten
Kollegen Geis! Er weiß es in Wirklichkeit besser.
Aber alle Beteiligten, die hier sehr intensiv mitgewirkt
haben, und gerade die Praktiker, die Anwender und die
Verbände haben gesagt: Wir wollen den Umsetzungsbe-
darf und die Umsetzungskosten nur einmal. Wir wollen
sie nicht noch einmal haben, nachdem wir sie wegen der
Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zum 1. Januar 2002 so-
wieso haben. Dies muss hier nochmals festgehalten wer-
den.
Das ist auch von der Sache her sinnvoll, und zwar ein-
fach deswegen, weil diese Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
zwei Schlüsselvorgaben enthält, die sinnvollerweise mit
einer Modernisierung des Schuldrechts Hand in Hand ge-
hen müssen. Das ist zum einen die Verlängerung der Ver-
jährungsfrist für Mangelansprüche beim Kauf- und beim
Werkvertrag.
(Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich
zu einer Zwischenfrage)
Entschuldigen Sie, Herr Präsident. Der Kollege wartet,
ich weiß. Aber wenn Sie sich noch etwas gedulden, Herr
Geis?
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Zehn Sekunden!)
Danke schön. Bitte setzen Sie sich doch wieder. Ich
brauche noch einen Moment.
Die Verjährungsfrist beträgt also künftig statt bisher
sechs Monate zwei Jahre. Natürlich haben Sie Recht, Herr
Funke: Das ist gut. Auch in einem weiteren Punkt haben
Sie Recht: Das schreibt die entsprechende europäische
Richtlinie vor. Das ist eine Schlüsselvorgabe. Nur, wer
dies gut findet und wer weiß, dass wir diese europäische
Richtlinie umsetzen müssen, der darf nicht dagegen-
stimmen, sondern muss zustimmen.
(Beifall bei der SPD Ronald Pofalla [CDU/
CSU]: Wir müssen gar nichts!)
Das heißt, man kann nicht alles haben. Auch das muss
man bedenken.
Jetzt kann der Kollege Geis seine Zwischenfrage stel-
len.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol-
lege Geis, die Frau Ministerin erlaubt Ihnen, eine Zwi-
schenfrage zu stellen. Bitte schön.
(Heiterkeit Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die
befiehlt uns ja auch, was wir machen
müssen!)
Norbert Geis (CDU/CSU): Ich bedanke mich für die
Erlaubnis zu einer Zwischenfrage.
Frau Ministerin, wenn es richtig ist, dass aufgrund der
Umsetzung der vorliegenden europäischen Richtlinien
zum 1. Januar 2002 sinnvollerweise das gesamte Werk zur
Modernisierung des Schuldrechts verabschiedet werden
soll, wäre es dann nicht richtig gewesen, den entspre-
chenden Diskussionsentwurf nicht erst ein Jahr vor Ver-
abschiedung, also ungefähr jetzt vor einem Jahr, auf den
Tisch zu legen? Im Übrigen ist von diesem Diskussions-
entwurf, wie Sie selber wissen, fast nichts übrig geblie-
ben. Wäre es also nicht sehr viel besser gewesen, diese ge-
samte Diskussion besonders im Hinblick darauf, dass
Parlamentarier auch andere Verpflichtungen haben ein
Jahr früher zu beginnen? Sie sollten bedenken, dass die
Diskussion über das BGB, das vor 100 Jahren rechtskräf-
tig geworden ist, 20 Jahre gedauert hat. Im vorliegenden
Falle haben wir die Diskussion über den konkreten Ge-
setzentwurf nur ein Jahr lang geführt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Jus-
tiz: Herr Kollege Geis, Sie wissen wahrscheinlich ganz
genau, dass wir zwischen 1978 und 1980 und dann wie-
der um das Jahr 1992 über diese Fragen lange diskutiert
haben. In einem Punkt gebe ich Ihnen aber Recht: Ich
hätte es sehr begrüßt, wenn auch der Bundestag während
der Verhandlungen über die Verbrauchsgüterkaufrichtli-
nie und die beiden anderen damit verbundenen europä-
ischen Richtlinien auf europäischer Ebene mitdiskutiert
hätte. Sie wissen ganz genau: Ich war damals nicht in der
Position, in der ich dies hätte sicherstellen können. Sie
wissen auch, dass ich europäische Richtlinienentwürfe
immer sehr rechtzeitig in die entsprechenden Gremien
dieses Hauses einbringe. Nur, auch wenn eine Richtlinie
innerhalb von nur zwei bis zweieinhalb Jahren umgesetzt
werden soll, muss man erst einmal einen Diskussionsent-
wurf erarbeiten.
Selbstverständlich weiß ich, dass wir alle sehr viel zu
tun hatten. Sie hatten diesen Gesetzentwurf zum ersten
Mal im September des vergangenen Jahres auf dem Tisch.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Im November!)
Nein, im September. Ich habe Ihnen in diesem Zusam-
menhang einen persönlichen Brief geschrieben. Deswe-
gen weiß ich das ganz genau.
Ich hätte es begrüßt, wenn Sie sich ein bisschen mehr
beteiligt hätten. Unsere Schuld ist es nicht. Die Sache
wäre es wert gewesen. Zudem haben wir nicht nur die
Zahlen der Verjährungsfristen gemäß der ersten Vorgabe,
von der ich bereits gesprochen habe lassen Sie mich da-
rauf zurückkommen , ausgetauscht, sondern auch das
Verjährungsrecht wieder stimmig gemacht. Das heißt,
wir haben das System des Verjährungsrechts wieder à jour
modernisiert und damit eine ganze Reihe von Ungereimt-
heiten, aber auch von Fehlentwicklungen im Schuldrecht
beseitigt.
Auch Sie hätten das in der Zeit nach 1992 tun können.
Sie haben dies nicht gemacht. Sie werden Ihre Gründe
dafür gehabt haben. Seien Sie also so freundlich und grei-
fen Sie uns deshalb nicht an! Sehen Sie vielmehr die deut-
lichen Vorzüge gerade für die Anwender in der Praxis!
Der zweite strukturell entscheidende Punkt in der Ver-
brauchsgüterkaufrichtlinie klingt unscheinbar, ist aber für
eine einheitliche Umsetzung absolut notwendig: Das ist
die Bestimmung in der Richtlinie selber, dass die Kaufsa-
che den vertraglichen Vorgaben entsprechen und frei von
Mängeln sein muss. Sie selber wissen aus der bisherigen
Rechtsprechung und aus dem BGB, dass es hier unglaub-
lich viele Wege gegeben hat. Zusammen mit der Schuld-
rechtsmodernisierungskommission sind wir der Meinung,
dass eine Antwort genügt. Diese ist jetzt vorgelegt wor-
den. Hierin werden wir im Übrigen von der Wissenschaft
und ganz besonders von der Praxis unterstützt.
Hinzu kommt, dass wir die Gewährleistungsfalle für
das Handwerk abschaffen. Das erklärt, warum der Mittel-
stand und gerade das Handwerk für diese Reform sind.
Hinter der Gewährleistungsfalle verbirgt sich für dieje-
nigen, die das nicht wissen Folgendes: Wenn Sie in
Ihrem Haus oder in Ihrer Wohnung von einem Glaser
Fenster einbauen lassen, dann haftet dieser Ihnen als sei-
nem Kunden gegenüber länger, als er gegenüber seinem
Lieferanten Gewährleistungsrechte geltend machen kann.
Das ist die Gewährleistungsfalle, die wir jetzt ausräumen.
Dafür ist uns gerade das Handwerk dankbar.
Im Leistungsstörungsrecht führen wir einen einheitli-
chen Pflichtverletzungstatbestand ein; das ist erwähnt
worden. Das case law, das die Rechtsprechung gerade
in diesen Fällen entwickelt hat, führen wir, soweit es sich
zu einem gesicherten Bestandteil des Rechts entwickelt
hat, wieder ins Bürgerliche Gesetzbuch zurück. Das Glei-
che gilt für manche Sondergesetze.
Jetzt komme ich zu den, wie ich finde, merkwürdigen
Behauptungen, die hier aufgestellt wurden. Es gibt zwei
Theorien, über die man streiten kann. Die eine Theorie
besagt: Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 soll als
Leistung der deutschen Rechtskultur sozusagen wie eine
Monstranz in einen Glaskasten gesperrt, gelegentlich aus-
gepackt, abgestaubt und wieder hineingestellt werden,
während das gesamte wirtschaftliche Leben seit Jahr-
zehnten neben dem BGB durch case law oder durch
Sondergesetze insbesondere bei der Umsetzung von
EU-Richtlinien geregelt wird.
Wir haben gesagt, dass wir das nicht wollen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wird auch in
Zukunft so sein!)
Deshalb machen wir das nur das ist die zweite Theorie ,
soweit es sinnvoll und nützlich ist. Wir haben das in Be-
zug auf das Mietrecht getan und wir machen das jetzt in
Bezug auf das Gesetz über die Allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen.
Sehr geehrter Herr Pofalla, wenn Sie plötzlich der Mei-
nung sind, man solle das auch bei dem Produkthaf-
tungsgesetz machen, warum haben Sie das dann nicht be-
antragt?
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Machen Sie die
Gesetze oder wir? Das können Sie uns nicht
vorwerfen! Sie wechseln ständig die Position!
Null Linie!)
Ich persönlich halte es für falsch. Sie haben das nie bean-
tragt. Aber uns das dann vorzuwerfen, das entspricht der
Qualität dessen, was Sie hier insgesamt vorgetragen ha-
ben. Das ist ziemlich flach.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Ronald Pofalla [CDU/ CSU]:
Nein, Sie wechseln ständig die Position, wie
immer! Keine Linie!)
Das BGB erhält auf diese Weise als zentrale zivilrecht-
liche Kodifikation wieder die Bedeutung und die Funk-
tion zurück, die sich mit einer solchen Institution der deut-
schen Rechtskultur verbinden sollten.
Die Modernisierung bewirkt auch einen fairen Interes-
senausgleich. Auf der einen Seite steht das Interesse der
Verbraucher darauf ist schon hingewiesen worden; ich
glaube, das ist eine gute Sache , und zwar zum Beispiel
im Kaufrecht beim Mangelbegriff und bei den Gewähr-
leistungsfristen. Auf der anderen Seite gibt es nicht nur
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Vorzüge für den Mittelstand und das Handwerk, sondern
ebenso profitieren Wirtschaft und Vertrieb von klaren, ab-
gestimmten und teilweise kürzeren Verjährungsfristen
oder Rückgriffsrechten, aber auch von erheblich pra-
xisgerechteren Regelungen sowie von größerer Rechtssi-
cherheit und damit, so hoffe ich, auch von einem erhebli-
chen Rückgang der Zahl der Rechtsstreitigkeiten.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Bauhandwer-
ker sind nach wie vor unzufrieden! Ronald
Pofalla [CDU/CSU]: Alle sind unzufrieden, mit
Ausnahme der Ministerin!)
Das Bauhandwerk hat mit dem Schuldrechtsmoderni-
sierungsgesetz nicht unmittelbar zu tun. Das Werksver-
tragsrecht und das Bauvertragsrecht sollten wir aber
dann hoffentlich mit mehr Beteiligung der CDU/CSU-
Opposition etwas später und gründlicher diskutieren.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben ja selber
Vorschläge gemacht, die Sie abgelehnt haben!
Es wäre gut gewesen, Sie hätten sie mitgenom-
men!)
Jetzt komme ich noch einmal zu der europäischen
Ebene. Das schlägt dem Fass den Boden aus.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das Argument ist
nicht ohne!)
Jeder weiß ganz genau, dass die deutschen Schuldrechtler
bei der Aushandlung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
deswegen so wenig gehört wurden, weil alle Nachbarlän-
der gesagt haben, wir hätten keine modernen Regelungen;
diese Regelungen seien für sie nicht interessant. Nun mo-
dernisieren wir das Schuldrecht und gestalten es europa-
kompatibel, damit wir bei der künftigen Erarbeitung eines
europäischen Vertragsrechts den Fuß in der Tür haben.
Aber das ist Ihnen auch wieder nicht recht.
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das ist völlig
überflüssig!)
Sie wissen ganz genau, dass die EU-Kommission gerade
angefangen hat, einen Fragebogen zu versenden. Die Aus-
wertung dieses Fragebogens wird vielleicht irgendwann
dazu führen, dass die Notwendigkeit eines europäischen
Vertragsrechts von den Mitgliedstaaten bejaht wird. Aber
wir wissen ganz genau, dass in den kommenden Jahren
damit nicht zu rechnen ist.
Deswegen sage ich: Wir schaffen ein europakompa-
tibles Recht, weil wir damit mehr Einfluss in Europa ha-
ben. Sie täten gut daran, es zu unterstützen.
Jetzt noch etwas zu der Übergangszeit. Wir haben der
Wirtschaft sehr deutlich angeboten, mit dem, was
man jetzt noch nicht umsetzen muss, zum Beispiel im Be-
reich der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, zu warten.
Sie haben das in den Verbandsanhörungen abgelehnt. Sie
haben unserem Weg zugestimmt und nicht Ihrer Kritik.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Ronald Pofalla [CDU/CSU]:
Ein Jahr!)
Deswegen ist es auch ein Gebot der intellektuellen Red-
lichkeit,
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ein Jahr!
Täuschung!)
zu sagen, dass es so ist, Herr Pofalla.
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Sie täuschen,
Frau Ministerin! Ein Jahr haben Sie angebo-
ten!)
Herr Pofalla, ich weiß, dass Sie heute nichts anderes sa-
gen können. Aber es ist wirklich traurig. Sie sollten auch
über die Art und Weise, wie Sie sich hier einbringen, noch
einmal nachdenken.
(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ein Jahr!)
Das scheint mir langsam ein persönliches Problem zu
werden.
(Heiterkeit bei der SPD)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch eines sagen: Sehr viele haben mitgearbeitet.
Ich bedanke mich keineswegs allein bei den vielen Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die konstruktiv
mitgearbeitet haben, ob nun kritisch oder nicht. Ich be-
danke mich vielmehr ausdrücklich auch bei den Ländern,
die daran mitgearbeitet haben, auch wenn es diese
Justizministerin und das Bundesministerium der Justiz
waren, die den Diskussionsprozess von Anfang an darauf
angelegt haben. Ich bedanke mich übrigens auch bei den
Berichterstattern dafür, dass sie sich in diese schwierige
Materie so hervorragend eingearbeitet haben, bei allen,
die sich hiervon angesprochen fühlen und die auch ange-
sprochen sind.
Lassen Sie mich noch hinzufügen: Sie gestatten, dass
ich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
und insbesondere bei den Verantwortlichen der Abtei-
lung I des Bundesministeriums der Justiz bedanke,
(Beifall im ganzen Hause)
die in langer und mühevoller Arbeit und zum Teil auch in
Arbeitsprozessen, die der normalen Arbeit eines Ministe-
riums nicht entsprechen, nämlich in Zusammenarbeit mit
vielen Wissenschaftlern in zahllosen Symposien, diese
schwierige Materie so hervorragend bearbeitet haben.
Herzlichen Dank! Ich glaube, das Ergebnis wird gut.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Evelyn
Kenzler [PDS])
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich habe bei der Diskussion, wenn ich die unterschied-
lichen Interpretationen höre, den Eindruck, dass wir über
verschiedene Gesetzentwürfe diskutieren.
Das kann man Ihnen, Frau Ministerin, natürlich nicht
absprechen: Mutig sind Sie. Widerstand ermuntert Sie.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Sie gehen notfalls mit dem Kopf durch die Wand und zie-
hen ihn erst zurück, wenn es wehtut.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Damit haben Sie schon ganze Generationen Ihrer Partei-
genossen und -genossinnen zur Weißglut gebracht. Sie
streiten ja nicht nur mit uns im Rechtsausschuss, sondern
angeblich, so hört man, streiten Sie auch im Kabinett.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was? Wird da
überhaupt noch gestritten?)
Mit der von Ihnen forcierten Zivilprozessrechtsre-
form wollten Sie sich ein Denkmal setzen. Das Ge-
schichtsbuch will ich einmal auslassen. Aber noch bevor
Sie sich zur Probe auf das Denkmal setzen konnten, war
der Sockel schon weggestoßen, weil die einhellige Mei-
nung der Anwälte, der Richter und der Professoren so
abenteuerliche Reformen in Grund und Boden ver-
dammte.
(Joachim Stünker [SPD]: Das ist aber jetzt nicht
in Ordnung! Das ist das falsche Thema!)
Sie haben dann, wie man so schön sagt, lieber Herr
Stünker, die Kurve gekratzt, und Ihr Reformgesetz be-
kam eine Beerdigung erster Klasse.
Aber ein Glück: Es gab ja noch eine EU-Richtlinie und
einen Referentenentwurf, auf den Sie sich im Frühjahr mit
Macht stürzen konnten, obwohl noch im März, Frau Mi-
nisterin, Staatssekretär Professor Pick auf Anfrage zusi-
cherte, dass dieser Referentenentwurf in dieser Legisla-
turperiode nicht in das Gesetzgebungsverfahren kommen
sollte, sondern nur die EU-Richtlinien umgesetzt werden
sollten.
Sie haben dann Ihre Mitarbeiter in Tag- und Nachtar-
beit einen Gesetzentwurf ausarbeiten lassen. Dass infolge
der Schnelligkeit einige Fehler passierten, liegt nicht an
diesen; aber uns knallten Sie ihn sozusagen auf den Tisch.
Es wurde auch nicht 20 Jahre und auch nicht seit 1978
an dem Entwurf gearbeitet, sondern seit 1992 ruhte das
Gesetzgebungswerk dieser Kommission. Im Grunde ge-
nommen hatten wir ihn erst in den letzten vier, fünf Mo-
naten.
Sie haben es sehr geschickt gemacht, Frau Ministerin:
Sie haben die Entrüstung ein wenig gebändigt, indem Sie
sagten, Sie seien nach allen Seiten offen und Veränderun-
gen könne man noch jederzeit vornehmen. Entsprechende
Wünsche kamen zu Hunderten: vom Bundesrat, von Ver-
bänden, von Rechtsgelehrten. Aber die Übersichtlichkeit
nahm zunächst einmal ab. Berichterstattergespräche Sie
haben es eben erwähnt; man hätte lange diskutieren kön-
nen haben Sie uns wie ein Feigenblatt angeboten, weil
uns unmittelbar vor der Sitzung oder direkt zur Sitzung
neue Synopsen, mal als zweite Synopse, mal als Ände-
rung, mal als Schlusssynopse, jeweils im Umfang von bis
zu 450 Seiten, vorgelegt wurden. Sie sollten sich daher
nicht wundern, dass wir teilweise die aufoktroyierten und
diktierten Termine abgelehnt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eine der Hauptursachen war, dass Sie unsere Bitte, das
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in Ruhe zu beraten
und der Praxis sowohl den Anwälten als auch den Rich-
tern, dem Handel und dem Handwerk einen entspre-
chenden Vorlauf zur Erarbeitung zu geben, kategorisch
abgelehnt haben. Die wenigen Paragraphen, die wegen
der EU-Richtlinie hätten verändert werden müssen, hätten
fast auf einer Seite Platz gefunden und hätten völlig un-
abhängig von der Schuldrechtsreform gut zum 1. Ja-
nuar 2002 in Kraft treten können; das Gesetz über die-
ses werde ich nachher noch etwas sagen , das im Grunde
vernünftig ist, wäre zum 1. Januar 2003 oder zum 1. Ja-
nuar 2004 rechtzeitig, durchdacht und gründlich beraten
in Kraft getreten.
Diese Chance haben Sie, Frau Ministerin, vertan. Die
Schuldrechtsreform hätte noch immer Ihren Namen ge-
tragen. So sind wir mit Sicherheit bereits ab Januar dabei,
viele Reparaturgesetze und Ergänzungen zu erarbeiten
und zu beschließen, um das richtig zu stellen, was in der
Eile nicht durchdacht werden konnte.
Ich kann mich im Übrigen ganz im Gegensatz zu Ihnen
nicht daran erinnern, dass wir ein wichtiges Gesetz im
Rechtsausschuss so dilettantisch wie das Schuldrechts-
modernisierungsgesetz verabschiedet haben. Es war und
ist bei uns im Rechtsausschuss üblich, dass wir vor der
letzten Beschlussfassung jeden Paragraphen, manchmal
sogar die Absätze einzeln beraten und abstimmen. Bei
diesem angeblichen Jahrhundertgesetz wurden nach kur-
zen allgemeinen Ausführungen Hunderte von Paragra-
phen auf einmal beschlossen und durchgeboxt.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber nicht auf unser Verlangen, sondern
im Einvernehmen der Obleute!)
Wie kann man ein solches Gesetz in zwei Stunden
durcharbeiten? Man hätte dafür zwei Tage gebraucht, um
es vernünftig zu machen.
Die Degradierung des Rechtsausschusses und vor allem
die Degradierung Ihrer eigenen Parteigenossen und Ihrer
Bündnisgenossen, der Grünen, von denen höchstens vier
bis fünf Kollegen daran gearbeitet haben, ist offensichtlich.
Dies ist nicht würdig und zeigt Ihre Wertschätzung.
Frau Ministerin, Sie haben gerade fast schwärmerisch
von der breiten Zustimmung von Verbänden und Profes-
soren gesprochen. Sie müssen eine andere Klientel haben
als wir. Wir erhalten auch heute noch ständig Warnungen
vor dem Gesetz und Anträge auf Veränderungen, insbe-
sondere die eindringliche Bitte, das In-Kraft-Treten des
Gesetzes zu verschieben.
Als ein Beispiel nenne ich die Stuttgarter Rechts-
anwaltskammer ich erwähne sie, weil sie unsere ge-
meinsame Kammer ist; Sie kennen sie sehr gut , die
in ihrem aktuellen Kammerreport schreibt: Bei der
Schuldrechtsreform droht Chaos, Die überstürzte Um-
setzung der Schuldrechtsreform wird für viele Unterneh-
mer hohe Verluste mit sich bringen und zudem zu einem
rechtlichen Chaos führen, Schaden für den Mittelstand
und für die Verbraucher, Die Anwaltschaft gerät unter
Druck, Experten fordern Verschiebung. Ich habe mit
der Kammer in Stuttgart nur einen Verband genannt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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Hektisch einberufene Seminare versuchen, das
Schlimmste zu verhindern. Hunderttausende von Betrie-
ben müssen ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen än-
dern. 100 000 Anwälte und 20 000 Richter werden über
Nacht zu Studenten das ist nicht unbedingt falsch , um
das neue Recht richtig anzuwenden.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU Zuruf von der
CDU/CSU: Die Repetitoren freuen sich!)
Sie waren auch das muss man sagen , Frau Minis-
terin, flexibel, um den Bundesrat mit ins Boot zu bekom-
men. Von fast 200 Änderungsanträgen haben Sie 120
mehr oder weniger übernommen, um damit einige ver-
nünftige Ansätze in das Gesetz zu bringen. Ich will auf
einige kurz eingehen.
Die Verjährungsbestimmungen mit der regelmä-
ßigen Verjährung von drei Jahren sind eine klare Verein-
fachung und Erleichterung für alle. Die schönen Klausur-
themen zu § 196 Abs. 1 und 2, § 197 und § 832 BGB mit
der zwei-, drei- und vierjährigen Verjährungsfrist gehören
nun der Vergangenheit an. Aber leider auch das muss ich
sagen sind im Gesetz noch zu viele Eigenfristen, zum
Beispiel beim Kauf- und Werkvertrag, vorgesehen. Auch
hier hätte man mit Ausnahme der Gewährleistungsfrist
von zwei Jahren vereinfachen können.
Die Frage der Hemmung ist klar geregelt. Richtiger-
weise wurde auf Anregung des Bundesrates aufgenom-
men, wie bisher die Verjährungsfristen mit dem Ende des
Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, beginnen zu
lassen. Ich wäre noch einen Schritt weitergegangen und
hätte unter Verweis auf § 199 Abs. 1 BGB den Beginn der
Verjährung gemäß § 212 BGB am Schluss des Jahres nach
einer Unterbrechung beginnen lassen. Wenn man rechts-
politisch begründet, aber rechtsdogmatisch nicht richtig
den Beginn der Verjährung auf das Jahresende setzt, so
wäre es sicher kein Bruch gewesen, auch bei der Unter-
brechung so zu verfahren.
Sie haben unserer Anregung leider nicht entsprochen,
die Verjährung bei Grundstücksgeschäften von zehn auf
30 Jahre heraufzusetzen, obwohl Sie wissen, dass häufig
sehr lange Fristen notwendig sind. Wir werden heute ei-
nen entsprechenden Antrag einbringen.
Sie haben auch nicht den Widerspruch zwischen langer
Verjährung für fahrlässig begangene Körperverletzung
und vorsätzlich sowie grob fahrlässig verursachte Vermö-
gensschäden gelöst. Zu diesem Bereich hat Kollege
Pofalla einige Ausführungen gemacht.
Die Bestimmungen des § 207 Hemmung der Ver-
jährung aus familiären und ähnlichen Gründen sind,
nachdem die Anregungen berücksichtigt wurden, ge-
glückt und klar.
Für unlogisch halte ich, dass dem alten § 241 BGB ein
Abs. 2 hinzugefügt wurde, der Schutzpflichten, so ge-
nannte Nebenpflichten, regeln und auf diese Weise wohl
das Rechtsinstitut der positiven Forderungsverletzung
ersetzen soll, während vorvertragliche Pflichten der culpa
in contrahendo im neuen § 311 Abs. 2 und 3 aufgenom-
men wurden. Besser und verständlicher wäre es gewesen,
wenn man den guten alten § 242 durch einen Abs. 2 so
ergänzt hätte, dass sowohl die vertraglichen Nebenpflich-
ten als auch Pflichten im Vorfeld gegebenenfalls auch
zugunsten Dritter mit aufgenommen worden wären.
Sie haben unnötigerweise die relativ klaren Unmög-
lichkeitsregelungen, die in Zukunft den Streit zwischen
ursprünglicher und nachträglicher subjektiver oder ob-
jektiver Unmöglichkeit, dem subjektiven Unvermögen
und anderen Unmöglichkeitskonstruktionen vermeiden
sollen, mit den Bestimmungen des § 275 Abs. 3 belas-
tet, der eher Soziologen als Juristen Ehre macht. Ich will
diese Bestimmung nicht vorlesen, frage mich aber, ob er
§ 242 BGB ergänzen oder ablösen soll.
Die neuen §§ 280 ff. lassen in der Zukunft sicher noch
manche Fragen aufkommen. Insbesondere ist fraglich, in-
wieweit ein eventueller Vertrauensschaden, zum Beispiel
durch § 284 BGB begründet, durch das positive Interesse
der Erfüllung begrenzt ist.
(Unruhe bei der SPD)
Es ist interessant, meine Damen und Herren von der
SPD: Sie stimmen nachher einem Gesetzentwurf zu, ob-
wohl Sie nicht einmal der Debatte darüber zuhören wol-
len. Die Diskussion ist wahrscheinlich ziemlich langwei-
lig.
(Zuruf von der SPD: So, wie Sie das
vortragen!)
Es handelt sich um einen Gesetzentwurf, den Sie in vier
Monaten durchgeboxt haben. Jetzt haben Sie nicht einmal
zwei Minuten Zeit.
(Susanne Kastner [SPD]: Das liegt an der
Dynamik, wie Sie reden!)
Danke schön, Frau Kollegin.
Im Zusammenhang mit §§ 280 ff. bleibt fraglich, ob ein
eventueller Vertrauensschaden durch das positive Inte-
resse der Erfüllung begrenzt ist oder ob dies nur bei den
§§ 122 oder 179 gelten soll, nachdem der bisherige
§ 307 BGB beseitigt worden ist.
Bei der Frage der Verzugszinsen wird deutlich über-
zogen, um ordnungspolitisch die Zahlungsmoral zu ver-
bessern. Sie haben mit dem Schuldrechtsmoderni-
sierungsgesetz einen guten alten Brauch und fast alle
Gepflogenheiten, wie sie insbesondere für den Rechts-
ausschuss galten, ohne Not über Bord geworfen. Die
EU-Richtlinie fordert Verzugszinsen von 7 Prozent über
dem Basiszinssatz. Das hätte genügt. Wenn ein säumiger
Zahler nun Zinsen zwischen 12 und 15 Prozent über dem
Basiszinssatz zu zahlen hat, könnten unter Umständen so-
gar die Reglungen über den Wucher greifen. Warum wird
hier ein höherer Zinssatz festgeschrieben, als es die EU-
Richtlinie fordert?
Das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage,
das durch die Rechtsprechung entwickelt wurde, ist nun-
mehr richtigerweise normiert, und zwar im § 313. Damit
muss als Anspruchsgrundlage nicht mehr auf Treu und
Glauben zurückgegriffen werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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(B)
Der frühere Titel 2 Gegenseitiger Vertrag ist nun-
mehr im Untertitel 4 Einseitige Leistungsbestimmungs-
rechte aufgegangen.
Die höchstkomplizierten früheren §§ 323 ff. wurden
zusammengefasst. Die Praxis wird erweisen, ob damit
Klarheit geschaffen wurde oder ob wie manche sagen
alle Klarheiten beseitigt wurden. Das Gleiche gilt im
Übrigen für die Rücktrittsrechte gemäß §§ 346 ff. BGB.
Man kann darüber streiten, ob es richtig ist, die Allge-
meinen Geschäftsbedingungen in das BGB aufzuneh-
men. Man hätte die Bestimmungen aber so anordnen müs-
sen, dass sie nicht so unübersichtlich sind wie nunmehr
mit den Bezeichnungen a, b, c, d und f. Damit werden die
Bestimmungen derart unübersichtlich, wie wir es bereits
aus dem Reisevertragsrecht kennen.
Bei Nacht und Nebel haben Sie wohl um den linken
Gewerkschaftsflügel zu befriedigen die Anwendbarkeit
der Bestimmungen über Allgemeine Geschäftsbedin-
gungen für Arbeitsverträge mit aufgenommen. Das ist
schlichtweg falsch.
Das Kaufrecht ist zwar in erheblichem Maße auf den
Kopf gestellt, wohl aber letztlich vereinfacht worden. Die
Bestimmungen der §§ 450 und 451 sollen verhindern,
dass Schindluder mit unter Eigentumsvorbehalt gekauften
Waren getrieben werden kann. Die Beweislastumkehr
sie wurde schon eben angesprochen ist insoweit abzu-
lehnen, als es für Unternehmer innerhalb der Frist von bis
zu sechs Monaten in der Regel nicht möglich sein wird,
den Gegenbeweis zu führen. Das ist Unfug und wird zu
erheblichen Einbußen bei den Gewerbetreibenden führen.
Die zweijährige Gewährleistungsfrist belastet schon ge-
nug.
Kollidieren dürfte in jedem Falle der neue § 478 BGB
Rückgriff des Unternehmers mit § 377 HGB, un-
verzügliche Untersuchungs- und Rügepflicht , der wie in
§ 478 Abs. 6 vorgesehen unberührt bleiben soll. Welche
Bestimmung ist nun rechtmäßig, die eine oder die andere?
Die fünf Paragraphen, mit denen im alten BGB die
Darlehensverträge abgespeist wurden, wurden der heu-
tigen Zeit angepasst, und zwar unter Aufhebung bisheri-
ger Einzelgesetze. Dabei wurden klare Regelungen
hinsichtlich des klassischen Darlehens, des Verbraucher-
darlehens und auch des Sachdarlehens geschaffen.
Von der Systematik her habe ich Bedenken, dass der so
genannte Existenzgründer nicht als Kaufmann, sondern
als Normalverbraucher gesehen wird. Wenn ich § 507
richtig interpretiere, dann kann der Unternehmensgründer
beliebig viele Darlehen oder Finanzierungshilfen oder
Ratenzahlungskäufe bis zu einem Betrag von jeweils
50 000 Euro in Anspruch nehmen und wird, selbst wenn
er Millionenbeträge schuldet, noch immer als Verbrau-
cher behandelt. Das kann wohl nicht richtig sein und
könnte durch immer wieder begonnene Neugründungen
zu Missbrauch führen. In Zukunft muss jeder, der einem
Unternehmer etwas verkauft, fragen: Bist du Existenz-
gründer oder nicht? Dies ist, nachdem wir im HGB den
Kaufmannsbegriff klar und deutlich definiert haben, vom
Ansatz her falsch.
Dagegen halte ich die Regelungen bezüglich des
Werkvertrages für geglückt, soweit in der Eile nicht Fol-
geänderungen vergessen wurden. Unglücklich ist die
Regelung in § 634 a bezüglich der Verjährung der Män-
gelansprüche, die gegebenenfalls mit den Regelungen des
§ 438 BGB kollidieren kann. Die restlichen Änderungen
sind im Wesentlichen Folgeänderungen. Wir fürchten
aber, dass aufgrund der Schnelligkeit der Beratungen über
den Gesetzentwurf und der ebenfalls im Schnelllauf
durchgeführten Änderungen erhebliche Lücken bestehen
bleiben werden. Die von Ihnen in das Gesetz aufgenom-
menen zahlreichen Ermächtigungen zu Rechtsverordnun-
gen zeigen, dass Sie selber nicht sicher sind, was noch al-
les kommen wird.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ja.
Dann möchte ich die Liste mit Namen von Professoren
und Verbänden, die beklagen, dass die Beratung über das
Gesetz im Schweinsgalopp durchgeführt worden sei und
dass es keine ordentliche Beratung gegeben habe, nicht
mehr vorlesen. Sie kennen die Namen ohnehin schon.
Es ist schade, dass die Beratung über ein notwendiges
Reformgesetz nicht mit der notwendigen Gründlichkeit,
Genauigkeit und wissenschaftlichen Begleitung durchge-
führt wurde und dass die Anwender das sind nicht nur An-
wälte und Richter, die sich von Berufs wegen schnell ein-
arbeiten können und müssen, sondern auch die Bürger
keinerlei Zeit haben, sich auf die neuen Rechtsnormen
einzustellen. Es hätte, Frau Ministerin, ein gutes Gesetz
werden können. So ist es nur Stückwerk. Deswegen leh-
nen wir es ab.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort
zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Eckhart Pick von der SPD-Fraktion.
Dr. Eckhart Pick (SPD): Lieber Herr von Stetten, ich
möchte eine Bemerkung, die sich auf mich bezog, richtig
stellen. Wir haben am Anfang der Diskussion in der Tat
darüber gesprochen, wie die drei EU-Richtlinien umge-
setzt werden sollen. Ich habe damals zu einem frühen
Stand der Diskussion gesagt: Natürlich gibt es Überle-
gungen im Hause, das auch sukzessive zu machen. Darü-
ber haben wir in der Folgezeit diskutiert. Nach Rückspra-
che auch mit den Verantwortlichen aus der Wirtschaft sind
wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es besser sei, dies
uno acto statt sukzessive zu machen. Insofern ist das, was
ich damals gesagt habe, nicht widersprüchlich gewesen.
Ich möchte noch auf eine andere Bemerkung, die Sie
gemacht haben, eingehen. Manche tun immer so, als sei
das Bürgerliche Gesetzbuch ein Monument, das nicht
mehr verändert werden dürfe, und als sei es 1896 nach ei-
ner umfassenden Diskussion im Reichstag verabschiedet
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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worden. Das ist nicht der Fall. Es waren Diskussionen in
Kommissionen. Sie wissen auch, dass eine Kommission
von Windscheid geleitet worden ist. Deswegen hatte der
erste Entwurf die süffisante Bezeichnung: der kleine
Windscheid. Daran hat sich im Laufe der Diskussion
nicht viel geändert.
Im Reichstag selbst hat sich die Diskussion auch nicht
um Dogmatik gedreht, sondern wenn man sich recht er-
innert um den so genannten Wildschaden, der damals
zum Beispiel von der deutschen Försterschaft zu einem
großen Thema gemacht worden ist. Andere Themen ha-
ben in der Öffentlichkeit und im Reichstag damals keine
Rolle gespielt.
(Rainer Funke [FDP]: Inzwischen hat sich
aber das Parlamentsverständnis geändert!)
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwi-
derung hat das Wort Dr. von Stetten.
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
Ich darf vielleicht daran erinnern, lieber Herr Staatssekre-
tär, dass inzwischen rund 120 Jahre vergangen sind, wir
eine Demokratie sind und in den Rechten der Reichstag
eigentlich nicht mit dem Deutschen Bundestag verglichen
werden sollte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es ist richtig, dass Sie das Verfahren zur Diskussion ge-
stellt haben. Wir waren dann aber überrascht insofern
muss ich doch sagen, dass wir nicht rechtzeitig informiert
worden sind , als es dann plötzlich im April/Mai hieß,
das Gesetz komme im Ganzen. Dann kam die Diskussion
auf und die Berichterstattergespräche wurden angekün-
digt. Das war im Juni/Juli und im August/September. Da
wurden wir einfach hin zitiert. Deswegen konnten wir
nicht in dem Umfang mitarbeiten, wie es sonst der Fall ge-
wesen wäre.
Der Rechtsausschuss hat diesen Gesetzentwurf nicht
behandelt, sondern ist einfach darüber hinweggegangen.
Das moniere ich und das finde ich bei einem solch wich-
tigen Gesetzentwurf nicht gut. Ich bin ein glühender An-
hänger der Schuldrechtsreform und ich hätte gern noch
manches mehr geändert so ist das nicht , aber eben mit
der notwendigen Diskussion, Begründung und wissen-
schaftlichen Begleitung. Das monieren wir und deswegen
lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letz-
tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich
jetzt das Wort dem Kollegen Dirk Manzewski.
Dirk Manzewski (SPD): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Am heutigen Tag debattieren wir ab-
schließend über die Schuldrechtsreform.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt schon einein-
halb Stunden lang!)
Wir setzen hiermit nicht nur drei EU-Richtlinien um, son-
dern wir haben dies auch zum Anlass genommen, Herr
Kollege Geis, das Schuldrecht umfassend zu moderni-
sieren.
(Zuruf von der CDU/CSU: Deformieren!)
Wir alle sind uns darüber einig überhaupt gar keine
Frage , dass es sich bei dem Bürgerlichen Gesetzbuch
nach wie vor um ein hervorragendes Gesetzeswerk han-
delt. Niemand wird das bestreiten, jedenfalls kein Jurist,
der es kennt.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber sehr
absolut! Zuruf von der CDU/CSU: Das sind
aber nur sehr wenige!)
Genauso wenig kann aber bestritten werden, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass das BGB in vielen Be-
reichen nicht mehr praxisnah ist. Die im BGB so her-
vorgehobenen vermeintlich wichtigen Unmöglichkeits-
vorschriften taugen in der Regel heutzutage eigentlich nur
noch für die Theorie. Die praxisrelevanten Probleme der
Nicht- oder Schlechtleistung sind dagegen nur über die so
genannten Rechtsinstitute geregelt. Ich halte es daher für
eine Farce, wenn hier behauptet wird, mit dem heutigen
BGB ließen sich alle Fälle lösen. Es ist gerade nicht dem
BGB, sondern es ist insbesondere den von der Rechtspre-
chung entwickelten Rechtsgrundsätzen und Rechtsinsti-
tuten zu verdanken, dass viele der in der Vergangenheit
aufgetretenen und nicht im BGB geregelten Probleme
gelöst werden konnten.
(Beifall bei der SPD Norbert Geis [CDU/
CSU]: Das wird auch in Zukunft so sein!)
Dass dies bis vor kurzem noch von allen so gesehen
worden ist, Herr Kollege Geis, zeigt doch nicht zuletzt die
im Jahr 1978 eingesetzte Kommission zur Überarbeitung
des Schuldrechts, die ihren Abschlussbericht immerhin
noch während Ihrer Regierungszeit vorgelegt hat. Man
kann also doch nicht ernsthaft behaupten, meine Damen
und Herren von der Union und von der FDP, dass eine
Modernisierung des BGB nicht notwendig ist.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Von den Vorschlä-
gen ist ja nichts übrig geblieben!)
Die Behauptung, dass man sich für dieses wichtige Ge-
setzesvorhaben es ist ein wichtiges Gesetzesvorhaben
zu wenig Zeit genommen hat, kann ich ebenfalls so nicht
gelten lassen. Natürlich stand das Gesetzgebungsverfah-
ren unter einem ehrgeizigen Zeitplan. Ich persönlich hätte
mir auch etwas mehr Zeit gewünscht.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist wenigstens
ehrlich!)
Aber, meine Damen und Herren: Seit 1978 befinden wir
uns in der Diskussion hierüber. Seit 1992 liegt der Ab-
schlussbericht der Schuldrechtskommission vor.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Der aber nicht
mehr Grundlage dieses Entwurfs ist!)
Seit August 2000 ist der Gesetzentwurf des Bundesjustiz-
ministeriums bekannt. Wer sich also rechtzeitig informie-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Eckhart Pick
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ren wollte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, der hätte dies auch rechtzeitig tun können.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Warum haben Sie
es dann nicht schon vor drei Jahren vorgelegt?)
Dies wird übrigens selbst von den meisten der nur weni-
gen Gegner dieser Reform eingeräumt.
Mit den vorgenommenen inhaltlichen Veränderungen
des BGB betreten wir auch nicht, wie hier vielfach sug-
geriert worden ist, juristisches Neuland. Gesetze werden
in das BGB integriert, bestehende Rechtsinstitute endlich
normiert, Fristen überschaubarer gestaltet und im Rah-
men der gewohnten Dogmatik neu entwickelte Rechts-
grundsätze eingebaut. Meiner Auffassung nach wird jeder
Anwender ohne größere Probleme mit diesen Vorschrif-
ten arbeiten können.
Wenn es im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu
zahlreichen Änderungen durch das BMJ gekommen ist,
wie vorgetragen wurde, so halte ich das für absolut nicht
ungewöhnlich. Das zeigt doch vielmehr,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dass der ur-
sprüngliche Entwurf miserabel war!)
dass das BMJ nicht so borniert gewesen ist, sich gegen-
über sachlich vernünftigen Argumenten zu verschließen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD Norbert
Geis [CDU/CSU]: Und dass der Entwurf nicht
stimmte, Herr Manzewski!)
Dass vor allen Dingen die Verbände, Herr Kollege
Geis, das Verfahren mit zahlreichen weiteren Änderungs-
vorschlägen begleitet haben, ist ebenfalls nichts Unge-
wöhnliches. Wenn man sich die Änderungsvorschläge
nämlich etwas genauer anschaut, dann stellt man fest,
dass es sich in der Regel entweder um Prüfbitten oder um
puren Lobbyismus gehandelt hat. Das ist für ein Gesetz-
gebungsverfahren wirklich nichts Neues.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Kollege Geis, ich gehe sogar noch weiter: Würde man
die Möglichkeit eröffnen, das geltende BGB kritisch zu be-
leuchten, würden so ehrlich muss man doch wohl sein
die Aktenbände mit den eingereichten Änderungs-
vorschlägen den Umfang einer Strecke einmal quer durch
den gesamten Plenarsaal annehmen.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: So viel Zeug haben wir auch von Ihnen
bekommen!)
Was ist das Entscheidende? Entscheidend ist doch
das ist hier völlig falsch wiedergegeben worden , dass
die Schuldrechtsreform von der überwältigenden Mehr-
heit der Verbände, Vereinigungen und Interessensgrup-
pierungen begrüßt und mitgetragen wird, auch wenn das
dem einen oder anderen von Ihnen nicht passen mag.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Das ist nicht so! Ich kann Ihnen die Liste
vorlesen!)
Das ist in zwei unserer Anhörungen bestätigt worden.
Kollege von Stetten, vielleicht waren Sie nicht dabei. Mir
ist jedenfalls überhaupt nicht klar, wie man hier etwas an-
deres behaupten kann.
Um Ihnen das deutlich zu machen, zähle ich Ihnen das
gerne noch einmal auf: Der Deutsche Anwaltverein ist
dafür, die Bundesrechtsanwaltskammer ist dafür, der
Deutsche Richterbund ist dafür, die Verbraucherverbände
sind dafür und der überwiegende Teil der Wirtschaftsver-
bände ist dafür. Zu denjenigen, die dafür sind, gehört
selbst die Creme der Rechtswissenschaftler. Ich erinnere
daran, dass sich die hoch angesehenen Professoren Medi-
cus, Canaris, Heinrichs und Westermann für die Schuld-
rechtsreform ausgesprochen haben. Für Nichtjuristen sei
gesagt: Das ist ungefähr so, als wenn Sie Anfang der 70er-
Jahre Fußball spielen und Sie haben Franz Beckenbauer,
Günter Netzer, Uwe Seeler und Gerd Müller in Ihrer
Mannschaft und auf der anderen Seite steht die Truppe
von Rudi Völler vom letzten Wochenende.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Um es klar zu sagen, liebe Gegner der Reform: Selbst ge-
gen Finnland reicht es nicht. Und wenn man dann keine
vernünftigen Argumente findet, Herr Geis, dann versucht
man eben verzweifelt, sich welche zu basteln.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
CSU]: Die Elf von 1970 ist schon etwas veral-
tet!)
Ich habe mich auf den Anfang der 70er-Jahre bezogen.
Wer behauptet, die Änderungen des BGB belasteten
unsere Unternehmen mit unglaublichen Kosten,
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)
weil sie unter anderem ihre Allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen ändern müssten, der liegt völlig neben der Sa-
che. Meine Vorredner von der Union und von der FDP
haben selbst eingestanden, dass zumindest die EU-Ver-
brauchsgüterkaufrichtlinie zwingend in deutsches Recht
umgesetzt werden muss. Das ist also die so genannte
kleine Lösung, für die Sie plädieren. Aber allein die Um-
setzung der EU-Verbrauchsgüterkaufrichtlinie würde be-
reits Änderungen der Allgemeinen Geschäftsbedingun-
gen nach sich ziehen. Und ob ich nun vier oder acht oder
zehn oder zwölf Geschäftsbedingungen in meinen vorge-
fertigten Vertragsformularen ändern muss, ist nun wirk-
lich völlig egal, weil die Kosten im Wesentlichen bereits
durch die erste Änderung ausgelöst werden.
Die Unternehmen würde die Umsetzung der Forderun-
gen von Union und FDP vielmehr teuer zu stehen kom-
men.
(Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin:
Richtig!)
Ich erinnere daran, dass beide Parteien dafür plädierten,
im ersten Schritt zunächst die kleine Lösung zu wählen
und das Schuldrecht erst später umfassend zu reformie-
ren. Es ist doch eigentlich eindeutig, dass die Firmen dann
dadurch mindestens zweimal mit diesen Kosten belastet
würden. Würde später irgendwann einmal noch eine Ver-
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einheitlichung des Schuldrechts auf europäischer Ebene
dazukommen, müssten die Allgemeinen Geschäfts-
bedingungen ein weiteres Mal geändert werden, wodurch
weitere Kosten entstehen würden.
Und überlegen Sie sich doch einmal ich sage das ins-
besondere in Richtung der Juristen , zu welcher Rechts-
unsicherheit das führen würde: Die Juristen müssten sich
binnen kurzer Zeit mindestens zweimal in ein neues Recht
einarbeiten. Der gleiche Kaufgegenstand, der mehrmals
hintereinander verkauft wird, könnte dieser Gesichts-
punkt ist wichtig bei jedem Verkauf unterschiedlichen
Rechtsanforderungen unterliegen. Das würde nun wirk-
lich niemand mehr verstehen.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie hätten früher
mit der Reform kommen müssen! Das ist unser
Vorwurf!)
Wer behauptet, dass eine umfassende Reform des
Schuldrechts für Richter und Rechtsanwälte eine zu hohe
Hürde darstellt, der möge mir erklären, wie man diesen
dann dieses verkaufen will.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie hätten früher mit
der Reform kommen müssen! Das ist es!)
Und nicht umsonst Herr Kollege Geis, und das können
Sie hier nicht abtun verlangen gerade diejenigen, die das
Recht anwenden müssen, wie eben Rechtsanwälte und
Richter, eine umfassende Reform. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union und von der FDP, verschließen
Sie sich bitte nicht den Wünschen dieser Fachleute!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich noch etwas zum Vorschlag sagen, mit
einer umfassenden Reform zunächst noch abzuwarten, bis
sich die EU hierzu positioniert hat.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie hätten damit
früher kommen müssen!)
Also, da kann ich wirklich nur lachen; denn die Verein-
heitlichung des Schuldrechts wird auf EU-Ebene schon
seit Jahren angekündigt und nichts ist geschehen. Selbst
wenn sich die EU-Kommission jetzt endlich entschließen
sollte, sich mit diesem Thema ausgiebig zu beschäftigen,
dann ist weder gesagt, wie lange sie dafür braucht, noch
ist gesagt, zu welchem Ergebnis sie dann kommt. Aber
was für mich als Rechtspolitiker der SPD noch viel wich-
tiger ist: Es kann doch nicht Ziel deutscher Rechtspolitik
sein, immer erst auf EU-Richtlinien zu warten, um diese
dann in deutsches Recht umzusetzen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Unsere Aufgabe muss es doch vielmehr sein, die EU-
Richtlinien schon im Vorfeld so zu beeinflussen, dass sich
vieles von unserem deutschen Recht in den EU-Richtli-
nien wiederfindet. Das ist doch das Entscheidende.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss die Re-
gierung in Brüssel leisten und nicht durch den
Deutschen Bundestag!)
Aber das ist, lieber Kollege Geis, leider nicht möglich
darüber sind wir uns doch eigentlich einig , weil wir
kein modernes Schuldrecht haben. Das ist nun einmal so.
Es ist eindeutig so, dass sich die EU in solchen Fällen eher
am niederländischen als am deutschen Recht orientiert.
Ich sehe das als ein Armutszeugnis für unser Recht an.
Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, dass nun die Mo-
dernisierung des deutschen Schuldrechtes endlich erfolgt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten [CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie der Mi-
nisterin danken! Weitere Zurufe von der
CDU/CSU)
Das will ich jetzt gerade machen, Herr Kollege von
Stetten, ich habe ja noch ein bisschen Zeit.
Von einigen ist es schon gesagt worden ich teile diese
Auffassung : Wir beschließen heute hier ich bin des-
halb angenehm überrascht und begeistert, dass so viele
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion anwesend
sind
(Beifall bei Abgeordneten der SPD
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Die kennen das Gesetz noch nicht einmal rich-
tig! Norbert Geis [CDU/CSU]: Die wissen
nicht, über was sie abstimmen!)
vermutlich das wichtigste Gesetzesvorhaben im Bereich
des Rechts in den letzten 20 bis 30 Jahren. Ich kann die
Justizministerin nur beglückwünschen, dass sie sich ent-
schlossen hat, tatsächlich diese umfassende Schuldrechts-
reform anzupacken. Ich möchte mich auch beim BMJ für
die hervorragende Mitarbeit und Unterstützung bedan-
ken. Ich habe mich eingebunden gefühlt; ich war aller-
dings auch bei fast allen Besprechungen dabei.
Ich würde mir wünschen, wenn Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, bei der Abstimmung nachher Ihr kons-
truktives Verhalten aufgeben und dieser hervorragenden
Reform zustimmen würden.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Norbert Geis [CDU/CSU]:
Wir sollen unser konstruktives Verhalten aufge-
ben? Das machen wir nicht!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Modernisierung des
Schuldrechts auf Drucksachen 14/6040 und 14/7052. Es
liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
und der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst abstim-
men.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/7067? Wer stimmt dage-
gen? Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist damit
bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion mit den Stim-
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men der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion und
bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/7080? Wer stimmt dagegen?
Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist damit mit
den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS, die
zugestimmt hat, abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. Gegenstimmen? Enthaltungen? Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf
ist damit bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor in dritter Lesung angenommen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Modernisierung des Schuldrechts; Drucksachen
14/6857 und 14/7100. Der Ausschuss empfiehlt, den
Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen?
Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist damit
einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Berufsbildungsbericht 2001
Drucksache 14/5946
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss)
zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Dr.
Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weiterbildung im Bildungssystem veran-
kern Chancengleichheit stärken
zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Klaus
Barthel (Starnberg), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-
neten Matthias Berninger, Ekin Deligöz,
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Lebensbegleitendes Lernen für alle Wei-
terbildung ausbauen und stärken
zu dem Antrag der Abgeordneten Werner
Lensing, Ilse Aigner, Dr. Maria Böhmer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Zukunftsorientierte Weiterbildung durch
Eigenverantwortung und Selbstorganisa-
tion Ein Paradigmenwechsel
zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Klaus Grehn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Für ein Bundesrahmengesetz zur Weiter-
bildung
Drucksachen 14/6435, 14/3127, 14/5312,
14/6170, 14/7005
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ernst Dieter Rossmann
Werner Lensing
Christian Simmert
Cornelia Pieper
Maritta Böttcher
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anforderungen an die Weiterbildung
Drucksache 14/7075
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin spricht
für die Bundesregierung die Bundesministerin Edelgard
Bulmahn. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Ich bitte diejenigen Kollegen, die dieser Debatte nicht
beiwohnen wollen, den Saal zu verlassen. Frau Pieper,
ich bitte Sie, das Gespräch zu beenden. Frau Ministerin,
ich denke, dass genügend Ruhe eingekehrt ist.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Her-
ren und Damen! Eine gute und qualifizierte Berufsaus-
bildung ist die wichtigste Zukunftsvorsorge, die wir über-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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haupt treffen können. Dabei geht es nicht nur um den for-
malen Erwerb eines Gesellenbriefs. Es geht darum, dass
junge Menschen frühzeitig Verantwortung übernehmen
und spüren, dass sie in unserer Gesellschaft gebraucht
werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In den nächsten Jahren werden auf dem Arbeitsmarkt
zwei entgegengesetzte Entwicklungen zusammentreffen:
Ich meine damit zum einen die sinkende Zahl junger Men-
schen, die eine Berufsausbildung beginnen, und die wach-
sende Zahl älterer Menschen, die aus dem Erwerbsleben
ausscheiden. Deshalb müssen wir schon heute Lösungen
finden, die eine Antwort darauf geben, wie wir auch in Zu-
kunft unseren Bedarf an qualifizierten Fachkräften
decken können.
Es hilft dabei nicht weiter, dass der Zentralverband des
Deutschen Handwerks angesichts des drohenden Lehr-
lingsnotstandes auf die Abiturienten schaut und sie für
eine Berufsausbildung gewinnen will. Das ist nicht die Lö-
sung; denn in Zukunft werden nicht nur Lehrlinge fehlen,
sondern auch Studierende und Hochschulabsolventen. Das
ist übrigens schon jetzt der Fall. Man braucht sich nur die
Zahl der Studienanfänger in Deutschland anzuschauen.
Sie liegt wir kennen sie ja alle bei 28 Prozent. In ver-
gleichbaren OECD-Staaten liegt sie im Durchschnitt bei
45 Prozent. Das alles macht deutlich, dass wir das Problem
durch ein Hin und Her alleine nicht lösen können.
Bei meinem Amtsantritt hatten fast 12 Prozent der
20- bis 29-Jährigen oder rund 1,3 Millionen junge Men-
schen keine Berufsausbildung.
(Zuruf von der SPD: Ein Skandal war das!)
Der alarmierende Tiefstand bei der Ausbildungsförderung
hat parallel dazu viele junge Menschen vom Studium ab-
geschreckt. Wir haben diese Probleme angepackt und
nicht nur geredet; wir handeln. Noch nie wurde so viel
Geld für Bildung und Forschung zur Verfügung gestellt.
Damit haben wir in die Köpfe in Ausbildung und Bil-
dung von jungen Menschen investiert.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mit dem Sofortprogramm haben wir die Jugendlichen
von der Straße geholt und ihnen eine zweite Chance auf
Ausbildung und Qualifizierung gegeben. Wir haben es
in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal in Folge mit
dem Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit gemein-
sam mit den Bündnispartnern geschafft, dass erheblich
mehr neue betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen
worden sind.
(Erika Lotz [SPD]: Sehr richtig!)
Gemeinsam mit den Sozialpartnern modernisieren wir die
berufliche Bildung und entwickeln neue Berufe für Zu-
kunftsbranchen. Mit dem neuen Meister-BAföG verbes-
sern wir für junge Fachkräfte aus Handwerk, Industrie
und Dienstleistungen die Möglichkeit, sich fortzubilden
und damit ihre Zukunft zu gestalten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hat diese
Doppelstrategie der Bundesregierung Sofortprogramm
und Ausbildungskonsens, Modernisierung von Berufen
und Weiterentwicklung der Konzepte gegriffen. Mehr
als 330 000 Jugendliche haben dadurch eine neue Per-
spektive erhalten.
Wir gehen aber noch einen Schritt weiter: Bei der be-
vorstehenden Reform des Sozialgesetzbuches III werden
wir wichtige Elemente aus dem Sofortprogramm als Re-
gelangebot in das Sozialgesetzbuch aufnehmen. Man
kann das Ganze in den Worten Förderung aus einem
Guss zusammenfassen. Dieses Ziel wollen wir errei-
chen, das werden wir sicherstellen. Dadurch erhalten
junge Menschen erheblich bessere Chancen bei der be-
ruflichen Qualifizierung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diesen Kurs, meine sehr geehrten Damen und Herren,
werden wir konsequent fortsetzen.
Die erste Zwischenbilanz für das Ausbildungsjahr
2001 fällt positiv aus. In diesem Jahr werden alle Jugend-
lichen einen Ausbildungsplatz erhalten. Wir haben eine
deutliche Zunahme der Zahl von betrieblichen Ausbil-
dungsplätzen auch das ist ein positives Ergebnis und
wir haben im zweiten Jahr hintereinander Anfang Okto-
ber mehr offene Lehrstellen als Jugendliche, die noch ei-
nen Ausbildungsplatz suchen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
In Zahlen ausgedrückt heißt das Folgendes das sind die
Zahlen, die uns heute vorliegen : Die Zahl der unvermit-
telten Bewerberinnen und Bewerber ist gegenüber dem
Vorjahr um rund 13,5 Prozent und gegenüber dem Jahr
1998 sogar um 42 Prozent gesunken. Das ist wirklich ein
großer Erfolg.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Hans-Werner Bertl [SPD]:
Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann!)
Ich will allerdings auch nicht verschweigen, dass es ei-
nen Wermutstropfen gibt: Sorge macht mir die Situation
in den neuen Bundesländern. Dort ist es einzig und allein
den staatlichen Programmen zu verdanken, dass alle Ju-
gendlichen eine Chance auf eine Lehrstelle erhalten. An
dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen, dass das
keine Dauerlösung sein kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Maritta Böttcher
[PDS])
Die Betriebe setzen ihre eigene Zukunft aufs Spiel, wenn
sie nicht genügend in Ausbildung investieren; denn in we-
nigen Jahren werden die Unternehmer und die Betriebe
händeringend nach Fachkräften und auch nach jungen
Leuten, die sie ausbilden können, suchen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
18766
(C)
(D)
(A)
(B)
In der Verantwortung, diese Entwicklung zu sehen und ihr
vorzubeugen, stehen wir alle. Wir alle müssen Zukunft
gestalten, wozu gehört, Jugendlichen eine Ausbildung zu
geben. Aber ich appelliere an erster Stelle an die Betriebe:
Bilden sie aus, insbesondere in den neuen Bundesländern!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Eine gute Ausbildung, meine sehr geehrten Herren und
Damen, benötigt auch zukunftsfähige Berufe. Allein in
den letzten drei Jahren haben wir 44 Ausbildungsord-
nungen modernisiert und zehn neue Berufe geschaffen.
Früher lagen die Beteiligten jahrelang im Clinch, bis eine
neue Berufsordnung das Tageslicht erblickte; in vielen
Fällen endeten die Bemühungen sogar ohne Ergebnis.
Heute haben wir für die Entwicklung der Ausbildungsord-
nungen in den neuen Berufen Sport- und Fitnesskauf-
mann, Gesundheitskaufmann und Veranstaltungskauf-
mann nur knapp neun Monate benötigt. Auch das ist ein
Fortschritt und auch das kann sich sehen lassen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Das war nur möglich, weil alle im Bündnis eine gemein-
same Anstrengung unternommen haben.
Wir brauchen aber nicht nur moderne, zeitgemäße Aus-
bildungsordnungen, wir brauchen auch Berufsschulen,
die den veränderten Anforderungen gerecht werden. Also
haben wir gehandelt und Geld in die Hand genommen.
Wir stellen 255 Millionen DM für einen Modernisie-
rungsschub an den Berufsschulen zur Verfügung. Viele
Schulen können jetzt mehr moderne Technik und Geräte
sowie Lernsoftware anschaffen. Dabei haben wir unab-
hängig von Zuständigkeitsfragen geholfen, damit es in
diesem wichtigen Bereich schneller vorangeht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Besondere Aufmerksamkeit hat das Bündnis dem Be-
reich der IT- und Medienberufe gewidmet, wo sich der
Fachkräftemangel frühzeitig bemerkbar gemacht hat.
Durch die Offensive zum Abbau des IT-Fachkräfteman-
gels haben die Bündnispartner die Zahl der Ausbil-
dungsplätze von 14 000 im Jahre 1998 auf 54 000 im letz-
ten Jahr gesteigert. Die von der Wirtschaft für 2003
zugesagte Zielmarke von 60 000 werden wir voraussicht-
lich schon in diesem Jahr erreichen. Das, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ist ein großer Erfolg.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Besonders wichtig ist mir persönlich, dass Jugendliche
mit schlechteren Startchancen und junge Erwachsene
ohne Berufsabschluss genauso wie besonders Begabte,
die mir ebenfalls ein wichtiges Anliegen sind, eine
Chance zur beruflichen Qualifizierung und Weiterqualifi-
zierung haben. Diese Zielgruppen müssen deshalb beson-
ders gefördert werden. Auch benachteiligte Jugendliche
sollen eine vollwertige Berufsausbildung erhalten. Einer
Ausbildung light erteile ich eine klare Absage.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Gerade Jugendliche, die große Lernprobleme haben oder
die in den Schulen gescheitert sind, brauchen mehr und
nicht weniger berufliche Förderung und Betreuung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Eben darauf haben wir uns im Bündnis geeinigt. Wir
wollen bei der Entwicklung neuer Ausbildungsberufe
tragfähige Bereiche ausschöpfen, wo es weniger kom-
plexe Anforderungen gibt. Das müssen wir schaffen, das
müssen wir im Interesse der Jugendlichen leisten.
Genauso wichtig sind Maßnahmen, mit denen wir die
Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen ausländischer
Herkunft und von jungen Aussiedlern erhöhen. Sie sind
nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Integration, sie sind
auch eine wichtige Investition in den Fachkräftenach-
wuchs, den wir so dringend brauchen.
(Beifall bei der SPD)
Viele dieser jungen Menschen verfügen durch ihre Kennt-
nis anderer Sprachen und Kulturen überdies über Fähig-
keiten, die in einer globalisierten Welt immer wichtiger
werden. Und diese Fähigkeiten dürfen wir nicht einfach
brachliegen lassen, wir müssen sie nutzen.
(Beifall bei der SPD)
Qualifizierung, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, bedeutet nicht nur Ausbildung, sie bedeutet auch Wei-
terbildung, Fortbildung, lebensbegleitendes Lernen und
Anpassung an neue Entwicklungen. Deshalb haben wir
die finanziellen Aufwendungen für Weiterbildung in
Deutschland deutlich gesteigert. In Deutschland werden
im Übrigen dafür insgesamt zweistellige Milliardenbe-
träge ausgegeben. Trotzdem haben noch nicht immer alle
Personen den gleichen Zugang zur Weiterbildung. Des-
halb haben wir auch an diesen Punkten angesetzt.
Ein zentraler Baustein unserer Qualifizierungsoffen-
sive ist die Novellierung des so genannten Meister-
BAföG, mit dem wir rund 660 Millionen DM bis 2005
bereitstellen werden. Diese Reform ist sowohl familien-
freundlich, weil wir damit gerade auch diejenigen för-
dern, die eine Familie haben, wie auch sozial und sie ist
ein wichtiger Beitrag zur Qualifizierung, zur Gründung
neuer Unternehmen und zur Schaffung neuer Arbeits- und
Ausbildungsplätze.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Last, not least werden wir durch Modelle für das infor-
melle Lernen im Arbeitsprozess genauso wie mit unserem
Job-Aqtiv-Gesetz die Ausbildung und Weiterbildung stär-
ken und sie betriebsnah gestalten. Das ist notwendig und
richtig.
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, kann
ich zusammenfassend sagen: Es ist Bewegung in die be-
rufliche Bildung gekommen.
(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf
Seiters)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
18767
(C)
(D)
(A)
(B)
Gemeinsam mit den Sozialpartnern haben wir die Stag-
nation auf diesem Feld überwunden. Was wir bisher er-
reicht haben, kann sich sehen lassen. Das bedeutet aber
nicht, dass wir uns ausruhen: Unsere Erfolge sind uns An-
sporn für die vor uns liegenden Aufgaben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile
nunmehr dem Kollegen Dr. Rainer Jork von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Umstand,
dass ich heute hier im Plenum den elften Berufsbildungs-
bericht erlebe, ist für mich Anlass, eingangs zu fragen:
Was ist anders geworden? Was ist vorangegangen? Was
ist zu tun?
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Eine Menge! Die
Welt sieht ganz anders aus!)
Zuerst fällt mir auf darauf komme ich gleich zu spre-
chen , dass wir erstmalig erst im Herbst über den Be-
rufsbildungsbericht reden.
(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
Es ist bekanntermaßen so, dass die Situation im Herbst
günstiger ist.
(Zurufe von der CDU/CSU: Aha! Christian
Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha-
ben Sie im letzten Jahr geschlafen?)
All die anderen Jahre haben wir darüber bereits im Früh-
jahr gesprochen. Sie wissen aus eigener Oppositions-
erfahrung, warum Sie das gemacht haben.
Der Berufsbildungsbericht weist zu Recht auf die pro-
blematische Lage in den neuen Bundesländern hin. Hier
ist eine Konzentration nötig.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol-
lege Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Hans-Werner Bertl?
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ein Satz noch,
weil Sie den zuvor hören müssen: Die besonders desolate
Situation in den neuen Bundesländern bei betrieblichen
Lehrstellen durfte nach dem Willen der Bundesregierung
nicht ins Sommerloch.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Jetzt können Sie fragen, warum das so ist.
Hans-Werner Bertl (SPD): Herr Kollege, Sie ver-
breiten hier Gerüchte, die sind absurd. Ist Ihnen nicht
bekannt, dass die neuesten Daten des Berufsbildungsbe-
richts vom 30. September sind und dass wir hier eine sehr
aktuelle Bilanz einer erfolgreichen Berufsbildungspolitik
ziehen, die wir sonst erst ein viertel oder ein halbes Jahr
später bekommen haben?
(Beifall bei der SPD)
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ich werde Ihnen
die Freude machen, ein paar aktuelle Daten zu nennen, die
wir von der Bundesanstalt für Arbeit haben, werde Ihnen
berichten, was bei uns in der Zeitung steht das stimmt
manchmal sogar! , und werde Ihnen noch von ein paar
Erlebnissen aus dieser Woche erzählen, bei denen auch
die Frau Bundesministerin anwesend war. Dann werden
Sie sich davon überzeugen können, dass das durchaus ak-
tuell ist.
Ich frage also um nach meinen Vorstellungen fortzu-
fahren : Was ist denn in den letzten drei Jahren passiert?
Zum Ersten treibt die Bundesregierung die Modernisie-
rung neuer Berufe voran. Das ist notwendig und gut. Zum
Zweiten werden Lehrstellenentwickler und Verbünde
fortgeführt. Das hat sich bewährt. Wir können dafür nur
Dankeschön sagen. Zum Dritten wird die früher scharf
von der SPD verurteilte Mobilitätshilfe nun für gut be-
funden. Das ist löblich. Viertens wurde die früher von SPD
und Grünen geforderte kontraproduktive Lehrstellenum-
lage zu den Akten gelegt. Ich freue mich darüber. Fünf-
tens werden Module der Berufsbildung das war früher
ein Teufelswort inzwischen endlich in der Praxis akzep-
tiert. Es geht also vorwärts. Sechstens verdienen damit
endlich Berufe mit geringen theoretischen Anforderungen
eine größere Aufmerksamkeit. Das haben wir eben schon
gehört. Im Interesse der Jugendlichen, die sich in der
Lehre für solche Berufe befinden, wünschte ich mir, dass
die Berufsschullehrer direkt aus der Praxis geholt werden.
Schließlich das ist eigentlich das erste Neue stelle ich
fest, dass die Bundesregierung sehr viel Geld in die Hand
nimmt. Ich sage es immer wieder: Das hätte ich mir schon
früher gewünscht. Ich finde aber auch das wiederhole
ich : Der Effekt ist unzureichend, und zwar deshalb, weil
die Methode auf beschränkten Denk- und Handlungs-
ansätzen basiert.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
Abgeordneten der FDP)
Bei all dem Positiven: Das Grundproblem die Frau
Ministerin hat es dankenswerterweise angesprochen ist,
dass die Lehrstellensituation in Ostdeutschland kriti-
scher und problematischer denn je ist. So sieht die Rea-
lität aus. Sehen wir uns doch die konkreten Zahlen aus
dem Oktober zur Jugendarbeitslosigkeit an sie haben
diese angefordert : In Baden-Württemberg, um ein Bei-
spiel zu nennen, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei etwa
fünf Prozent, in Sachsen-Anhalt bei 18 Prozent. Insge-
samt beträgt die Jugendarbeitslosigkeit in Westdeutsch-
land 7,8 Prozent, im Osten 17,1 Prozent. Das macht klar,
wo der Schwerpunkt liegen, wo man handeln muss und
was zu tun ist. Das sollten wir nicht wegreden, auch wenn
es sich vielleicht nur um 20 Prozent der Bevölkerung han-
delt.
Die Relation von Bewerbern zu Lehrstellen beschrieb
vorgestern etwas Aktuelles im Forum Mobilisierung
neuer Ausbildungsplätze der Konferenz des Bündnisses
für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hier in
Berlin der stellvertretende Geschäftsführer der Hand-
werkskammer München und Oberbayern. Er sagte, dass
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118768
(C)
(D)
(A)
(B)
in dem von ihm vertretenen Bereich auf einen Bewerber
zwei Ausbildungsplätze kommen. Sein Hauptproblem sei
es, den Bewerbern Wohnraum zur Verfügung stellen zu
können. Wir wissen, dass es in den neuen Bundesländern
genau umgekehrt ist: Dort gibt es zwei Bewerber für ei-
nen Ausbildungsplatz. Die Abwanderung führt dort zur
Auszehrung, vor allem zur Begrenzung von Selbsthilfe.
Wir wollen das habe ich wiederholt gesagt nicht lange
an den Finanztropf. Wir wollen leistungsvolle Lehr- und
Arbeitsplätze. Wir wollen uns selbst helfen. Das ist es,
was wir brauchen. Da sollte der Schwerpunkt der Ar-
beitspolitik ansetzen.
Aktuelle Zitate, wie gewünscht. Die Sächsische
Zeitung schrieb am vergangenen Wochenende: Kon-
junkturflaute verursacht Rückgang der Ausbildung
3 000 Lehrstellen weniger. Ich sage an der Stelle: Wo
keine Betriebe sind, da helfen keine Appelle an Betriebe
und auch keine Ermahnungen, wie Sie, Frau Ministerin,
das gesagt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wer Sorgen wegen ausstehender Zahlungen, stornierter
Aufträge oder steigender Kosten hat, der denkt kaum län-
gerfristig. Das wäre überall so.
Eine andere Zeitung schrieb gestern:
Desolat ist auch die Lage auf dem Ausbildungsmarkt.
Über 1 800 junge Leute suchten Ende September
noch eine Lehrstelle. Das sind zwar 800 weniger als
ein Jahr zuvor, wie Streich bemerkte.
Wir wissen, wer das ist.
Aber das wurde durch erhöhte Abwanderung erkauft:
5 220 junge Sachsen begannen eine Ausbildung in ei-
nem anderen Bundesland, 1 000 mehr als im Vorjahr.
Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das
sind die aktuellen Daten, die Sie gerne hören wollten. Ich
muss feststellen, dass Sie von der SPD im Moment keine
Zeit haben, zuzuhören.
Das ist die Flaute des Bundeskanzlers.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP Widerspruch bei der SPD)
Für diese Flaute muss er die Verantwortung übernehmen.
Woran liegt es denn, wenn trotz aller genannten Maßnah-
men, die ich für positiv halte und die ich mit Dankbarkeit
zur Kenntnis nehme, die Lehrstellensituation in den neuen
Bundesländern so schlimm ist? Ich meine, dass der Zu-
sammenhang zwischen Lehrstellenangebot und Wirt-
schaftslage völlig ungenügend berücksichtigt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist die Wahr-
heit!)
Die Lehrstellenkrise Ost ist eben keine Routineangele-
genheit. Sie ist nicht eine Frage des Geldes und sie ist
auch nicht eine Frage, die allein den Bund angeht. Das ist
mir klar. Sie ist aber in den neuen Bundesländern ein
Grundsatzproblem. Sie zu überwinden ist eine eminent
wichtige Aufgabe, eine Aufgabe für vernetzte Ministe-
riumsbereiche. Das ist für mich immer wieder der ent-
scheidende Punkt. Sie ist im umfassenden Sinne auch eine
Angelegenheit der Infrastruktur in den neuen Bundes-
ländern. Sie ist eben Chefsache. Ich frage mich daher: Wo
ist der Chef? Will er nicht oder kann er nicht? Warum pas-
siert hier nichts?
Die Bundesregierung hat aus meiner Sicht keinen Mut,
an den Kern des Lehrstellenproblems in den neuen Bun-
desländern heranzugehen,
(Beifall bei der CDU/CSU)
weil es nicht in ihr traditionelles und ideologisches Den-
ken passt,
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
durch konsequente Förderung der ausbildenden Betriebe
und ihrer Infrastruktur jene, die das können und wollen, in
die Lage zu versetzen, auszubilden.
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Wozu gibt es denn
ein Bund-Länder-Programm?)
Als ich vorhin auf Sie eingegangen bin, haben Sie mit
Ihrem Nachbarn geredet. Jetzt rufen Sie dazwischen. Was
soll denn das? Das ist doch kein Stil! Machen Sie das mit
Ihren Leuten!
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Er versteht es
nicht!)
Die komplexen Lehrstellenprobleme in Ost und West
sind nur partnerschaftlich und unabhängig von formalen
Zuständigkeiten und Ressorts durch ernsthaft gewollte
und verpflichtend festgelegte Maßnahmen zu lösen. Zum
Beispiel ist das Problem schulischer Vorleistungen natür-
lich eine Sache der Kultusministerien, aber nicht allein.
Die Bereitstellung betrieblicher Lehrstellen ist natürlich
eine Angelegenheit von Wirtschaft und Mittelstand, aber
eben nicht allein. Das Anliegen, moderne Berufsschulen
zu haben, ist natürlich eine Angelegenheit des BMBF,
aber eben auch nicht allein.
Schröder und unsere Ministerin, Frau Bulmahn, wur-
den am Anfang der Woche zu Lehrstellenfüchsen
gekürt. Ich habe mich gefreut, dass ich das erleben konnte.
Frau Ministerin, ich sage Ihnen aber: Kommen Sie heraus
aus dem Bau und sehen Sie die Chancen einer gemein-
samen Jagd auf Lehrstellen unter bestimmten konkreten
Bedingungen, so wie sie in den neuen Bundesländern vor-
liegen! Angesichts der Abwanderung von jungen Men-
schen fordere ich Sie auf: Erkennen Sie die vernetzte Welt
in der freien Lehrstellenwildbahn, denken und handeln
Sie das ist der Hauptpunkt; ich sage es immer wieder
ressortgrenzenüberschreitend!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
Abgeordneten der FDP)
Die Handwerkskammer Chemnitz schrieb mir, dass
das Einstellungsverhalten von der Konjunktur und von
der Auftragslage abhängig ist. Das sind die wahren Aus-
wirkungen der so genannten Ökosteuer,
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Da ist sie wieder!)
der von Ihnen praktizierten mittelstandsfeindlichen Wirt-
schaftspolitik.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr.-Ing. Rainer Jork
18769
(C)
(D)
(A)
(B)
(Widerspruch bei der SPD)
Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Es ist so.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP])
Gehen Sie in die Betriebe und reden Sie mit den Verant-
wortlichen! Es geht um den direkten Einfluss auf die du-
alen Lehrstellen.
Die Grünen fordern in einem Antrag Chancengleich-
heit. Ich frage mich, ob sie eigentlich wissen, worum es
geht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Tun Sie etwas dafür! Wenn wir Chancengleichheit im
Sinne der inneren Einheit Deutschlands erreichen wollen,
dann müssen die zukünftigen Lehrlinge eine Chance ha-
ben, an ihrem Wohnort eine Lehrstelle zu bekommen. So
einfach ist das.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schauen Sie sich Ihren Antrag daraufhin an und überar-
beiten Sie ihn!
Es wird viel darüber geredet, ob das duale System
noch eine Existenzberechtigung hat. Diese Woche fand
das 1. VDE-Forum mit dem Thema Technologie und
Wissen als Wirtschaftsfaktoren statt. Ein Teilnehmer der
Podiumsdiskussion sagte, dass die duale Ausbildung das
betrifft also unser Thema eine Renaissance erleben
wird. Er forderte dazu auf, sie zu gestalten. Ich bitte Sie,
darüber nachzudenken: Es geht um eine Renaissance, eine
Erneuerung des dualen Systems. Wie in dem vorliegenden
Bericht beschrieben, ist diese teilweise schon erfolgt. Be-
herzigen wir das, grenzüberschreitend und unverklemmt!
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Finden wir
auch!)
Es geht darum, das System zu erhalten und auszubauen.
Das System Lernen und Arbeiten muss funktionieren.
Ich muss mich kurz fassen. Ich bitte auch darum das
steht ebenfalls im Bericht , dass ausländische Unterneh-
mer in höherem Maße ausbilden.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr gut!)
Angesichts dessen, was wir in den letzten Wochen erlebt
haben, ist uns klar, was für eine Chance dahinter steht.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da unter-
stützen wir Sie!)
Ich wollte nicht Gefahrenpotenzial sagen.
Lassen Sie mich drei Kernaussagen zusammenfassen
und sagen, was mir wichtig ist:
Erstens. Im Interesse der inneren deutschen Einheit ist
ein Qualitätssprung in der Lehrstellenpolitik unverzicht-
bar. Alle Maßnahmen müssen den praktischen, realen und
aktuellen Vernetzungen entsprechen. Man kann nicht von
Globalisierung reden und zu Hause simple Problemver-
netzungen ignorieren.
Zweitens. Im Interesse der notwendigen Flexibilität
der Berufe und Benachteiligter sind geeignete Berufe für
Berufsbildung und Weiterbildung praxisbezogen zu
modularisieren.
Drittens. Es liegt in unser aller Interesse, dass die Inte-
grationschancen ausländischer Jugendlicher verbessert
werden, indem mehr ausländische Firmen ausbilden.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr gut!)
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU Dr. Ernst Dieter
Rossmann [SPD]: Dem können wir zustim-
men!)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe
nunmehr das Wort dem Kollegen Christian Simmert. Er
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kol-
lege Jork, wenn die Schaffung von Ausbildungsplätzen so
einfach wäre, dann hätten Sie Herrn Rüttgers vielleicht
vor 1998 ein paar Empfehlungen mit auf den Weg geben
sollen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD und der
PDS)
aber bitte nicht dieser Bundesregierung, die sich ja nicht
nur, wie Sie gerade gefordert haben, ressortübergreifend,
sondern auch im Bündnis für Arbeit als gesellschaft-
lichem Brennpunkt darum kümmert, was die Schaffung
von zukunftsfähiger Ausbildung und die Diskussion da-
rüber angeht.
Der vorliegende Berufsbildungsbericht trägt dem
Rechnung. Die Zahlen hat Frau Ministerin gerade ge-
nannt. Es ist eben nicht ganz einfach, Ausbildungsplätze
zu schaffen, gerade in den neuen Bundesländern nicht.
Aber die Bundesregierung hat im Bündnis für Arbeit in
den letzten drei Jahren Beachtliches geleistet. Ich denke,
auch das sollte die Opposition zur Kenntnis nehmen.
Für Bündnis 90/Die Grünen steht fest, dass Bildung
nicht nur Rohstoff ist. Bildung schafft grundsätzlich die
Voraussetzung für verantwortungsvolles, demokratisches
und selbstbestimmtes Handeln. Bildung ermöglicht es,
Chancen zu nutzen und Herausforderungen zu meistern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist für uns selbst-
verständlich, dass die Weiterbildungsmöglichkeiten um
sie geht es in unserem Antrag für bislang benachteiligte
Gruppen in der Gesellschaft verstärkt ausgebaut werden
müssen. Menschen, die in weniger qualifizierten Berufen
von Arbeitslosigkeit bedroht sind, müssen ebenso wie Mi-
grantinnen und Migranten sowie Frauen befähigt und da-
bei gefördert werden, sich zu qualifizieren, gerade in der
Weiterbildung.
Für Bündnis 90/Die Grünen steht fest, dass das Recht
auf Bildung das gilt im Übrigen auch für die Erstausbil-
dung die neue soziale Frage ist, der sich das gesamte
Haus zu stellen hat.
(Zuruf von der FDP: Aus dem FDP-Programm
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr.-Ing. Rainer Jork
18770
(C)
(D)
(A)
(B)
abgeschrieben!)
Bildung ist der Schlüssel zur Wissensgesellschaft, also
auch zur persönlichen Wissensgestaltung. Die Vorstellung
von einer abgeschlossenen Erstausbildung, in der lebens-
lang gültiges Wissen erworben wird, ist überholt.
Wir sind aber auch der Überzeugung, dass lebensbe-
gleitendes Lernen keinen Zwang bedeuten muss. Wenn
die Einzelnen den Spaß und den Nutzen des Lernens ent-
decken, werden die Menschen selbst aktiv und nutzen die
Angebote der Weiterbildung zum beruflichen Aufstieg,
zum Branchenwechsel, zur Qualifikation für einen Ar-
beitsplatz oder zur eigenen Wissens- und Perspektiv-
erweiterung.
Wir setzen uns daher für eine nachhaltige Bildungspoli-
tik ein. Grundvoraussetzung dafür sind offene Zugangsbe-
dingungen, die Sicherung der Qualität in der Weiterbildung,
die Schaffung eines flächendeckenden Weiterbildungs-
netzes und eine nachhaltige Bildungsfinanzierung, an der
sich alle Akteure, der Staat, die Unternehmen und die Teil-
nehmer an den Maßnahmen, nach ihren Möglichkeiten be-
teiligen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol-
lege Simmert, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres ver-
ehrten Herrn Vorredners?
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, gerne.
Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie
waren so nett, mir zu empfehlen, darüber nachzudenken,
ob ich dem vorhergehenden Minister eine Empfehlung
bezüglich der Schaffung von Ausbildungsplätzen gege-
ben habe. Darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
unsere Fraktion jeweils im Vierjahresabstand dreimal
Anhörungen zu der Lehrstellensituation in den neuen
Bundesländern durchgeführt hat, dass die Ergebnisse der
ersten beiden Anhörungen an Herrn Rüttgers und die der
letzten Anhörung auch an Ihre Ministerin weitergeleitet
worden sind? Es handelte sich dabei um Vorschläge zu
Maßnahmenkatalogen, die aus meiner Sicht durchaus
konstruktiv berücksichtigt worden sind. Ist Ihnen das
nicht bekannt?
Meine zweite Frage: Meinen Sie nicht, dass jemand,
der selbst aus der Berufsbildung kommt, weil er einmal
als Mechaniker angefangen hat, vielleicht ganz gut Be-
scheid weiß? Sie sollten einmal Ihre Berufserfahrung prü-
fen, anstatt mir zu sagen, wie es bei der praktischen Be-
rufsbildung aussieht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Antwort zur ersten Frage: Ja, das ist mir bekannt. Zur
zweiten Frage: Vom Alter her befinde ich mich ein biss-
chen näher an meiner beruflichen Erstausbildung. Daher
weiß ich auch, worüber ich spreche.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Thomas Rachel [CDU/
CSU]: Arroganz ersetzt keine Sachkenntnis!)
Wenn Sie möchten, können Sie noch eine Frage stellen.
Ich habe gerade davon gesprochen, dass wir uns für
eine nachhaltige Bildungspolitik einsetzen. Es geht um
die Bildungsfinanzierung. Diese haben wir auch in den
bestehenden Gesetzen verankert:
Mit der Novelle zum SGB III, in die Jobrotation, Job
Aqtiv und JUMP Eingang finden, öffnen wir den Arbeits-
markt auch für Weiterbildungsmaßnahmen.
Das neue Betriebsverfassungsgesetz auch das hört
die Opposition nicht gerne ermöglicht es, innerbetrieb-
liche Vereinbarungen im Hinblick auf Qualifizierungs-
maßnahmen zu treffen, wie es zum Beispiel die Tarifpart-
ner im Südwesten wegweisend gezeigt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Mit der Novelle zum Meister-BAföG Frau Ministe-
rin, Sie haben es gerade erwähnt erweitern wir die Per-
spektiven und den Personenkreis der Teilnehmer durch
Erleichterungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer mit Migrationshintergrund und durch die Förderung
von Teilnehmern und vor allen Dingen Teilnehmerinnen
mit Kindern.
Mit der Novelle zum Fernunterrichtsschutzgesetz wer-
den wir die Einhaltung von Angeboten und die Qualität
der Maßnahmen entscheidend verbessern. Dieser Bereich
wird auch für das softwaregestützte Lernen nützlich sein.
Die rot-grüne Bundesregierung erprobt mit dem Ak-
tionsprogramm Lebensbegleitendes Lernen verschie-
dene Segmente der Weiterbildungspolitik, um sie effi-
zient im Fördersystem verankern zu können. Die
Einbindung von Hochschulen, Schulen, Volkshochschu-
len und Bibliotheken in das Konzept der Netzwerkförde-
rung Aufbau lernender Regionen macht deutlich, dass
staatlich bereitgestellte Infrastruktur, gekoppelt mit der
Eigenleistung der Lernenden und der Förderung durch die
Wirtschaft, ein flächendeckendes Weiterbildungsnetz dar-
stellt. Dieses Konzept werden wir verstetigen. Dies wird
auch in dem vorliegenden Entschließungsantrag darauf
habe ich bereits hingewiesen deutlich.
Grundvoraussetzung für den Erfolg dieser Bemühun-
gen bleibt allerdings die Qualitätssicherung, also der
Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. Hier sind
im Rahmen der einzelnen Maßnahmen die Entwicklung
von Qualitätsstandards und die Schaffung von Mitbestim-
mung durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst
eine entscheidende Komponente der Erfolgssicherung. In
Übereinstimmung mit europäischen Standards sollen er-
worbene Qualifikationen nachweisbar und zertifizierbar
sein. Dabei können wir uns vorstellen, einen europäischen
Weiterbildungspass einzuführen.
Die Nachhaltigkeit der initiierten Maßnahmen muss
kontrolliert werden. Daher setzen wir uns für die Verstär-
kung der Weiterbildungsforschung ein und wollen den
Blick gerade auf geschlechtsspezifische Aspekte, auf die
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Einbindung noch bildungsferner Zielgruppen und auf das
informelle Lernen richten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Auch die Qualifikation der Weiterbildenden selbst und
ihre Arbeitsverhältnisse müssen immer wieder auf den
Prüfstand gestellt werden.
Für Bündnis 90/Die Grünen steht fest, dass der Zugang
zu Bildung keine Frage des Geldbeutels der Einzelnen
sein darf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ohne Beteiligung der Wirtschaft und des Staates darf es
eine Qualifizierungsoffensive nicht geben. Wir wollen sie
nicht ohne die Wirtschaft und schon gar nicht ohne den
Staat planen. Deshalb werden sämtliche Finanzierungs-
modelle unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit be-
sonders zu prüfen sein.
Für Bündnis 90/Die Grünen ist Weiterbildung mehr als
die ständige Anpassung der Qualifikation an den Arbeits-
markt. Weiterbildung trägt ganz wesentlich zur Persön-
lichkeitsentwicklung bei. Sie ermöglicht es den Men-
schen, aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft teilhaben
zu können.
Lassen Sie uns gemeinsam den Freiraum gestalten und
den nötigen Rahmen dafür schaffen, damit Weiterbildung
in Zukunft eine sehr starke und zusätzliche Säule in unse-
rem Bildungssystem werden kann.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die
FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Cornelia Pieper.
Cornelia Pieper (FDP): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich möchte als Erstes mit einer Legende
aufräumen. Von Vertretern der Regierungskoalition ist
hier mehrmals gesagt worden, die Bundesregierung habe
bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen Enormes ge-
leistet.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Werner Lensing [CDU/ CSU]:
Nicht diese! Die damalige!)
Nicht die Bundesregierung, sondern die Unternehmen in
diesem Land und die Wirtschaft haben Ausbildungsplätze
geschaffen,
(Beifall bei der FDP)
und das trotz Ihrer Politik; denn Sie haben dem kleinen
Mittelstand und den Freiberuflern mit Ihrer Steuerreform,
zum Beispiel mit den Steuerbelastungen durch die Öko-
steuer, immer wieder Knüppel zwischen die Beine ge-
worfen. Ausbildungs- und Arbeitsplätze kosten jetzt mehr
als früher und deswegen kann man es dem kleinen Mit-
telstand nicht vorwerfen,
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das tut doch auch
keiner!)
dass nicht noch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.
Das haben Sie zu verantworten, auch aufgrund der Rah-
menbedingungen, die Sie gerade durch eine falsche Wirt-
schafts- und Steuerpolitik in diesem Land geschaffen
haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Hans-
Werner Bertl [SPD]: So kommen Sie nie als Bil-
dungsministerin nach Magdeburg!)
Von daher, lieber Herr Tauss, ist der Berufsbildungsbe-
richt immer wieder ein Spiegelbild wirtschaftlicher Ent-
wicklung oder Stagnation. Er zeigt, wie politische Instru-
mentarien greifen und ob sich der gewünschte Erfolg auch
einstellt. Er ist sozusagen eine der beiden Messlatten, an
denen Bundeskanzler Schröder sich messen lassen
möchte. Die drastische Senkung der Jugendarbeitslosig-
keit ist das eine, was er sich vorgenommen hat, und die
Reduzierung der Arbeitslosenzahlen unter 3,5 Millionen
das andere.
Ich will Ihnen klar sagen: Ich halte beide Ziele dieser
Bundesregierung für nicht erreicht. Sie haben beide Ziele
verfehlt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Arbeitslosenquote ist im Vergleich zum Vorjahr um
1,6 Prozent gestiegen und die Jugendarbeitslosigkeit ist
erschreckenderweise mit die höchste in Europa. Im Wes-
ten Deutschlands ist letztere im Vergleich zum Vorjahr um
9,7 Prozent gestiegen. Das steht in der Statistik; bitte
schauen Sie hinein. Ich denke, ein Lobgesang der Bun-
desregierung ist da nicht angemessen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Für mich und meine Fraktion ist der Blick in den aktu-
ellen Berufsbildungsbericht eher ernüchternd. Trotz der
enormen Fördermittel des Bundes im Sofortprogramm
der Bundesregierung, das auch im Jahr 2000 fortgeführt
wurde, stagniert die Zahl der betrieblichen Ausbildungs-
plätze. Es gibt faktisch keine Zunahme. Die Zahl der be-
trieblichen Ausbildungsplätze sank 1999 um 13 500 und
stieg 2000 wieder fast um die gleiche Zahl, um 14 000.
Vergleiche ich die Beschäftigungsentwicklung und die
Ausbildungsbereitschaft einiger Branchen, so sehe ich im
Bank- und Kreditgewerbe einen Rückgang der Ausbil-
dungsplätze. Im gesamten Dienstleistungsgewerbe hat
sich die Zahl der Beschäftigten zwar um circa eine halbe
Million erhöht, die Zahl der Ausbildungsstellen ging aber
um 2 800 zurück.
Noch eine Feststellung ist interessant und sie ist mei-
nes Erachtens auch alarmierend. Wir müssen aufpassen,
dass der Sinn der dualen Berufsausbildung nicht aufgege-
ben wird. Der Schwerpunkt muss bei den Ausbildungs-
plätzen in den Betrieben liegen; dieser Schwerpunkt darf
sich nicht auf die außerbetrieblichen Ausbildungsplätze
verlagern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
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Sogar der DGB warnt inzwischen vor einer schleichenden
Verstaatlichung des dualen Berufsausbildungssystems.
Ich gebe den Kollegen von der Union Recht: Hier ist
vernetztes Denken angesagt. Es ist Aufgabe nicht nur der
Bildungspolitiker, sich mit den richtigen Rahmenbedin-
gungen für Ausbildungsplätze in Deutschland zu beschäf-
tigen, sondern das ist auch Aufgabe der Wirtschaftspoli-
tiker.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deshalb sagen wir: Die beste Ausbildungsplatzpolitik
ist immer noch eine aktive und konsequente Mittelstands-
politik. Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Zwischenbi-
lanz für das Ausbildungsjahr 2001 erklärt: Die Betriebe
setzen ihre eigene Zukunft aufs Spiel, wenn sie jetzt nicht
genügend in die Ausbildung investieren.
(Hans-Werner Bertl [SPD]:
45 Milliarden DM!)
Nein, sage ich. Die Bundesregierung setzt die Zukunft
junger Menschen aufs Spiel, wenn sie zulasten des Haupt-
ausbilders, des Mittelstandes, Steuern erhöht und mit dem
Betriebsverfassungsgesetz oder der Zwangsteilzeit die
Unternehmen stranguliert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zu Recht hat der Präsident des Zentralverbandes des
Handwerks ein Vorziehen der nächsten Stufe der Steuer-
reform gefordert. Das ist immerhin noch die beste Maß-
nahme, um Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen.
Dazu gehören auch unsere Vorschläge aus dem Gesamt-
paket der FDP für mehr Wachstum und Beschäftigung.
(Rainer Brüderle [FDP]: Sehr gut!)
Als besonders dramatisch wurde hier die Situation der
jungen Menschen in den neuen Bundesländern be-
schrieben. Ich sehe das genauso. Die Ausbildungsplatz-
situation ist dort dermaßen schlecht, dass fast täglich
junge Menschen in die alten Bundesländer auswandern.
Wir haben allein im Jahre 2000 einen Wanderungsverlust
von 61 000 Menschen, insbesondere jungen, kreativen,
gut ausgebildeten Menschen. Das sind 17 000 mehr als im
Jahre 1999. Was das auch für die nächsten Jahre in Bezug
auf Fachkräftemangel und in Bezug auf Nachfrage nach
qualifizierten Arbeitskräften im Osten bedeutet, ist gut
vorstellbar. Dieses Problem wird uns noch gesondert hier
im Deutschen Bundestag zu beschäftigen haben.
Unter diesem Gesichtspunkt frage ich mich: Ist das ein-
zige Konzept, das die rot-grüne Bundesregierung dem
entgegenzuhalten hat, diesen jungen Menschen, die von
Ost nach West abwandern, Mobilitätshilfen zu zahlen und
keine Zukunftsperspektiven in den neuen Bundesländern
zu schaffen?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Hans-
Werner Bertl [SPD]: Das stimmt doch alles gar
nicht!)
Da ist ein Umdenken angesagt, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition. Wir brauchen dringend auch
die Stärkung des Mittelstandes gerade in den neuen Bun-
desländern.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
In der Tat werden in den nächsten Jahren gerade für die
neuen Länder Sonderprogramme erforderlich sein. Aber
ich sage auch: Gerade in den neuen Ländern wird das Di-
lemma einer immer weniger differenzierten, nicht auf
Leistung setzenden Schulausbildung deutlich. Zur ange-
messenen Beurteilung gehört auch, dass immer mehr
Schulabgänger keinen Haupt- oder Realschulabschluss
haben. In Sachsen-Anhalt waren im vergangenen Jahr
13 Prozent ohne Schulabschluss. Deshalb müssen auch
wir als Bundespolitiker unseren Fokus auf eine bessere
Qualität in der Unterrichtsversorgung richten. Was die
Schule an Vermittlung von Kernkompetenzen, traditio-
nellen Kulturtechniken oder sozialer Kompetenz ver-
säumt, kann in der Berufsschule oder im Betrieb nicht
nachgeholt werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deswegen muss die Ausbildungsfähigkeit junger Men-
schen grundsätzlich gewährleistet sein.
Ich fordere Sie förmlich auf, auf Ihre Landesregierun-
gen einzuwirken, in der Schulpolitik endlich mit jeglicher
Gleichmacherei aufzuhören und stattdessen mehr auf Dif-
ferenzierung und Leistungsorientierung zu setzen.
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Das stammt aus der
Mottenkiste der FDP! Das ist ja peinlich!)
Nein. Das wird nach allen Erfahrungen von Bildungs-
experten auch der Förderung praxisorientierter junger
Menschen eher gerecht.
Meine Damen und Herren, im Berufsbildungsbericht
werden auch positive Elemente sichtbar,
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Selbst für Sie!)
die wir auch in unserem Antrag zur Modularisierung der
Aus- und Weiterbildung vorgeschlagen haben.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Frau Kolle-
gin, Sie haben leider nicht die Zeit, diese ganzen positiven
Seiten darzustellen.
(Heiterkeit)
Cornelia Pieper (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident,
dass Sie mich darauf hinweisen. Wir werden diesen An-
trag zu gegebener Zeit zu beraten haben.
Ich sage als Letztes: Frau Ministerin, es geht beim
Thema Ausbildung, Weiterbildung oder Allgemeinbil-
dung nicht um ideologische Grabenkämpfe.
(Jörg Tauss [SPD]: Hören Sie doch damit auf!)
Die Modularisierung und die angestrebte zweijährige
Grundausbildung mit einem ordentlichen Berufsabschluss,
wie wir sie vorgeschlagen haben, ist keine Schmalspuraus-
bildung. Es geht darum, dass diese jungen Menschen mit
einem Berufsabschluss überhaupt einen Arbeitsplatz be-
kommen. Besser einen Arbeitsplatz als keinen Arbeitsplatz,
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das war doch immer Ihr Motto, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Frau Kolle-
gin, ich bekomme mit dem Kollegen Hinsken, dem ich
einmal den Saft abgedreht habe, den größten Ärger, wenn
ich jetzt nicht eingreife.
Cornelia Pieper (FDP): In diesem Sinne: Stimmen
Sie uns zu! Dann werden Sie auch mit dem Thema Aus-
bildungsplätze besser vorankommen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun gebe
ich der Kollegin Maritta Böttcher für die Fraktion der
PDS das Wort.
Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zur Zwischenbilanz des Aus-
bildungsstellenmarktes liefert uns das Bundesbildungsmi-
nisterium gleich die entsprechende Interpretationshilfe.
Wir erfahren, wie wir Statistiken zu lesen haben: Ausbil-
dung im Aufwind, Jeder bekommt eine Lehrstelle
heißen die Botschaften. Alles scheint also in bester Ord-
nung zu sein. Wer es genau wissen will, muss sich aller-
dings schon die Mühe machen, mehr als diese Schlagzei-
len zu lesen.
Frau Ministerin, im Osten hat sich leider nichts
grundsätzlich verändert. Das ist nicht Ihre Schuld. Sie ha-
ben ein wirklich schweres Erbe übernommen. Dennoch
ist es eine Tatsache.
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Von wem
denn? Aus der SED-Zeit!)
Hören Sie auf mit der Frage: Von wem denn? Seit elf
Jahren sind wir ein Land. Inzwischen gibt es Entwicklun-
gen, die andere zu verantworten haben.
(Beifall bei der PDS Werner Lensing [CDU/
CSU]: Das andere ist eine traurige Wahrheit!)
Der Aufwind ist dort offenbar nicht angekommen.
5 Prozent weniger gemeldete Stellen als im Vorjahr lassen
sich aus einer deutlichen Abnahme der betrieblichen
Lehrstellen erklären. Die Zunahme der Zahl außerbetrieb-
licher Lehrstellen ergibt sich allein daraus, dass derartige
Stellen für Rehabilitanden erstmals mitgezählt werden.
Das niederschmetternde Fazit des Berufsbildungsjah-
res für den Osten lautet: 97 nicht vermittelte Bewerber auf
10 unbesetzte Ausbildungsplätze mit den Schwerpunkten
Brandenburg und Sachsen. Die sächsischen Zahlen sind
zum Teil schon genannt worden. Ich will sie für Branden-
burg sagen: Auf 193 nicht vermittelte Bewerber kommen
noch heute 10 unbesetzte Ausbildungsstellen. Dazwi-
schen klafft nun wirklich eine Lücke, die niemand be-
streiten kann. Dagegen helfen weder eine bundesweit aus-
geglichene Bilanz noch das Gesundbeten von Statistiken.
Hier müssen endlich Strukturentscheidungen getroffen
werden, und zwar auf der Grundlage einer soliden Ursa-
chenanalyse. Dafür wiederum bietet der Berufsbildungs-
bericht wertvolle Anhaltspunkte.
Erstens. Es fällt auf, dass wir es noch immer mit einer
mangelnden Ausbildungsbereitschaft der Großbetriebe zu
tun haben, nicht etwa hinsichtlich der Beteiligung über-
haupt, sondern hinsichtlich der Verteilung der Ausbil-
dungsverträge.
Zweitens. Wir haben eine nach wie vor sinkende Aus-
bildungsquote, vor allem in Großbetrieben. Ich vermisse
die politischen Schlussfolgerungen aus dieser Entwick-
lung. Wie soll denn dem allseits beklagten Fachkräfte-
mangel abgeholfen werden, wenn nicht durch die Ausbil-
dung in den Betrieben?
(Beifall bei der PDS)
Die Verantwortung für den Fachkräftenachwuchs liegt bei
den Arbeitgebern. Das ist völlig richtig. Wenn diese aber,
statt ihrer Ausbildungsverpflichtung nachzukommen, lie-
ber Faulenzerdebatten lostreten, dann müssen sie durch
die Politik angehalten werden, endlich ihre Hausaufgaben
zu machen.
(Beifall bei der PDS)
Das ist unsere Verantwortung und vor allem natürlich
die Verantwortung der Bundesregierung. Das ist aber
noch nicht alles. Auf die besondere Situation im Osten
habe ich wie viele andere an dieser Stelle immer wieder
hingewiesen. Die Zahlen im Bericht werden durch die ein-
gangs beschriebene aktuelle Entwicklung bestätigt. Wo
durch Konjunktureinbrüche konkursgefährdete Klein-
und Mittelbetriebe das Rückgrat des dualen Systems bil-
den, haben die ursprünglich als Überbrückungsmaßnah-
men konzipierten Programme längst einen anderen Stel-
lenwert. Sie haben Recht, Frau Ministerin: Das muss
verändert werden.
Im Osten sind vor allem die Zahl berufsvorbereitender
Maßnahmen und der Umfang der außerbetrieblichen
Ausbildung im Benachteiligtenprogramm angestiegen. In
meinem Heimatland Brandenburg absolviert jeder zweite
Jugendliche seine Berufsausbildung in einem Oberstufen-
zentrum. Das ist das Ergebnis eines Mangels an betriebli-
cher Ausbildung. Dadurch entsteht eine überdimensionale
Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in Vollzeitunterricht.
Solche Entwicklungen müssen endlich auf Bundesebene
ernst genommen werden.
(Beifall bei der PDS)
Immer neue oder geringfügig umgestrickte Maßnah-
men und Förderprogramme als Warteschleifen zwischen
Schulabschluss, Ausbildung und Arbeitsmarkt, finanziert
aus verschiedenen Fördertöpfen mit nicht zu überblicken-
den Förderbedingungen und -zielen, verschleppen das
Problem notwendiger Strukturentscheidungen im Osten.
Sämtliche öffentlich finanzierten Ausbildungsprogramme
gehören auf den Prüfstand. Das ist ein Punkt, über den wir
uns wohl alle einig sind.
Das immer unübersichtlicher werdende System der
Berufs- und Weiterbildung muss neu strukturiert werden,
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wenn das Gerede von gleichen Bildungschancen noch ir-
gendeinen Sinn haben soll. Im freien Spiel der Kräfte ent-
wickeln sich gleiche Bildungschancen ganz offensichtlich
nicht. Im Gegenteil: Die Schere zwischen den gut ausge-
bildeten und immer besser weitergebildeten Menschen
und den Bildungsbenachteiligten öffnet sich weiter. Aus
diesem Grund plädieren wir für ein Bundesrahmenge-
setz zur Weiterbildung. Weder über Aktionsprogramme
noch über Modellprojekte ist die notwendige systema-
tische Strukturierung dieses immer wichtiger werdenden
Bildungsbereichs zu gewährleisten. Wir brauchen Struk-
turen, die allen Menschen eine einigermaßen planbare,
auf die eigenen Bedürfnisse und Voraussetzungen abge-
stimmte Lernbiografie ermöglichen.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS)
Erst wenn die individuellen Entwicklungschancen
nicht mehr vorrangig davon abhängen, ob jemand zufäl-
lig im Osten oder im Westen dieses Landes geboren ist,
wird die Wahl des Lebensortes zu einer freien Entschei-
dung. Erst dann geht es um Mobilität und nicht mehr um
Abwanderung.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Ernst Küchler.
Ernst Küchler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute nicht nur
den Berufsbildungsbericht, sondern auch die Anträge zu
Fragen der Weiterbildung. Ich möchte mich in meinen
Ausführungen auf diese Anträge konzentrieren. Mein
Kollege Willi Brase wird später in seinem Beitrag auf den
Berufsbildungsbericht eingehen.
Nachdem wir uns im Ausschuss bereits mit den ord-
nungspolitischen Fragen beschäftigt haben, ist es aus mei-
ner Sicht angebracht, in dieser Debatte eine erste Zwi-
schenbilanz zu ziehen und aufzuzeigen, welche Rolle die
Weiterbildung in der Politik der letzten drei Jahre gespielt
hat und vor welchen Aufgaben die Weiterbildungspolitik
in den nächsten Jahren stehen wird.
Als die Koalitionsfraktionen vor mehr als einem Jahr
mit ihrem ersten Antrag Lebensbegleitendes Lernen für
alle Weiterbildung ausbauen und stärken die Initiative
ergriffen haben, die Weiterbildung auch als Teil der Bil-
dungspolitik auf Bundesebene in den Blick zu nehmen,
haben sie eine Debatte aufgenommen, die zu jener Zeit
nicht nur unter Bildungspolitikern, sondern in vielen ge-
sellschaftlichen Bereichen bereits begonnen hatte. Die
zahlreichen Beschlüsse, Entschließungen und Verlautba-
rungen von einschlägigen Verbänden, gesellschaftlichen
Organisationen und der Parteien zur Weiterbildungs-
politik weisen darauf hin, dass dem Weiterbildungssektor
im Bildungssektor der Bundesrepublik Deutschland in-
zwischen eine große Aufmerksamkeit zukommt.
(Beifall bei der SPD)
Ich will darauf verzichten, an dieser Stelle die Gründe
für die Aufwertung des Weiterbildungsbereichs zu erläu-
tern, zumal zwischen den unterschiedlichen Verbänden
und politischen Lagern keine grundsätzlichen Differenzen
bezüglich der Bewertung und der Bedeutung der Weiter-
bildung für die heutige und zukünftige Bildungs- und Be-
schäftigungspolitik bestehen. Ich will vielmehr versuchen,
eine erste Bilanz zu ziehen, um zu verdeutlichen, welche
Initiativen und Vorhaben seitens der Bundesregierung in
den letzten drei Jahren in Gang gebracht worden sind.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Weiterbildung, ins-
besondere berufliche Weiterbildung, hat eine außer-
ordentliche Bedeutung auch für die Arbeitsmarktpolitik.
Deshalb ist es zu begrüßen, dass zum Beispiel mit dem
Job-Aqtiv-Gesetz, das die Bundesregierung eingebracht
hat, der Weiterbildung und der beruflichen Qualifizierung
eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die hohen Vermittlungsquoten von Teilnehmerinnen
und Teilnehmern an Maßnahmen zur beruflichen Qualifi-
zierung zeigen deutlich die Wirksamkeit dieser Maßnahmen
und die Notwendigkeit, durch berufliche Qualifizierung und
Weiterbildung Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit Be-
drohten eine Chance zu geben, wieder einen Arbeitsplatz
zu bekommen bzw. ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Dabei
ist aus meiner Sicht besonders wichtig, Weiterbildung als
Prävention zu begreifen, um Arbeitslosigkeit erst gar
nicht entstehen zu lassen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Mit dem Instrument der Jobrotation wird eine Chance
eröffnet, Weiterbildung mit der Vermittlung Arbeitsloser
in den Arbeitsmarkt zu verbinden. Des Weiteren haben
wir mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes auch
die Rechte der Arbeitnehmervertretungen gestärkt, Ein-
fluss auf die Weiterbildung in den Betrieben zu nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich komme darauf noch einmal im Zusammenhang mit
den tariflichen Möglichkeiten zurück, Ansprüche auf be-
triebliche Weiterbildung zu begründen und durchzuset-
zen.
Das JUMP-Programm zur Bekämpfung der Jugend-
arbeitslosigkeit, mit dem wir inzwischen weit über
300 000 Jugendliche erreicht haben, ist ein voller Erfolg.
Die Arbeitsämter haben in Zusammenarbeit mit den Bil-
dungsträgern inzwischen eine Vielzahl von Qualifizie-
rungsmaßnahmen durchgeführt und damit Jugendlichen
wieder eine Chance eröffnet, in Ausbildung und Arbeit zu
kommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich kann dies aus eigener Erfahrung und aufgrund zahl-
reicher Gespräche mit der Arbeitsverwaltung und den Bil-
dungsträgern vor Ort belegen.
Wir werden auch im Zusammenhang mit der gesetzli-
chen Regelung der Zuwanderung über die Finanzierung
der Weiterbildungsmaßnahmen für Aussiedler und Aus-
länder entscheiden müssen. Wenn wir Bereitschaft zur
sprachlichen und beruflichen Weiterbildung erwarten,
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müssen wir auch bereit sein, die erforderlichen Mittel
hierfür zur Verfügung zu stellen. Integration erfordert
auch erhebliche Anstrengungen im Bildungs-, Weiterbil-
dungs- und Qualifizierungsbereich.
Nun gab es in den letzten drei Jahren nicht nur gesetz-
liche Initiativen im Bereich der Weiterbildung, sondern
auch zahlreiche Projekte und Modellversuche, die da-
rauf abzielen, den Weiterbildungssektor zu stärken und
die Voraussetzungen für ein Weiterbildungssystem zu
schaffen, mit dem die vielfach beklagten und von allen
Seiten anerkannten Defizite abgebaut werden sollen. Aber
ein System erfordert Strukturen, Qualität, Transparenz,
Verlässlichkeit und Stabilität. Davon sind wir noch weit
entfernt.
Im FDP-Antrag wird zwar von einem Weiterbildungs-
system gesprochen. Aber gleichzeitig spricht man sich
dafür aus, an den bestehenden diffusen Strukturen nichts
zu verändern. Im CDU/CSU-Antrag sucht man vergeb-
lich nach einer Erläuterung dessen, was mit dem groß an-
gekündigten und notwendigen Paradigmenwechsel wohl
gemeint sein mag.
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das haben Sie
noch immer nicht begriffen!)
Beide Anträge intendieren den Abbau öffentlicher Verant-
wortung im Weiterbildungssystem und setzen ausschließ-
lich auf die Eigenverantwortung und den Weiterbildungs-
markt,
(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])
und zwar ausschließlich.
Mit dem Aktionsprogramm Lebensbegleitendes Ler-
nen für alle des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung wurden die vielfältigen Forschungs-, Entwick-
lungs- und Erprobungsmaßnahmen gebündelt. Innova-
tionen und Konzepte zur Realisierung einer lernenden
Gesellschaft sollen breiter und nachhaltiger als bisher
umgesetzt werden, heißt es im Berufsbildungsbericht.
Das Aktionsprogramm enthält zahlreiche Teilprogramme,
auf die ich hier im Einzelnen nicht eingehen möchte. Sie
beziehen sich auf die Vernetzung, die Qualitätssicherung,
die Zertifizierung, die Transparenz, auf neue Lernformen
und Lernkulturen, aber auch auf die Bildungsforschung.
Ich will nur auf drei Initiativen näher eingehen. Das
Modellprogramm Lernende Regionen Förderung von
Netzwerken, für das von 2000 bis 2004 138 Milli-
onen DM bereitgestellt werden, hat bereits jetzt, kurz
nach der Vergabe der ersten über 50 Projekte, ein breites
Engagement in den Kommunen, in den Regionen, bei den
Weiterbildungsträgern und Einrichtungen ausgelöst.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wer sich die eingegangenen Projektvorschläge an-
schaut und mit den Projektpartnern spricht, kann erken-
nen, dass bereits der Prozess der Projektentwicklung neue
Kooperationsbereitschaft der Akteure und vielfältige An-
sätze zur Schaffung von Netzwerken ausgelöst hat. Ich
bin auch aufgrund der Kenntnis vieler Akteure vor Ort si-
cher, dass wir mit diesen Modellen eine neue Qualität im
Weiterbildungssystem gewinnen, dass Strukturen ge-
schaffen werden, die als Netzwerke dauerhaft tragfähig
sein werden. Das von mir gerade erwähnte Programm ist
im Sinne unseres Antrags vorbildlich, weil es nachhaltig,
strukturbildend und integrativ angelegt ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich möchte auf zwei, drei andere Programme nur noch
stichwortartig eingehen, weil mir die Redezeit davonge-
laufen ist. Ich möchte besonders das Programm Neue
Medien in der Bildung herausheben. Wir erwarten, dass
im Rahmen dieses Programms, mit dem die Entwicklung
von Lernsoftware gefördert werden soll, nicht nur Mittel
im Bildungsbereich, sondern auch im Weiterbildungs-
bereich eingesetzt werden.
Ich erwähne die Bemühungen um die Schaffung einer
Stiftung Bildungstest, eines Bildungstestsystems, mit dem
wir den Verbraucherschutz stärken wollen. Wir begrüßen
besonders die Machbarkeitsstudie für einen regelmäßi-
gen Weiterbildungstrendbericht und die Einrichtung ei-
ner Kommission, die sich mit Bildungsfinanzierung und
damit auch mit Weiterbildungsfinanzierung beschäftigen
wird.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es wäre noch viel
zu erwähnen, was im Zusammenhang mit dem Bündnis
für Arbeit, im Zusammenhang mit dem Forum Bildung
und im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Konzer-
tierten Aktion Weiterbildung in Bezug auf das lebens-
lange Lernen in Gang gebracht worden ist. Das ist be-
wundernswert und vorbildlich. Wenn man sich anschaut
um nur ein Beispiel zu nehmen , was aus den Ergeb-
nissen des Bündnisses für Arbeit im Zusammenhang mit
dem Tarifvertrag in Baden-Württemberg und den Mög-
lichkeiten, dort Lernzeitansprüche für die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer im Betrieb zu entwickeln, ge-
worden ist, dann sieht man, dass diese Maßnahmen und
Aktivitäten greifen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Als Bildungspolitiker möchte ich abschließend davor
warnen, die Weiterbildungspolitik allein den Bildungspo-
litikern zu überlassen,
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
[SPD])
nicht deshalb, weil ich ihnen nicht traue, sondern deshalb,
weil wir eine Verschränkung der Bildungs-, Wirtschafts-
und Sozialpolitik brauchen, um die Weiterbildung in allen
Lebensbereichen zu verankern.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD Zuruf von
der CDU/CSU: Das ist ein Paradigmenwech-
sel!)
Wenn wir es mit dem Anspruch lebensbegleitendes Ler-
nen für alle ernst meinen, dann stehen wir erst am An-
fang einer langen Wegstrecke, auf der wir die Menschen,
die Betriebe und die Bildungseinrichtungen politisch be-
gleiten müssen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ernst Küchler
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(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile
nunmehr das Wort dem Kollegen Werner Lensing für die
CDU/CSU-Fraktion.
Werner Lensing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Da in dieser Debatte über Bildung und
deren Weiterbildung verhandelt wird, dürfte es sicherlich
angemessen sein, auf eine Erkenntnis zu rekurrieren, die
bereits vor 2 500 Jahren der chinesische Philosoph
Konfuzius wie folgt formulierte:
Lernen ohne zu denken ist eitel, denken ohne zu ler-
nen gefährlich.
Ich stelle fest: Unter diesem Aspekt ist die gegenwärtige
Regierung eitel und die von ihr konzipierte Weiterbil-
dungspolitik nicht ohne Gefahren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Widerspruch bei der SPD)
Wenn man den vorliegenden Anträgen der Koalition
folgt, dann liegt die Vermutung nahe, dass in Kreisen rot-
grüner Bildungspolitiker der Name Konfuzius von dem
Begriff konfus abgeleitet wird fürwahr eine besonders
delikate Variante der Weiterbildung.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Sicherlich sind wir alle uns darüber einig, dass sich un-
ser soziales, technisches und wirtschaftliches Lebensum-
feld verändert hat und dass dies täglich in immer größerer
Geschwindigkeit geschieht. In manchen technischen
Bereichen des Alltags und der beruflichen Umgebung be-
darf ein vollständiger Innovationszyklus nicht einmal des
Zeitraums eines Jahres. Die Konsequenz ist offensicht-
lich: Jeder, der mitreden möchte und in seinem Beruf
nicht ins Hintertreffen geraten will, hat sich fortwährend
weiterzubilden.
(Beifall bei der CDU/CSU Christian Simmert
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch Politi-
ker, Herr Kollege!)
Angesichts dieser Faktenlage, meine Damen und Her-
ren, erschreckt es mich, das Ergebnis zur Kenntnis neh-
men zu müssen, zu dem die Wissenschaftler im Bündnis
für Arbeit Herr Kollege Küchler, Sie haben davon
gesprochen in ihrem aktuellen Bericht an den Bundes-
kanzler gekommen sind ich zitiere :
Unter 17 verglichenen Ländern kommt Deutschland
in Bezug auf die betriebliche Weiterbildung lediglich
auf den 14. Platz.
Da ist die rote Laterne als Schlusslicht nicht mehr fern.
(Zuruf von der SPD: Wer hat denn 16 Jahre
lang regiert?)
Ich verstehe ja Ihre Nervosität, aber sie irritiert mich
nicht.
Dabei hatte bereits im Oktober des Jahres 2000 Pro-
fessor Heyse in einem Memorandum über lebenslanges
Lernen der Europäischen Kommission erklären müssen:
Wir sind in Deutschland heute dort, wo die EU vor
zwei Jahren war.
(Zuruf von der SPD: Herr Lensing, das ist die
Datenlage bis 1998!)
In dieser fatalen Situation hat jeder einzelne Mensch
umso mehr von sich aus zeitgemäße Wertvorstellungen zu
konzipieren, innovative Fähigkeiten zu fördern und neue
Lebensstrategien zu entwickeln.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Tatsache, dass sich diese realen Ziele nicht allein
durch Staatsdirigismus und staatlich verordnete Planung
durchsetzen lassen, hat sich das muss ich zugestehen
inzwischen sogar im rot-grünen Lager herumgesprochen.
(Ulrike Flach [FDP]: Sind Sie da so sicher?
Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Herr Tauss, rufen Sie nicht so dazwischen; sonst muss
ich wieder beim Präsidenten beantragen, dass Sie gerügt
werden. Sie wissen doch, dass ich damit schon großen Er-
folg hatte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt werden Sie aber nervös, Herr Kol-
lege!)
Bei uns wurde die vage Hoffnung geweckt, dass sich
selbst in Regierungskreisen der Gedanke existenziell not-
wendiger Weiterbildung auf der Basis freiwilliger Ent-
scheidungen zaghaft entwickelt.
Die diesbezügliche mentale Abwesenheit der PDS mit
ihrer antiquierten Forderung nach einem Bundesrahmen-
gesetz kann mich nicht weiter verwundern, da doch schon
die letzten elf Jahre an diesen Herrschaften erkenntnisfrei
vorbeigezogen sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Lassen Sie sich ein
Bienchen eintragen von Ihrer Partei!)
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr erster
Antrag ließ zumindest vom Titel her aufhorchen; denn
man spricht von zukunftsorientierter Weiterbildung
durch Eigenverantwortung und Selbstorganisation.
Doch traurigerweise haben Sie diesen Antrag schnells-
tens ich glaube, unter dem Eindruck der CDU/CSU-Kri-
tik; insofern verständlich zurückgezogen.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Ihre damaligen Eingebungen, die zumindest mich persön-
lich erfreut haben, erwiesen sich als kurze Blitzlichter im
tiefen Dunkel Ihrer bildungspolitischen Bewegungslosig-
keit.
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Ihr zweiter Anlauf geht in wesentlichen Passagen an
der Realität vorbei.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Werner Lensing
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(Jörg Tauss [SPD]: Konfuzius sieht das
anders!)
Nehmen wir nur einmal den vorhin auch von Ihnen, Herr
Küchler, im Zusammenhang mit Finanzen beschworenen
integrativen Ansatz in der Bildungspolitik. Dieses von
Ihrem Wunschdenken generierte Allerlei aus allgemeiner,
beruflicher und politischer Weiterbildung verweigert sich
der gelebten Wirklichkeit. Es bietet nichts Konkretes und
nichts Handfestes. Wir haben zu begreifen und zur Kennt-
nis zu nehmen, dass Wissen und Praxis erst in der Addi-
tion wirklich Bildung ausmachen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nicht von ungefähr erklärte Frau Dr. Beate Baltes, die
Leiterin des Lehrstuhls für Erziehungswissenschaften an
der National University Los Angeles in Berlin:
Was nützt einem Lehrer das soeben in einer Weiter-
bildung erworbene Zertifikat für Onlineunterricht,
wenn er seinen eigenen Internetanschluss nicht kon-
figurieren kann, weil er das selbst noch nie gemacht
hat.
Unter anderem an diesem Punkt setzt, Herr Kollege
Küchler, unser Paradigmenwechsel an. Dass er Ihnen auf-
grund des hohen intellektuellen Anspruchs der Begrün-
dung Schwierigkeiten gemacht hat, vermag ich zu verste-
hen. Wir befinden uns immer in der Entwicklung, in der
Weiterbildung.
Zur FDP möchte ich so viel sagen:
(Ulrike Flach [FDP]: Jetzt seien Sie aber
vorsichtig!)
Frau Flach, mir erscheinen fast alle im FDP-Antrag auf-
geführten Punkte akzeptabel.
(Jörg van Essen [FDP]: Sehr schön!)
Ich verstehe sie als eine Art Adaption unseres eigenen An-
trages. Allerdings könnte sich die Vorstellung, Weiterbil-
dung als eine zukünftige Domäne der Hochschulen zu se-
hen Sie vermerken das im sechsten Punkt Ihres
Antrags , fatal auswirken.
(Ulrike Flach [FDP]: Warum?)
Ich wusste es, Frau Kollegin! Denn sollten die Hoch-
schulen noch immer nicht die Möglichkeit erhalten, aus
ihrem Elfenbeinturm hervortreten zu dürfen, um in enger
Kooperation mit Industrie und Wirtschaft praxisbezogene
Bildung zu vermitteln, wäre eine lediglich als Fortführung
der derzeitigen Wissensübermittlung verstandene Weiter-
bildung äußerst fruchtlos. Von daher freue ich mich selbst
über unsere Gedanken, die, in unserem Antrag dargelegt,
einen grundlegenden Wandel und eine völlige Neuorien-
tierung in der Weiterbildung darstellen.
(Lachen bei der FDP)
Da können Sie ruhig lachen. Lachen befreit, allerdings
nicht vom Mitdenken.
Gehen wir davon aus, dass das so notwendige Konti-
nuum von lebenslangem Lernen
(Zuruf von der SPD: Was ist das nun wieder?)
soll ich auch das noch erklären? Ich habe leider nicht ge-
nug Redezeit über den Prozess der Arbeit, über das so-
ziale Umfeld, über die neuen Medien und sicherlich auch
über die traditionelle Weiterbildung erfolgt.
Wir lassen uns von fünf Grundsätzen leiten. Ich be-
nenne diese gerne:
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Donnerwetter!)
stärkere Öffnung der Schulen und Hochschulen für die
Weiterbildung; mehr Praxiserfahrung durch Personalaus-
tausch beim Einsatz von Lehrkräften in Schule und Er-
wachsenenbildung; Schaffung von Rahmenbedingungen
für neue interaktive Lehr- und Lernformen der Weiterbil-
dung im betrieblichen Ablauf; Förderung der dualen, das
heißt sowohl der wissenschaftlichen als auch verstärkt der
praxisorientierten Ausbildung des Führungsnachwuchses
in Unternehmen sowie Sicherung der Qualität institutio-
neller Weiterbildung.
(Jörg Tauss [SPD]: Ist ja fast sozialdemo-
kratisch!)
Am eigenen Willen zur Weiterbildung, so möchte ich
es zusammenfassen, und an der Selbstorganisation der ei-
genen Laufbahn,
(Hans-Werner Bertl [SPD]: Sie machen gerade
die Aufnahmeprüfung für unsere Arbeits-
gruppe!)
ja des eigenen Lebens führt eben kein Weg vorbei.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Im Übrigen ist Bildung immer das, was übrig bleibt, wenn
wir alles, was wir zuvor lernten, wieder vergessen haben.
Die Bildung lebt bekanntlich von dem Prinzip Hoff-
nung. Von daher bin ich voller Optimismus, meine Damen
und Herren von der Koalition, dass der CDU/CSU-Antrag
inzwischen auch bei Ihnen die Bereitschaft zum eigenen
lebenslangen Lernen und den Prozess der eigenen Weiter-
bildung so befördert haben dürfte, dass nunmehr die
Koalition unseren Antrag unterstützen wird.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun gebe
ich als letztem Redner in dieser Debatte das Wort dem
Kollegen Willi Brase für die SPD-Fraktion.
Willi Brase (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Situation im Bereich der beruflichen
Bildung, der Erstausbildung, ist aus unserer Sicht zah-
lenmäßig positiv. Wir wollen aber nicht verhehlen, dass es
große regionale Unterschiede zwischen Baden-Württem-
berg oder Bayern und den neuen Ländern gibt. Die
Schlussfolgerung ist für uns sehr eindeutig und einfach:
Wir brauchen nach wie vor Nachvermittlungsaktionen,
wir brauchen regionale Ausbildungsplatzkonferenzen.
Wenn wir das in den Regionen vernünftig umsetzen, wer-
den wir die Situation der jungen Menschen verbessern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
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des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie mich das deutlich sagen: Gerade in den Re-
gionen, also auch in den neuen Bundesländern, sind wir in
der Lage, die noch vorhandenen über 3 000 Plätze aus
dem Bund-Länder-Programm, die 2 500 Plätze, die je-
weils auf Aktivitäten der Länder zurückgehen, und die
2 400 Plätze aus dem Jugendsofortprogramm Zug um Zug
zu besetzen. Ich sage an dieser Stelle: Lieber ein öffent-
lich geförderter Platz für eine dreijährige Berufsausbil-
dung als keiner.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich möchte nicht in die Diskussion einsteigen und ver-
gleichen, welche Steuerpolitik in den letzten zehn Jahren
bzw. in den letzten drei Jahren gemacht wurde. Wir aber
haben Arbeitnehmer und Unternehmen entlastet, allein in
diesem Jahr um 45 Milliarden DM. Das spricht für sich,
meine Damen und Herren. Im europäischen Vergleich
liegt die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen in der Bun-
desrepublik das kann man in allen Statistiken nachle-
sen dank der Leistungen nicht nur der Politik auf Bun-
des- und Landesebene, sondern auch der Unternehmen
und der Gewerkschaften, also der Betriebspartner, im
guten oberen Drittel. Das belegt allein das Statistische
Jahrbuch 2001 eindeutig.
Nun erleben wir in der Diskussion über berufliche Bil-
dung und Weiterbildung häufig, dass gesagt wird, dass das
Berufskonzept der dualen Berufsausbildung überholt
sei, weil sich die Arbeitslandschaft und damit einherge-
hend auch Berufsverläufe grundlegend gewandelt hätten.
Man hört in der aktuellen Diskussion häufig folgende Fra-
gestellung: Sind die althergebrachten Ausbildungszeiten
bei Berufen des dualen Systems für die Herausforderun-
gen der New Economy noch geeignet? Müssen wir das
Konzept der klassischen Beruflichkeit noch wie eine
Monstranz vor uns hertragen oder nicht vielmehr an die
New Economy anpassen? Soll in der New Economy Erst-
ausbildung durch modulare Weiterbildung ersetzt wer-
den?
Dagegen steht das, was Erwin Staudt, Geschäftsführer
von IBM Deutschland und Sprecher der Initiative D 21,
im Handelsblatt vom 30. September 2001 gesagt hat. Er
spricht vom Ende der New Economy. Die New Econo-
my glänzt im Moment durch Massenentlastungen. Ich
kann nur sagen: Wären wir so verrückt gewesen, uns ganz
schnell für solch modische Vorstellungen im Bereich der
beruflichen Bildung einzusetzen, hätten wir die Jugendli-
chen fehlgeleitet und sie ständen heute auf der Straße.
(Beifall bei der SPD)
Ich glaube, dass das Beispiel der neuen Ökonomie
zeigt, dass wir nicht ständig neue Spezialberufe brau-
chen, die gerade das kann man besonders an Wochen-
enden in den Zeitungen sehr gut nachvollziehen in
Mode sind. Die breite Grundlagenausbildung ist für den
IT-Bereich notwendig und richtig. Deshalb begrüßen wir,
dass die ständige Arbeitsgruppe im Bereich des Bündnis-
ses für Arbeit die vielfach geforderte Auflösung der be-
ruflichen Erstausbildung in Teilqualifikationen ablehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage: Dort haben Sie
Recht.
(Beifall bei der SPD)
Die Manie, ständig neue Berufe zu erfinden, kann man
an einem absurden Beispiel trefflich darstellen. Die IHK
Hamburg hat vor wenigen Monaten Einsteigerberufe mit
einjähriger Ausbildung vorgestellt. Ich will Ihnen einige
vorlesen, weil das, was dahinter steht, wirklich nicht mehr
zu überbieten ist: Helfer und Helferin für Veranstaltungs-
technik, Kurierfahrer oder Kurierfahrerinnen,
(Zuruf von der SPD: Unglaublich!)
Lichtspielservicekraft, Pförtnerin oder Pförtner. Wenn ich
Hamburg und Pförtnerin oder Pförtner höre, dann denke
ich, dass möglicherweise Jugendliche ein Jahr in einem
Nachtclub auf der Reeperbahn ausgebildet werden sollen.
Das kann es ja wohl wirklich nicht sein.
(Beifall bei der SPD Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Das sind aber Perspektiven, Herr Kol-
lege!)
Ich glaube, dass das, was Mario Zaleski, Ausbildungs-
leiter der Gesellschaft für Informationsmanagement in
Wiesbaden, deutlich gesagt hat, richtig ist. Ich zitiere die
Frankfurter Rundschau vom 15. Mai.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die hat von
beruflicher Bildung Ahnung!)
Es geht hier nicht um die Zeitung, sondern um Mario
Zaleski. Es geht darum, ob man Jugendliche in eine Erst-
ausbildung mit einjähriger Ausbildungszeit, die über-
haupt keine Perspektive haben, bringt. Wenn Sie die we-
nigen Beispiele, die ich vorgelesen habe, zur Kenntnis
nehmen, werden Sie feststellen, dass dort billige Arbeits-
kräfte gesucht werden. Eine voll qualifizierte, vernünftige
Ausbildung soll nicht erfolgen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Hans-
Michael Goldmann [FDP]: Ach, das ist doch
Quatsch! Was Sie sagen, stimmt doch nicht!)
Lassen Sie es mich deutlich sagen: Wir erleben es im-
mer wieder auch in der Informationstechnologie , dass
nach Fachkräften gerufen wird, dass in der Politik natür-
lich nicht so schnell gehandelt werden kann und dass es
sinnvoll und richtig ist, dass so Mario Zaleski nicht
ständig neue Berufe erfunden werden. Sie können dies
auch auf Seite 15 des Berufsbildungsberichtes nachlesen.
Dort geht es um die Diskussion der Patchwork-Biografie.
Wir wollen, dass Jugendliche am Berufskonzept ausge-
bildet werden und somit auch eine Chance haben, zukünf-
tig aufbauend auf diese Qualifizierung ihren weiteren
Lebensweg auch im Rahmen des lebensbegleitenden
Lernens vernünftig zu gestalten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Lassen Sie mich noch etwas zu den Ausbildungs-
schwächeren sagen. Ich sehe es als richtig an, dass im
Bündnis für Ausbildung und Arbeit die Benachtei-
ligtenförderung endlich als Daueraufgabe begriffen und
anerkannt wird. Wir sollten auch verstehen, dass diese
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Willi Brase
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Daueraufgabe integraler Bestandteil der Berufsausbil-
dung in der Zukunft ist. Darüber, wie dort Fördermög-
lichkeiten effektiviert werden können, ist nachzudenken.
Die Reduzierung auf Teilqualifikationen bringt uns
kein Stück weiter. Richtig ist, dass wir Jugendliche über
zwei Jahre hinweg an den Beruf heranführen und sie ein
weiteres Stück mit auf den Weg nehmen. Manchmal
absolvieren sie die Benachteiligten und Leistungs-
schwächeren zwei plus ein Jahr, manchmal aber auch
drei plus ein Jahr. Alle Pädagogen sagen uns: Wer Pro-
bleme mit dem Lernen hat, braucht nicht weniger, sondern
mehr Zeit. Wenn er dann eine voll qualifizierte Ausbil-
dung und einen entsprechenden Abschluss hat, ist es gut,
und es bringt uns entsprechend voran.
(Beifall bei der SPD)
Zum Schluss will ich sagen: Wirtschaft und Handwerk
sind nach wie vor aufgefordert, weiterhin Ausbildungs-
plätze in ausreichender Anzahl zur Verfügung zu stellen.
Der von der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg ge-
brachte Ausbildungskonsens bedeutet, dass die Gesell-
schaft insgesamt dafür sorgt, dass alle Jugendlichen, die
können und wollen, einen Ausbildungsplatz erhalten. Ich
glaube, das ist die neue Qualität unserer Politik. Wir wer-
den sie auch weiterhin erfolgreich umsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5946 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Haus ist damit
einverstanden? Die Überweisung ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/7005.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 14/6435 mit dem Titel Weiterbildung im Bildungs-
system verankern Chancengleichheit stärken. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe!
Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS ge-
gen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/3127 mit dem Titel Lebensbegleitendes
Lernen für alle Weiterbildung ausbauen und stärken für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? Gegenprobe! Enthaltungen? Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5312 mit dem Titel Zu-
kunftsorientierte Weiterbildung durch Eigenverantwor-
tung und Selbstorganisation Ein Paradigmenwechsel.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegen-
probe! Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.
(Renate Rennebach [SPD]: Bei einer Enthal-
tung aus den Reihen der CDU/CSU!)
Ich bitte denjenigen aus der CDU/CSU-Fraktion um ein
Handzeichen, der sich enthalten möchte. Der Kollege
Lensing.
(Werner Lensing [CDU/CSU]: Ich bitte, das
auch im Protokoll festzuhalten!)
Es steht somit im Protokoll.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/6170 mit dem Titel
Für ein Bundesrahmengesetz zur Weiterbildung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe!
Enthaltungen?
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Herr
Lensing, Enthaltung!)
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/7075 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Eduard Oswald, Heinz Seiffert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Bessere steuerliche Rahmenbedingungen für
den Wohnungsbau
Drucksache 14/6637
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Das Haus ist
damit einverstanden.
Dann eröffne ich die Aussprache und gebe für den
Antragsteller, die CDU/CSU-Fraktion, dem Kollegen
Dr. Michael Meister das Wort.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor welchem
Hintergrund findet die heutige Debatte statt? Die Situa-
tion der deutschen Bauwirtschaft ist, gelinde gesagt,
katastrophal. In den letzten drei Jahren sind im Bau-
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hauptgewerbe 240 000 Arbeitsplätze auf der Strecke ge-
blieben. Für dieses Jahr ist damit zu rechnen, dass in die-
ser Branche weitere 60 000 Arbeitsplätze verloren gehen
werden.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Bundesregie-
rung schafft mit ihrer Politik mehr und mehr Arbeitsplätze
für Bauarbeitnehmer ab. Drei Viertel der arbeitslosen
Bauarbeiter gehen nach Berechnungen der deutschen
Wohnungswirtschaft auf das Konto des rückläufigen
Wohnungsbaus. Die mittelständischen Bauunternehmer
kommen in der aktuellen Regierungsarbeit kaum vor.
Bundeskanzler Schröder hat im Wahlkampf 1998 die so
genannte Neue Mitte propagiert. Ich frage mich, wo der
Mittelstand in der Bauwirtschaft bleibt. War die Neue
Mitte nur eine wahlkampfwirksame Worthülse oder was
steckt wirklich dahinter?
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nichts, Herr
Dr. Meister!)
Die rot-grüne Wohnungsbaupolitik, meine Damen
und Herren, sofern man beim mittlerweile dritten Minis-
ter in dieser Wahlperiode davon noch sprechen kann, ist
eine traurige Aneinanderreihung sektorspezifischer Fehl-
entscheidungen,
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr
richtig!)
die für einen dramatischen Wirtschaftsabschwung im
Baubereich gesorgt haben. Sie, meine Damen und Herren
von SPD und Grünen, haben die Rahmenbedingungen in
diesem Sektor falsch gesetzt.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ist es!)
Es ist Ihre Verantwortung, die dazu geführt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die rot-grüne Bilanz bei der Wohnungsbautätigkeit
weist bei den Fertigstellungszahlen in Deutschland ei-
nen Rückgang um 30 Prozent aus, wenn man das erste
Halbjahr 1998 mit dem ersten Halbjahr 2001 vergleicht.
Ein Drittel weniger Fertigstellungen im deutschen Bau-
gewerbe innerhalb von drei Jahren eine Leistung, die
man, glaube ich, nicht mehr kommentieren muss. Wenn
man sich die Genehmigungszahlen im Vergleich des ers-
ten Halbjahres 1998 mit dem ersten Halbjahr 2001 ansieht
stellt man fest: ein Rückgang um 40 Prozent.
Daraus kann man schließen, dass die schmerzhafte Re-
duzierung um ein Drittel der Bauleistung in Deutschland,
dieses niedrige Niveau, das wir mittlerweile erreicht ha-
ben, bei weitem noch nicht das Ende bedeutet. Die Tal-
sohle des Abschwungs der Baukonjunktur aufgrund Ihrer
politischen Leistungen ist noch nicht erreicht.
Meine Damen und Herren, Sie tragen damit die Ver-
antwortung dafür, dass 240 000 Familien in Deutschland
ihren Ernährer aus der Bauwirtschaft in die Arbeitslosig-
keit entlassen bekamen.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So
ist es!)
Alles das sind Einzelschicksale, die Sie zu verantworten
haben und die hier klar und deutlich angesprochen wer-
den müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das sind die Folgen Ihrer investitionsfeindlichen Ent-
scheidungen durch Eingriffe in die steuerlichen Rahmen-
bedingungen. Sie tragen die Verantwortung für diesen Ar-
beitsplatzabbau, das Sterben des Mittelstandes und die
Talfahrt beim Wohnungsbau.
Ich möchte einige ganz konkrete Beispiele nennen. Sie
haben in einer ersten Entscheidung den Vorkostenabzug
abgeschafft und Sie haben die Einkommensgrenzen bei
der Eigenheimzulage gesenkt. Sie sprechen in Ihrer Koa-
litionsvereinbarung und in allen Sonntagsreden davon,
Sie wollten die Bestandsförderung vorantreiben. Wes-
halb, haben Sie dann gerade den Vorkostenabzug, abge-
schafft? Damit tun Sie genau das Gegenteil dessen, was in
Ihrer Koalitionsvereinbarung steht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ein Junggeselle, der heute Eigentum erwerben will, hat
mit den Einkommensgrenzen, die Sie geschaffen haben,
bei einem Nettoeinkommen in einer Größenordnung von
45 000 DM keine Chance mehr, Fördermittel zu bekom-
men. Wer soll denn in Deutschland bei solchen Grenzen
noch Wohneigentum schaffen? Angesichts dieses niedri-
gen Nettoeinkommens frage ich: Woher soll denn über-
haupt noch das Einkommen, das Vermögen kommen, um
Wohneigentum bilden zu können? Meiner Meinung nach
sind Sie von der Realität vollkommen weg.
Ein weiterer Punkt. Sie haben die steuerlichen Rah-
menbedingungen beim privaten Mietwohnungsbau ver-
schlechtert.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
Ich nenne hier als Stichworte Beschränkung der Verlust-
verrechnungen und Beseitigung der Verteilungsmög-
lichkeit bei größerem Erhaltungsaufwand. Beides, meine
Damen und Herren, ist bestandsschädlich, beides sind
Entscheidungen, die dafür sorgen, dass der Mietwoh-
nungsbau nicht vorangetrieben wird, dass keine Sanie-
rung und keine Erhaltung betrieben wird. Das ist ein wei-
terer Verstoß gegen Ihre Koalitionsvereinbarung, in der
Sie sich gerade an dieser Stelle für die Bestandsförderung
ausgesprochen haben.
Auch beim Neubau von Mietwohnungen die gleichen
Auswirkungen: ein Rückgang von 1998 auf 2000 von
208 000 Wohnungen auf 136 000. Auch das sind Folgen
Ihrer Politik.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Es betrifft das
Stichwort Spekulationsfrist. Sie haben die Spekulations-
frist von zwei auf zehn Jahre verlängert und dies auch
rückwirkend für alle Grundstücksverkäufe nach dem
31. Dezember 1998 getan. Was Sie hier betrieben haben,
ist ein Eingriff in den Rechtsstaat. Denn zum Teil war die
Spekulationsfrist bei Immobilien ausgelaufen. Nachdem
die Spekulationsfrist ausgelaufen war, wurden Immobi-
lien rückwirkend wieder in die Spekulationsfrist hinein-
genommen. Hier ist von Vertrauensschutz überhaupt nicht
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Michael Meister
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(C)
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mehr die Rede. Hier wurde das Vertrauen von Investoren
klar überstrapaziert. Wer soll eigentlich in eine solche Po-
litik, in eine solche Regierung noch Vertrauen haben?
Sie zerstören die Grundlagen eines funktionierenden
Marktes, denn dieser lebt gerade vom Vertrauen der
Investoren in sichere und verlässliche Rahmenbedingun-
gen. Dieses Vertrauen zerstören Sie mit solchen Entschei-
dungen. Das ist keine ruhige Hand, wie Sie immer propa-
gieren, das ist eine unkalkulierbare, eine unberechenbare
Hand, die hier Politik macht. Dies können wir für
Deutschland, für die Mieter, für die Bauarbeitnehmer und
für die Wohnungswirtschaft nicht länger verantworten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich will im Zusammenhang mit den steuerlichen Rah-
menbedingungen einen weiteren Punkt ansprechen, und
zwar die Erhöhung der Erbschaft- und der Schen-
kungsteuer. Indem Sie eine unselige Diskussion über die
Erhöhung von Erbschaft- und Schenkungsteuer angezet-
telt haben, haben Sie viele Menschen in Deutschland ver-
unsichert, die wir eigentlich aufgefordert haben, im Be-
reich der Immobilie für ihre Altersversorgung Vorsorge zu
treffen. Was haben Sie jetzt getan? Sie haben das Ganze
bis Mitte der nächsten Wahlperiode verschoben, um über
die Bundestagswahl hinwegzukommen und diese Diskus-
sion aus der Bundestagswahl herauszuhalten. Sie beab-
sichtigen aber, in der nächsten Wahlperiode erneut das
Thema Schenkung- und Erbschaftsteuer auf die Tages-
ordnung zu setzen. Die Verunsicherung der Bevölkerung
muss ein Ende haben. Wir fordern Sie auf: Sagen Sie den
Menschen vor der Bundestagswahl die Wahrheit. Sagen
Sie, ob Sie die Erbschaft- und die Schenkungsteuer in der
nächsten Wahlperiode erhöhen wollen oder ob hier ver-
lässliche Rahmenbedingungen gelten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist ein Beitrag, den Sie zu leisten haben. An dieser
Stelle haben Sie eine Bringschuld.
Der Herr Minister wird heute von Staatssekretär
Großmann vertreten. Er selbst hat sich aber zu Jahresbeginn
über die Situation der Wohnungswirtschaft in Deutschland
geäußert. Auf einer Pressekonferenz am 17. Januar hat er
prognostiziert, dass wir in diesem Jahr beim Neubau eine
Fertigstellungsrate zwischen 370 000 und 390 000 Wohnun-
gen bekommen werden. Er hat weiterhin davon gesprochen,
dass dies eine weiche Landung der Wohnungsbaukonjunk-
tur in Deutschland erlauben würde.
Meine Damen und Herren, schauen Sie sich die Zahlen
für das Jahr 2001 an. Beide Ziele werden Sie nicht errei-
chen. Minister Bodewig wird an beiden Zielen scheitern.
Er wird weder die von ihm im Januar prognostizierten
Fertigstellungszahlen erreichen, noch wird er eine weiche
Landung der Wohnungsbaukonjunktur erreichen. Wenn
man sich die Zahlen ansieht, kann man eher davon spre-
chen, dass das Ganze zu einer Bruchlandung auf dem har-
ten Boden der Realität wird.
Es muss Schluss sein mit einer Politik gegen den Woh-
nungsbau. Es kann nicht angehen, dass die Wohnungs-
baupolitik mittlerweile im Finanzministerium gemacht
wird. Herr Eichel macht die Vorgaben, was beim Woh-
nungsbau fachpolitisch geschehen soll;
(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das ist schon immer so ge-
macht worden!)
die Wohnungsbaupolitiker, Frau Kollegin Eichstädt-
Bohlig, nicken dies ab. In der Regel haben sie in den Dis-
kussionen keine fachpolitischen Argumente, sondern ver-
weisen immer auf den Bundesfinanzminister.
(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN]: Da haben Sie nicht zugehört!)
Wir brauchen in Deutschland wieder einen Wohnungs-
bauminister und wir brauchen wieder Wohnungsbaupoli-
tiker. Wir brauchen keine Wohnungsbaupolitik, die vom
Finanzminister diktiert wird.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Bodewig steht jetzt am Beginn seines letzten
Amtsjahres. Er hat damit in seinen letzten elf Monaten
noch einmal die Chance, die Situation zu wenden.
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein meisterhafter Be-
schluss! Rudolf Bindig [SPD]: Meister heißt
er, redet Kleister!)
Ich sehe Ihre Verzweiflung, wenn Sie hier einen solchen
Stuss reden, anstatt in Zwischenfragen oder Kurzinter-
ventionen mit Argumenten zu antworten. Wenn man
offensichtlich keine Argumente hat, dann muss man eben
dumme Zwischenrufe machen. Das wird mich aber nicht
aus dem Konzept bringen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wieder-
hole es: Herr Bodewig steht am Beginn seines letzten
Amtsjahres. Wir bieten ihm persönlich als Minister mit
diesem Antrag die Chance, noch einmal die Wende zu
schaffen. Herr Müntefering hat zu Beginn seiner Amtszeit
überhaupt kein Interesse an diesem Ressort gehabt. Des-
halb ist im ersten Jahr seiner Amtszeit dieses Ressort ab-
solut vernachlässigt worden. Es bestand in Deutschland
überhaupt kein Interesse daran, Wohnungsbaupolitik zu
betreiben. Beim zweiten Minister, den Sie nominiert ha-
ben und der dann auch im Amt war, bei Herrn Klimmt,
fragt man sich, mit welcher Vision er in dieses Amt hi-
neingegangen ist. Ich habe mich manchmal gefragt, wo
seine Visionen überhaupt geblieben sind.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Er war
doch nur auf der Flucht!)
Auch er ist nicht mehr da. Deshalb ist in diesem Ressort
dringend ein Neustart geboten.
Wir haben hier einen Antrag vorgelegt, mit dem Sie
endlich die richtigen Weichenstellungen für die Woh-
nungspolitik in Deutschland vornehmen können. Wir bie-
ten Ihnen die Chance zu einem Neustart. Nehmen Sie
diese Chance wahr. Nehmen Sie unseren Antrag positiv
auf. Stimmen Sie ihm zu und machen Sie mit uns ge-
meinsam endlich wieder Wohnungsbaupolitik in
Deutschland, anstatt weiterhin die Wohnungskonjunktur
an die Wand zu fahren, Bauarbeitnehmer und Investoren
zu verunsichern und dafür zu sorgen, dass in Deutschland
Arbeitsplätze verloren gehen und sich Firmenpleiten er-
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eignen. Das ist der falsche Weg; Sie sind auf dem falschen
Kurs! Leider haben Sie auch keine Argumente und keine
Vorstellungen, wie Sie das korrigieren können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe das
Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck. Er spricht für die
SPD-Fraktion.
Dieter Grasedieck (SPD): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ihr Antrag, Herr
Meister, zeigt: Die CDU/CSU fordert ohne Verantwor-
tung. Die Koalition fördert mit Verantwortung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Jochen-Konrad Fromme
[CDU/CSU]: In die Arbeitslosigkeit, ja!)
Ich will ein paar Beispiele aufführen. Sie werden staunen,
Herr Fromme; Sie können das gleich einmal genauer be-
trachten. Sie wollen ja unter anderem die Steuern redu-
zieren. Auf allen Ebenen wollen Sie reduzieren. Zum Bei-
spiel schlagen Sie vor, die Steuerreform vorzuziehen. Das
kostet Geld, und zwar insgesamt 50 Milliarden DM.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht
doch gar nicht im Antrag!)
Herr Meister, hat zu dem Antrag nicht gesprochen. Ha-
ben Sie sich diesen Antrag überhaupt durchgelesen?
(Beifall bei der SPD)
Schauen Sie sich ihn ruhig etwas genauer an!
(Zuruf des Abg. Jochen-Konrad Fromme
[CDU/CSU])
Es wäre gut, wenn Sie erst einmal zuhören würden.
Dann können Sie etwas lernen. Das wäre gar nicht ver-
kehrt, Herr Fromme.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wir haben den
Antrag gelesen!)
Obwohl Sie auf der einen Seite die Steuern reduzieren
wollen, wollen Sie auf der anderen Seite breit gefächert
mehr Geld für die verschiedensten Bereiche ausgeben:
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Weil
sich das selbst finanziert!)
unter anderem mehr Geld für die Bundeswehr und für den
Wohnungsbau. Sie fordern ohne Verantwortung. Wir han-
deln, während Sie noch diskutieren. Wir sind in den un-
terschiedlichsten Bereichen aktiv.
Wir haben als erstes festgehalten, was sich im Woh-
nungsbau verändert und getan hat. Man muss in diesem
Zusammenhang feststellen, dass es Ihre Politik war, Herr
Meister, die zu den leer stehenden Wohnungen und Büros
in Ostdeutschland führte. Wir müssen jetzt entsprechend
handeln und neue Konzepte erarbeiten. Das tun wir.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Weiterhin stellten wir natürlich fest, dass die Entwick-
lung in vielen Bereichen der Wirtschaft, zum Beispiel im
Maschinenbau und im Elektrobereich, durch unsere Steu-
erreform sehr positiv verläuft.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum gehen die
Bauunternehmen reihenweise pleite?)
Ehrlicherweise muss man sagen, dass wir im Baubereich
Probleme hatten.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Die haben Pro-
bleme!)
Diese Probleme haben wir erkannt und entsprechend ge-
handelt. Wir haben deswegen neue Konzepte erarbeitet.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Davon haben wir
nichts gemerkt!)
Diese Konzepte müssten Sie eigentlich kennen, wenn Sie
sich mit den Vorschlägen der Bundesregierung auseinan-
der gesetzt hätten.
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Es waren
offensichtlich die falschen Konzepte, auch
wenn sie neu waren!)
Wir können feststellen, dass die Arbeitslosigkeit ins-
gesamt stark reduziert wurde. Sie haben uns eine Arbeits-
losigkeit mit 4,4 Millionen Arbeitslosen hinterlassen.
(Beifall bei der SPD)
Im Moment gibt es 3,75 Millionen Arbeitslose.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Drei-
mal 300 000 durch die demographische Ent-
wicklung!)
Die Zahl ist aber noch sehr hoch. Deswegen wollen wir
die Situation am Arbeitsmarkt weiter verbessern.
Wir konnten allgemein neue Arbeitsplätze schaffen.
Wir geben zu, dass wir in der Bauwirtschaft unsere
Schwierigkeiten hatten. Deshalb haben wir gehandelt und
Vorschläge erarbeitet.
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: 240 000 Ar-
beitsplätze abgebaut!)
Unsere Koalition hatte stets das Ziel, die Baukonjunktur
zu fördern, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dafür haben wir
mehrere Programme erarbeitet und beschlossen. Eigent-
lich müssten Sie diese Programme kennen. Dazu gehört
unter anderem das Programm Stadtumbau Ost, für das
mehr als 4 Milliarden DM, über zehn Jahre gestaffelt, be-
reitstehen.
(Beifall bei der SPD Dr. Michael Meister
[CDU/CSU]: Eine Luftnummer!)
Dadurch wird das Wohnungseigentum gefördert.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie viel ge-
ben Sie davon in dem kommenden Haushalt
aus?)
Sie können ja eine Zwischenfrage stellen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das lohnt
sich nicht!)
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Im Bereich des Mietwohnungsbaus wollen wir die
Sanierung fördern. Auch die Stadtentwicklung wird mit
den schon genannten 4 Milliarden DM, verteilt über zehn
Jahre, gefördert. Sie sollten sich mit unseren Programmen
und unseren Gesetzen beschäftigen, bevor Sie einen An-
trag schreiben.
Sie fordern, die Investitionsbedingungen für Woh-
nungsbereiche zu verbessern, obwohl klar ist, dass seit
Januar 2000 der Wohnraum mit Darlehen in einem Ge-
samtvolumen von 80 Milliarden DM durch die KfW ge-
fördert wird. Es sollen Modernisierungen durchgeführt
werden und neue Wohnungen gebaut werden. Über
100 000 neue Wohnungen sind in der Planung und
3,5 Millionen Altbauwohnungen sollen renoviert werden.
Das ist das erste Programm.
Im Rahmen des zweiten Programms stehen 10 Milliar-
den DM für die Sanierung und Modernisierung denk-
malgeschützter Bauten und Hochhäuser zur Verfügung.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Reden Sie doch
mal über den Bau von Eigenheimen!)
Mit diesem wichtigen Programm wollen wir die Kon-
junktur in der Bauwirtschaft wieder ankurbeln.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum ha-
ben Sie sie dann erst kaputtgemacht?)
Dazu wollen wir den Einbau neuer Technologien speziell
im Wohnungsbau fördern. Unter anderem sollen Heizun-
gen saniert und Isolierungen vorgenommen werden. Das
entsprechende Programm hat ein Volumen von 10 Milli-
arden DM. Wir erfüllen Ihre Forderungen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU, schon seit Januar 2000.
Die CDU/CSU fordert weiterhin Impulse für die Bau-
wirtschaft vor allem im Hinblick auf den Leerstand. So
ähnlich ist es im Antrag formuliert. Ich will Ihnen sagen:
Wir haben die Unternehmer, die davon betroffen sind, be-
sonders gefördert. Seit einem Jahr werden die Unterneh-
men unterstützt, letztendlich um Arbeitsplätze abzusi-
chern. Wir haben die Probleme erkannt und sofort
gehandelt im Gegensatz zu Ihnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Weiter fordern Sie für Familien Wohnungen zu er-
schwinglichen Preisen. Kennen Sie eigentlich die zehnte
Wohngeldnovelle unserer Bundesregierung? Durch sie
erhalten Wohngeldempfänger in einer großen Familie
zukünftig 119 DM pro Monat mehr als bisher.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Und
wie viel nimmt die Ökosteuer weg?)
Das ist eine ganz wichtige Zulage. Das müssen Sie regis-
trieren. Sie können darauf gleich in Ihrer Rede eingehen.
Man muss auch berücksichtigen, dass es 50 Prozent
mehr Wohngeldempfänger als bisher gibt. Wir haben das
verbessert, was Sie 16 Jahre nicht verändert haben, meine
Damen, meine Herren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Stimmt nicht!)
In diesem Jahr haben wir 420 000 Wohngeldempfänger
mehr. Das sind natürlich wichtige Veränderungen. Da-
durch wollen wir die Baukonjunktur beleben und dadurch
haben wir sie belebt.
Wir fördern die Baukonjunktur durch unsere Gesetze.
Für unsere Koalition ist das Sozialpolitik. Für unsere Ko-
alition ist das Familienpolitik. Das ist ein wichtiger Fak-
tor der Familienpolitik. Natürlich war auch das Kinder-
geld eine wichtige Frage für uns. Wir haben es um 80 DM
erhöht. Hinzu kommt: Eine Familie mit zwei Kindern
das haben Sie angesprochen, Herr Meister bekommt
8 000 DM als Eigenheimzulage, wenn sie 220 000 DM
pro Jahr verdient.
In ihrem Antrag malt die CDU/CSU weiterhin das Ge-
spenst der erhöhten Erbschaftsteuer in bunten Farben
aus. Seit Monaten erstellen Sie dieses Kunstwerk, das un-
vollendet bleiben wird. Denn Sie, Herr Meister, müssten
eigentlich wissen, dass der Zug schon weitergefahren ist.
Die Grünen haben ganz klar erklärt: Die Erbschaftsteuer
wird nicht erhöht. Die SPD sagte das Gleiche.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]:
Die Parteitagsbeschlüsse sind andere!)
Die Bundesregierung sagte das Gleiche. Insofern waren
die Bundesregierung und die Koalition im Wort.
Aber Sie von der CDU/CSU verschwenden keine Zeit
auf Ihre eigenen Argumente. Das ist eigentlich traurig.
Denn man stellt fest, dass die von der Union regierten
Länder im Bundesrat der Verlängerung, die Sie in Ihrem
Antrag aufgeführt haben, zugestimmt haben. Das Be-
wertungsverfahren zur Erhebung der Erbschaftsteuer
wird um fünf Jahre verlängert. Auch wir unterstützen das
im Bundestag. Sie sollten sich einmal mit den Kollegen
von der CDU und CSU darüber unterhalten. Dann sind
Sie vielleicht etwas genauer über die Veränderungen in-
formiert.
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]:
Wir sprechen häufig miteinander!)
Meine Damen und Herren, zum Abschluss kommt der
ganz große Wurf der CDU/CSU innerhalb dieses Antra-
ges: Die Länder sollen eigene Grundsteuergesetze erlas-
sen. So steht es in Punkt 9 des Antrages. Die regionalen
Immobilienmärkte könnten dann viel besser gefördert
werden, heißt es; die Landesregierung könne das besser
übersehen als die Städte, als die Ratsherren und die Rats-
frauen in den Städten. So sagt es die CDU/CSU.
Eine der letzten Kommunalsteuern wollen Sie so
Punkt 9 Ihres Antrages abschaffen. Haben Sie mit Ihren
Ratsherren, mit Ihren Ratsfrauen eigentlich darüber ge-
sprochen, was sie dazu meinen?
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Können Sie nicht
lesen?)
Haben Sie mit den CDU- bzw. CSU-Ratsfrauen oder
CDU- bzw. CSU-Ratsherren darüber gesprochen, ob auch
sie der Meinung sind, dass der Landtagsabgeordnete die
Situation in der Stadt eigentlich viel besser beurteilen
könne als der Ratsherr vor Ort, der in einem kleinen Be-
reich seine Arbeit tut? Ist das der Fall, meine sehr verehr-
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Dieter Grasedieck
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ten Damen und Herren? Ich habe mit Ratsherren und
Ratsfrauen von der CDU gesprochen. Sie sind höchst er-
staunt über Ihren Antrag und verstehen ihn nicht so ganz.
Sie von der CDU/CSU bestätigen durch Ihren Antrag:
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Kennen
Sie den Unterschied zwischen Abschneiden und
Reform?)
Die CDU/CSU ist ein vielstimmiger Chor mit disharmo-
nischen Stimmen.
Ihr Antrag zeigt weiterhin: Wer alles will, will eigent-
lich nichts erreichen. Sie versuchen, eher den Applaus
statt den Erfolg zu erreichen. Das sieht man bei der Erb-
schaftsteuer ganz besonders deutlich. Unsere Koalition
hingegen stellt sich der Aufgabe, Jahr für Jahr eine konti-
nuierliche Verbesserung der Situation im Baugewerbe zu
erreichen.
So beurteilt auch der Zentralverband des Deutschen
Baugewerbes diese Situation. Er beurteilt sie zwar kri-
tisch keine Frage , aber mit positiven Tendenzen.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Katastrophal,
nicht kritisch!)
Der Zentralverband schreibt das sollten Sie sich einmal
anhören :
Die Zahl der Baugenehmigungen nimmt im 2. Quar-
tal 2001 etwas zu. Die Auftragseingänge verzeich-
nen in den alten Bundesländern wieder einen Zu-
wachs.
Es ist doch interessant, dass es hier eine positive Ten-
denz gibt.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Aber auf welchem
Niveau denn? Wenn Sie am Boden liegen, ist
das Kopfheben schon etwas Gutes!)
Das sagt die Industrie. Sie sollten sich einmal das
Schreiben des Zentralverbandes im Detail ansehen. Darin
ist auch die Statistik aufgeführt.
Hier zeichnen sich natürlich die ersten Ergebnisse un-
serer Wohnungsbaupolitik ab.
(Zuruf der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU])
Ich kann auf Ihre Zurufe nicht eingehen, Frau Wülfing.
Sie müssen schon eine Zwischenfrage stellen, denn sie ist
das Einzige, was klappt. Ihre einfachen Einwürfe kann ich
manchmal nur schlecht verstehen.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Nein, ich will Ihre
Ausführungen nicht noch verlängern!)
Ich will wiederholen: Hier zeichnen sich die ersten po-
sitiven Ergebnisse unserer Wohnungsbaupolitik ab. SPD
und Grüne fördern unsere Bauwirtschaft, um Arbeits-
plätze zu erhalten. Unsere Koalition handelt auch in Zu-
kunft.
Glück auf!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile
das Wort dem Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-
Fraktion.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter
Kollege Grasedieck, wir sehen das, was Sie hier vorgetra-
gen haben, ganz anders.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Das kann sein, da
bin ich nicht überrascht! Elke Wülfing [CDU/
CSU]: Wir sehen es so, wie es ist!)
Wir haben uns vorhin schon darüber gestritten, ob Sie
den Antrag wirklich gelesen haben. Es geht darin um bes-
sere steuerliche Rahmenbedingungen für den Wohnungs-
bau.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Erbschaftsteuer!)
Vielleicht können wir uns zunächst darauf verständigen,
dass Sie nach der Regierungsübernahme die steuerlichen
Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau verändert ha-
ben.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Verbessert haben!)
Nein, Sie haben sie eben nicht verbessert; denn Sie müs-
sen seit 1998 den Verlust von 240 000 Arbeitsplätzen in
diesem Bereich beklagen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU
Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist es!
Das ist Ihre Verbesserung!)
Sie müssen beklagen, dass weniger Wohnungen gebaut
werden. Sie müssen beklagen, dass in diesen Bereichen
weniger investiert wird. Das sind doch nicht unsere Er-
findungen, sondern das ist die Realität, die wir ständig er-
leben. Ich bin sehr darüber erstaunt, dass Sie das nicht als
dringendes Problem empfinden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Lassen Sie uns den meiner Meinung nach guten An-
trag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einmal inhaltlich
abklopfen.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Nur die Ökosteuer
ist vergessen worden! Sonst ist alles drin!)
Ich habe doch die Ökosteuer noch gar nicht erwähnt. Sie
haben sich gerade beklagt, dass wir nicht bei der Sache
geblieben sind. Gehen Sie doch mit gutem Beispiel voran
und bleiben Sie bei der Sache!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Fragen Sie sich: War die Beschränkung der Verlustver-
rechnung wohl klug? War die Verkürzung der Spekula-
tionsfrist, die gerade die mittelständische Bauwirtschaft
und das Handwerk negativ trifft, klug? War die Beseiti-
gung der Verteilungsmöglichkeiten bei größeren Erhal-
tungsaufwänden im Bestand Sie haben gerade darüber
geklagt, dass dafür so wenig getan wird wohl klug?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
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Dieter Grasedieck
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War es klug, die Einkommensgrenze so zu senken, dass
Singles, Geschiedene und Witwen wesentlich größere
Schwierigkeiten haben, Eigentum zu erlangen?
War die Streichung des Vorkostenabzugs bei Wohnei-
gentum im Bestand ich bin wieder beim Bestand , die
besonders die niedrig Verdienenden trifft, klug? Waren
die Dinge, die Sie im Mietrecht auf den Weg gebracht ha-
ben, klug? Führte die Diskussion über die Erbschaft- und
Schenkungsteuer nicht dazu, dass wir es heute im Bereich
der Bauwirtschaft im Grunde genommen mit sehr viel
Traurigkeit zu tun haben? Unterhalten Sie sich doch ein-
mal mit den Unternehmern und mit den Arbeitnehmern in
den Betrieben! Sie sind entsetzt darüber, was ihnen durch
die steuerliche Verschlechterung zugemutet worden ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Da kommt bei Ihnen meiner Meinung nach eine Grund-
ideologie zum Tragen: Alles, was mit Eigentum, mit Im-
mobilien und mit Maklern zu tun hat, das ist des Teufels.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Ach!)
All das gehört abkassiert, eingeschränkt, benachteiligt.
Anschließend kommen Sie dann mit Ihren Segenspro-
grammen. Das ist genau der falsche Weg.
(Dieter Grasedieck [SPD]: Das ist keine neue
Perspektive, die Sie aufzeigen! Das ist Ihr altes
Schema!)
Das ist Ihr altes Schema, richtig! Der Private kann es
nicht, der Staat muss es machen. Deswegen kommen Sie
mit einem Programm nach dem anderen, die Sie aber im
Grunde genommen überhaupt nicht finanzieren können.
Denn die Wirksamkeit dieser Programme, Herr Kollege,
kann nur zum Tragen kommen, wenn Sie Mitfinanziers
haben. Wenn Sie sagen, dass Sie in einer Zeitspanne von
endlosen Jahren 4 Milliarden DM oder einen anderen Be-
trag gestern war im Ausschuss sogar von 12 Mil-
liarden DM die Rede
(Dieter Grasedieck [SPD]: Gut, dass Sie das
wiederholen! Sie müssen das Wohngeld noch
mit hineinbringen!)
in den Umbau Ost investieren wollen was wir begrüßen
würden , dann brauchen Sie dafür Mitfinanziers, Private,
die bereit sind, in Immobilien, in Wohnraum zu investie-
ren. Dann brauchen Sie dafür Länder und Kommunen, die
die Möglichkeit der Mitfinanzierung haben. Dann macht
es einfach keinen Sinn, vorher durch jede Menge Ände-
rungen in den steuerlichen Bereichen abzukassieren und
sich hinterher als Heilsbringer hinzustellen, die die richti-
gen Programme haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Nein, weniger Staat, mehr Eigenverantwortung, mehr
Bereitschaft zu Investitionen von Privatpersonen in Im-
mobilien das ist die richtige Antwort und diese Antwort
bleiben Sie in dieser hochdramatischen Situation zum tie-
fen Bedauern schuldig. Ich weiß, wovon ich rede. Ich
komme aus einer Region, in der sehr viele Menschen von
der Bauwirtschaft leben. Ich komme aus einer Region, in
der es Gemeinden gibt, die im Winter aufgrund der
Schlechtwettergeldregelungen über 70 Prozent Arbeits-
lose haben. Ich bin entsetzt und empört darüber, dass die
rot-grüne Politik diese Leute im Regen stehen lässt. Das
haben sie nicht verdient.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU
Dieter Grasedieck [SPD]: Haben Sie nicht
gehört, welche Förderung wir aufgebaut haben?)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kol-
legin Franziska Eichstädt-Bohlig.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
den Antrag sehr genau gelesen, aber ich bin zunehmend
verwirrt; denn ich habe das Gefühl, dass der rechte Teil
des Hauses die Grundregeln der Marktwirtschaft und das
Verhältnis von Angebot und Nachfrage noch nicht begrif-
fen hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Lachen bei der CDU/CSU
und der FDP Hans-Michael Goldmann [FDP]:
Wir haben auf Sie gewartet!)
In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass der Mietwoh-
nungsbau deswegen zurückgehe, weil die Koalition in
dieser Legislaturperiode steuerrechtliche Änderungen
vorgenommen habe.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ja, so ist das!)
Der Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit stellt ganz
schlicht fest, dass die Nachfrage nach Mietwohnungsbau
angesichts der Marktsättigung in Ostdeutschland so-
wieso, aber auch in vielen Teilen von Westdeutschland
deutlich zurückgeht, also nicht aufgrund steuerlicher
Maßnahmen, sondern ganz schlicht, weil wir ein Riesen-
angebot an Mietwohnungen haben.
Wir haben Wohnungsprobleme das haben wir hier
schon x-mal gesagt in München, in den Regionen Stutt-
gart und Frankfurt. Schon in Düsseldorf, also auch in Bal-
lungsräumen der zweiten Kategorie, haben wir einen aus-
geglichenen Wohnungsmarkt.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das erzählen
Sie mal in Hamburg, München, Düsseldorf,
Wiesbaden und Heidelberg!)
Wir haben in Ostdeutschland inzwischen einen Woh-
nungsleerstand von fast 15 Prozent. Da frage ich Sie, was
Sie mit Ihrer Forderung nach steuerlichen Instrumenten,
damit dort mehr Wohnungen gebaut werden, überhaupt
wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Sie sind doch für Stadtumbau!)
Das gilt auch in Nordrhein-Westfalen und besonders dort,
wo Sie wohnen, Herr Kollege Goldmann. Ich möchte wis-
sen, wie viel Mietwohnungen Sie neu bauen wollen, für
die wir hinterher wieder Programme entwickeln müssen,
damit andere Wohnungen abgerissen werden können.
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Nun hören Sie doch endlich auf mit dieser absurden Poli-
tik!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Sie sind doch die größte Verfechterin
von Stadtumbau! Wie wollen Sie das machen?)
Die Vermischung von wohnungspolitischen, steuer-
rechtlichen und bauwirtschaftspolitischen Instrumenten
hat im Osten dazu geführt, dass wir einen riesigen Leer-
stand und neue Probleme haben, die man früher nie ge-
kannt hat. Jetzt fordern Sie ständig, dass wir das Modell,
absurde, wirtschaftlich nicht nötige Maßnahmen künst-
lich zu fördern, auf Westdeutschland übertragen und wei-
ter fördern.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Überhaupt
nicht!)
Das kann doch wirklich nicht das Ziel sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich nenne einen zweiten Punkt, um zu zeigen, wie ab-
surd Ihr Antrag ist. In diesem Antrag wird behauptet, die
Wohngeldreform habe dazu geführt, dass der Immobili-
enerwerb und der Immobilienbesitz erschwert würden.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo steht das
denn?)
Ich muss Ihnen sagen: Die Eigentümer haben uns auf
Knien gebeten, endlich eine Wohngeldreform zu machen.
Damit Sie etwas davon lernen, was Immobilienerwerb er-
schwert oder erleichtert, sollten Sie einen Schulungskurs
belegen.
Wenn Sie mir fachliche Inkompetenz vorwerfen, Herr
Kollege Meister, dann sage ich Ihnen deutlich: Dieser An-
trag ist unter Ihrem Niveau. Wir kennen aus dem Aus-
schuss sehr viel qualifiziertere Beiträge von Ihnen als das,
was Sie in diesem Antrag schreiben.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der trifft Sie
ins Mark. Das ist Ihr Problem!)
Ich nenne einen dritten Punkt. In Ihrem Antrag haben
Sie geschrieben: Durch die Verringerung von Wohn-
raum drohen Mietsteigerungen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
Zunächst einmal drohen keine Mietsteigerungen durch
Verringerung von Wohnraum. In Westdeutschland verrin-
gert überhaupt niemand Wohnraum, und in Ostdeutsch-
land sind wir dabei, Wohnraum zu verringern, um die
Mieten überhaupt zu stabilisieren. Auch insofern habe ich
das Gefühl, dass Sie die Regeln der Wohnungswirtschaft
und von Angebot und Nachfrage überhaupt nicht be-
greifen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Nächster Punkt: Eigenheimzulage. Allmählich ärgert
mich das. Ein Ehepaar mit 160 000 DM zu versteuerndem
Jahreseinkommen, ein Ehepaar mit einem Kind und
190 000 DM zu versteuerndem Jahreseinkommen, ein
Ehepaar mit zwei Kindern und 220 000 DM zu versteu-
erndem Jahreseinkommen bekommt Eigenheimzulage.
Wenn Leute, die ein Einkommen haben wie wir alle hier,
steuerliche Zulagen für den Erwerb von Eigentum be-
kommen, dann ist das in meinen Augen eher eine Über-
förderung als eine Unterförderung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Die zahlen auch viel Steuern!)
Angesichts der Probleme in den öffentlichen Haushal-
ten sollten Sie nicht ständig fordern, den Leuten mehr
Geld hinterher zu schmeißen, die es nicht brauchen. Sie
sollten endlich die Politik unterstützen, die darin besteht,
dass wir unsere öffentlichen Mittel und die Steuergelder,
die unsere Bevölkerung erwirtschaftet, auf die konzen-
trieren, die das Geld wirklich brauchen. Das sollten Sie
endlich als Prinzip anerkennen, zumal Sie dauernd Steu-
ersenkungen fordern. Es ist doch wohl absurd, was Sie
hier mit uns machen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD Hans-Michael Goldmann
[FDP]: Sie sind also für ein einkommensabhän-
giges Kindergeld. Hochinteressant!)
Letzter Punkt! Wir haben Probleme in der Bauwirt-
schaft. Aber wir sollten nicht ständig stärker schwarz ma-
len, als in der Bauwirtschaft wirklich Probleme bestehen.
Die Zahl der Baugenehmigungen steigt nämlich bei-
spielsweise genau im Raum München, wo auch der Be-
darf an Wohnungen und an Investitionen größer ist. In an-
deren Regionen ist das nicht das Problem. Insofern sollten
wir bitte die bauwirtschaftlichen Probleme da lösen, wo
wir sie lösen müssen. Das heißt, im Osten kommen wir
nicht darum herum, die Bauwirtschaft, die Sie künstlich
aufgebläht haben, an einen Level anzupassen, auf dem sie
lebensfähig ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das ist ein schwieriger Prozess. Sie sollten das aber
nicht denen vorwerfen, die das vollziehen müssen. Sie
sollten sich selber an die Brust klopfen; denn Sie haben
jahrelang eine falsche Politik betrieben.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und Sie wa-
ren dagegen, oder wie? Jochen-Konrad
Fromme [CDU/CSU]: Das werfen wir nicht der
Bauwirtschaft vor, sondern der Politik!)
Ich war dagegen, genau! Ich habe seit 1995 gesagt, dass
das eine falsche Politik ist und dass wir nur einen Vermö-
genstransfer West machen. Das kann ich Ihnen beweisen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollten
in der alten Platte und in den kaputten Innen-
städten weiterleben, ganz genau!)
Nein, ich wollte die Förderung denen geben, die sie
brauchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig
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Wir machen hier besser Schluss, weil die Opposition
einfach nicht begreifen will, was fachliche Kompetenz ist,
und arbeiten ruhig weiter.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Unver-
schämtheit!)
Dann werden wir erfolgreiche Wohnungspolitik, Steuer-
politik und Bauwirtschaftsförderung machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Die Kolle-
gin Heidemarie Ehlert spricht für die Fraktion der PDS.
Heidemarie Ehlert (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich kann ja noch einsehen, dass das
Steuerentlastungsgesetz vielleicht nicht der große Renner
war. Aber das hat sich doch schon vor zwei Jahren in der
Diskussion gezeigt. Jetzt liegen ja bereits Änderungsan-
träge dazu vor.
Die Praxis hat doch gezeigt, dass sich insbesondere auf
dem Wohnungsmarkt die Zustände zugespitzt haben
aber nicht, weil Wohnungen fehlen, sondern weil allein in
Ostdeutschland mehr als 1,2 Millionen Wohnungen leer
stehen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da haben
Sie Recht!)
In den alten Bundesländern deuten sich ähnliche Ent-
wicklungen an, bedingt durch einen stetigen Bevölke-
rungsrückgang.
Abgesehen davon: Glauben Sie wirklich im Ernst, dass
eine Familie mit 320 000 DM Jahreseinkommen ein Ei-
genheim nicht baut, weil es auf 5 000 DM Eigenheimzu-
lage im Jahr verzichten muss?
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Da kann ich mich nur totlachen. Nein, es liegt daran, dass
der Nachholbedarf zum Teil gedeckt ist. Natürlich liegt es
auch daran, dass es in den neuen Bundesländern viel mehr
Familien gibt, die weniger als 70 000 DM im Jahr verdie-
nen, was nicht ausreicht, um Wohneigentum zu erwerben
oder auf Dauer finanzieren zu können.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da haben Sie
Recht! Deswegen brauchen Sie Investoren!
Diese brauchen steuerliche Rahmenbedingun-
gen!)
Kommen wir zur Verlustverrechnung. Dank der
Sonderabschreibung AfA-Ost wurde in den neuen Bun-
desländern ohne Rücksicht auf Bedarf gekauft und ge-
baut: Wohnungen, aber in erster Linie Büros. Dank der
Verlustverrechnung störte es nur bedingt, dass die Mieter
sowohl für die Wohnungen als auch für die Büros weg-
blieben. Leerstand wurde schließlich über die steuerliche
Abschreibung aufgefangen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
möchten nun nichts weiter als eine Neuauflage dieser be-
triebenen Politik. Hier muss es erlaubt sein, auch auf die
Kehrseiten dieser steuerlichen Förderpolitik hinzuweisen.
Hier auf den Zuschauerrängen sitzen Betroffene, die auf
ausgeklügelte, so genannte Steuersparmodelle mit Na-
men wie Erwerbermodell, Bauherrenmodell oder Treu-
handmodell von Banken und Versicherungen hereinge-
fallen sind und sich an die Öffentlichkeit gewandt haben.
Als mit den Besserverdienenden keine Geschäfte mehr
zu machen waren, wurden nun auch den kleinen Leuten die
Abschreibungsimmobilien angeboten meist Sanierungs-
objekte oder Billigwohnungen aus Konkursmassen , je-
doch zum doppelten oder dreifachen Verkehrswert. Die
Opfer hatten kaum eigenes Kapital und wurden mit der
Werbung, die Immobilie finanziere sich durch Abschrei-
bung, Verlustverrechnung und Steuervorteile wie von
selbst, in die Steuerfalle gelockt. Der Traum von der Al-
tersversorgung ist für viele zum Albtraum geworden.
Ein Beispiel aus Plauen: Eine sanierungsbedürftige
Wohnung mit 49 Quadratmetern wurde einem Betroffe-
nen für 165 000 DM angeboten. Die Wohnung steht heute
noch leer, aber der Mann muss die angefallenen Zinsen
und Zinseszinsen an die Bank selbstverständlich zurück-
zahlen, ohne dass er jemals Mieteinnahmen erzielt hat.
Zusätzlich fordert jetzt noch das Finanzamt die in vier
Jahren gewährten Steuervorteile zurück so steht es im
Gesetz , weil ein Anlageobjekt, das über Jahre keinen
Gewinn abwirft, eine reine Liebhaberei ist. Das kann ja
wohl nicht wahr sein: Es gab keine Mieter, es wird be-
hauptet, es sei ein Liebhaberobjekt, und die Leute bleiben
auf ihren Verlusten sitzen. Bei diesen Leuten handelt es
sich nicht um eine von Ihnen zu schützende Klientel.
Dieser Mann ist leider kein Einzelfall. Die Verbrau-
cherzentralen rechnen schon heute mit circa 300 000 Be-
troffenen, die auf den Schulden aus diesen schönen Be-
treibermodellen sitzen bleiben. Auch das gehört zu den
Hinterlassenschaften Ihrer Politik.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Frau Kolle-
gin, Sie haben Ihre Redezeit schon lange überschritten.
Heidemarie Ehlert (PDS): Ich komme zum Schluss.
Wenn man schon reformieren will, dann sollte man
nicht die Besserverdienenden fördern, sondern einkom-
mensabhängig gerade jenen, die weniger Einkommen ha-
ben, stärker unter die Arme greifen. Dazu werden wir
selbstverständlich demnächst Anträge vorlegen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe
die Aussprache.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118788
(C)
(D)
(A)
(B)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6637 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Klaus Haupt, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Für eine VN-Resolution zur Ächtung der Ge-
walt gegen Kinder auf dem Weltkindergipfel in
New York
Drucksache 14/6324
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Kinkel, Günther Friedrich Nolting, Dr. Helmut
Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Ächtung aller Landminen ohne Wirkzeitbe-
grenzung
Drucksache 14/6328
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ina Albowitz, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Für einen substanziellen deutschen Beitrag
zum Aidssonderfonds der Vereinten Nationen
Drucksache 14/6623
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung (f)
Auswärtiger Ausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Für eine Antiterrorismuskonvention der Ver-
einten Nationen
Drucksache 14/6952
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch.
Dann eröffne ich mit Zustimmung des Hauses die Aus-
sprache. Ich gebe das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger für die Fraktion der FDP.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Tagesordnungspunkt, dem vier Anträge der FDP
zugrunde liegen, befasst sich vorwiegend mit der wichti-
gen Rolle der Vereinten Nationen, mit vier Themen, die
bereits vor dem 11. September dieses Jahres sehr aktuell
gewesen sind und heute zum Teil eine noch stärkere Ak-
tualität bekommen haben. Es geht um Gewalt gegen Kin-
der, um die Aidskatastrophe, um Landminen und deren
verheerende Auswirkungen sowie um Terrorbekämpfung.
Allen Anträgen ist gemeinsam, dass es immer um Mil-
lionen unschuldiger Opfer geht; denn weder Kinder noch
die durch Landminen Verletzten in Gegenden, in denen
keine Infrastruktur mehr vorhanden ist, sei es auf dem
Balkan, in Afghanistan, Korea oder Vietnam sind Ter-
roristen. Wo immer Sie in den genannten Ländern hinse-
hen, erblicken Sie die Überreste verheerender Ausei-
nandersetzungen. Die FDP möchte mit ihren Anträgen die
Bundesregierung auffordern, sich bei der Linderung der
Folgen weltweiter Katastrophen sehr viel energischer als
bisher zu engagieren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der PDS)
Die Terroranschläge gegen die USA haben auf er-
schreckende Weise deutlich gemacht, dass es zu einer
engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit demo-
kratischer Staaten bei der Verteidigung ihrer offenen Ge-
sellschaftsordnung keine Alternative gibt. Die einzige
weltumspannende und handlungsfähige Organisation
sind die Vereinten Nationen. Deshalb bieten sie den rich-
tigen Rahmen für einen nachhaltigen globalen Kampf
gegen Terror und gegen die Auswirkungen von Benach-
teiligungen von Kindern und für die Zukunft der Gesell-
schaften unserer Welt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der PDS)
Leider musste der Weltkindergipfel der Vereinten Na-
tionen aufgrund der Ereignisse vom 11. September ver-
schoben werden. Ich habe es bedauert, dass sich die Ko-
alitionsfraktionen nicht unserem Antrag angeschlossen
haben. Sie haben jetzt einen eigenen Antrag nachgescho-
ben, der im Wesentlichen auf unserem basiert. Ich denke,
man sollte hier das Kleinklein weglassen. Wenn wir im
Ergebnis dahin kommen, die formulierten Anliegen ge-
meinsam zu unterstützen, wäre das ein hervorragender Er-
folg.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Kinderkonvention der Vereinten Nationen ist vor
über zehn Jahren in Kraft getreten. Dennoch werden Kin-
der und Minderjährige immer häufiger Opfer gezielter
staatlicher Gewalt. Entführung, Vergewaltigung, Zwangs-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
18789
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(D)
(A)
(B)
arbeit und Nahrungsentzug sind nur einige Erscheinungs-
formen, die in vielen Ländern dieser Welt die Gewalt ge-
gen Kinder dokumentieren.
Trotz 82 Resolutionen auch durch die UN-
Menschenrechtskommission ist es nicht gelungen, dem
gravierenden Menschenrechtsproblem der Misshand-
lung von Kindern gerecht zu werden. Deshalb müssen
alle Kräfte darauf konzentriert werden, diesem wichtigen
Anliegen auf dem hoffentlich bald stattfindenden Welt-
kindergipfel zum Erfolg zu verhelfen. Wir fordern die
Bundesregierung daher auf, mit den Partnern der Europä-
ischen Union einen gemeinsamen Resolutionsentwurf zur
Ächtung der Folter von Kindern, des Kinderhandels und
der Zwangsrekrutierung Minderjähriger zum Militär-
dienst vorzulegen, der durch den so genannten Weltkin-
dergipfel verabschiedet werden sollte.
(Beifall bei der FDP)
Lassen Sie uns bei dieser wichtigen humanitären Frage in-
nenpolitische Eifersüchteleien vergessen und, gestützt auf
unsere Initiative, einen gemeinsamen Antrag erarbeiten!
In Anbetracht meiner kurzen Redezeit möchte ich
wenigstens ein paar Worte zu einem wichtigen der vier ge-
nannten Anträge sagen, nämlich dem zum Aidssonder-
fonds. Aids hat sich inzwischen zu einer medizinischen,
humanitären und wirtschaftlichen Katastrophe ausgewei-
tet.
(Karl Lamers [CDU/CSU]: Und politischen!)
Die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen hat
sich aufgrund der Aidsepidemie dramatisch erhöht. Der
überwiegende Teil der wirtschaftlich aktiven Bevölke-
rung stirbt. Die durchschnittliche Lebenserwartung in
Ländern wie Botswana und Simbabwe wird in den nächs-
ten Jahren auf unter 30 Jahre sinken. Deshalb ist es zwar
zu begrüßen, dass die Bundesregierung grundsätzlich ihre
Unterstützung für die Initiative des UN-Generalsekreta-
riats zur Einrichtung eines internationalen Fonds für den
Kampf gegen Aids erklärt hat. Aber seit 1998 sind die
Haushaltsansätze für die Entwicklungshilfe rückläufig.
Alles das, was bisher zu diesem Punkt zu hören war, lässt
befürchten, dass der Ansatz für den Aids-Sonderfonds im
nächsten Jahr nicht erhöht werden wird. Die Erhöhung ist
eigentlich dringend notwendig.
Deshalb appellieren wir in unserem Antrag an Sie, ei-
nen Teil der zu erwartenden Steuermehreinnahmen in
Höhe von 3 Milliarden DM möglicherweise ist es auch
sehr viel mehr den über 23 Millionen Menschen in der
Welt zugute kommen zu lassen, die an Aids infiziert sind.
(Beifall des Abg. Manfred Grund
[CDU/CSU])
Leider ist meine Redezeit zu Ende, sodass ich zu den
anderen Anträgen nichts mehr sagen kann.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Kollegin Karin Kortmann für die SPD-Fraktion.
Karin Kortmann (SPD): Sehr geehrte Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Generalsekretär
der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat anlässlich des
Jahrtausendwechsels das anbrechende neue Jahrhundert
als ein Jahrhundert der Prävention bezeichnet. Wie wün-
schenswert und unterstützenswert dieses Anliegen auch
sein mag: Die politische Realität sieht angesichts der zu-
nehmenden Zahl von Krisenherden in der Welt leider
noch immer ganz anders aus.
Wir wissen doch selbst, wie schwierig es sich in unse-
rem Alltagsgeschäft erweist, die zukünftige Lebenswirk-
lichkeit in Vorbeugemaßnahmen einzufangen. Präven-
tion ist in der Regel auf Ziele ausgerichtet, die noch nicht
genau zu erkennen sind. Deshalb wird auf allen Ebenen
der Politik sei es national, europäisch oder internatio-
nal immer wieder die gleiche Frage gestellt, wenn es um
präventive Mittel geht: Können Sie uns garantieren, dass
Ihrem präventiven Modell tatsächlich auch Erfolg be-
schieden ist? Nur wenn dieses Ziel bejaht wird, werden
knappe Ressourcen Sie haben darauf hingewiesen, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger zur Verfügung gestellt.
Den komplexen Problemlagen dieser Welt, einerseits der
Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte für die
Reichen und andererseits der Globalisierung der Solida-
rität mit den Armen sowie den damit einhergehenden so-
zialen Konflikten und ökologischen Krisen, können wir
auf Dauer nur präventiv entgegenwirken.
Der Vorsitzende des Heidelberger Instituts für interna-
tionale Konfliktforschung, Christoph Rohloff, weist in
seiner jüngsten Bilanzierung zu den Weltkonferenzen in
den 90er-Jahren mit Recht darauf hin, dass solche Konfe-
renzen ungeachtet der Aktualität und der Dringlichkeit ih-
rer Inhalte und Forderungen auf dem Niveau unverbind-
licher Absichtserklärungen bleiben, wenn nicht auch in
friedens- und sicherheitspolitischen Bereichen eine Ver-
gemeinschaftung von staatlichen Interessenlagen im
Sinne einer normativen Integration der Staatenwelt er-
reicht wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Dazu gehört auch eine berechenbare Grundlage von Mi-
nimalstandards sowie Entscheidungsstrukturen und Ent-
scheidungsprozessen. Der 11. September darauf hat
schon der Bundeskanzler in seiner Rede, die er heute Mor-
gen gehalten hat, hingewiesen wird uns in seinem grau-
samen Ausmaß immer in Erinnerung bleiben, die uns
mahnt, dass sich globale Ordnungsstrukturen und inner-
staatliche Demokratisierung in ihren Erfolgschancen ge-
genseitig bedingen.
Übrigens, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, es wäre
gut gewesen, wenn Sie Ihre Anträge früher vorgelegt hät-
ten. Dann hätten wir auch im Sinne der FDP im Vorfeld
der Einigungsprozesse Einfluss nehmen können.
Wir reden heute über die Ächtung der Gewalt gegen
Kinder. Wir alle sind uns, glaube ich, doch in diesem Par-
lament einig, dass der Schutz, die Förderung und die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
18790
(C)
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(B)
Entwicklung von Kindern zu den wichtigsten Prioritäten
jeder Politik gehören müssen. Setzt man hier Verbesse-
rungen durch, dann lässt sich der von einer Generation zur
nächsten Generation weitergegebene Teufelskreis aus
Armut und Ausbeutung durchbrechen.
Diese Sichtweise kommt auch in den Prinzipien der
UN-Konvention über die Rechte des Kindes von 1989
zum Ausdruck; der Sondergipfel sollte ja sozusagen auch
der UN-Kindergipfel plus elf sein. Sie hat das weltweite
Engagement für Kinder ein wichtiges Stück vorange-
bracht. Mittlerweile ist die Kinderrechtskonvention mit
Ausnahme von den USA und Somalia von allen Staaten
ratifiziert worden. Ich darf aber auch auf das große Enga-
gement der UN-Konferenzen verweisen, die danach statt-
gefunden haben und die die Kinder und ihre Entwick-
lungschancen immer mehr ins Zentrum internationaler
Politik rückten.
Es ist richtig zu sagen: Wir brauchen diese Einigungen
auf UN-Ebene. Ich erinnere an die Menschenrechtskonfe-
renz 1993. Sie betonte die Notwendigkeit, Kinder in
schwierigen Lebensumständen besser zu schützen, und
richtete unter anderem eine eigene Abteilung für Kin-
derrechte ein. Ein Jahr später, 1994, fand die Weltbevöl-
kerungskonferenz statt. Sie stärkte die Selbstbestim-
mungsrechte von Frauen im Bereich der Familienplanung.
Der Weltgipfel für soziale Entwicklung von 1995 be-
stätigte die Rechte der Kinder, insbesondere ihre Rechte
auf Gesundheit, auf Bildung, auf Hygiene und auf
Ernährung. Mit dem Weltkongress gegen kommerzielle
sexuelle Ausbeutung 1996 konnte erreicht werden, dass
sich 120 Regierungen verpflichteten, die sexuelle Aus-
beutung von Kindern zu stoppen. Die Teilnehmer der
Weltbildungskonferenz 2000 beschlossen neue konkrete
Schritte für die Verwirklichung des Ziels Bildung für
alle.
Ich darf auch noch auf die verschiedenen ILO-
Konventionen, Zusatzprotokolle, Beschlüsse und Ent-
schließungsanträge im Deutschen Bundestag oder im
Europäischen Parlament verweisen. Angesichts dessen
können wir eigentlich mit Recht sagen, dass es kaum noch
Lücken in den vielfältigen Beschlusslagen gibt, die zur
Ächtung der Gewalt gegen Kinder beitragen sollen.
Deshalb es wird Sie nicht überraschen lehnen wir
den FDP-Antrag betreffend Gewalt gegen Kinder ab. Er
enthält unserer Einschätzung nach eine Vielzahl von For-
derungen, die erstens bereits Beschlusslagen des Deut-
schen Bundestages sind
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Wie die, den Vorbehalt zur Kinderkonvention
aufzugeben!)
darauf komme ich noch zu sprechen , zweitens bereits
Durchführungs- und Anwendungspraxis der angespro-
chenen Ministerien, insbesondere des BMZ, sind, und
drittens Punkte betreffen wie die Konditionierung der
Entwicklungshilfe, die dem entwicklungspolitischen An-
satz der Mehrheit dieses Parlaments widersprechen.
Ähnlich verhält es sich bei der Ächtung der Land-
minen. Die SPD hat sich über viele Jahre hinweg für eine
Ächtung der Antipersonenminen eingesetzt und mit
dazu beigetragen, dass sich die Bundesrepublik Deutsch-
land aktiv an dem Ottawa-Prozess beteiligt hat. Das
Ottawa-Übereinkommen kann sehr wohl als ein erster
Erfolg verstanden werden,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
aber als ein Erfolg ich will das Klatschen nicht mindern ,
der nach wie vor auch gravierende Mängel aufweist. Die
größte Schwäche besteht darin, dass die wichtigsten Mi-
nenproduzenten und Minenexporteure ich kann sie noch
einmal nennen: es sind Russland, China, Indien, Pakistan
und auch die USA diesem Übereinkommen bisher nicht
beigetreten sind. Darum gilt es, alle Anstrengungen da-
rauf zu richten, dass sie diesem Übereinkommen beitreten
können.
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Ja, eine Antiterrorallianz!)
Auch hat das Abkommen in den realen Krisenregionen
dieser Welt noch keine nachhaltige Wirkung erzielen
können. Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass auch
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, im ehemaligen
Jugoslawien, nach wie vor Antipersonenminen verlegt
werden und damit auch viele Kinder Opfer dieser Waffen
werden.
Es wäre deshalb gut, wenn wir Ihre Anträge ebenso wie
die Beschlüsse, die wir bereits gefasst haben, zugrunde
legen und uns dafür einsetzen, dass diese Beschlüsse um-
gesetzt werden; denn die derzeitigen Herausforderungen
bei der Wahrung der Kinderrechte und auch der
Menschenrechte in der internationalen Zusammenarbeit
liegen vor allem in der Umsetzung der bereits verschrift-
lichten Rechte und im Einklagen der bereits verbrieften
Garantien. Dazu gehört auch die Anerkennung der UN-
Kinderrechtskonvention. Wir sollten darauf hinwirken
so ähnlich, wie wir es in dieser Woche auch im Men-
schenrechtsausschuss debattiert haben , dass wir endlich
zu einer Anerkennung kommen können. Dazu möchte ich
Sie ermutigen.
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Wir haben alles getan! Der Bundestag hat alles
getan!)
Der Bundestag hat alles getan. Er hat in der Tat die Be-
schlüsse dazu gefasst. Insofern: Unterstützen Sie noch
einmal diese Beschlusslagen!
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Das ist ja uninteressant!)
Wir setzen uns dann gemeinsam dafür ein, dass sie auch
umgesetzt werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Clemens Schwalbe für die CDU/
CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Karin Kortmann
18791
(C)
(D)
(A)
(B)
Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
21. Jahrhundert hat am 11. September ein neues Kapitel
der Weltgeschichte und der internationalen Zusammen-
arbeit aufgeschlagen. Waren die Konflikte des letzten
Jahrhunderts noch darauf ausgerichtet, dass sich Staaten
untereinander bekriegten, so veränderten sich die kriege-
rischen Auseinandersetzungen in den 60er- und 70er-Jah-
ren zu so genannten innerstaatlichen Befreiungskriegen
durch Guerillabewegungen.
Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch eine Verschie-
bung des neuen Konfliktpotenzials hin zum primär reli-
giös motivierten Terrorismus ab. Die neue Dimension
des Terrorismus hat die letzte noch verbleibende Welt-
macht, die USA, und damit symbolhaft die ganze freie
Welt an diesem Tag bis ins Mark erschüttert. Der Kalte
Krieg galt für die meisten Menschen seit dem Fall der
Mauer als überwunden und man wähnte sich seither in ei-
ner grenzenlosen Sicherheit.
Der Schock von New York dürfte wohl alle dahin ge-
hend wachgerüttelt haben, dass unsere Freiheit auch wei-
terhin bedroht ist. Der Schock ist bei den meisten umso
größer, da die Feinde der Freiheit nicht klar fixierbar
sind, sondern mitten unter uns leben, sei es in Berlin, in
Hamburg, in Bochum, in Paris oder sonst wo. Feind kann
der nette Nachbar sein, der uns jahrelang freundlich ge-
grüßt hat. Es ist diese Unwägbarkeit, die uns so ohn-
mächtig macht und viele Menschen bei uns verängstigt.
Dieser barbarische Akt der Zerstörung, des Tötens und
des Terrors einer kleinen, international zusammengesetz-
ten Gruppe hat für unsere freiheitliche Gesellschaft auf al-
len Ebenen folgenreiche Konsequenzen nach sich gezo-
gen: Zum einen demonstriert er die neue Dimension der
Täterstrukturen. Gut ausgebildete, finanziell abgesi-
cherte und in ihr Umfeld scheinbar integrierte Personen
mit legalen Papieren, die geregelten Tätigkeiten nachge-
hen, fanden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zusam-
men, um diese Schreckenstat auszuführen. Keine Vorwar-
nung, keine Eingrenzung der Opfer und die Bereitschaft,
das eigene Leben für diese einmalige grausame Tat zu op-
fern, kennzeichnen diesen neuen Tätertyp. Bislang allge-
mein gültige Werte und Moralvorstellungen zählen für
diese Täter nicht. Dass bei diesem Kampf zwischen Gut
und Böse, wie George Bush die neue Konfrontation
nennt, wenige Täter mit relativ geringen Mitteln und ohne
große Logistik die freie Welt bis ins Mark erschüttern
konnten, das ist das Unglaubliche und Provozierende.
Die Täter wollen das System, die Wirtschaft und die
freie Welt treffen. Zu den Tausenden unschuldigen Toten
kommt die Tatsache, dass viele Menschen ihren Job und
damit ihre Existenz verlieren. Ganze Wirtschaftszweige
brechen weg, während sich die Täter selbst die freien Ka-
pitalmärkte, die sie das geben sie vor bekämpfen wol-
len, sogar noch zunutze machen und durch Spekulations-
geschäfte mit der Angst Millionen verdienen.
Auf der anderen Seite stehen Tausende Opfer, ebenfalls
Menschen wie Sie und ich, Männer und Frauen aller Na-
tionalitäten und Religionen, die zufällig am gleichen Tag
am gleichen Ort zusammenkamen und aufgrund dieser
Zufälligkeit grausam sterben mussten. Sie waren keine
Politiker oder Soldaten, an denen man sich rächen wollte,
sondern einfache Menschen. Damit demonstrierten die
Täter jedem Bürger der freien Welt, dass er in der gleichen
schicksalhaften Zufälligkeit des Lebens das nächste Op-
fer sein kann. Das ist die Angst, die die Menschen berührt.
Dieser neuen Bedrohungslage müssen wir, muss die
freie Welt begegnen. Der Generalsekretär der Vereinten
Nationen, Kofi Annan, hat schon in seinem Plädoyer zum
Milleniumsgipfel 1999 Wir, die Völker die Rolle der
Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert darauf aufmerk-
sam gemacht, dass uns der internationale Terrorismus zu-
nehmend bedrohen und seine Schatten auf labile Herr-
schaftsstrukturen werfen wird. Er fügte hinzu, dass unsere
vielfältigen Institutionen auf diese neuen Gegebenheiten
nicht vorbereitet sind. Nun befinden wir uns mitten in ei-
ner solchen Situation und müssen rasch handeln.
Zunächst gilt es, die Sicherheitskonzepte hierzulande
zu überdenken. Unsere Sicherheitskräfte sind in höchster
Alarmbereitschaft und jeder merkt dies, sei es vor dem
Reichstag oder an vielen vermeintlich gefährdeten Orten
in unserem Land. Ich möchte daher auch an dieser Stelle
allen Polizisten, Grenzschützern, Soldaten und allen Si-
cherheitskräften, die rund um die Uhr für unsere Sicher-
heit sorgen, unseren Dank aussprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Allerdings: Den perfekten Schutz wird es niemals ge-
ben, denn politischer Terrorismus ist nach der Definition
des Politikwissenschaftlers Manfred Funke eine plan-
mäßige Androhung oder Anwendung von plötzlicher Ge-
walt, die sich im Bewusstsein der Allgemeinheit wach und
gegenwärtig hält, ohne die Schätzung des Wie und Wann
seiner Wiederholbarkeit zu gestatten. Diese Möglichkeit,
nahezu an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt zuschlagen
zu können, schränkt die Möglichkeit der Prävention mas-
siv ein.
Neben den nationalen Fragen und den Aufgaben zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus hier bei uns
in Deutschland, die bei der Regierungserklärung und bei
der Beratung des Antiterrorprogramms bereits heute
Thema in diesem Haus waren, bedarf es aber auch und vor
allem einer internationalen Allianz gegen den Terroris-
mus. Deshalb ist der Antrag der FDP-Fraktion Für eine
Antiterrorismuskonvention der Vereinten Nationen, den
wir heute hier mitberaten, vorbehaltlos zu begrüßen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dies stellt nämlich einerseits die konsequente Antwort auf
die Millenniumserklärung von Kofi Annan, andererseits
eine Notwendigkeit nach den Anschlägen auf New York
und Washington dar.
Ich denke aber auch, meine Damen und Herren, dass
der 11. September neue Maßstäbe für und eine neue Qua-
lität der internationalen Zusammenarbeit begründet
hat. So schlimm das Ereignis auch war, es hat einen Schub
zu Solidarität und Zusammenarbeit gegeben, der davor
nicht denkbar schien. Nun haben wir über die früheren
Ost-West-Schemata hinweg ein echtes Zusammenspiel
von EU, NATO und Vereinten Nationen, wo Entschei-
dungen binnen Tages-, ja sogar Stundenfrist getroffen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Clemens Schwalbe
18792
(C)
(D)
(A)
(B)
werden können. Präsident Putin hat diese neuen Ansätze
der Zusammenarbeit hier im Hause eindrucksvoll ge-
schildert. Die internationale Gemeinschaft hat damit den
Verbrechern demonstriert, dass sie handlungsfähig und
gewillt ist, den Terror gemeinsam zu bekämpfen. So hat
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schon am
12. September die Resolution 1368 verabschiedet, mit der
sich die zivilisierte Welt dazu entschließt, den internatio-
nalen Terror mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Trotzdem bleiben noch viele Fragen, gerade im inter-
nationalen Bereich, offen. So ist trotz der UN-Resolution
2625 von 1970 und auch nach der UN-Antiterrordeklara-
tion von 1995 das Definitionsmonopol von Terrorismus
noch nicht endgültig geklärt. So wäre eine Aufnahme des
Tatbestandes des Terrorismus in das Statut des Ständigen
Gerichtshofes denkbar und wünschenswert. Bislang kann
dieser nur bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit an-
gerufen werden. Die europäische Antiterrorismuskon-
vention von 1977 könnte als Vorlage für eine entspre-
chende Antiterrorkonvention der UNO dienen, mit der
sich die beitretenden Staaten zur grenzüberschreitenden
Terrorismusprävention verpflichten.
Die Globalisierung der Welt impliziert auch die Glo-
balisierung des Terrors. Viele der heutigen Terroristen ha-
ben ähnliche Biografien und Lebensstationen. Geprägt
wurden sie von einer islamistisch-fundamentalistischen
Weltanschauung, die für Nichtmuslime schwer zugäng-
lich und verständlich ist. Wir dürfen es jedoch nicht zu ei-
nem Clash of Civilizations, also einem Krieg der Kul-
turen, kommen lassen. Eine solche Entwicklung wäre in
der Tat sehr gefährlich und hätte unübersehbare Folgen
für die Menschheit, doch eine solche streben die Terroris-
ten um Bin Laden an, wenn sie zum heiligen Krieg gegen
Amerika und seine Verbündeten aufrufen. Der Theologe
Hans Küng hat sich mit dieser Gefahr in seinem Buch
Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft beschäf-
tigt und stellt, wie ich meine, zutreffend fest: Es wird kei-
nen Frieden zwischen den Zivilisationen geben ohne ei-
nen Frieden unter den Religionen! Und es wird keinen
Frieden zwischen den Religionen geben ohne einen Dia-
log zwischen den Religionen!
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]:
Da hat er Recht!)
Meine Damen und Herren, die Vereinten Nationen ha-
ben die wichtige Aufgabe, diesen Dialog aufzunehmen,
um den Frieden voranzutreiben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Kollegin Rita Grießhaber.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen gerne die Rede-
zeit einhalten.
Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir Gäste auf der Zuschauertribüne begrüßen
können, nämlich zwei UN-Mitarbeiter aus der UNMIK-
Mission im Kosovo. Herzlich willkommen bei uns!
(Beifall)
Die Vereinten Nationen stehen vor großen Herausfor-
derungen. Sie sind gerade in der jetzigen Situation zu ei-
nem wichtigen Akteur geworden. Der VN-Sicherheitsrat
hat auf die neue Bedrohung eindeutig und prompt rea-
giert. Er hat am 12. September festgestellt, dass durch die
Terroranschläge der Weltfrieden und die internationale
Sicherheit bedroht sind, und er hat in der Resolution 1373
für alle Staaten verbindliche Maßnahmen zur Bekämp-
fung und Verhinderung von Terrorismus festgelegt. Wie
ernst es ihm damit ist, zeigt, dass er mit dieser Resolution
nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen tätig
geworden ist und damit neue Weichen für das Völkerrecht
gestellt hat.
Die Anschläge vom 11. September lassen sich nicht in
die herkömmlichen Kategorien von Krieg und Frieden
einordnen. Erhard Eppler schreibt dazu, wir hätten es mit
privatisierter Gewalt, mit einer Mischung von Fanatismus
und Kriminalität, mit fundamentalistischen Fanatikern
und ausgekochten Kriminellen zu tun. Er hat Recht.
Die neue Qualität des Terrors stellt uns verschärft vor
äußerst komplexe Probleme. Schon der Versuch, den Be-
griff Terrorismus zu definieren so notwendig das ist
kann in einer Zerreißprobe à la Antirassismuskonferenz in
Durban enden. Ich frage Sie in den Reihen der FDP: Wie
soll auf die Schnelle im globalen Raum der Vereinten Na-
tionen eine klare Definition von Terrorismus gelingen,
wenn schon das Europäische Parlament diese Hürde noch
nicht nimmt? Allein der Streit darum, was Terrorismus
und was Freiheitskampf ist, wird die sorgsam geschmie-
dete Antiterrorkoalition gleich einer weiteren Zer-
reißprobe aussetzen.
Meine Damen und Herren, es ist eine Tatsache, dass die
Stärke und der Rang der Vereinten Nationen in der Welt-
politik auch von dem Verhältnis zu den USA abhängen.
Es ist gut, dass die USAin dieser Krise so eng mit den Ver-
einten Nationen zusammenarbeiten. Jetzt gilt es, unsere
amerikanischen Partner in aller Freundschaft auch davon
zu überzeugen, dass die rasche Einsetzung des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs in unser aller Interesse liegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der FDP)
Ich komme zum letzten Punkt, zu Afghanistan. Dort
gilt es, die Ausweitung einer humanitären Katastrophe zu
verhindern, die schon Jahrzehnte vor dem 11. September
begonnen hat. Neu ist, dass parallel zu den militärischen
Aktionen zur Zerstörung der terroristischen Infrastruktur
alles getan wird, um dem afghanischen Volk zu helfen.
Dass die Zivilbevölkerung bei den Angriffen zu schonen
ist, ist ohnehin völkerrechtliche Pflicht. Unser Ziel muss
es sein, dieses Land wieder zu stabilisieren. Afghanistan
braucht mit Unterstützung der Vereinten Nationen eine
friedliche politische Perspektive. Die Bundesregierung
tut in ihrer Funktion als Vorsitzende der Afghanistan Sup-
port Group alles, was möglich ist, um dort zu helfen. Sie
hat unsere volle Unterstützung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Clemens Schwalbe
18793
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(D)
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(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Meine Damen und Herren, es ist kein Zufall, dass das
Netzwerk von Bin Laden in Afghanistan agiert. Dieser
Terror braucht Länder, in denen die Staaten ihr Territorium
nicht mehr kontrollieren können oder gar im Kampf um
die Macht sich selbst der Terrorstrukturen bedienen. Für
die globalisierte Welt ist das Zerbrechen von Staaten die
große Herausforderung. Dem Terrorismus dienen regio-
nale Konflikte als ideologisches Trampolin für seine Ver-
brechen. Umso notwendiger ist es, dass wir mit aller Kraft
an einer Lösung dieser Konflikte arbeiten. Das breit ange-
legte Bündnis vieler Staaten aller Glaubensrichtungen und
Religionen sowie das entschiedene und einmütige Vorge-
hen des Sicherheitsrates verdeutlichen am besten die glo-
bale Antwort auf die Anschläge vom 11. September.
Wie groß die Herausforderung ist, vor der die Völker-
gemeinschaft steht, hat Generalsekretär Kofi Annan so
ausgedrückt:
Wenn die Welt beweisen kann, dass sie weiterma-
chen kann, dass sie beharrlich an der Schaffung einer
stärkeren, gerechteren, gütigeren und noch interna-
tionaleren Gemeinschaft über alle Grenzen von Reli-
gion und Rasse hinweg arbeitet, dann wird der Ter-
rorismus sein Ziel verfehlen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege
Carsten Hübner für die PDS-Fraktion das Wort.
Carsten Hübner (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wortlaut und Intention des FDP-
Antrages für eine Antiterrorismuskonvention der Verein-
ten Nationen treffen in meiner Fraktion durchaus auf
Zustimmung. Gerade für die strategische Diskussion da-
rüber, wie es jetzt weitergehen soll, ist er ein ganz wichti-
ger Vorschlag.
(Beifall bei der PDS)
Wir teilen den Ansatz, dass die UNO der Ort sein muss,
an dem ein globaler Konsens gegen den Terrorismus ge-
funden wird, über seine Ursachen debattiert wird und Ge-
genmaßnahmen verabschiedet werden. Die UNO hat hier
in den vergangenen Jahren wichtige Vorarbeiten geleistet,
andere internationale und regionale Gremien auch. Umso
wichtiger ist es jetzt, diese Ansätze nicht nur zusammen-
zuführen und den aktuellen Erfordernissen anzupassen,
sondern auch darauf hinzuwirken, dass die UNO mit ei-
nem in vielerlei Hinsicht schlagkräftigen Instrumenta-
rium zur konkreten Umsetzung ausgestattet wird.
(Beifall bei der PDS)
Die Praxis seit dem 11. September, liebe Kolleginnen
und Kollegen, läuft diesem Anspruch aber völlig entge-
gen. Die UNO darf in Resolutionen nachvollziehen, was
zuvor von den USA und der NATO beschlossen und ver-
kündet wurde. Ihre Rolle ist auf die humanitäre Beglei-
tung der militärischen Aktionen beschränkt; weder auf
die Logik der Militäreinsätze noch auf deren Umsetzung
hat sie irgendwelchen Einfluss. Im Gegenteil, offenbar
sind bereits erste UN-Mitarbeiter Opfer der Bombenan-
griffe auf Afghanistan geworden. Im Moment scheitert es
an der Zustimmung der USA, soweit ich weiß, dass hu-
manitäre Lieferungen nach Afghanistan hineinkommen,
obwohl Lebensmittellieferungen an der Grenze bereitste-
hen. Wer die internationale Allianz gegen den Terrorismus
unter dem Motto Wer nicht für uns ist, ist gegen uns zu-
sammentrommelt, der stärkt nicht, sondern negiert gera-
dezu die Rolle und das Selbstverständnis der UNO und
setzt an ihre Stelle die Macht der letzten verbliebenen Su-
permacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Antiterroris-
muskonvention der Vereinten Nationen ist überfällig,
ihre Etablierung ist dringend geboten. Ihr Themenspek-
trum muss die gesamte Bandbreite der Fragen aufgreifen,
die das Terrorismusproblem ausmachen: Fragen globaler
Gerechtigkeit, Fragen des Dialoges zwischen Nord und
Süd auf gleicher Augenhöhe, Fragen einer internationalen
Zusammenarbeit im Bereich Krieg und Frieden, Terroris-
mus und Gefahrenabwehr. Der FDP-Antrag tut das durch-
aus.
Wir müssen aber auch erwarten, dass sich in einem sol-
chen Prozess die Staaten des Nordens in kritischer Nach-
denklichkeit und Reflexion ihres eigenen Handelns und
nicht in Selbstgerechtigkeit üben.
(Beifall bei der PDS)
Wer liefert die Waffen und Minen für den Bürgerkrieg,
wessen Entwicklungshilfe sinkt Jahr für Jahr und wer be-
nutzt extremistische Gruppen und undemokratische Re-
gimes je nach Situation entweder als Agentur eigener In-
teressen oder als Projektionsfläche alles Bösen? Bin
Laden und die Taliban, liebe Kolleginnen und Kollegen,
waren schon zu der Zeit Feinde von Humanität sowie
Menschen- und Frauenrechten, als sie noch aus dem Wes-
ten protegiert wurden. Die Nordallianz hatte bereits ihre
Chance, Afghanistan zu regieren, und zwar ebenfalls mit
Unterstützung der USA. Das Ende waren eine Trümmer-
wüste und der Sieg der Taliban.
Das alles geschah, obwohl die UNO bereits eine große
Zahl von Konventionen verabschiedet hat, die ein solches
rein interessengeleitetes internationales Agieren von Staa-
ten verhindern sollten und sollen.
(Rudolf Bindig [SPD]: Die PDS wird das
Problem lösen!)
Aber vieles davon wurde seitens der Vereinigten Staaten
einfach nicht ratifiziert, so manche Anwendung in der
Praxis scheiterte schlichtweg an der Macht der USA und
vieler Staaten des Nordens. Ein Auseinanderklaffen von
Anspruch und Wirklichkeit, liebe Genossinnen und Ge-
nossen, nein, liebe Kolleginnen und Kollegen
(Lachen bei der CDU/CSU)
Das wäre schön, ja.
(Beifall bei der PDS)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Rita Grießhaber
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Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Nach
diesem Versprecher kann mir gar nichts mehr passieren
und ich kann in aller Ruhe zu Ende sprechen.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir waren beim
Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirk-
lichkeit!)
Dies ist ein Auseinanderklaffen von Anspruch und
Wirklichkeit
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Bei den
Genossen!)
in diesem Fall von Hoffnung und Realität , das in den
Ländern der so genannten Dritten Welt verständlicher-
weise schlecht ankommt und reaktionären Ideologen wie
Bin Laden den Boden bereiten hilft.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, befürwortet
meine Fraktion ausdrücklich eine Antiterrorkonvention
der UNO, die dringend erforderlich ist. Wir erwarten aber
gleichzeitig, dass sich auch die mächtigen Staaten dieser
Welt daran halten und die Führungsrolle der UNO aner-
kennen. Dazu gehört, die UNO mit den notwendigen
Finanzmitteln und Instrumenten zur Umsetzung auszu-
statten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Hier klang ein biss-
chen nach, was Parteitage so alles mit sich bringen.
Jetzt hat die Kollegin Brigitte Adler für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Brigitte Adler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Die Vereinten Nationen werden
für die internationale Zusammenarbeit immer wichtiger.
Die Anträge der FDP-Fraktion weisen damit in die rich-
tige Richtung. Ob ihre Forderungen auch übernommen
werden können, stelle ich infrage.
Schauen wir uns den Antrag zum Aids-Sonderfonds
der Vereinten Nationen an. Der Generalsekretär der Ver-
einten Nationen, Kofi Annan, hat mit seiner Initiative ei-
nen Anstoß gegeben. Mit einem Beitrag von 10 Milliar-
den Dollar soll den Ländern des Südens für die nächsten
zehn Jahre geholfen werden. Vor allem der afrikanische
Kontinent südlich der Sahara hat die größten Probleme.
70 Prozent der Aidsinfizierten sind Afrikaner. Aber auch
Asien steht dem nicht nach: Thailand und andere Länder
stehen vor der gleichen Herausforderung.
Welches Leid diese Krankheit für alle Betroffenen und
ihre Familien gebracht hat, kann man nur ahnen. Die
Gründe, die zur Infizierung führen, müssen bedacht und
ergründet werden, damit Hilfe gezielt und effektiv einge-
setzt werden kann.
In den Industrieländern sind vor allen Dingen Drogen
und Bluttransfusionen die Übertragungswege. In den Ent-
wicklungsländern ist es oft Armut, die zu Prostitution
führt und somit neben Drogen der Verbreitung der Seuche
den Weg ebnet. Aufklärung durch die Medien ist wichtig.
In Ländern mit hoher Analphabetenrate sind zum Beispiel
Theaterstücke hilfreich. Aber für alles benötigt man Geld,
Geld auch für die notwendige Medizin.
Aidsmedikamente, die dringend zur Verfügung gestellt
werden müssen, brauchen noch Forschung und Entwick-
lung. Die Kosten dafür müssen aufgebracht werden. Die
gesamte Problematik des Patentrechtes national und in-
ternational gewinnt in diesem Zusammenhang an Be-
deutung.
Die wirtschaftliche Seite, die Sie in Ihrem Antrag an-
sprechen, ist sicherlich ebenso bedenkenswert. Sie spre-
chen von negativen Standortfaktoren. Die Einbußen bei
den nationalen Einkünften sprechen Sie ebenfalls an.
Wenn nachhaltig gehandelt werden könnte, dann könnte
einiges abgewendet werden.
Was tut die Bundesregierung? Von 1992 bis 2000, also
auch unter Ihrer Koalitionszeit, wurden bereits 20,5 Mil-
lionen DM für Treuhandvorhaben zur Verfügung gestellt.
In bilateralen Projekten wurden für die HIV-/Aids-
bekämpfung bis 2000 insgesamt rund 500 Millionen DM
bereitgestellt. Aber auch andere Maßnahmen wie die Ent-
schuldungsinitiative helfen, mit nationalen Armutsstrate-
gien Mittel freizusetzen, sodass die betroffenen Länder
selbst in die Lage versetzt werden, Mittel zur Prävention
und Fürsorge einzusetzen. Gerade das Aktionsprogramm
2015 mit seinem Anspruch zur Armutsminderung macht
deutlich, dass die Koalition die Aidshilfe und -prävention
als übergreifende Aufgabe versteht und umsetzt.
Konkrete Schritte in der Zusammenarbeit auch mit der
Pharmaindustrie konnten eingeleitet werden. Die Firma
Böhringer Ingelheim hat weltweit den Entwicklungslän-
dern angeboten, zur Verhinderung der Mutter-Kind-Über-
tragung Nevaparin zur Verfügung zu stellen. Zusammen
mit der GTZ werden in Kenia, Tansania und Uganda Pro-
jekte durchgeführt. Das Tropeninstitut der Charité hier in
Berlin hat die Begleitforschung übernommen.
Die Sondergeneralversammlung der Vereinten Natio-
nen vom 27. Juni dieses Jahres hat in einer Declaration of
Commitment die Selbstverpflichtung der Staaten zur
Hilfe und zur Bekämpfung des HIV/Aidsproblems be-
schlossen. In einem Schreiben an die G-7-Regierungs-
chefs schlägt Kofi Annan eine Arbeitsgruppe zur Einrich-
tung des globalen Gesundheitsfonds vor. Der Anfang ist
gemacht, auch wenn noch Fragen offen sind, die geklärt
werden müssen so unter anderem, dass der Fonds aus-
schließlich auf die Bekämpfung von Malaria, Tuberku-
lose und HIV/Aids ausgerichtet ist.
Eine neue, rechtlich eigenständige Institution ist nicht
beabsichtigt. Die Weltbank sollte mit ihrer bereits vorhan-
denen Expertise zum GEF-Prozess neben UNAIDS eine
entscheidende Rolle spielen. Die Zugangskriterien sollten
nicht nur auf die Intensität der Bedürftigkeit zugeschnitten
sein, sondern auch Anreize für eine energische Aids-
bekämpfung in den Entwicklungsländern selbst enthalten.
Die Forderung, dass die Bundesregierung schnell in
den Fonds einzahlen soll, stößt auf Verständnis. Wie der
Staatssekretär diese Woche im Ausschuss für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung jedoch bemerkte,
fehlen eben noch einige gemeinsame Vereinbarungen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Carsten Hübner
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(B)
Die 140 Millionen DM, die bereits im Haushalt dieses
Jahres eingestellt worden sind, sind der FDP nicht genug.
Machen Sie Umschichtungsvorschläge, damit der ent-
sprechende Haushaltstitel erhöht werden kann! Ihre ande-
ren Forderungen werden bereits umgesetzt. Die Bun-
desregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen
haben das Problem nicht nur erkannt, sondern setzen Hilfe
konkret um. Ihr Antrag ist deshalb eine Unterstützung und
Bestätigung unserer Arbeit, aber bereits überholt.
Der Antrag zur Antiterrorismuskonvention der Verein-
ten Nationen, der ebenfalls von den Kolleginnen und Kol-
legen der FDP vorgelegt wird, ist mit heißer Nadel ge-
strickt. Sie wollten Ihre Ansichten verbreiten und die
Bundesregierung zu Handlungen auffordern. Originelles
ist nicht in Ihrer Auflistung zu finden. In einem Satz wird
dann noch das Übliche abgehandelt: zum Beispiel politi-
sche, wirtschaftliche und auch kulturpolitische Maßnah-
men. Geld wird auch noch gefordert. Warum auch nicht?
Woher es kommen soll, verschweigen Sie.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Das 0,7-Prozent-Ziel wird eingefordert, die Haushalts-
konsolidierung soll jedoch nicht gefährdet werden. Aber
wie? Die Kritik an der Vorgehensweise des Bundesfi-
nanzministers lässt sich vor dem Hintergrund Ihrer For-
derungen nicht verstehen. Das BMZ wird mit dem Geld,
das von den 3 Milliarden DM im Rahmen des Antiterror-
paketes zur Verfügung steht, mit dazu beitragen, dass
Hilfe gegeben wird, um Ursachen zu beheben. Der
11. September 2001 war sicherlich ein tief greifender Ein-
schnitt. Sicherheitspolitisches Denken muss deshalb aber
nicht neu erfunden werden. Gibt es Sicherheit überhaupt?
Wie kann in unserer Demokratie das Spannungsverhältnis
zwischen innerer und äußerer Sicherheit und der freiheit-
lich-demokratischen Grundordnung austariert werden?
Die Vorschläge für die Arbeit der Vereinten Nationen,
die Sie aufgelistet haben, sind sicherlich ein guter Ansatz.
Sie sind auch bereits national in Arbeit. Sie lagen auf der
Hand. Konferenzen werden zurzeit nicht gebraucht, son-
dern gesunder Menschenverstand. Die nötigen Maßnah-
men werden ergriffen und sorgfältig umgesetzt. So
schlägt die Bundesregierung Maßnahmen vor, die nach
innen und außen das Risiko möglicher Anschläge so ge-
ring wie möglich halten. Es soll sichergestellt werden,
dass Terroristen Deutschland nicht benutzen, um ihre zer-
störerischen Aktionen zu planen und in die Wege zu lei-
ten.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger?
Brigitte Adler (SPD): Bitte sehr.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Sehr geehrte Frau Kollegin, wie vertragen sich Ihre Aus-
führungen bezüglich der Nichtnotwendigkeit einer ge-
samtumfassenden Antiterrorismuskonvention, die Sie ge-
rade zu diesem Punkt gemacht haben, denn mit der
entsprechenden Resolution der Vereinten Nationen? Es ist
ja gerade eine Resolution beschlossen worden, in der eine
solche umfassende Konvention gefordert wird, weil die
zwölf Einzelkonventionen, die in den letzten Jahrzehnten
zu einzelnen Aspekten beschlossen worden sind, bisher
nicht umgesetzt wurden und auch nicht zu einem Gesamt-
handlungskonzept geführt haben.
Brigitte Adler (SPD): Frau Kollegin, ich denke, dass
die Konvention, die die Vereinten Nationen vorschlagen
haben, sicherlich überdenkenswert und auch noch zu be-
raten ist. Die einzelnen Punkte, die Sie in Ihrem Antrag je-
weils dazu aufgeführt haben, habe ich angesprochen. Ich
meine, dass wir da noch einige Fragezeichen zu setzen ha-
ben. Einige dieser Punkte sind bereits in Arbeit oder wer-
den schon umgesetzt. Insofern kann ich Ihre Kritik nicht
verstehen.
(Zuruf der Abg. Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger [FDP])
So ist es. Ich mache jetzt konkrete Vorschläge, Frau Kol-
legin, die Ihnen zeigen, dass wir ich bin Entwicklungs-
politikerin genau auf diesem Sektor noch einiges ein-
bringen werden, das uns weiterbringen wird.
Dem Terrorismus kann auch durch Armutsbekämpfung
der Nährboden entzogen werden. Gerade Entwick-
lungspolitiker wissen um die Ursachen von Hunger und
Armut und entwickeln Lösungswege. Mehr Gerechtigkeit
statt wirtschaftlicher Abhängigkeit ist gefragt. Mehr Si-
cherheit ergibt sich durch wirtschaftliche Gerechtigkeit.
Wie ich bereits ausgeführt habe, verweisen Sie auf diesen
Zusammenhang ansatzweise in Ihrem Antrag.
So wird zum Beispiel der Entwicklungspolitik
200 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung gestellt, um
mehr Gelder für Nahrungsmittel, Not- und Flücht-
lingshilfe verwenden zu können. Der zivile Friedens-
dienst hat bereits bewiesen, wie wichtig gerade seine Auf-
gaben sind. Auch er wird gestärkt werden.
Die Unterstützung der Zivilgesellschaften zur Demo-
kratisierung ihrer Länder ist ein wesentliches Element
deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Dazu gehören
zum Beispiel Länder wie Afghanistan. Der Aufbau
rechtsstaatlicher Institutionen, denen sich gerade auch die
politischen Stiftungen widmen, gehört zu diesem Zusam-
menhang.
Unter anderem wird die Bundesregierung UN-
Entwicklungsorganisationen stärker unterstützen, so etwa
schwerpunktmäßig das Weltentwicklungsprogramm von
der UNDP. Der Governance Fund und der Crisis Preven-
tion and Recovery Fund sind Fonds, die demokratische
Regierungs- und Verwaltungsstrukturen in Krisengebie-
ten zum Abbau von Krisenursachen und zur Behebung
von Krisenfolgen finanzieren. Das Palästina-Hilfspro-
gramm von UNDP gehört ebenso dazu. Der Förderung
von Frauen wird ebenfalls große Beachtung geschenkt, da
sie und ihre Kinder oft die am schlimmsten Betroffenen
sind.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Brigitte Adler
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Da die Bundesregierung bereits handelt, ist der von Ih-
nen in diesem Zusammenhang vorgelegte Antrag als erle-
digt zu betrachten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt die
Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP): Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zu unserem
Antrag Für eine Antiterrorismuskonvention der Verein-
ten Nationen äußern. Die Terrorbekämpfung erfordert
ein schnelles Handeln. Deswegen hat die FDP sofort nach
den Anschlägen diesen Antrag eingebracht, der eine um-
fassende UN-Konvention gegen den Terrorismus fordert.
Frau Kollegin Kortmann, Sie haben vorhin kritisiert,
dass unsere Anträge zu spät auf den Tisch kamen und dass
Sie sie gerne früher gehabt hätten. Dazu kann ich nur sa-
gen, dass ein Großteil der Anträge, über die wir heute dis-
kutieren, schon vor der Sommerpause vorlag und dass der
Antrag hinsichtlich einer Antiterrorismuskonvention so-
fort nach dem Anschlag erarbeitet wurde. Man kann der
Opposition also wirklich nicht vorwerfen, dass sie nicht
sofort gehandelt und Vorschläge gemacht hätte.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Bezüglich der Antiterrorismuskonvention wurde die
Notwendigkeit des FDP-Antrags vorhin bestritten. Wir
vonseiten der FDP freuen uns, dass nunmehr auch der
UN-Sicherheitsrat den Vorschlag gemacht hat, eine solche
Konvention zu erarbeiten. Im Übrigen decken sich die In-
halte der Vorschläge des UN-Sicherheitsrates im Wesent-
lichen mit unseren Punkten.
Diese Initiative muss jetzt von der Generalversamm-
lung aufgegriffen werden. Die Bekämpfung des interna-
tionalen Terrorismus muss zum Hauptpunkt der diesjähri-
gen UN-Generalversammlung werden. Deshalb ist es
besonders wichtig, dass die verschobene Generaldebatte
unter Beteiligung der Staats- und Regierungschefs nun
Anfang November stattfindet. Sie muss, wie ich finde, der
Weltöffentlichkeit demonstrieren, dass die Entschlossen-
heit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus fest
und unerschütterlich ist und auch über den ersten Schock
hinaus andauert.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg.
Dr. Heinrich Fink [PDS])
Wir jedenfalls haben Vorschläge bezüglich des Inhalts
dieser UN-Konvention gemacht.
Ich will an dieser Stelle darauf eingehen, dass Frau
Grießhaber die Definition des Terrorismusbegriffs kriti-
siert hat. Ich halte es für wichtig, dass wir zumindest den
Versuch unternehmen, innerhalb der Staatengemein-
schaft zukünftig gemeinsam, schnell und entschlossen
handeln zu können. Das kann man aber nur, wenn man
sich darüber einig ist, was der Begriff Terrorismus um-
fasst. Es ist zwar misslich, dass sich die EU in diesem
Punkt noch nicht einigen konnte. Aber dies ist noch
lange kein Grund, das Vorhaben von vornherein aufzu-
geben und nicht zu versuchen, es bei der UNO durchzu-
setzen.
(Beifall bei der FDP)
Neben dem Austausch nachrichtendienstlicher Er-
kenntnisse und der Verschärfung der weltweiten Maßnah-
men gegen Geldwäsche muss die Konvention auch
präventive politische und wirtschaftliche Maßnahmen
vorsehen. Dazu gehören vor allen Dingen auch verstärkte
entwicklungspolitische Anstrengungen zur Überwindung
sozialer und wirtschaftlicher Missstände, die letztendlich
den Boden für Terror bieten.
Der Beschluss des UN-Sicherheitsrates ist ein ermuti-
gendes Zeichen. Ebenso ermutigend ist die Tatsache, dass
seit neuestem auch die Vereinigten Staaten die UNO
stärker unterstützen. Jetzt weitere Initiativen zu ergreifen
ist Aufgabe der Bundesregierung. Dabei ist eine verbes-
serte Koordinierung der EU-Mitgliedstaaten dringend
nötig, insbesondere bei der Erarbeitung einer gemein-
samen Position für die UN-Generalversammlung. Die
EU, die neben den USA maßgeblicher Akteur der Welt-
politik ist, muss in der Generalversammlung mit einer
Stimme sprechen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der PDS)
Hier sehen wir eine große Aufgabe für die Bundesregie-
rung.
Die FDP hat schon im Sommer einen Antrag für eine
gemeinsame europäische UN-Politik vorgelegt. Ich habe
den Eindruck, dass Sie sich diesem Antrag bisher nur des-
wegen nicht angeschlossen haben, weil er nicht Ihre Idee
war. Vielleicht können Sie noch einmal darüber nachden-
ken und ihm zustimmen.
(Beifall bei der FDP)
Ich freue mich auf die Beratungen im UNO-Unteraus-
schuss.
(Beifall bei der FDP Rudolf Bindig [SPD]:
Die Weltmacht FDP löst das Problem!)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Staats-
minister Dr. Ludger Volmer das Wort.
Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan,
hat in einer seiner Stellungnahmen zu den furchtbaren,
menschenverachtenden Terrorangriffen vom 11. Sep-
tember gesagt: Aus Bösem kann auch Gutes entste-
hen.
Dieses Gute könnte sehr wohl in einer Stärkung der
Vereinten Nationen liegen. Denn die Anschläge auf fried-
liche Bürger von mehr als 80 Nationen haben die gesamte
Menschheit nicht nur schmerzlich getroffen, sondern
auch wachgerüttelt. Aus der Erkenntnis der gemeinsamen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Birgit Homburger
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Bedrohung ist in den letzten Wochen eine längst überfäl-
lige Gemeinsamkeit im Handeln, eine globale Allianz ge-
gen den Terrorismus geworden, in der die Vereinten Na-
tionen die zentrale Rolle spielen müssen, die sie übrigens
schon seit mehreren Jahren spielen.
Frau Homburger, Ihr Antrag fordert eine Antiterroris-
muskonvention, an der die Vereinten Nationen bereits seit
zwei Jahren intensiv arbeiten. Somit kommen Sie mit
Ihrem Antrag zwei Jahre zu spät.
Wir drücken darüber hinaus unsere Erwartung aus,
dass alle Länder, die bei der Terrorismusbekämpfung auf
die VN setzen, auch bei den anderen globalen Fragen die
zentrale Rolle der VN anerkennen.
In der aktuellen Lage allerdings ist es vordringlich, die
zwölf VN-Konventionen gegen den Terror, die schon
existieren, so rasch wie möglich zu zeichnen, zu ratifizie-
ren und umzusetzen. Dazu fordert die Bundesregierung
alle Staaten auf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Dies gilt insbesondere für die Bekämpfung der Terroris-
musfinanzierung. Dazu gehört aber auch die Stärkung des
Internationalen Strafgerichtshofs.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Deutschland wird mit seinen Partnern entschlossen da-
ran mitarbeiten, den von Indien vorgelegten Entwurf ei-
ner umfassenden VN-Konvention zur Bekämpfung des
Terrorismus, den ich gerade schon einmal angesprochen
habe, erfolgreich zu finalisieren, um damit jene Lücken zu
schließen, die heute noch bei der internationalen Zusam-
menarbeit zur Terrorismusbekämpfung bestehen.
Gleichzeitig fordert der in der Sicherheitsratsresolu-
tion 1373 enthaltene Maßnahmenkatalog auch von uns
die notwendigen Konsequenzen. Die beteiligten Ressorts
haben bereits große Anstrengungen in dieser Richtung
unternommen, wofür ich mich bei ihnen im Namen des
Auswärtigen Amts ausdrücklich bedanken möchte.
Meine Damen und Herren, der Generalsekretär der VN
hat zu Recht hervorgehoben, dass nur eine umfassende,
breit angelegte, nachhaltige Strategie die Gefahr des Ter-
rorismus bannen kann. Dazu gehören die unnachsichtige
Verfolgung und Bestrafung der Täter, ihrer Hintermänner,
Anstifter und Gehilfen, die weltweite Versagung eines
sicheren Hafens für Terroristen, die internationale Zu-
sammenarbeit der Polizeien und Nachrichtendienste,
Schutzmaßnahmen gegen weitere terroristische Akte,
aber auch der notwendigerweise langfristig angelegte Ab-
bau der Ursachen des internationalen Terrorismus. Poli-
zeiliche und gerichtliche Maßnahmen allein tragen der
Dimension des internationalen Terrorismus nicht hinrei-
chend Rechnung.
Die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nach
Art. 51 der VN-Charta lässt Maßnahmen zu, die auf die
militärische Infrastruktur der Terroristen und ihrer Be-
schützer zielen, nicht auf die Zivilbevölkerung. Das beto-
nen wir, insbesondere auch bezogen auf die Angriffe, die
zurzeit afghanisches Territorium erreichen.
Wir sind der Auffassung, dass politische, ökonomische
und soziale Maßnahmen den entscheidenden Durchbruch
schaffen müssen. In diesem Rahmen sind aber einzelne
militärische Schläge unvermeidlich. Wir begrüßen, dass
die militärischen Maßnahmen von intensiven Anstren-
gungen der Staatengemeinschaft begleitet werden, dem
unter zwei Jahrzehnten Krieg und Bürgerkrieg leidenden
afghanischen Volk humanitäre Hilfe zu leisten. Die Bun-
desregierung trägt dazu durch eine beträchtliche Er-
höhung ihres Haushaltsansatzes für humanitäre Hilfe bei.
Über den Vorsitz der von den VN eingesetzten Afghanis-
tan-Support-Group haben wir eine erhöhte Verantwor-
tung und Einflussmöglichkeit.
Mehr, meine Damen und Herren, nicht weniger inter-
nationales Engagement ist jetzt von uns allen gefordert,
nicht nur in Afghanistan. Das ist die Lektion der An-
schläge von New York und Washington. Darin liegt eine
Chance für die Revitalisierung der Vereinten Nationen.
Auch wenn zurzeit eine Hauptaufgabe der Vereinten Na-
tionen die Bekämpfung des internationalen Terrorismus
ist, dürfen die globalen Missstände nicht übersehen wer-
den, die den Terroristen einen Resonanzboden bieten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Die UNO ist in einzigartiger Weise dazu befähigt, wirt-
schaftliche und soziale Ursachen von Hass, Gewalt und
Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Dazu
gehören die entschlossene Armutsbekämpfung, der
Kampf gegen Seuchen und Infektionskrankheiten, allen
voran die Aidspandemie, die Korruptionsbekämpfung,
die Beseitigung von Gefahren durch Minen und die För-
derung von good governance; um nur einige Punkte zu
nennen. Auf all diesen Gebieten ist die Bundesregierung
aktiv und hat eigene Initiativen ergriffen.
Machen wir uns aber nichts vor: So nötig Entwick-
lungszusammenarbeit, Armutsbekämpfung, Alphabeti-
sierung und Frauenförderung auch sind, so greifen sie
doch im Moment zu kurz. Die Attentäter von New York
und Washington waren beileibe keine verarmten Ver-
zweiflungstäter.
Prävention ist nötig, kann aber die Konfliktbewälti-
gung nicht ersetzen. Es sind die schwelenden und zum
Teil jahrzehntelang auch von uns vernachlässigten
Konflikte, die im Gefolge von Aussichtslosigkeit, Aus-
grenzung und Missachtung Hass, Gewalt und Fanatismus
gebären. Auch hier muss die internationale Gemeinschaft
gestützt auf die existierenden VN-Resolutionen ihre Lö-
sungsbemühungen verstärken.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen: Die
von uns angestrebte nicht ständige Mitgliedschaft im Si-
cherheitsrat der Vereinten Nationen ab 2003 ist Chance
und Verpflichtung, diesen Konflikten endlich die gebo-
tene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wir werden
auf ein möglichst lückenloses Ineinandergreifen von Kri-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Staatsminister Dr. Ludger Volmer
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senprävention und Konfliktbewältigung hinarbeiten, um
vernachlässigte Konflikte zu entschärfen und zerfallen-
den Staaten wirksam zu helfen.
Der 11. September signalisiert: Wir sind in eine neue
Ära des internationalen Engagements, in die Renaissance
der Vereinten Nationen eingetreten.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort die
Kollegin Ingrid Fischbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegen-
den Anträge der FDP gehen auf zentrale Themen ein, über
deren wichtige Bedeutung wir hier im Hause nicht strei-
ten werden. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. Da
sich mein Kollege Schwalbe bereits zur Antiterrorismus-
konvention geäußert hat, werde ich auf die anderen drei
Anträge eingehen.
Ich denke, wir sind uns auch alle darüber einig, dass die
Situation von Familien und Kindern weltweit verbessert
werden muss. Die Lebensbedingungen von Familien und
damit notwendigerweise auch die der Kinder sind viel-
fach katastrophal. Weltweit wird die Kluft zwischen Arm
und Reich größer. Die Armut von Familien und somit der
Kampf ums Überleben nehmen zu.
Kinder sind hiervon besonders betroffen: 600 Millionen
Kinder wachsen in extremer Armut auf. 30 Millionen Kin-
der sind obdachlos, 100 Millionen Kinder gehören zu den
so genannten Straßenkindern und 250 Millionen Kinder
arbeiten gegen so geringe Bezahlung, dass wir von Aus-
beutung sprechen müssen. 540 Millionen Kinder leiden
unter Kriegsfolgen.
Allein in den 90er-Jahren sind über 2 Millionen Kinder
umgekommen; viele sind durch Landminen verstümmelt
worden. Über 100 Millionen Landminen liegen in mehr
als 80 Ländern der Welt verstreut. Kambodscha hält hier
einen traurigen Rekord. Über 4 Millionen Minen lauern
nach UNICEF-Schätzungen allein auf Wegen, in Dörfern
und an Straßenecken. 45 000 Menschen mussten nach Mi-
nenunfällen Füße, Beine oder Arme amputiert werden. Je-
des vierte Opfer ist ein Kind.
Die aktuellen Bilder und Geschehnisse in Afghanistan
zeigen das Gleiche. Minen werden auch heute noch ein-
gesetzt. Sie sind Waffen. Das ich denke, auch da sind wir
uns einig dürfen wir nicht weiter dulden.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP so-
wie bei Abgeordneten der PDS)
Wir sollten uns einig sein, schnellstens alle Landminen zu
ächten und alles in unserer Kraft Stehende zu tun, auf die
Länder, die das Anti-Personen-Minen-Abkommen von
Ottawa noch nicht ratifiziert haben, einzuwirken, der
Ächtung der Minen endlich zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, ich habe gestern mit besonders großer Freude
zur Kenntnis genommen, dass der Etat zur Beseitigung
von Landminen im Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe auf unseren Antrag hin von 18,5 auf
20 Millionen DM erhöht worden ist. Das zeigt, dass Sie
unserer Argumentation gefolgt sind. Das ist gut so und das
sollten Sie vielleicht des Öfteren tun.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Auch im Gesundheitsbereich gibt es noch viel zu tun.
Rund 80 Prozent der Kinder sind heute gegen die wich-
tigsten Krankheiten geimpft. 1960 waren es nur 5 Prozent.
Aber immer noch sterben täglich rund 50 000 Kinder auf-
grund von vermeidbaren Erkrankungen oder Unter-
ernährung.
Ein besonders großes Problem ist Aids. Aids ist zu ei-
ner globalen Epidemie geworden: 22 Millionen Men-
schen sind bisher an Aids gestorben, 36 Millionen Men-
schen haben sich infiziert. Täglich infizieren sich
weltweit 8 500 Kinder und Jugendliche. In manchen Re-
gionen Afrikas kommt ein Drittel der Neugeborenen be-
reits aidsinfiziert auf die Welt.
Eine Entwicklung bedarf unserer besonderen Auf-
merksamkeit: Vor allem Mädchen und junge Frauen sind
in den Entwicklungsländern von der Aidsepidemie be-
droht. Unter den jungen Menschen zwischen 15 und
24 Jahren ist der Anteil der infizierten Mädchen und
Frauen doppelt so hoch wie der ihrer männlichen Alters-
genossen. Schon heute kommen im südlichen Afrika auf
10,1 Millionen HIV-positive Männer 12,2 Millionen
Frauen.
Daher ist es dringend erforderlich, Mittel aus dem neu
gegründeten Aidsfonds der Vereinten Nationen gezielt
dafür einzusetzen, Mädchen vor der Aidsgefahr zu war-
nen und sie zu informieren. Ursachen dieses Informati-
onsdefizits sind die massiven Benachteiligungen der
Mädchen beim Schulbesuch und beim Zugang zu Infor-
mationen. Hier muss Entwicklungshilfe gezielt eingesetzt
werden, indem man zum einen den Projekten Vorrang ein-
räumt, die Aidsprävention und -bekämpfung in den be-
troffenen Regionen Afrikas zum Ziel haben. Zum anderen
müssen aber auch die freiwilligen Beiträge zur weltwei-
ten Aidsvorsorge und -bekämpfung deutlich erhöht wer-
den.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, Sie selbst haben in Ihrem Antrag vom 20. Juni 2001
gefordert, den Aidsfonds der Vereinten Nationen mit zu-
sätzlichen Mitteln zu unterstützen. Ihr Kanzler hat Ende
Juni im Beisein von Kofi Annan werbewirksam einen
deutschen Beitrag zum Aidsfonds von 300 Millionen DM
versprochen. Jetzt stellt sich heraus, dass die entspre-
chende Unterstützung fehlt. Vielleicht sollte er zukünftig
nicht so schnell mit Beträgen operieren, die er später nicht
zahlen kann.
(Brigitte Adler [SPD]: Das stimmt doch gar
nicht!)
Die Kollegin Adler hat gerade zu dem Antrag der FDP
gesagt: Woher soll das Geld kommen? Vielleicht sollte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ingrid Fischbach
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sich auch der Herr Bundeskanzler im Vorfeld informieren,
woher er das Geld nehmen will, das er so werbewirksam
verspricht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Rudolf Bindig [SPD]: Der Fonds ist doch noch
gar nicht aufgelegt, Frau Kollegin!)
Zu dem Fonds selber kann man sicher kritische Äuße-
rungen machen. Sind die Erwartungen zu hoch? Droht die
Gefahr der Bürokratisierung? Wie sind die Unterstüt-
zungskriterien? Wie sieht die Selbstverpflichtung der
Länder aus? Das sind Fragen, die man sicherlich disku-
tieren muss. Aber insgesamt muss man diesen Fonds als
wichtigen Appell zum Kampf gegen die Mensch-
heitsgeißel Aids sehen. Deshalb ist er auch unterstützens-
wert.
Um aber in Zukunft entwicklungspolitisch handlungs-
fähig zu bleiben, müssen Ihre haushaltspolitischen Bud-
geteinschnitte korrigiert werden. Hier holen Sie, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihre
überdimensionalen Kürzungen aus dem Jahre 2000 in
Höhe von 8,5 Prozent ein.
Beim jetzigen Haushalt hat die Entwicklungsminis-
terin soeben ihr Gesicht wahren können. Sie wissen: Es
sollten Kürzungen von 5,3 Prozent stattfinden; es sind
nur 2,6 Prozent geworden. Das ist aber meiner Meinung
nach der falsche Weg. Die Struktur des Entwicklungs-
haushalts muss grundlegend geändert werden. Wir wür-
den Ihnen dabei gerne helfen. Fragen Sie uns, wir stehen
Ihnen zur Verfügung.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik ist auch
weltweite Kinderpolitik. UNICEF ruft besonders im
Jahr 2001 dazu auf, gegen die verlorenen Kindheiten,
gegen Gewalt gegen Kinder die Stimme zu erheben. Wir
müssen den Kampf gegen die weltweit zunehmende
Gewalt gegen Kinder zur obersten Priorität unserer Men-
schenrechtspolitik machen. Dazu gehört die Umsetzung
der UN-Kinderrechtskonvention auf der ganzen Welt.
Über 190 Staaten haben sie unterschrieben, aber Anspruch
und Wirklichkeit klaffen weit auseinander: Die Zahl der
Kinder, die Missbrauch, körperlichen Misshandlungen, se-
xueller wie wirtschaftlicher Ausbeutung, den schlimmsten
Formen der Kinderarbeit sowie Kinderhandel und Ob-
dachlosigkeit ausgesetzt sind, wächst. Kinder und Min-
derjährige werden immer häufiger Opfer staatlicher Ge-
walt. Kinder werden gefoltert und menschenverachtend
behandelt: Entführung, Vergewaltigung, Zwangsarbeit,
Schläge, Nahrungsentzug, Zwangsrekrutierung zum
Kriegsdienst, Verhängung der Todesstrafe.
Gegen Kinder wird gemäß einer Studie der Weltor-
ganisation gegen Folter mit der gleichen Härte vorge-
gangen wie gegen Erwachsene. Aber unsere Kinder sind
das schwächste Glied in der Gesellschaft; sie können sich
nicht wehren. Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen. Wenn
wir ihnen nicht helfen, wer soll es dann tun?
Lassen Sie uns gemeinsam für unsere Kinder darum
kämpfen, alle Länder mit Nachdruck zu verpflichten, die
Rechte der Kinder zu stützen und zu fördern.
Kinderfreundlichkeit fängt im eigenen Land an, hört
aber bei uns nicht auf. Globalisierung bedeutet auch Ver-
antwortung für Notlagen in der übrigen Welt. Nachhaltig-
keit für eine Politik, in der Kinder und Familien im Mit-
telpunkt stehen, muss Priorität auf unserer politischen
Agenda haben.
Erkennen wir an, dass Kinder Bürger mit eigenen
Rechten sind, dass in der Investition in ihre Entwicklung
der Schlüssel zum Ausbau einer von Frieden und Wohl-
stand geprägten Gesellschaft liegt. Lassen Sie uns in die-
sem Sinne gemeinsam investieren!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/6324, 14/6328, 14/6623 und
14/6952 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen
und Männern (Gleichstellungsdurchsetzungs-
gesetz DGleiG)
Drucksache 14/5679
(Erste Beratung 164. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familien Senioren, Frauen und Jugend
(13. Ausschuss)
Drucksache 14/6898
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Irmingard Schewe-Gerigk
Renate Diemers
Ina Lenke
Petra Bläss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht der Bundesregierung über die
Förderung der Frauen im Bundesdienst Be-
richtszeitraum 1995 bis 1998
Drucksachen 14/5003, 14/6898
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Irmingard Schewe-Gerigk
Renate Diemers
Ina Lenke
Petra Bläss
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
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Ingrid Fischbach
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Mi-
nisterin Christine Bergmann.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heute
den Gesetzentwurf zur Durchsetzung der Gleichstellung
von Frauen und Männern im Bundesdienst beschließen,
dann ist das ein weiterer wichtiger Baustein zur Gleich-
stellung von Frauen und Männern in unserem Land. Ich
würde mich sehr freuen, wenn es, wie es aussieht, ge-
länge, das in einem breiten Konsens in diesem Parlament
zu tun.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es geht auch bei diesem Gesetzentwurf wieder um die
zwei wichtigsten Handlungsfelder, die wir in der Gleich-
stellungspolitik mit vielen Initiativen bearbeiten, nämlich
zum einen um die tatsächliche Gleichstellung von Frauen
und Männern im Berufsleben und zum zweiten um die
eng damit verknüpfte Frage, wie wir es Frauen und Män-
nern erleichtern können, Familie und Beruf besser mitei-
nander zu vereinbaren.
Es hat sich mittlerweile herumgesprochen bisher hat
es noch nicht zu den entsprechenden Konsequenzen ge-
führt , dass Frauen heute so gut qualifiziert und ausge-
bildet sind wie nie zuvor. Sie haben schlichtweg die Nase
vorn. Mehr als die Hälfte der Abiturienten sind junge
Frauen. Junge Frauen erreichen heute ebenso wie junge
Männer zu 90 Prozent einen qualifizierten Berufsab-
schluss. Bei den Universitätsabsolventen liegt der Frau-
enanteil bei rund 45 Prozent. Wenn man sich einmal die
Abschlüsse anschaut, so kommt hinzu, dass die jungen
Frauen einfach besser sind. Sie machen die besseren Ab-
schlüsse.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Bei der Erwerbstätigkeit stellen wir fest, dass heute
45 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland Frauen
sind. Die Erwerbsquote ist in den vergangenen Jahren in
den alten Bundesländern kontinuierlich auf etwa 62 Pro-
zent gestiegen. In den neuen Bundesländern hat sie sich
bei rund 73 Prozent von ehemals 90 Prozent zu DDR-Zei-
ten stabilisiert. Das heißt also: Junge Frauen wissen, was
sie können. Sie haben ein erfrischendes Selbstbewusst-
sein. Sie verfolgen ihre Lebensplanung mit der gleichen
Energie und der gleichen Ausdauer wie junge Männer.
Junge Frauen und Frauen insgesamt haben sich ein gutes
Stück Gleichberechtigung erobert. Das ist die positive
Seite, die ich berichten kann.
Nun kommt das Aber: Nach wie vor sind 70 Prozent der
Frauen davon überzeugt so eine Allensbach-Studie ,
nicht die gleichen beruflichen Aufstiegschancen wie
Männer zu haben. Im Übrigen sind auch 50 Prozent der
Männer davon überzeugt, dass Frauen nicht die gleichen
beruflichen Aufstiegschancen haben. Also muss doch da-
ran etwas Wahres sein.
Die Fakten geben ihnen Recht. Das gestiegene Bil-
dungsniveau der Frauen schlägt sich nach wie vor nicht
genügend am Arbeitsmarkt nieder. Auf der einen Seite
sind gut qualifizierte Frauen, auf der anderen Seite steht
der Sachverhalt, dass die Mehrheit der Frauen weniger als
Männer verdient, dass sich Frauen häufiger in Berufen mit
einer geringeren Reputation und geringeren Zukunftsaus-
sichten wiederfinden, Teilzeit arbeiten und nur in sehr ge-
ringer Zahl leitende Positionen innehaben.
Das, was wir mit unserer Politik über die ganze Legis-
laturperiode hinweg verfolgen, ist, diese Benachteiligung
abzubauen. Hierfür müssen wir an vielen Stellen anset-
zen. Ich will eine Sache erwähnen, die mir gerade vorige
Woche sehr bitter aufgestoßen ist. Angesichts der Tat-
sache, dass sich Frauen mehr in Berufen mit geringerer
Reputation und geringeren Zukunftsaussichten wieder-
finden, müssen wir versuchen, das Verhalten von Mäd-
chen bei der Berufswahl zu verändern. Wir sagen Ihnen:
Schaut euch um. Sucht euch auch Berufe im technischen
Bereich. Was ist mit Informatik? Wir haben in diesen
Berufen viel zu wenig Frauen, obwohl sie das können.
Vorige Woche war ich auf einer Veranstaltung bei Sie-
mens. Es gibt dort einen sehr guten Verein, MINT. MINT
steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und
Technik. In diesem Verein geht es wir unterstützen ihn
auch finanziell darum, junge Frauen darüber zu infor-
mieren, was in diesen Bereichen los ist. Sie sollen motiviert
werden, ihren Berufsweg in diese Richtung einzuschlagen.
Bei dieser Veranstaltung waren 70 Schülerinnen aus ganz
Deutschland vertreten: sehr erfrischende, patente junge
Frauen, elfte bis dreizehnte Klasse. Sie wurden in diesem
Seminar mit Frauen aus den genannten Bereichen konfron-
tiert, damit sie mehr Informationen erhalten und ihre Be-
rufswahl möglicherweise nicht so einseitig ausfällt.
Ich setze mich immer zu den jungen Mädchen und
frage: Wer hat Ihnen Mut gemacht? Wer hat Sie in diese
Richtung gelenkt? Ich habe von einer jungen Frau,
zwölfte Klasse, die Physik studieren will, gehört: Als sie
sich für den Leistungskurs Physik beworben hat, hat ihr
ihre Koordinatorin geraten, nicht diesen Kurs zu wählen,
weil sie ansonsten nach einem halben Jahr wieder vor ih-
rer Tür stände und etwas anderes machen wolle. Über
einen solchen Rat kann man nur verzweifeln. Ich erzähle
das, weil ich es für unser aller Aufgabe halte, darauf hin-
zuwirken, dass nicht das, was wir politisch machen, an an-
derer Stelle konterkariert wird. Es sind nicht alle, aber
selbst einer ist schon zu viel. Ich jedenfalls erfahre es im-
mer wieder.
Wenn wir uns anschauen, wo Frauen bei gleicher Qua-
lifikation in der Betriebshierarchie angesiedelt sind, dann
stellen wir fest, dass sie deutlich niedriger als ihre männ-
lichen Kollegen angesiedelt sind. Hier kann doch etwas
nicht stimmen. Auch die gerade von mir genannte hohe
Erwerbsquote von Frauen muss man sich genauer anse-
hen und fragen: Was steckt dahinter?
Wir haben zwar eine relativ gute Prozentzahl, stellen
aber fest, dass sich mehr Frauen das gleiche Arbeitsvolu-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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men teilen. Das Arbeitsvolumen für die Frauen nimmt
also nicht zu, sondern es gibt immer mehr Teilzeitstellen
mit den durchaus bekannten geringen Aufstiegschancen.
Übrigens gibt es auf diesem Feld sehr große Unterschiede
zwischen den beiden Teilen Deutschlands. In den alten
Bundesländern liegt die Teilzeitquote bei 42 Prozent,
während sie in den neuen Bundesländern nur bei 23 Pro-
zent liegt. Das hat auch etwas mit dem Vorhandensein von
Kinderbetreuungseinrichtungen sowie der Akzeptanz von
Frauenerwerbsarbeit zu tun.
Wenn ich aus den vorhandenen Daten das Resümee
ziehe, stelle ich fest: Wir haben den Verfassungsauftrag,
die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in allen
Bereichen der Gesellschaft zu gewährleisten, noch lange
nicht umgesetzt. Außerdem verhalten wir uns öko-
nomisch unsinnig. Wir haben gut qualifizierte Frauen,
aber nicht an der richtigen Stelle. Es kann mir niemand er-
zählen, dass das vernünftig ist.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Uns liegt ja das Gleichstellungsgesetz für den öffentli-
chen Dienst vor. Wir können nicht behaupten, dass wir im
öffentlichen Dienst mit gutem Beispiel vorangegangen
sind. Auch im öffentlichen Dienst haben wir diese
Diskrepanzen. Nach diesem Bericht sind 45 Prozent aller
Beschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes
Frauen, während der Anteil der Frauen im höheren Dienst
der obersten Bundesbehörden nur 13,5 Prozent betrug, bei
den Referatsleitungen hatten sie 1998 einen Anteil von
10,6 Prozent, bei den Unterabteilungsleitungen von
8,2 Prozent und bei den Abteilungsleitungen von 2,1 Pro-
zent. Wir sehen daran, dass wir auch im öffentlichen
Dienst noch eine ganze Menge zu tun haben.
Allerdings erkennen wir, dass politischer Wille eine
ganze Menge ausrichtet. Wenn wir uns die Steigerungs-
quoten der letzten beiden Jahre hinsichtlich der Leitungs-
positionen ansehen, können wir feststellen, dass der An-
teil von Frauen auf der Ebene der Abteilungsleitungen
von 2,1 Prozent auf 8,2 Prozent und auf der Ebene der Re-
feratsleitungen von 10,6 Prozent auf 13,4 Prozent gestie-
gen ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn wir jedes Mal in Zweijahresschritten so gut vo-
rankämen, wäre das ein Erfolg.
(Ina Lenke [FDP]: Das ist das letzte Frauen-
fördergesetz!)
Ich habe gerade gesagt, worauf ich dieses Ergebnis
zurückführe. Es war gezielter politischer Wille. Sie wis-
sen genau, Frau Lenke das zeigt auch der uns vorlie-
gende Bericht , dass das alte Frauenfördergesetz nicht
das gebracht hat, was wir brauchen. Deswegen haben wir
einen neuen Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen, zu dem
es eine sehr breite Zustimmung gibt.
(Ina Lenke [FDP]: Der ist nicht neu!)
Ich will ein paar wichtige Punkte nennen: Wir haben
mit dem Gesetzentwurf verbindliche Gleichstellungs-
pläne als Instrument der Personalentwicklung vorgese-
hen. Der Entwurf ist in wesentlichen Punkten so verbes-
sert, dass wir ein effektives Gesetz haben. Das wissen Sie
doch alle. Wir haben die Gleichstellungspläne auch so
ausgestaltet, dass nicht nur bei Schönwetter Frauen ge-
fördert werden, das heißt bei Stellenzuwächsen, sondern
auch in Fällen des Stellenabbaus etwa bei Fusionen
Frauen nicht unter den Tisch fallen.
Wir haben Frau Lenke, Sie müssen zugeben, dass das
eine neue Qualität des Gesetzes ist in diesem Entwurf
eine einzelfallbezogene Quote verankert. Das heißt,
Frauen sind in allen Bereichen, in denen sie bisher
unterrepräsentiert sind, bei gleicher Qualifikation bevor-
zugt auszubilden, einzustellen und zu befördern. Das ist
nun wirklich eine neue Qualität der Frauenförderung.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Damit das geplante Gesetz eine möglichst breite Wir-
kung entfalten kann, werden über die öffentlich-rechtli-
chen Bundesverwaltungen hinaus auch privatrechtlich
organisierte Einrichtungen der Bundesverwaltung einbe-
zogen. Dieses Ziel muss durch vertragliche Vereinbarun-
gen erreicht werden.
(Ina Lenke [FDP]: Gleichstellungsgesetz für
die Wirtschaft durch die Hintertür!)
Es ist aus meiner Sicht in Ordnung, dass man das auf
diese Weise regelt.
(Ina Lenke [FDP]: Das ist nicht in Ordnung!)
Das Gleiche gilt für Leistungsempfänger des Bundes.
In Bereichen, in denen wir Geld ausgeben, können wir
auch erwarten, dass unsere politischen Vorgaben durch
entsprechende Vertragsgestaltungen umgesetzt werden.
Das ist doch wohl rechtens.
Außerdem haben wir die Arbeit der Gleichstellungs-
beauftragten kräftig unterstützt. Sie bekommen mehr
Rechte zugebilligt. Die Gleichstellungsbeauftragten sind
die Hüterinnen des Gesetzes. Aus diesem Grunde muss
man sie auch so ausstatten, dass sie ihre Funktion wahr-
nehmen können. Das haben wir nunmehr getan.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Natürlich geht es im vorliegenden Gesetz auch darum,
Frauen und Männern die Balance zwischen Familie und
Beruf zu erleichtern. Ich sage ausdrücklich: Frauen und
Männern. Wenn wir mit den jetzt getroffenen Regelungen
sogar über das hinausgehen, was wir schon mit dem
Bundeserziehungsgeldgesetz und dem Gesetz zur Rege-
lung der Teilzeitarbeit begonnen haben, nämlich wirklich
familienfreundliche Arbeitszeiten zu ermöglichen, dann
sprechen wir nicht nur die Frauen, sondern auch ganz ex-
plizit die Männer mit Familienpflichten an. Für uns ist je-
denfalls klar: Wer eine bessere Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf für Väter und Mütter erreichen will, der
muss in der Arbeitswelt ansetzen.
(Ina Lenke [FDP]: Sie haben doch gerade einen
männlichen Gleichstellungsbeauftragten in die-
sem Gesetz ausgeschlossen!)
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Wenn wir annähernd Parität erreicht haben, können wir
darüber auch reden. Aber im Moment sollten wir Frauen
uns das Heft noch nicht aus der Hand nehmen lassen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Wir garantieren allen beschäftigten Männern und
Frauen mit Familienpflichten einen Anspruch auf Teil-
zeitbeschäftigung oder Beurlaubung. Wir bieten vernünf-
tige Arbeitszeitmodelle an. Ich nenne nur die Stichwörter
Telearbeit und Arbeitszeitkonten. Die Regelungen
das ist mir ganz wichtig gelten ausdrücklich auch für
Leitungspositionen. Ich wünsche mir ich werbe dafür,
wo ich gehe und stehe , dass viele Männer und Frauen
davon Gebrauch machen, damit wir davon wegkommen,
dass reduzierte Arbeitszeit ein absoluter Karrierekiller ist.
Das sollte sie nicht sein. Deswegen gelten die Regelungen
ausdrücklich auch für Leitungspositionen.
Wir haben darüber hinaus festgelegt damit es keine
Karrierefalle mehr ist , dass künftig auch mittelbare Dis-
kriminierung bei Bewerbungsgesprächen und Auswahlver-
fahren ausgeschlossen ist. Das heißt, dass bei vergleichen-
der Bewertung die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit
aufgrund von Familienpflichten und die Reduzierung der
Arbeitszeit wegen Kindererziehung nicht berücksichtigt
werden dürfen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der bisher
immer den Frauen zum Nachteil gereicht hat.
Ich denke, wir können mit dem vorliegenden Gesetz
Benachteiligungen in erheblichem Maße abbauen. Ich be-
danke mich bei allen, die dazu beigetragen haben, dieses
Gesetz auf den Weg zu bringen. Wir haben von den Erfah-
rungen der Bundesländer und natürlich auch der Gleich-
stellungsbeauftragten profitiert. Ich hoffe, dass die Unter-
stützung für unseren Gesetzentwurf über die Abstimmung
im federführenden Ausschuss hinaus reichen wird. Aber
damit wird das Thema für uns nicht abgehakt sein. Wir ha-
ben das große Thema Gender Mainstreaming als Dauer-
aufgabe. Das wird uns so lange beschäftigen, solange es
Diskriminierung von Frauen in allen Teilen der Gesell-
schaft gibt. Das vorliegende Gesetz trägt ein Stück weit
zur Modernisierung der Verwaltung bei. Ich denke, dies
wird ihr gut bekommen.
Danke.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort die
Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Neuer Auf-
bruch für die Frauenpolitik mit diesem Titel ist die
Frauenpolitik der Bundesregierung im Koalitionsvertrag
überschrieben. Das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz,
das heute in dritter Lesung verabschiedet werden soll, ist
kein Aufbruch. Es ist lediglich eine Fortschreibung der
von der Union angestoßenen Gleichstellungsgesetzge-
bung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP
Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Das ist
der Abbruch dessen, was nicht funktioniert hat!
Das ist gut so!)
Nachdem Sie unsere Anträge doch noch akzeptiert haben,
haben wir uns nach langen Bedenken zwar entschlossen,
ihm zuzustimmen. Aber der große Wurf ist dieses Gesetz
nicht. Wir werden noch später darauf eingehen.
(Rudolf Bindig [SPD]: Aber weiter als Ihre
Würfe!)
Wir haben einiges getan. Wir haben die Gleichstel-
lungsgesetzgebung in Gang gebracht. Sie gehen auf dem
Weg weiter, den wir angelegt haben. Aber, Frau Riemann-
Hanewinckel, etwas grundlegend Neues ist Ihnen nicht
eingefallen.
Der Vierte Bericht der Bundesregierung über die För-
derung der Frauen im Bundesdienst zeigt, dass noch viele
Anstrengungen erforderlich sind, um die Gleichstellung
von Frauen und Männern in der Bundesverwaltung
voranzubringen. Immerhin sind 45 Prozent aller Beschäf-
tigten im öffentlichen Dienst Frauen. Doch der Anteil der
Frauen in leitenden Positionen ist noch immer viel zu ge-
ring. So beträgt er beispielsweise bei den Beschäftigten
im höheren Dienst der obersten Bundesbehörden ledig-
lich 14,5 Prozent.
Frau Ministerin, die von Ihnen dargestellten Steigerun-
gen sind auf unser Gesetz zurückzuführen.
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Nein, nein!)
Durch unser Gesetz wurde die Grundlage dafür gelegt.
Erfolgreiche Frauenpolitik ist immer auch mit Famili-
enpolitik verbunden. So soll im vorliegenden Gesetzent-
wurf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit
verbessert werden. Die Grundlagen dazu haben wir
während unserer Regierungszeit erfolgreich gelegt,
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Ah ja!)
und zwar durch die Einführung von Erziehungsgeld und
Erziehungsurlaub, die Anerkennung der Erziehungsleis-
tungen in der Rentenversicherung und die Einführung ei-
nes Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ab dem
dritten Lebensjahr. Das waren grundlegende Entschei-
dungen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU Christel Riemann-
Hanewinckel [SPD]: Das stand im Gruppenan-
trag zum § 218! Daran möchte ich erinnern!)
Auch die Erweiterung des Art. 3 Grundgesetz ist in unse-
rer Regierungszeit geschehen. Aber es ist natürlich noch
viel zu tun. Wir sehen das.
Sie haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung vollmundig
betont, dass Sie die Gleichstellung von Mann und Frau
wieder zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt
machen wollen. Von den insgesamt 44 Prozent erwerbstä-
tigen Frauen sind lediglich 8,2 Prozent in der öffentlichen
Verwaltung beschäftigt. Das Gesetz, das heute verab-
schiedet werden soll, betrifft daher nur einen ganz gerin-
gen Teil der erwerbstätigen Frauen. Für die große Zahl der
Frauen in der Privatwirtschaft tun Sie nichts!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann machen wir mit Ihnen ge-
meinsam ein Gesetz, Frau Eichhorn!)
Seit Beginn dieser Legislaturperiode wollen Sie die Gleich-
stellung in der Wirtschaft durch ein Gesetz regeln. Liebe
Frau Gerigk, Sie haben den Mund gespitzt, aber zum Pfei-
fen sind Sie nicht einmal ansatzweise gekommen. Sie sind
mit Ihrem Vorhaben nicht nur in der eigenen Koalition ge-
scheitert, Sie haben auch alle Frauenverbände enttäuscht,
denen Sie ein effektives Gleichstellungsgesetz für die Pri-
vatwirtschaft versprochen haben.
(Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Wir
trösten Sie jetzt mit einem neuen Entwurf!)
Frau Bergmann, Ihre Kabinettskollegen, allen voran der
Kanzler selbst, haben Sie an der Umsetzung eines Geset-
zes gehindert. Übrig geblieben ist eine Vereinbarung zwi-
schen Regierung und Arbeitgebern zur Gleichstellung in
der Privatwirtschaft. Dass damit ein Durchbruch für die
Chancengleichheit von Frauen in der Privatwirtschaft
erreicht wird, wie Sie, Frau Bergmann, im Juli gesagt ha-
ben, das glauben Sie wohl selber nicht.
(Rudolf Bindig [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetz-
entwurf?)
Die Vorsitzende des Deutschen Frauenrats, Inge von
Bönninghausen bekanntlich Ihnen sehr nahe stehend;
sie gehört politisch zu Ihnen ,
(Zuruf von der SPD: Sie saß da vorn! Sie hat
auf Sie gewartet!)
bescheinigt Ihnen Versagen auf der ganzen Linie. Ich zi-
tiere, was sie gesagt hat:
Es ist ein Hohn, wie sich die Regierung das verspro-
chene Gesetz hat abschwatzen lassen. Die rot-grüne
Gleichstellungspolitik wurde wie beim Sommer-
schlussverkauf verramscht.
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist nicht
von uns!)
Die ehemalige erste Vorsitzende des Deutschen Juris-
tinnenbundes, Frau Professor Nelles, fragt auch hier ein
Zitat :
Kann eine Regierung es sich leisten, bei 15,9 Milli-
onen erwerbstätigen Frauen den Verfassungsauftrag
zur Förderung der Durchsetzung der Gleichberechti-
gung von Frauen und Männern so zu missachten?
Meine Damen und Herren, ich sage: Nein.
(Rudolf Bindig [SPD]: Nochmals: Wo ist Ihr
Gesetzentwurf?)
Gleichzeitig haben Sie auch alle Chancen verspielt, in
intensiven Gesprächen mit der Wirtschaft Maßnahmen zu
entwickeln, die die Gleichstellung in der Privatwirtschaft
voranbringen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Edith Niehuis?
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Ja.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte, Frau Kollegin.
Dr. Edith Niehuis (SPD): Ich bedanke mich, Frau
Eichhorn. Da Sie jetzt so leidenschaftlich für ein Gleich-
stellungsgesetz für die Privatwirtschaft reden, frage ich:
Darf ich daraus schlussfolgern, dass die CDU/CSU ein
Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft möchte?
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kol-
legin, wir haben nie den Anspruch erhoben, den Sie zu Be-
ginn dieser Legislaturperiode in Ihre Koalitionsver-
einbarung hineingeschrieben haben. Sie müssen sich
daran messen lassen, was Sie versprochen haben.
(Zuruf von der SPD: Frage beantworten!)
Sie dürfen nicht etwas versprechen und nachher so tun, als
sei nichts gewesen. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen nie
ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft ver-
sprochen.
(Beifall bei der CDU/CSU Rudolf Bindig
[SPD]: Sie wollen es nicht! Halten wir fest!)
Ich sage Ihnen gleich, was wir Ihnen vorschlagen.
Wir müssen mehr Betriebe davon überzeugen, dass
sich ökonomischer Erfolg und sozialverträgliche betrieb-
liche Bedingungen, zu denen auch die Chancengleichheit
von Frauen und Männern gehört, nicht ausschließen. Es
gibt viele Betriebe und Unternehmen, die beachtliche
Bemühungen auf diesem Gebiet an den Tag legen.
So hat zum Beispiel die Bayerische Staatsregierung
auch in diesem Jahr drei Firmen mit dem Bayerischen
Frauenförderpreis ausgezeichnet.
(Rudolf Bindig [SPD]: Jetzt kommt auch noch
Bayern als Beispiel!)
Dazu gehören große Firmen wie BMW, aber auch mit-
telständische Betriebe. Wichtige Gesichtspunkte waren
dabei die intensive Förderung von neuen Arbeitsformen
wie Telearbeit, Jahres- und Lebensarbeitszeitkonten, die
Chancen für Frauen in Führungspositionen, die betriebs-
eigene Kindertagesstätte, die Hausaufgabenbetreuung,
die Berücksichtigung der unterschiedlichsten Lebenssi-
tuationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie
unkonventionelle Ideen zur Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Mit diesen Erfolgen können wir werben. Ich
bin davon überzeugt: Je mehr Firmen frauen- und famili-
enfreundliche Maßnahmen praktizieren, desto mehr wer-
den sich diese Vorbilder und Ideen durchsetzen.
Betriebe und Unternehmen sind vielgestaltig. Die
Beschäftigungssituation für Frauen ist ebenfalls sehr un-
terschiedlich. Maßnahmen, die für Großunternehmen
sinnvoll sein mögen, sind für mittelständische Betriebe
oft nicht realisierbar. Es ist daher fraglich, ob insbeson-
dere mittelständische Betriebe durch neue Regelungsme-
chanismen motiviert werden, die Gleichstellung von
Frauen und Männern voranzubringen. Restriktivere Re-
gelungen kämen nicht den Frauen zugute, sondern könn-
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ten als Vorwand dienen, Frauen aus der Arbeitswelt her-
auszusozialisieren.
Für die Umsetzung einer effektiven Gleichstellungspo-
litik sind neben den Arbeitgebern auch Betriebsräte und
Gewerkschaften gefragt. Es ist wichtig, dass sie neben
den Fragen von Entlohnung, Arbeits- und Urlaubszeiten
frauen- und familienfreundliche Maßnahmen verstärkt in
den Blick nehmen.
Frauenpolitik ist Querschnittspolitik. Veränderungen,
die zu einer besseren Chancengerechtigkeit für Frauen
beitragen sollen, setzen Veränderungen in allen Berei-
chen, in der Familienerziehung, in der Schule, im Betrieb
und in der Politik voraus. Kern einer zukunftsorientierten
Frauenpolitik muss in erster Linie die Verbesserung der
Rahmenbedingungen für Frauen und Familien sein. In
dieser Hinsicht ist der Staat gefordert.
(Rudolf Bindig [SPD]: Noch wolkiger bitte!
Noch ungenauer!)
Notwendig sind insbesondere bedarfsgerechte Kin-
derbetreuungsmöglichkeiten. In den von Ihnen regier-
ten Ländern, meine Damen und Herren von der SPD, gibt
es diesbezüglich einen erheblichen Nachholbedarf. Zum
Vergleich: Im bisher SPD-regierten Hamburg gibt es je
100 Kinder 76 Kindergartenplätze, in Baden-Württem-
berg dagegen 125 Plätze und in Thüringen gar 153 Plätze.
Die beiden letzteren Länder sind bekanntlich unionsre-
giert. Nehmen Sie sich die Politik dieser Länder also zum
Vorbild!
Eine angemessene finanzielle Ausstattung von Fami-
lien ist entscheidend dafür, ob auch gut verdienende Vä-
ter bereit sind, zeitweise aus dem Beruf auszusteigen,
ohne dass für die Familie die Gefahr besteht, in finanzi-
elle Schwierigkeiten zu geraten. Sie haben mit der jüngs-
ten Kindergelderhöhung die Forderungen des Bundesver-
fassungsgerichts nur minimal umgesetzt. Wir wollen mit
dem Familiengeld eine wirkliche Familienförderung
schaffen. Eine Politik für Frauen muss auch dazu beitra-
gen, in den Köpfen ein gesellschaftliches Umdenken zu
erreichen. Die Grundlage dafür muss in der Erziehung,
also frühzeitig, geschaffen werden.
Die Gleichstellung von Frauen und Männern im öf-
fentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft zahlt sich
aus, da sie nicht nur für Frauen, sondern für die ganze Ge-
sellschaft Vorteile bringt. Die Vereinbarkeit von Familie
und Erwerbstätigkeit und eine angemessene finanzielle
Ausstattung von Familien sind grundlegende Vorausset-
zungen dafür, die Gleichstellung von Frauen und Män-
nern voranzubringen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griese?
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Bitte sehr.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Frau Kol-
legin.
Kerstin Griese (SPD): Frau Eichhorn, Sie plädieren
hier stark für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Als
einen wichtigen Beitrag dazu nennen Sie besonders die
Betreuung von Kindern. Darin stimme ich Ihnen zu. Ich
muss allerdings Ihrem Vergleich der Länder widerspre-
chen. Im Jahr 1998 gab es das zeigen die Zahlen auf
1 000 Kinder in Baden-Württemberg 13 Krippenplätze,
in Bayern 14, in Nordrhein-Westfalen 25 als Nordrhein-
Westfälin sage ich das mit einem gewissen Lob und in
Sachsen-Anhalt 472. Meinen Sie nicht, dass diese Zahlen
eine deutliche Sprache sprechen?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kol-
legin, ich kann Ihnen ganz andere Zahlen entgegensetzen:
(Lachen bei der SPD)
Baden-Württemberg 125 Kindergartenplätze pro 100 Kin-
der; Bayern 97;
(Zurufe von der SPD: Krippenplätze!)
Sachsen 135; Thüringen 153. Hamburg dagegen liegt mit
76 Plätzen am unteren Ende, Niedersachsen hat 90, Nord-
rhein-Westfalen erreicht bei den von Ihnen regierten Län-
dern mit 96 die höchste Zahl. Diese Werte liegen weit un-
ter denen der unionsregierten Länder. Den Spitzenplatz,
Frau Kollegin, hält Thüringen mit 153.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
ten Sie noch eine weitere Zwischenfrage?
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Nein, ich könnte zwar
das Zahlenspiel noch weiter führen, aber ich denke, ich
habe ausreichend geantwortet. Entschuldigung, Frau
Kollegin Hanewinckel, ich habe nicht gesehen, dass Sie
sich gemeldet haben. Ich dachte, die Kollegin hätte noch
eine Zusatzfrage.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Dann Frau
Hanewinckel, bitte.
Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Danke
schön. Ist Ihnen bewusst, Frau Kollegin Eichhorn, dass
die Zahlen, die Sie eben genannt haben, so genannte Kin-
dergartenplätze betreffen, im Klartext also Halbtags-
plätze? Es handelt sich nicht um die Zahlen der Plätze in
Kindertagesstätten. Da sieht es ganz anders aus. Die ent-
sprechende Statistik können Sie in einer Erhebung des
Deutschen Jugendinstituts nachlesen. Da kommen er-
schreckende Zahlen just für einige der Länder, die Sie
eben genannt haben, heraus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD Zuruf
von der SPD: Baden-Württemberg!)
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Kollegin
Hanewinckel, wir haben als Ziel die Wahlfreiheit festge-
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legt. Wir wollten niemandem vorschreiben, wie er das Le-
ben gestalten soll.
(Zurufe von der SPD)
Wir haben im Jahre 1996 einen Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz festgeschrieben. Für diese Plätze hat
der Staat in erster Linie zu sorgen; das ist Maßgabe für die
Länder.
(Christel Humme [SPD]: Zu wenig!)
Diese Vorgabe wurde von den unionsregierten Ländern
hervorragend erfüllt im Gegensatz zu den von der SPD
regierten Ländern; da wurde der Rechtsanspruch nicht
umgesetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU Christel Humme
[SPD]: Stimmt nicht! Nordrhein-Westfalen hat
eine Quote von 100 Prozent!)
Meine Damen und Herren, aktive Maßnahmen zur För-
derung von Frauen sind nach wie vor notwendig. Es
genügt nicht, dass Frauen hervorragende Abiturnoten und
Abschlusszeugnisse nachweisen können. Dieses Wissen
muss sich auch in Führungspositionen niederschlagen.
Die im öffentlichen Dienst bestehenden Gleichstellungs-
gesetze haben bereits positive Veränderungen bewirkt.
Wir müssen aber auch weiterhin dafür eintreten, dass sich
die Chancen für Frauen in der Privatwirtschaft verbes-
sern. Es wird daher in Zukunft darauf ankommen, Teil-
schritte für freiwillige Vereinbarungen und Tarifregelun-
gen in Angriff zu nehmen. Dies ist notwendig, damit die
Gleichstellung von Männern und Frauen nicht weiter Zu-
kunftsmusik bleibt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für Bündnis 90/Die
Grünen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Eichhorn, ich habe gerade bewundert, wie
leidenschaftlich Sie in Ihrer Rede für ein Gleichstellungs-
gesetz in der Privatwirtschaft gekämpft haben und einge-
treten sind, obwohl Sie es inhaltlich zutiefst ablehnen.
Das hat schon etwas.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Wir beraten heute ein Gesetz, das meines Erachtens
bisher viel zu wenig öffentliche Beachtung erfahren hat.
Dabei ist es ein wichtiges Gesetz, das die Rechte der
Frauen im öffentlichen Dienst des Bundes stärkt.
(Beifall der Abg. Renate Gradistanac [SPD])
Frauen sind in Führungspositionen noch immer deutlich
unterrepräsentiert, nicht nur in denen der Wirtschaft, son-
dern leider auch in denen der öffentlichen Verwaltung.
Dass wir von einer wirklichen Gleichberechtigung von
Männern und Frauen im öffentlichen Dienst noch längst
nicht reden können, zeigt der Vierte Bericht der Bundes-
regierung über die Förderung der Frauen im Bundes-
dienst mehr als deutlich. Der Berichtszeitraum erstreckt
sich ja über die Jahre von 1995 bis 1998, sodass wir sehr
konkret, Frau Eichhorn, die Auswirkungen des 1994 von
der CDU/CSU das gestehe ich Ihnen zu verabschie-
deten Frauenfördergesetzes messen können. Es war aber
vorher abzusehen, dass dieses Gesetz weitgehend fol-
genlos bleiben würde. Kommentiert wurde es damals von
der Presse als Papiertiger. Leider das muss ich sa-
gen haben die Journalisten und Journalistinnen auch
Recht behalten;
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
denn es war ein Gesetz mit unverbindlichen Vorschriften.
Sanktionen waren bei Nichteinhaltung nicht vorgesehen.
Mich zumindest hat es nicht verwundert, dass über dieses
Gesetz keine wirklichen Verbesserungen erreicht worden
sind. Das lässt sich an der Beschäftigtenstruktur leicht ab-
lesen: Während fast die Hälfte der Beschäftigten im öf-
fentlichen Dienst der Bundesverwaltung Frauen sind,
blieb die Leitungsebene zumindest bis 1998 eine fast
frauenfreie Zone.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Es ist aber
wirklich ein toller Fortschritt, eine Steigerung
von 10 auf 12 Prozent zu erreichen!)
Die Ministerin hat die anderen Zahlen genannt; ich er-
spare mir das.
Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen waren
überproportional viele Frauen auch in geringer bezahlten
Bereichen beschäftigt. Wenn man sich die Strukturen an-
schaut, erkennt man, dass nur 38 Prozent der Vollzeit-
beschäftigten Frauen sind. Im Gegensatz dazu stellen sie
90 Prozent der Teilzeitbeschäftigten. Für uns war hier also
dringender Handlungsbedarf angesagt. Es ging nicht um
eine Novellierung, bei der ein paar Worte geändert wer-
den, es war einfach ein neues Gesetz notwendig.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das ändert ihr
aber nicht mit einer Quote, sondern nur mit Kin-
dergartenplätzen!)
Ich finde, es muss dringend in der Arbeitswelt ankom-
men, dass die heutige Frauengeneration die Ministerin
hat es erwähnt über hervorragende Qualifikationen ver-
fügt. Im Durchschnitt sind sie heute bei den jungen
Frauen besser als bei den Männern. Darum sage ich:
Frauen dürfen nicht länger als Bittstellerinnen auf dem
Arbeitsmarkt auftreten, sondern sie müssen den ihnen zu-
stehenden Platz einnehmen. Das wollen wir mit diesem
Gesetz erreichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Rot-Grün macht mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
einen wichtigen Reformschritt zur tatsächlichen Gleich-
stellung der Geschlechter im öffentlichen Dienst. Wir
wollen nicht nur den Anteil von Frauen in Führungsposi-
tionen erhöhen, sondern durch die Quotierung von Aus-
bildungsplätzen auch Gerechtigkeit für die jüngere Gene-
ration schaffen.
Ich komme zu weiteren Verbesserungen: Zunächst
wurde der Anwendungsbereich des Gesetzes so ausge-
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dehnt, dass es künftig keine weißen Flecken mehr auf der
Gleichstellungskarte im Bundesdienst geben wird. Das
neue Gesetz gilt sowohl für die Bundesverwaltung als
auch für die Bundesgerichte das ist ein ganz wichtiger
Punkt und, Frau Lenke, wird auch bei künftigen Priva-
tisierungen von Bundesunternehmen Gültigkeit haben.
(Ina Lenke [FDP]: Ja klar, das haben wir auch
so verstanden!)
Die Grundsätze des Gleichstellungsgesetzes sollen erst-
malig auch in den außeruniversitären Forschungsein-
richtungen den Weg zu einer gesetzlichen Verpflichtung
zur Chancengleichheit eröffnen. Das war uns besonders
wichtig, da gerade Arbeitsplätze im außeruniversitären
Forschungsbereich für Wissenschaftlerinnen von großer
Bedeutung sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit sind Solda-
tinnen und Soldaten von dem Geltungsbereich des Geset-
zes noch ausgenommen. Da mit dem Urteil des Europä-
ischen Gerichtshofes vom Januar des vergangenen Jahres
nun auch Frauen Dienst an der Waffe tun können, ist es
dringend notwendig, dass wir auch für diesen speziellen
Bereich Regelungen zur Gleichstellung der Geschlechter
erarbeiten. Dazu liegt Ihnen heute ein Entschließungsan-
trag vor, der ein Gesetz fordert, das auf die unterschiedli-
chen Bedürfnisse von Soldatinnen und Soldaten eingeht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Von diesem Gesetz ein Gleichstellungsgesetz! werden
auch die Soldaten profitieren, die ihre Vaterrolle ernst
nehmen. Sie haben nämlich die Chance, ihre Soldatenzeit
und die Kindererziehung besser miteinander zu verein-
baren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Soweit zum Geltungsbereich.
Die wichtigste Neuregelung in dem vorliegenden Ge-
setz ist die qualifikationsbezogene Quote bei der Ein-
stellung, beim beruflichen Aufstieg und bei der Vergabe
von Ausbildungsplätzen. Hinzu kommt ein konkretes
Benachteiligungsverbot bei mittelbaren Diskriminie-
rungen. Jetzt gelten bei Einstellung und Aufstieg nur noch
Kriterien wie Eignung, Leistung und Befähigung. Das
sind doch Kriterien, die die FDP ohne weiteres mittragen
kann.
(Ina Lenke [FDP]: Natürlich, das sagen wir
auch! Aber es muss auch bei der Bundeswehr so
sein!)
Wir akzeptieren aber keine Hilfskriterien wie Le-
bensalter, Dienstalter und letzte Beförderung mehr,
durch die bisher besonders Männer bevorzugt wurden.
Diese dürfen nach der europäischen Rechtsprechung
keine Anwendung mehr finden.
(Ina Lenke [FDP]: Das ist auch in Ordnung
so!)
Mit dem vorliegenden Gesetz werden aber auch die
Rechte der Gleichstellungsbeauftragten deutlich gestärkt.
Frau Lenke, ich meine, dass die Gleichstellungsbeauf-
tragten Frauen sein sollten; es finden sich ja auch genü-
gend. Als Mitglied im Frauenausschuss habe ich noch
miterleben können, dass es einen frauenpolitischen Spre-
cher der FDP-Fraktion gab. Dieser hat gezeigt, dass es
besser ist, wenn Frauen dieses Amt noch eine Weile aus-
füllen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
wie bei Abgeordneten der SPD Wilhelm
Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war wirklich
eine abenteuerliche Konstruktion! Gegenruf
der Abg. Birgit Schnieber-Jastram [CDU/
CSU]: Waren Sie auch im Frauenausschuss?)
Zukünftig wird jede Dienststelle mit mehr als 100 Be-
schäftigten eine Gleichstellungsbeauftragte mit mindes-
tens einer halben Stelle bestellen. Die Gleichstellungs-
beauftragte ist weisungsfrei und hat ein Einsichtsrecht
auch in Personalakten. Ihr Geschäftsbereich umfasst die
Gleichstellung der Geschlechter, die Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbsarbeit und den Schutz vor sexueller
Belästigung am Arbeitsplatz. Die Rechtsstärkung der
Gleichstellungsbeauftragten wird besonders durch die
Möglichkeit deutlich, dass sie bei Verstößen der Dienst-
stelle gegen Gleichstellungsregelungen Einspruch einle-
gen kann. So kann bei Problemen auch direkt das Bun-
desministerium angesprochen werden. Im Streitfall mit
der Dienststellenleitung hat die Gleichstellungsbeauf-
tragte sogar das Recht, auf einer außergerichtlichen
Einigung zu bestehen oder ein gerichtliches Verfahren an-
zustreben. Diese Rechte werden es der Gleichstellungs-
beauftragten erleichtern, sich für die Frauen in den Unter-
nehmen und Verwaltungen einzusetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Ich komme zu dem neuen Gleichstellungsplan. Bereits
für die Frauenförderpläne mussten Maßnahmen ent-
wickelt werden, um den Frauenanteil zu erhöhen. Es fehl-
ten allerdings konkrete, verbindliche Kriterien hinsicht-
lich der Zielvorgaben. In den Gleichstellungsplänen ist
künftig vorzusehen, dass mindestens die Hälfte aller Per-
sonalstellen mit Frauen zu besetzen ist, wenn Frauen in
diesem Bereich unterrepräsentiert sind. Personalverant-
wortliche also nicht nur die Frauen- und Gleichstel-
lungsbeauftragten haben sich laufend mit den Zielvor-
gaben des Gleichstellungsplanes auseinander zu setzen,
ganz im Sinne von Gender Mainstreaming.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familienpolitik ist in
den letzten Monaten zu einem Thema mit großem Auf-
merksamkeitswert geworden. Man überbot sich gegensei-
tig, wenn es darum ging, den Familien eine Mark mehr zu
geben. Das waren verbale Kraftakte. Wir legen Ihnen
heute Regelungen vor, die Vätern und Müttern Arbeits-
zeiten und Rahmenbedingungen bieten, um das Leben mit
Kindern und Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Dies gilt auch
für Leitungspositionen, damit die Familienpflichten nicht
wieder gegen die berufliche Karriere ausgespielt werden
können.
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Ich komme zum Schluss: Das neue Gesetz wird dem
Regelungsanspruch im Bereich des öffentlichen Dienstes
des Bundes gerecht. Die vorliegenden Regelungen sind
Kernstücke einer sehr modernen Verwaltung. Der öffent-
liche Dienst wird damit in Gleichstellungsfragen zu
einem Vorbild auch für andere Bereiche des beruflichen
Lebens. Unser gemeinsames Anliegen muss es nun sein,
auch in der Wirtschaft nach wirksamen Lösungen zu su-
chen, die eine Demokratie zwischen den Geschlechtern
ermöglichen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun der
Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion das Wort.
Ina Lenke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die im Grundgesetz auferlegten Pflichten der
Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen
ist eine ganz besondere Aufgabe, der wir uns auch im
Bundestag widmen müssen. Die FDP-Fraktion hat ge-
zeigt, dass sie mit parlamentarischen Initiativen ihren Bei-
trag dazu geleistet hat.
Heute sprechen wir über den Vierten Bericht der Bun-
desregierung über die Förderung von Frauen im Bundes-
dienst und über ein altes Gesetz in neuer Verpackung, das
rot-grüne Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz für den öf-
fentlichen Dienst des Bundes. Meine Damen und Herren,
über viele Seiten ist das Vorgängergesetz, das Frauenför-
dergesetz, unverändert geblieben. Dass Sie es aktualisiert
haben, ist in Ordnung. In dem Gesetzentwurf sind sicher-
lich auch viele gute Vorschläge enthalten. Aber wir müs-
sen auch das Gesetz insgesamt sehen: Manches betrachtet
die FDP kritisch, weniges ist aus ihrer Sicht positiv zu be-
werten.
Zunächst komme ich auf zwei positive Punkte in dem
Gesetz zu sprechen. Die FDP hat es mit den Stimmen aller
Fraktionen in unserem Ausschuss durchgesetzt, dass den
besonderen Belangen behinderter und von Behinderung
bedrohter Frauen Rechnung getragen wird. Das ist eine
gute Sache.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD und der CDU/CSU)
Je älter ich werde, desto wichtiger ist nach meiner An-
sicht eine geschlechtergerechte Sprache. Man darf es
damit nicht übertreiben, aber man darf die weiblichen
Sprachformen auch nicht vergessen.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: So ist es! Wir
hatten genug generisches Maskulin!)
Die Sprache prägt enorm. Wenn ich höre, wie sich Män-
ner darüber lustig machen, dann sage ich immer: Wir kön-
nen es jetzt einmal 50 Jahre lang anders herum machen;
wir haben immer unter männlichen Sprachformen leiden
müssen und können nun frauenspezifische Begriffe neh-
men.
(Beifall bei der FDP)
Genau da höre ich Proteste. Daran wird die Schnittstelle
erkennbar; das wollen die Männer nicht. Das war jetzt nur
ein kleiner Schlenker.
Meine Damen und Herren, wir werden diesen Gesetz-
entwurf ablehnen. Ich werde das noch begründen. Trotz-
dem brauchen wir ein Gleichstellungsgesetz für den öf-
fentlichen Dienst. Schließlich haben auch wir mit der
CDU/CSU das Frauenfördergesetz beschlossen. Unter
den Änderungen, die Sie gemacht haben, sind einige ich
werde sie gleich aufzählen , die wir nicht mittragen wol-
len. Ich bitte, das nicht dahin gehend misszuverstehen,
dass wir grundsätzlich gegen solche Gleichstellungsge-
setze im öffentlichen Dienst sind.
Ich will nun zu dem Bericht kommen, der von der Re-
gierung vorgelegt worden ist. Diese regelmäßige Bericht-
erstattung soll letztendlich eine Erfolgskontrolle sein, in-
wiefern das Frauenfördergesetz gegriffen hat. Dabei
haben wir festgestellt, dass sich trotz des Bundesgre-
mienbesetzungsgesetzes, das ich so sehr liebe, alleine
schon des Namens wegen insgesamt wenig getan hat.
Das heißt, wir konnten nicht erreichen, dass in Gremien
des Bundes mehr Frauen Eingang finden. Ich glaube, dass
solche Gesetze alleine nicht viel bewirken können. Viel
wichtiger sind die Rahmenbedingungen, die Frauen ha-
ben.
(Beifall bei der FDP)
Dazu werde ich gleich kommen.
In diesem Bericht heißt es: Frauenförderpläne werden
zwar durchgängig aufgelegt, aber Führungspositionen
sind das hat auch Frau Bergmann gesagt dennoch nur
zu knapp 10 Prozent mit Frauen besetzt. Grund dafür,
Frau Bergmann, ist, wenn Sie es genau gelesen haben, die
Tatsache, dass sich keine oder nur sehr wenige Frauen auf
Leitungsfunktionen bewerben. Wir müssen nicht immer
denken: die armen Frauen! Frauen haben auch andere
Wünsche, andere Biographien. Lesen Sie das noch einmal
durch! Oft gab es keine Bewerbung von Frauen für Lei-
tungsfunktionen. Darum müssen wir uns kümmern. Sie
müssen ermutigt werden.
Frau Schwaetzer hat mir gerade gesagt, dass sie damals
als Bauministerin kein Gleichstellungsgesetz brauchte.
Sie hat Frauen ganz gezielt gefördert. Machen Sie das bei
Ihren Ministerien auch! Da geht das sicher genauso.
(Christel Humme [SPD]: Nach persönlichem
Gusto, wunderbar!)
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu
den Kritikpunkten an diesem Gesetz. Wir kritisieren
die Ausweitung des Gesetzes auf die Privatwirtschaft
durch die Hintertür. Unternehmen das hat auch schon
Frau Schewe-Gerigk sehr stolz gesagt , die früher öffent-
lich-rechtlich organisiert waren und jetzt privatwirtschaft-
lich tätig sind oder institutionelle Zuwendungen erhalten,
müssen sich diesem Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz
für den öffentlichen Dienst unterwerfen. Die FDP hat sich
gegen ein Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft ausge-
sprochen. Und wir wollen das hier auch nicht durch die
Hintertür mitbeschließen.
(Beifall bei der FDP)
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Meine Damen und Herren, die Gleichstellungsbeauf-
tragten werden ab dem nächsten Jahr ausschließlich
Frauen sein. Der Name des Gesetzes lautet doch Gleich-
stellungsdurchsetzungsgesetz und soll für Männer und
Frauen gleichermaßen gelten. Ich finde es prima, wenn
sich Männer für mehr Gleichstellung im öffentlichen
Dienst einsetzen und auch Frauen vertreten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie aber schließen Männer aus. Wenn Sie keine Gleich-
stellungsbeauftragte in den Dienststellen finden, wollen
Sie eine Frau sogar zwangsverpflichten. Diese Logik in
diesem Gesetz kann ich überhaupt nicht verstehen.
Ein Weiteres verstehe ich persönlich nicht: Wenn beur-
laubte Mitarbeiter während der Zeit ihrer Beurlaubung an
Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen wollen, werden
sie beim Wiedereinstieg mit Urlaub belohnt. Ich finde das
nicht in Ordnung; denn wenn eine Frau nach dem Erzie-
hungsurlaub wieder in den Beruf einsteigen will ich
weiß das von mir selber , braucht sie keinen Urlaub, son-
dern will arbeiten. Von daher halte ich es für ganz wich-
tig, dass Frauen für ihre Fortbildung während der Erzie-
hungspause selbst sorgen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das sollte eine Pflicht sein. Dafür muss es hinterher nicht
unbedingt Urlaub geben.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Gewerkschaf-
terinnen können das nicht verstehen!)
Meine Damen und Herren, ich habe im Ausschuss Än-
derungsvorschläge vorgelegt, die die Mehrheit von
Rot-Grün abgelehnt hat. Ich finde das sehr bedauerlich.
Daher können wir vielen der von Rot-Grün vorgeschla-
genen gesetzlichen Änderungen unsere Zustimmung
nicht geben.
Noch eines das hatte ich vergessen, das muss ich Ih-
nen noch einmal erzählen : In dem Bericht, der den Be-
richtszeitraum 1995 bis 1998 umfasst, liest man, dass die
Ministerien zu wenig Kindergartenplätze vorhalten. Das,
Frau Schewe-Gerigk, haben Sie leider vergessen.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die eigenen Kinder sollen bevor-
zugt werden, die Kindergärten nicht!)
Das zeigt: Wie auch immer die Gesetze lauten, wir brau-
chen Kinderbetreuungseinrichtungen. Nur so haben Frauen
und Männer die Wahl, ob sie am beruflichen Leben teil-
nehmen wollen oder nicht.
Meine Damen und Herren, noch ein Letztes: Dem An-
trag, ein gesondertes Gleichstellungsgesetz für die Bun-
deswehr zu erarbeiten diese Aufgabe haben Sie der
Bundesregierung mit diesem Antrag ja auferlegt , stim-
men wir zu. Wir wollen sehen, was die Bundesregierung
da macht, und werden unsere eigenen Vorstellungen dann
auch vortragen.
Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben. Sie
müssen ertragen, dass es noch andere politische Vorstel-
lungen als nur die von Rot-Grün gibt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
Kollegin Petra Bläss für die PDS-Fraktion.
Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der Vierte Bericht der Bundesregie-
rung über die Förderung der Frauen im Bundesdienst
zeigt sehr deutlich: Ohne konsequente und verbindliche
Maßnahmen in der Frauenförderung kommen wir bei der
Gleichstellung der Geschlechter tatsächlich nur im
Schneckentempo voran. Die PDS wird dem heute zur Ab-
stimmung stehenden Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz
die Zustimmung geben. Dieses Gesetz ist für uns ein not-
wendiger erster Schritt hin zu einer umfassenden Anti-
diskriminierungsgesetzgebung. In der Debatte ist be-
reits einiges zur wirklich neuen Qualität dieses Gesetzes
gesagt worden. Ich nenne nur Stichworte: die einzelfall-
bezogene Quote, die stärkeren Rechte der Gleichstel-
lungsbeauftragten, die insgesamt größeren Verbindlich-
keiten.
Der öffentliche Dienst des Bundes muss zweifellos mit
gutem Beispiel vorangehen; er hat eine Vorbildfunktion.
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht
vergessen, dass die meisten erwerbstätigen Frauen außer-
halb des öffentlichen Dienstes des Bundes, aber auch der
Länder arbeiten, das heißt, unter Bedingungen tätig sind,
die bei weitem nicht dieses Gleichbehandlungsniveau
aufweisen. Umso schwerer wiegt es, dass die rot-grüne
Bundesregierung davon Abstand genommen hat, auch die
Privatwirtschaft gesetzlich zu einer aktiven Gleichstel-
lungspolitik zu bewegen. Ich halte jedenfalls die im Juli
dieses Jahres von der Bundesregierung und den Arbeitge-
berbänden unterzeichnete Vereinbarung zur Förderung
der Chancengleichheit von Frauen und Männern nicht für
ein ausreichendes Instrumentarium, um die ablehnende
Haltung von Unternehmen gegenüber gleichstellungspo-
litischen Maßnahmen grundlegend zu ändern.
(Beifall bei der PDS)
Worum, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es denn
in all den Debatten um gleichstellungspolitische Rege-
lungen? Um nicht mehr, aber auch nicht weniger als um
die Umsetzung eines Gleichstellungsgebotes in Art. 3 un-
seres Grundgesetzes und um die Durchsetzung von euro-
päischen Standards, die zuletzt im Amsterdamer Vertrag
und in der Europäischen Grundrechte-Charta festge-
schrieben worden sind. Die Zulässigkeit von Kompensa-
tionsmaßnahmen zur tatsächlichen Durchsetzung von
Chancengleichheit ist im vergangenen Jahrzehnt durch
eine Vielzahl verbindlicher, das heißt auf nationaler
Ebene durchzusetzender internationaler Dokumente und
in diversen Gerichtsurteilen bestätigt worden.
Heute wurde dem Bundestag auch der Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Ratifizierung des Fakultativpro-
tokolls zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form
der Diskriminierung der Frau zur Beratung überwiesen.
Dieses Zusatzprotokoll sieht vor, dass sich Frauen und
Gruppen bei Verletzung ihrer Rechte direkt beim zustän-
digen Ausschuss der Vereinten Nationen beschweren kön-
nen. In Art. 11 der UN-Konvention heißt es, dass die
Vertragsstaaten ich zitiere alle geeigneten Maßnah-
men zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Be-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Ina Lenke
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(B)
rufsleben treffen. Wir werden also demnächst die Be-
schwerdemöglichkeiten für Frauen verbessern; ihre Dis-
kriminierung im Bereich der Privatwirtschaft wird aber
nach wie vor nicht in angemessener Weise, das heißt vom
Gesetzgeber geregelt werden. Der politische Handlungs-
bedarf für eine gesetzliche Regelung bleibt nach wie vor.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zum
vorliegenden Gesetzentwurf. Wir hätten uns gewünscht,
auch die institutionellen Leistungsempfänger, also zum
Beispiel die Stiftungen, würden gezwungen, das Gesetz
anzuwenden. Dazu hätte die Sollvorschrift in § 3 in eine
Mussvorschrift umgewandelt werden müssen. Mit Soll-
vorschriften insbesondere im Gleichstellungsbereich
haben wir ja bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt.
Dem Entschließungsantrag der Koalition, der die Aus-
weitung des Geltungsbereichs des Gesetzes auf die Bun-
deswehr einfordert, werden wir zustimmen.
(Ina Lenke [FDP]: Sie wissen doch noch gar
nicht, was da drinsteht!)
Auch wenn die Öffnung der Bundeswehr für Frauen in der
PDS nach wie vor äußerst kontrovers diskutiert wird: Die-
sem Anliegen können und wollen wir uns nicht ver-
schließen.
(Beifall bei der PDS)
Wenn Frauen bei der Bundeswehr arbeiten, gibt es keinen
Grund, ihnen gleichstellungspolitische Instrumentarien
vorzuenthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer den ersten
Schritt zur Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen
im Bereich des öffentlichen Dienstes des Bundes macht,
der sollte auch so schnell wie möglich den zweiten Schritt
gehen und eine gesetzliche Regelung zur Gleichstellung
in der Privatwirtschaft in Angriff nehmen.
(Beifall bei der PDS)
Eines ist klar: Spätestens in der kommenden Legislatur-
periode werden wir diese notwendige rechtspolitische
Debatte wieder auf der Tagesordnung haben.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin
Christel Humme das Wort für die SPD-Fraktion.
Christel Humme (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
legen! Liebe Kolleginnen! Mit dem Gleichstellungs-
durchsetzungsgesetz, das wir heute verabschieden, ma-
chen wir Schluss mit der Benachteiligung von Frauen, die
in der Verwaltung des Bundes und in Instituten arbeiten,
die vom Bund gefördert werden.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Anwendungsbereich ist umfassend.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich wünsche allen Frauenbeauftragten des Bundes von
dieser Stelle aus viel Erfolg bei der Durchführung der un-
mittelbar anstehenden Wahlen, zum ersten Mal nach den
Vorgaben unseres neuen Gesetzes. Sie werden dann zu
Gleichstellungsbeauftragten; sie werden auch zahlen-
mäßig mehr sein,
(Ina Lenke [FDP]: Nicht mehr!)
mehr Rechte haben und in Gleichstellungsplänen durch-
setzen können, dass Frauen und Männer den gleichbe-
rechtigten Zugang zu Ausbildungsplätzen und Laufbah-
nen haben.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Künftig gilt die einzelfallbezogene Quote. Das heißt,
Frauen werden bei gleicher Qualifikation bei Ausbildung,
Anstellung und Beförderung unter Berücksichtigung
des jeweiligen Einzelfalls bevorzugt. Auch die Rege-
lungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden
durch unser Gesetz deutlich verbessert. Beschäftigte mit
Familienpflichten Frauen und Männer erhalten einen
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Sabbatjahre und Ar-
beitszeitkonten werden auch in der Bundesverwaltung
Einzug halten.
Die Frauen des Deutschen Frauenrates äußern die
Sorge um die Gewichtung frauenpolitischer Ziele. Sie fra-
gen sich, ob diese frauenpolitischen Ziele in der Politik
nicht zunehmend hinter missverstandenem Gender Main-
streaming und Familienorientierung verschwinden. Mit
unserem Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz geben wir
darauf eine eindeutige Antwort.
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Der Frauenrat
hat auf Ihr Gesetz eine Antwort gegeben, und
was für eine!)
Das für unsere Politik durchgängige Prinzip des Gen-
der Mainstreaming ist nun auch im Bundesdienst ge-
setzlich verankert. Dort machen wir zum Beispiel mit dem
bereits erwähnten Rechtsanspruch Teilzeitarbeit auch für
Männer attraktiv. Väter haben so künftig die Chance, sich
an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen. Andererseits
geben wir Frauen dort den Vorzug, wo sie noch benach-
teiligt sind. Sie sehen, Gender Mainstreaming und Frau-
enpolitik sind in der Tat kein Widerspruch.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Schaffen Sie
denn auch die Parteibuchbeförderung ab?)
Unserem heutigen Erfolg, dem Durchbruch in Sachen
Gleichstellung in der Bundesverwaltung, mussten zwei
Schritte vorangehen das ist in der Tat wahr, Frau
Eichhorn : Der erste Schritt ist der hervorragende Ge-
setzentwurf, den die Bundesregierung in den Bundestag
eingebracht hat. Sie ist mit diesem Gesetzentwurf der na-
tionalen verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Grund-
gesetzes, aber auch der Verpflichtung aus dem Europa-
recht nachgekommen, eine wirkungsvolle und aktive
Gleichstellungspolitik voranzutreiben. Dafür danke ich
der Ministerin Christine Bergmann ausdrücklich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Petra Bläss
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(C)
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(B)
Der zweite Schritt waren die beispielhaften parlamen-
tarischen Beratungen. Über alle Fraktionsgrenzen hinweg
haben wir um das bestmögliche Gleichstellungsgesetz für
die Bundesverwaltung gerungen.
(Ina Lenke [FDP]: Ja, wir haben gerungen!)
Im April haben wir eine an der Sache orientierte Debatte
geführt. Ebenso sachlich war die Beratung im Ausschuss.
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Es wäre noch
schlimmer geworden, wenn wir nicht Ände-
rungsanträge gestellt hätten!)
Wir haben dort den überarbeiteten Gesetzentwurf ein-
stimmig verabschiedet. Hierfür möchte ich mich
nochmals bei der Opposition bedanken. Ich hätte mir
heute eine Fortsetzung im Plenum gewünscht, Frau
Lenke. Wir hätten eine gute Chance gehabt, in Sachen
Gleichstellung gemeinsam voranzugehen.
Wir beraten heute ebenfalls unseren Entschließungsan-
trag, der ein Gleichstellungsgesetz für Frauen und Män-
ner fordert, die im Bereich der Bundeswehr Dienst tun.
Bekanntlich leisten seit dem 1. Januar Frauen freiwillig
Dienst in der Bundeswehr. Seitdem stehen ihnen auch dort
die unterschiedlichsten Laufbahnen offen. Deshalb ist es
nur konsequent, dass auch sie von einem Gleichstellungs-
gesetz profitieren. Ich bitte Sie, meine Herren und Damen
von der Opposition, auch diesem Antrag zuzustimmen.
Mit unserem Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz wird
der öffentliche Dienst eindeutig zum Vorreiter in Sachen
Gleichstellung. Die private Wirtschaft muss in der Tat erst
noch unter Beweis stellen, dass sie genauso auf der Höhe
der Zeit ist. Die im Juli getroffene Vereinbarung zwischen
der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deut-
schen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit
von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft ist dafür
meiner Ansicht nach eine gute Voraussetzung. Die Han-
delnden in der Privatwirtschaft wissen: Es liegt in ihrem
ureigensten ökonomischen Interesse, die Begabungen
und Qualifikationen von Frauen zu nutzen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, am heutigen Tag
setzt ausgerechnet der öffentliche Dienst einen Meilen-
stein in Sachen Gleichstellungspolitik der öffentliche
Dienst, der so häufig als strukturkonservativ, kaum refor-
mierbar und schwerfällig bezeichnet wird. Er wird jetzt
moderner und erfolgsorientierter als die private Wirt-
schaft. Darauf können wir mit Recht stolz sein. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass die private Wirtschaft dies lange
auf sich sitzen lassen wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich bin sicher, unser gutes Beispiel wird Schule machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.
Renate Diemers (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur das Atmen ist er-
laubt. Diese Zeitungsüberschrift aus der Welt be-
schreibt in der kürzesten denkbaren Fassung die Rolle der
Frauen im heutigen Afghanistan. Angesichts des men-
schenunwürdigen Verhaltens gegen Frauen in vielen Tei-
len der Welt und, uns aktuell bewusst, in Afghanistan
verblassen unsere Gleichberechtigungsprobleme. Die Si-
tuation der absolut rechtlosen Frauen wird zwar mit ehr-
licher Betroffenheit zur Kenntnis genommen; der interna-
tionale Aufschrei fehlt jedoch.
Gesellschaftliche und religiöse Gründe seien die Ursa-
che, heißt es. Dies wurde bisher auch so hingenommen.
Es trifft zwar zu, dass die Rolle der Frauen in Afgha-
nistan gesellschaftlich und religiös begründbar ist. Aber
das eigentliche Problem ist wir wollen es doch beim Na-
men nennen die Macht, die Machtfrage zwischen Män-
nern und Frauen. Alles andere klingt vorgeschoben und ist
nicht hauptursächlich. Diese Machtfrage zieht sich durch
alle Gesellschaften und ist in allen so genannten Ent-
wicklungsstadien zu finden, leider auch noch bei uns.
Ich vergleiche damit nicht in unzulässiger Weise un-
sere Situation mit der Lage der Frauen in Afghanistan. De-
ren Elend hat eine ganz andere Dimension als unsere Pro-
bleme. Ich möchte deutlich machen, dass wir einerseits
hier in Deutschland für die Rechte der Frauen in anderen
Ländern, aber andererseits auch weiterhin für unsere ei-
genen Rechte kämpfen sollten und müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen weder in den anderen Ländern noch bei
uns almosenhafte Verbesserungen. Wir brauchen und
fordern die vollständige gleichberechtigte Teilhabe der
Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, die wir, wie
gesagt, auch hier in Deutschland noch lange nicht erreicht
haben.
In der Vergangenheit hat es bei uns viele Initiativen für
Frauen gegeben. Eine der besten war die Einführung der
Frauenfördergesetze für den öffentlichen Dienst des
Bundes.
(Christel Humme [SPD]: Das stimmt, weil es
sonst keine gab!)
Frau Ministerin, ohne diese Frauenfördergesetze wären
wir noch viel weiter von einer wirklichen Gleichberech-
tigung entfernt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Natürlich sind die Erfolge bescheiden. Die Zahlen des
Berichtes über die Frauenförderung des Bundes von
1995 bis 1998 könnten in der Tat viel besser sein. Aber wir
Frauen sollten uns die wenn auch kleinen Erfolge nicht
künstlich kleinreden lassen.
Wir profitieren heute von den Erfahrungen unserer ers-
ten Fördergesetze. Aus diesem Grund unterstützen wir als
Union die notwendige Fortschreibung und Ergänzung un-
serer Ideen. Das heute zu verabschiedende Gesetz zur
Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Män-
nern in Bundesverwaltung und Gerichten des Bundes baut
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Christel Humme
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(C)
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auf den Erfahrungen auf, die wir in den letzten zehn Jah-
ren gesammelt haben. Die Frauenförderung wird mit dem
neuen Gesetz weiterentwickelt,
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!)
der Geltungsbereich des Gesetzes etwas ausgeweitet, die
Kompetenzen der Gleichstellungsbeauftragten werden
genau definiert und ausgedehnt.
Wir können heute dem Gesetz zustimmen, obwohl wir
von der CDU/CSU in einzelnen Fragen Bedenken hatten
und noch haben, uns eine weniger dirigistische Lösung
wünschten und zum Beispiel auf ein Klagerecht gerne
verzichtet hätten.
Wir stimmen heute zu, da wir in der grundsätzlichen
Frage der Frauenförderung dasselbe Ziel anstreben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wichtig ist für uns, dass mit der Umsetzung des Geset-
zes Folgendes erreicht wird: erstens eine größere gesell-
schaftliche Akzeptanz von Frauen in der Arbeitswelt und
in Führungspositionen, zweitens eine wachsende Selbst-
verständlichkeit im Hinblick auf die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf bzw. Erwerbstätigkeit dieser Punkt
gilt gleichermaßen für Mütter und Väter und drittens
eine Vorbildfunktion für Unternehmen in der Privatwirt-
schaft.
Der öffentliche Dienst lebt seit jeher mit dem Vorur-
teil, nicht so flexibel zu sein wie die freie Wirtschaft; die
Strukturen seien verkrustet und allgemeine Neuerungen,
gerade im Hinblick auf moderne Arbeitsorganisation, kä-
men in der öffentlichen Verwaltung erst mit großer Zeit-
verzögerung an. Positiv kann ich heute bewerten, dass
sich die Verwaltung des Deutschen Bundestages inzwi-
schen modern und aufgeschlossen zeigt. Vor kurzem
wurde eine Vereinbarung zur Einführung der alternieren-
den Telearbeit unterzeichnet und die Einführung der
Gleitzeit steht, so hoffe ich, unmittelbar bevor. Wenn wir
in der öffentlichen Verwaltung die gesteckten Ziele für die
Frauen auch nur annähernd erreichen, wird vom öffent-
lichen Dienst ein wichtiges Signal für die übrigen Wirt-
schaftsunternehmen in Deutschland ausgehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurzeit wird einer-
seits in vielen Verwaltungen und Unternehmen über eine
neue Personalpolitik und Flexibilisierung von Arbeits-
organisation diskutiert. Es scheint eine nahezu unbe-
grenzte Kreativität ausgebrochen zu sein, um zu demons-
trieren, was für Frauen alles gemacht wird. Andererseits
wird geschickt suggeriert, es gäbe nicht genügend quali-
fizierte Frauen. Das ist übrigens das alte Totschlagar-
gument gegen die Quote. Aber wer, wenn nicht wir Frauen
im Bundestag, weiß, dass dieses Argument nur ein
Scheinargument ist, das zudem nicht wahrer wird, je älter
es wird und je öfter es aus der Mottenkiste hervorgeholt
wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Selbstverständlich sollen nur geeignete Menschen Füh-
rungspositionen einnehmen. Aber warum ist der Hinweis
auf eine notwendige Qualifizierung immer nur im Zu-
sammenhang mit Frauen zu finden?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Es stört mich auch gewaltig, dass im Zusammenhang
mit Frauenförderung und Gleichstellung immer im selben
Atemzug neue Forderungen an den Staat gestellt werden.
Es gilt das Motto: Jeder will die Frauen fördern, aber nur
dann, wenn der Staat dieses und jenes regelt und alle Un-
wegsamkeiten aus dem Wege räumt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Mit diesen Forderungen wird eines ganz deutlich: Die
Philosophie großer Teile der Wirtschaft und der öffent-
lichen Verwaltung gleichermaßen basiert nicht auf Ver-
einbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, sondern es
werden in erster Linie diejenigen Frauen gefördert, deren
Familie dabei nicht stört.
Die Arbeitgeber und Führungskräfte unterliegen einem
großen Irrtum, wenn sie erwarten, dass eine ausgeweitete
Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, also öffent-
liche Aufgaben, so wichtig sie sind dafür kämpfen wir
auch , die Probleme alleine lösen könnten. Vereinbarkeit
von Beruf und Familie heißt eben nicht, dass Frauen und
Männer mit Familienaufgaben zwei vollkommen ge-
trennte Leben führen.
Selbst wenn die außerhäusliche Versorgung des Kindes
sichergestellt ist, also ausreichende Versorgung mit Kin-
dergartenplätzen und Ganztagsschulen vorhanden wäre,
gibt es weiterhin gewisse Unwägbarkeiten: Krankheiten,
Betriebsausflüge, Fortbildungen, Schul- und Prüfungs-
stress oder auch ganz alltägliche Hausaufgaben, Impf-
termine und kurzfristiger Schulstundenausfall lassen ei-
nen gewissenhaft geplanten Arbeitstag ganz schnell
platzen. Die Umgebung der Betroffenen die Vorgesetz-
ten und Arbeitskollegen und -kolleginnen reagiert mit
Unwillen, mit Unverständnis und vor allem mit dem
Vorwurf der Überforderung.
Hier müssen wir ansetzen und weitere Maßnahmen für
eine familienfreundliche Arbeitswelt anregen. Wir müs-
sen dafür sorgen, dass auch in den Köpfen der Menschen
eine Änderung eintritt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
der FDP)
Gegen Sturheit und antiquierte Ansichten über das Rol-
lenverständnis gibt es leider kein Klagerecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Bundes-
wehr sollte von der Anwendung eines Gleichstellungs-
gesetzes nicht ausgenommen werden. Nach der Öffnung
der Bundeswehr für die Frauen ist es also folgerichtig,
auch hier ein entsprechendes Gleichstellungsgesetz zu
erarbeiten. Daher unterstützen wir den von der Regie-
rungskoalition vorgelegten Entschließungsantrag und er-
warten nun von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Regierungskoalition, einen vernünftigen Gesetz-
entwurf.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Renate Diemers
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Mir ist gerade von einer Sitzung des Frauenrates be-
richtet worden, dass es in vielen Gremien des Bundes
keine Frauen gebe. Ich denke, Frau Ministerin, es ist mög-
lich, dass wir recht bald einen entsprechenden Bericht
vorgelegt bekommen, in dem steht, ob es in der Tat frau-
enlose Bundesgremien bei uns in Deutschland gibt, so-
dass wir dann weiter darüber diskutieren können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei
Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Renate Gradistanac für die
SPD-Fraktion.
Renate Gradistanac (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung
hat mit ihrem Programm Frau und Beruf Aufbruch in
der Gleichstellungspolitik ein anspruchsvolles Arbeits-
programm für diese Legislaturperiode vorgelegt. Dazu
gehört ein effektives Bundesgleichstellungsgesetz, das
wir mit dem Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz heute in
zweiter und dritter Lesung verabschieden werden.
Das bisherige Frauenfördergesetz wird aufgehoben, da
es nicht die erhoffte Wirkung erzielt hat, wie im Vierten
Bericht der Bundesregierung über die Förderung von
Frauen im Bundesdienst aufgeführt wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der neue Ansatz, der durch Begriffe wie Gleichstel-
lung, Gleichstellungsplan und Gleichstellungsbeauf-
tragte geprägt ist, zeigt die neue Philosophie dieses
Gesetzes, nämlich die Gleichstellung von Frauen und
Männern als durchgängiges Handlungs- und Leitprinzip
zu berücksichtigen,
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wo ist denn da
etwas Neues?)
so genanntes Gender Mainstreaming.
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Steht das da
drin?)
Lieber Gott, Sie sollten die Gesetze vorher durchlesen,
wenn Sie darüber sprechen! Das ist ja unglaublich.
(Beifall bei der SPD)
Damit ist das Prinzip der Gleichbehandlung überholt,
das problematisch ist, weil daraus abgeleitet wird, dass
Frauen wie Männer zu behandeln sind, die Norm also der
Mann ist. Kursangebote wie zum Beispiel Wie entwickle
ich einen Killerinstinkt?,
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hilfe!)
Wie gehe ich mit dem Büro-Casanova um? oder Wie
verschaffe ich mir Gehör bei Besprechungen? zielen da-
rauf ab, Frauen zu helfen, die so genannten besseren Män-
ner zu werden.
Es wird von der Vorstellung ausgegangen, dass Frauen
Defizite haben. An den in erster Linie für die Benachtei-
ligung von Frauen verantwortlichen kulturellen und orga-
nisatorischen Strukturen wurde nicht gerührt.
Wie heißt es in unserem SPD-Grundsatzprogramm so
zutreffend: Wer die menschliche Gesellschaft will, muss
die männliche Gesellschaft überwinden. Ist das nicht
herrlich?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN Eckart von Klaeden [CDU/
CSU]: Herr Schmidt klatscht ganz verkrampft
fürs Protokoll!)
Beim Gender Mainstreaming geht es also darum, dass
Frauen und Männer in ihrer ganzen Vielfalt ihren Platz
finden und ihr gesamtes Potenzial an Fähigkeiten entfal-
ten können, zum Beispiel Fähigkeiten in der Kommuni-
kation, zur Teamarbeit und Konsensbereitschaft. Das
heutige Gesetz findet seine Anwendung in der Bundes-
verwaltung, an den Gerichten des Bundes, in der Bundes-
verwaltung in Privatrechtsform und soll das freut mich
ganz besonders auf Soldatinnen und Soldaten erweitert
werden. Damit das klang heute schon mehrfach an
wird der Bund seiner Verantwortung und seiner Vorbild-
funktion gerecht, die sich auch in gesetzlich festgeschrie-
bener Verwendung geschlechtspezifischer Sprache in
Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausdrückt end-
lich!
Ich wünsche mir, dass dieses gute zukunftsgerichtete
Gesetz die Unterstützung in unserer Gesellschaft erhält,
die es benötigt, um durchgreifende Veränderungen zu be-
wirken.
Das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz entspricht im
Übrigen dem Verfassungsauftrag unseres Grundgesetzes,
den Vorgaben des EG-Vertrages sowie völkerrechtlichen
Verpflichtungen. Ich erinnere an Art. 11 des Übereinkom-
mens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung
der Frau, CEDAW, von dem heute schon die Rede war.
Das Frauenrechtsübereinkommen von 1979 ist das erste
umfassende internationale Instrument zum Abbau ge-
schlechtsspezifischer Diskriminierung. Ich erinnere an
die Ächtung der Genitalverstümmelung von Frauen. Bis-
lang fehlten aber wirksame Kontrollmechanismen zur
Einhaltung durch die Vertragsstaaten. Ich freue mich, dass
nun die Ratifizierung des CEDAW-Zusatzprotokolls an-
steht. Die Bundesregierung stärkt die nationalen Frauen-
rechte durch die Möglichkeit der Individualbeschwerde-
und Untersuchungsverfahren vor dem UN-Frauenaus-
schuss.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Ich freue mich darüber, weil ich meine, dass dies ein Aus-
druck einer gereiften Demokratie ist.
Wünschenswert wäre die internationale Einigkeit,
dass, unabhängig von Kultur und Religion, die Missach-
tung der Rechte der Frauen ich denke beispielhaft an die
afghanischen Frauen deutlicher als Menschenrechtsver-
letzungen geächtet wird als bisher.
Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18813
(C)
(D)
(A)
(B)
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gleichstel-
lungsdurchsetzungsgesetzes. Es handelt sich um die
Drucksachen 14/5679 und 14/6898. Der Ausschuss für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen?
Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? Wer enthält
sich? Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die
Grünen auf Drucksache 14/7074. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? Gegenprobe! Enthaltungen?
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des ge-
samten Hauses angenommen.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/6898, in Kenntnis der Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 14/5003 eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Enthaltungen? Gegenprobe!
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung
um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu
einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens zu erweitern und jetzt sofort als Zusatz-
punkt 8 aufzurufen. Erhebt sich dagegen Widerspruch?
Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Deshalb rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens
Drucksache 14/7115
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/7115, die Genehmigung zu
erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Voraussetzungen für die Durchführung von
Onlinewahlen
Drucksache 14/6318
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Kolleginnen und Kollegen Sylvia Bonitz, Grietje
Bettin, Dr. Max Stadler, Angela Marquardt sowie der Par-
lamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben1). Ich sehe keinen
Widerspruch im Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6318 an die an der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Offensichtlich sind
Sie alle damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb
von Wertpapieren und von Unternehmens-
übernahmen
Drucksachen 14/7034, 14/7090
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Schauerte, Gunnar Uldall, Wolfgang Börnsen
(Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Fairer Wettbewerb und Rechtssicherheit bei
Unternehmensübernahmen in Europa
Drucksache 14/3776
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
18814
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 2
2) Anlage 3
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Rainer Funke, Hildebrecht Braun
(Augsburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Zur gesetzlichen Regelung von Firmenüber-
nahmen
Drucksachen 14/2826, 14/3895
Die Kolleginnen und Kollegen Nina Hauer, Hartmut
Schauerte, Andrea Fischer (Berlin), Rainer Funke, Ursula
Lötzer sowie die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden ebenfalls zu Pro-
tokoll gegeben2). Auch hier sehe ich große Begeisterung
im Saal.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7034, 14/7090 und 14/3776 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Einverständnis des gesamten Hauses liegt vor.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zu-
satzpunkt 6 auf:
12. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung von streckenbezogenen Gebühren für
die Benutzung von Bundesautobahnen mit
schweren Nutzfahrzeugen
Drucksachen 14/7013, 14/7087
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Keine Abgabenerhöheung durch LKW-Maut
Drucksache 14/7072
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Reinhard Weis (Stendal), Wilhelm Josef
Sebastian, Albert Schmidt (Hitzhofen), Horst Friedrich
(Bayreuth), Dr. Winfried Wolf sowie die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Angelika Mertens haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben1). Kein Widerspruch im Hause.
Deshalb wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/7013, 14/7087 und 14/7072 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse interfraktionell
vorgeschlagen. Es gibt keine anderweitigen Vorschläge
dazu. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche
Bundesbank
Drucksache 14/6879
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die in-
tegrierte Finanzdienstleistungsaufsicht
Drucksachen 14/7033, 14/7088
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wir merken erst jetzt, was wir so alles beschließen,
wenn man es auf die Schnelle macht.
Die Kolleginnen und Kollegen Jörg-Otto Spiller,
Otto Bernhardt, Christine Scheel, Gerhard Schüßler,
Dr. Barbara Höll sowie die Parlamentarische Staats-
sekretär Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben2). Auch hier kein Widerspruch im Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/6879, 14/7033 und
14/7088 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Auch hier gibt es keine ander-
weitigen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
Drucksache 14/6884
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Ruth Fuchs, Ulla Jelpke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
Drucksache 14/6918
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Joachim Hacker,
Andrea Voßhoff, Hans-Christian Ströbele, Rainer Funke,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
18815
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6
Dr. Evelyn Kenzler sowie der Parlamentarische Staatsse-
kretär Dr. Eckhart Pick haben sämtlichst ihre Reden zu
Protokoll gegeben3). Auch hier Freude im ganzen
Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6884 und 14/6918 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es
gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann sind auch
diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt nun wird es wirklich spannend, es wird
doch noch geredet den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa
Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Wirksamer Schutz der Bürgerinnen und Bür-
ger im Rahmen der Euroumstellung
Drucksache 14/6895
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
sechs Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Allerdings haben die Kolleginnen und Kollegen Jella
Teuchner, Norbert Schindler, Kristin Heyne und Gudrun
Kopp ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben1).
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr lo-
benswert!)
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile der Kolle-
gin Dr. Barbara Höll für die PDS-Fraktion das Wort.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dafür
hat es früher Klassenkloppe gegeben!)
Dr. Barbara Höll (PDS): Nein, ich denke, die Freude
steigert sich. Sie wissen doch, dass wir aus Prinzip immer
reden möchten, wenn wir den letzten oder fast den letzten
Tagesordnungspunkt bestreiten.
Auf Wiedersehen, D-Mark! Am 1. Januar 2002 ist es so
weit. Dies kann man satirisch besingen, wie derzeit im
Mehringhof-Theater zu erleben:
Wir kennen uns seit Jahren, der Weg zu dir war weit.
Wenn wir zusammen waren, wurds eine gute Zeit.
Jetzt gibt es leider sehr viele Menschen, die befürchten,
dass mit und durch die Umstellung der D-Mark auf den
Euro diese gute Zeit getrübt und gestört wird. Ich meine,
diese Befürchtungen bestehen leider zu Recht. Es gibt
eine akute Angst vor Preiserhöhungen im Zuge der Eu-
roumstellung.
(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Leider wahr!)
Nach Umfragen betrifft das etwa 70 Prozent der Bevölke-
rung. Auch die Deutsche Bundesbank teilt diese Befürch-
tung.
Es gibt zwar eine Selbstverpflichtung des deutschen
Einzelhandels, in Vorbereitung der Euroumstellung im
zweiten Halbjahr keine Preiserhöhungen vorzunehmen.
Aber nach Untersuchungen von Verbraucherverbänden
steht dies leider nur auf dem Papier und nicht Realität.
Das Kölner Institut für angewandte Verbraucherfor-
schung e.V. untersuchte in diesem Sommer 1 000 Pro-
dukte und stellte eine durchschnittliche Preiserhöhung
von 4,4 Prozent fest. Dies erfolgte auf verschiedenen We-
gen, unter anderem auch durch die Veränderung der
Verpackungsgröße, obwohl das für die Herstellung relativ
aufwendig ist und dies letztendlich wieder beim Handel
ankommt. Ein spezifisch deutsches Problem sind dabei
die so genannten Signalpreise: 9,99 DM oder 8,88 DM. Es
stellt sich die Frage, wie diese Signalpreise aufrechterhal-
ten werden können, denn durch eine genaue Umrechnung
der D-Mark in den Euro lassen sich diese Signalpreise
nicht mehr erreichen. Man müsste dabei in größerem Um-
fang auf- oder abrunden. Vielleicht wäre die Euroumstel-
lung eine Gelegenheit für den Handel, seine antiquierten
Vorstellungen aufzugeben, die Menschen ließen sich
durch die Signalpreise leichter zum Kauf verführen.
Es gibt eine große Unsicherheit, ob nicht viele Pro-
dukte nach der Umstellung teurer werden. Ich habe die
Bundesregierung im Sommer gefragt, was sie zu unter-
nehmen gedenkt, um die Ängste und Befürchtungen der
Bevölkerung hinsichtlich der Euroumstellung abzubauen.
Die Bundesregierung antwortete mir am 17. September,
sie werde in enger Zusammenarbeit mit den Verbraucher-
verbänden die Umstellung für den Verbraucher so kosten-
günstig und transparent wie möglich gestalten. Die Skep-
sis in der Bevölkerung und die Furcht vor verdeckten
Preiserhöhungen und einem Wertverfall des Geldes wür-
den durch vertrauensbildende Maßnahmen abgebaut. Das
klingt fantastisch. Allerdings steht überhaupt nichts da-
hinter.
Unser Antrag zeigt Ihnen mit zwei Vorschlägen den
Weg auf, wie Sie tatsächlich vertrauensbildend tätig wer-
den können. Wir haben dabei insbesondere die Befürch-
tungen der Verbraucherverbände aufgegriffen. Ich
nehme ein Beispiel: Es ist bis heute nicht klar, bis zu wel-
cher Höhe die Bürgerinnen und Bürger bei einer Bank
oder Sparkasse kostenfrei Geld umtauschen können. Die
Commerzbank will einen handelsüblichen Betrag kosten-
frei umtauschen und stellt sich dabei eine Summe von
20 DM vor. Von anderen Banken ist überhaupt keine Zahl
zu erfahren. Für uns ist ein handelsüblicher Betrag sicher
das, was wir im Portemonnaie haben. Das ist bei uns even-
tuell etwas mehr als bei jemandem, der ein monatliches
Nettoeinkommen von 2 000 DM hat.
Es herrscht Unklarheit darüber, was mit dem weiteren
Bargeld geschieht. Wenn Sie heute bei der Sparkasse nach
einem Startpaket fragen, damit Sie die Euromünzen ken-
nen lernen können, so stellen Sie fest, dass pro Bürger nur
ein Paket ab 17. Dezember ausgegeben wird. Wenn Sie
nach zwei oder drei Paketen fragen: Fehlanzeige.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
18816
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 7
Ein weiteres Problem: Was ist mit den Menschen ohne
eigene Bankverbindung? Sie haben zwar Bargeld, aber
keine Bankverbindung. Nebenbei bemerkt: Diese Fälle
gibt es, obwohl seit 1995 die Selbstverpflichtung besteht,
allen Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit einer
Bankverbindung einzuräumen. Diese Selbstverpflichtung
wurde von der Kreditwirtschaft nicht eingehalten. Nach
Angaben der Bundesanstalt für Arbeit gibt es derzeit etwa
90 000 Empfänger von Arbeitslosengeld oder -hilfe und
70 000 Empfänger von Kindergeld ohne eigene Bankver-
bindung. Das heißt, es geht hier nicht nur um ein, zwei
oder drei Personen, sondern es geht um eine Vielzahl von
Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, ihr Konto kos-
tenlos umzustellen. Sie sind vielmehr auf den Umtausch
von Bargeld angewiesen. Hierzu gibt es bisher keine Aus-
sage von der Kreditwirtschaft.
Eine andere Frage: Was ist mit den überflüssigen Geld-
beständen ein paar Franken, Lira oder Peseten , die
man vielleicht im März, April oder Juni findet? Dieses
Geld können Sie umtauschen, aber nur bei den
Landeszentralbanken. Wenn Sie irgendwo auf dem Land
wohnen, wo der öffentliche Personennahverkehr schon
stark abgebaut worden ist, haben Sie Schwierigkeiten, zu
den Öffnungszeiten zu den Landeszentralbanken zu kom-
men, um Ihr Restgeld umtauschen zu können. Es ist noch
die Frage, ob der Umtausch kostenfrei geschieht oder ob
Gebühren erhoben werden.
Es ist auch nicht klar, ob ab dem 1. Januar 2002 trotz
der gemeinsamen Währung Gebühren erhoben werden,
wenn man als Ausländer in Paris oder in irgendeiner an-
deren Stadt im Euroraum mit der EC-Karte Geld zieht.
Es gibt also noch eine Vielzahl von Problemen. Wir
sind der Meinung, die Bundesregierung sollte von sich
aus aktiv werden und nicht nur einfach Werbekampagnen
initiieren, in denen auf freundliche Art mitgeteilt wird:
Der Euro kommt!
(Beifall bei der PDS)
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, beim Bundesfinanz-
ministerium eine Hotline einzurichten, damit die Bürge-
rinnen und Bürger wenigstens eine Adresse haben, an die
sie sich wenden können, wenn ihnen Unregelmäßigkeiten
bei der Preisauszeichnung auffallen und sie das Gefühl
haben, dass in eklatanter Art und Weise gegen gesetzliche
Regelungen verstoßen wird. Dafür fehlt bisher eine Stelle.
Wir meinen, dass wir in unserem Antrag sehr konkret auf
die Befürchtungen der Bevölkerung eingegangen sind
und Ihnen aufgezeigt haben, wie Sie ohne großen Auf-
wand und ohne viel Geld handeln könnten. Sie müssen
einfach nur aktiv werden. In diesem Sinne werbe ich für
unseren Antrag und hoffe, dass wir ihn im Ausschuss zü-
gig und erfolgreich behandeln werden.
Danke schön.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6895 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 a sowie den Zusatzpunkt
7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun
(Augsburg), Rainer Brüderle, weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewer-
tungsgesetzes
Drucksache 14/5345
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be-
wertungsgesetzes
Drucksache 14/6718
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Die Kolleginnen Nicolette Kressl, Christine Scheel
und Dr. Barbara Höll sowie die Kollegen Hans
Michelbach und Rainer Funke haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1) Es herrscht große Begeisterung im
ganzen Saale.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/5345 und 14/6718 an die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001
Dr. Barbara Höll
18817
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 8
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18819
(C)
(D)
(A)
(B)
Adam, Ulrich CDU/CSU 11.10.2001
Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 11.10.2001
Gila DIE GRÜNEN
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 11.10.2001***
Dr. Blank, CDU/CSU 11.10.2001***
Joseph-Theodor
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 11.10.2001**
Klaus
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 11.10.2001
Frankenhauser, CDU/CSU 11.10.2001
Herbert
Friedrich (Altenburg), SPD 11.10.2001
Peter
Friedrich (Mettmann), SPD 11.10.2001
Lilo
Haack (Extertal), SPD 11.10.2001
Karl-Hermann
Ibrügger, Lothar SPD 11.10.2001***
Jäger, Renate SPD 11.10.2001*
Janssen, Jann-Peter SPD 11.10.2001
Janz, Ilse SPD 11.10.2001
Jelpke, Ulla PDS 11.10.2001
Kolbow, Walter SPD 11.10.2001
Kopp, Gudrun FDP 11.10.2001
Naumann, Kersten PDS 11.10.2001
Nolte, Claudia CDU/CSU 11.10.2001
Ostrowski, Christine PDS 11.10.2001
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 11.10.2001
Raidel, Hans CDU/CSU 11.10.2001
Rauber, Helmut CDU/CSU 11.10.2001
Simm, Erika SPD 11.10.2001
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 11.10.2001
Thiele, Carl-Ludwig FDP 11.10.2001
Dr. Thomae, Dieter FDP 11.10.2001
Dr. Wieczorek, SPD 11.10.2001
Norbert
Wolf, Aribert CDU/CSU 11.10.2001
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union
*** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen
Versammlung der NATO
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Voraussetzungen für
die Durchführung von Onlinewahlen (Tages-
ordnungspunkt 10)
Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Man stelle sich vor, es
wäre Wahl und keiner ginge hin. Was im ersten Moment
nach einem dramatischen Absinken der Wahlbeteiligung
aussieht, könnte in nicht allzu ferner Zukunft auch eine
andere Ursache haben: die Teilnahmemöglichkeit an On-
linewahlen.
In den letzten Jahren hat die Zahl der Internetnutzer
weltweit stark zugenommen. Auch bei uns in Deutsch-
land nutzen inzwischen über 20 Millionen Deutsche das
Internet zur Unterhaltung, zur Kommunikation oder zur
Informationsbeschaffung. Immer mehr bundesdeutsche
Haushalte sind mit Personalcomputern ausgestattet.
Und so gewinnt angesichts einer stetig wachsenden
Zahl von Internetnutzern die Möglichkeit der Online-
stimmabgabe zunehmend an Bedeutung. Die mittels
Internet abgegebene Wählerstimme könnte damit die
herkömmliche Stimmabgabe im Wahllokal oder per
Briefwahl um ein attraktives, zeitgemäßes Angebot er-
gänzen.
Innenminister Otto Schily hat zwar bereits Anfang Mai
diesen Jahres angekündigt, dass im Jahre 2006 die Bun-
destagswahl auch online möglich sein werde. Allerdings
schon zwei Wochen später hat er dieses Datum auf das
Jahr 2010 nach hinten korrigiert. Es fällt auf, dass neben
plakativen Ankündigungen, Deutschland befinde sich auf
dem Wege zu Onlinewahlen, konkrete Schritte in diese
Richtung bislang nicht erkennbar sind. Gewiss wird im
Bundesinnenministerium eifrig an den Vorbereitungen für
die Durchführung von Onlinewahlen gearbeitet. Nur er-
fahren wir davon nichts. Und so fällt es schwer zu beur-
teilen, wie es um die Sache steht.
Vor allem interessiert, ob auch die Sicherheit solcher elek-
tronisch gestützter Wahlverfahren wirklich gewährleistet
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
werden kann. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt. Da-
raus resultiert unser Antrag, einen Bericht der Bundesre-
gierung zu diesem Thema einzufordern. Schließlich sind
uns andere Länder voraus bei diesem Thema. Onlinewah-
len als technische Erweiterung des Wahlsystems sind be-
reits in einigen europäischen Ländern, aber auch in den
USA und in Neuseeland möglich oder zumindest für die
nähere Zukunft geplant. Es liegt daher nahe, sich die Er-
fahrungen aus anderen Ländern oder Kommunen zunutze
zu machen, zumal es inzwischen einige sehr erfolgver-
sprechende Vorbilder gibt:
So sollen in Stockholm bereits im Jahre 2003 gültige
Wahlen und Abstimmungen in einzelnen Stimmbezirken
durchgeführt werden. Für das Parlament ist eine solche
Onlinewahlmöglichkeit für das Jahr 2005 geplant. Auch
die neuseeländische Ministerpräsidentin hat für ihr Land
Modellprojekte zum e-voting angekündigt. In den USA
wird ebenso verstärkt hierüber nachgedacht, insbesondere
auch nach dem Wahldebakel in Florida.
In der Tat wurden auch in Deutschland bereits erste
Schritte unternommen. So fand im Juli diesen Jahres in
Esslingen am Neckar, also in Baden-Württemberg, die
erste rechtsverbindliche Internetwahl zu einem öffentli-
chen Gremium in Europa statt. Jugendliche hatten die
Möglichkeit, auf Signaturenkarten gestützt per Online-
wahl ihren Jugend-Gemeinderat zu wählen. Interesse und
Zustimmung waren bei den Jugendlichen groß. Das
jüngste Beispiel ist die Landratswahl im Landkreis Mar-
burg-Biedenkopf im September 2001. 234 Briefwähler
hatten sich im Vorfeld für die Stimmabgabe im Netz regis-
trieren lassen.
Doch ich sage es deutlich, um keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen: Es geht uns bei dem Begriff der
Onlinewahl um die Schaffung einer zusätzlichen Mög-
lichkeit der Stimmabgabe neben Urnen- und Briefwahl.
Von einem vollständigen Ersatz der bisherigen Wahlmög-
lichkeiten kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Rede
sein. Und was spricht eigentlich dagegen, das Wahlrecht
mit der Einführung einer zeitgemäßen, zusätzlichen
Stimmabgabemöglichkeit zukunftsgewandt fortzuent-
wickeln und zu ergänzen? Schließlich wurde auch die
Briefwahl erst einige Jahre nach dem Entstehen der Bun-
desrepublik Deutschland zugelassen. Erst seit 1957 dür-
fen Wählerstimmen per Briefwahl abgegeben werden.
Dabei ist die Briefwahlmöglichkeit seinerzeit vom
Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nur als Aus-
nahme genehmigt worden. Sie sollte auf diejenigen be-
schränkt sein, die am Wahltag aus einem gesundheitlichen
oder anderen triftigen Grund nicht im Wahllokal erschei-
nen können. Aus dieser Ausnahme hat sich allerdings in
den letzten Jahren eine stetig gestiegene Zahl von Brief-
wählern entwickelt. So betrug der Anteil an Briefwahl-
stimmen bei der Bundestagswahl 1998 allein 16 Prozent,
in München sogar 25 Prozent, das heißt dort wurde jede
vierte Stimme per Briefwahl abgegeben.
Was läge also näher, als angesichts einer stetig wach-
senden Zahl von Internetnutzern demnächst auch die
Möglichkeit der Stimmabgabe mittels dieses elektroni-
schen Mediums zuzulassen? Sie wäre in vielen Fällen be-
quemer, da eine sonst erforderliche Anforderung von
Briefwahlunterlagen entfällt. Um aber den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, gilt wei-
terhin der Grundsatz, dass der Wähler sein Kreuz in der
Wahlkabine zu machen hat. Wenngleich dieser Grund-
satz zunehmend unterlaufen wird, so bleibt doch festzu-
halten: Eine komplette Wahl im Internet widerspräche
wohl auch unserer Wahlkultur. Einige kritisieren gar,
eine Stimmabgabe per Mausklick tangiere die Würde
des Wahlaktes.
Ich gebe zu, es gibt bei einigen die Hoffnung, auf dem
Wege der Onlinewahl der zunehmenden Wahlmüdigkeit
begegnen zu können. Immer wieder haben uns in letzter
Zeit Negativrekorde im Hinblick auf geringe Wahlbe-
teiligungen aufgeschreckt. So betrug bei den niedersäch-
sischen Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung nur noch
enttäuschende 56,2 Prozent. Doch ich warne davor, in On-
linewahlen ein Allheilmittel gegen diesen Trend zu sehen.
Vielleicht mag tatsächlich der eine oder andere auf elek-
tronischem Wege eher motiviert sein, seine Stimme abzu-
geben. Gerade wenn es draußen regnet und stürmt, mag
der Weg ins Wahllokal als beschwerlich angesehen wer-
den, sodass manche Stimmabgabe unterbleibt.
Doch eine geringe Wahlbeteiligung hat letztlich an-
dere, tiefer gehende Ursachen. Ein liebestoll herumplan-
schender Verteidigungsminister, der gern völlig desinfor-
miert in TV-Morgenmagazinen herumplaudert, sei hier
nur als ein Beispiel wenig hilfreicher Art angeführt: An-
gesichts solcher Politikerverdrossenheit kann ich schon
verstehen, wenn die Würde des Wahlaktes von einigen als
Bürde empfunden wird.
Doch zurück zu unserem Unionsantrag, der Ihnen
heute zur Debatte vorliegt. CDU und CSU wollen die bis-
herigen Stimmabgabemöglichkeiten um eine moderne,
zukunftsgerichtete Abstimmungstechnik ergänzen, zumal
diese insbesondere auch die jüngeren Menschen in unse-
rem Lande, anspricht. Uns ist klar, dass Onlinewahlen
kein Allheilmittel gegen Wahlmüdigkeit und Politikver-
drossenheit sind. Sie sind aber als ergänzendes Angebot
ein wichtiger Schritt hin zu zeitgemäßeren Abstimmungs-
verfahren. Auch ältere und gesundheitlich beeinträchtigte
Menschen können davon profitieren. Wer nicht mehr so
mobil ist, dem kann die elektronische Stimmabgabe eine
echte Erleichterung sein. Denn auch bei diesem Perso-
nenkreis stößt das Internet zunehmend auf Interesse.
Was wir hingegen nicht wollen, ist die schleichende
Einführung von Volksabstimmungen über den elektroni-
schen Umweg. Onlinewahlen sind eine dritte, ergänzende
Möglichkeit der Stimmabgabe neben Urnenwahl und
Briefwahl. Von vielen wird diese technische Erweiterung
der Stimmabgabemöglichkeit zwar gerne mit dem Thema
Volksentscheid verknüpft. Für uns sind dies allerdings
zwei Paar verschiedene Schuhe. Wir wollen den Wähle-
rinnen und Wählern lediglich eine andere, für PC-Nutzer
naheliegende Form der Stimmabgabe anbieten.
Um hier bei der Realisierung voranzukommen, fordern
wir die Bundesregierung auf, einen Bericht über die ge-
setzlichen, sicherheitstechnischen und verwaltungsrele-
vanten Erfordernisse an Onlinewahlen sowie die Maß-
nahmen zu ihrer Realisierung vorzulegen. Gleichzeitig
wird die Bundesregierung aufgefordert darzulegen, unter
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118820
(C)
(D)
(A)
(B)
welcher zeitlichen Perspektive und mit welchem techni-
schen, personellen sowie finanziellen Aufwand erste On-
linewahlen auf den unterschiedlichen Ebenen durchge-
führt werden können.
Die Bundesregierung soll geeignete Projekte zur
Erprobung von Onlinewahlen entwickeln und dabei die
Erfahrungen aus anderen Ländern oder anderen gesell-
schaftlichen Bereichen heranziehen. Eine ganz entschei-
dende Voraussetzung kommt dabei der Entwicklung eines
sicheren und manipulationsfreien Wahlsystems zu, um die
Vertraulichkeit der Wahlentscheidung zu gewährleisten.
Das Vertrauen der Bürger in die Sicherheit einer solchen
Wahlalternative ist schließlich die Grundvoraussetzung
für ihre allgemeine Akzeptanz.
Onlinewahlen können letztlich nur durchgeführt wer-
den, wenn die Anforderungen des Art. 38 GG an allge-
meine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen
erfüllt sind. So muss die eindeutige Feststellung der
Wahlberechtigung und die dauerhafte Geheimhaltung der
abgegebenen Wahlentscheidung und die gebotene Ein-
maligkeit der Stimmabgabe und Stimmzählung gewähr-
leistet sein. Vor allem aber muss der gesamte Wahlvor-
gang sicher vor Manipulationen, wie sie beispielsweise
durch Hackerangriffe denkbar sind, geschützt werden
und eine Nachprüfbarkeit der Wahlergebnisse möglich
sein.
Die Bundesregierung soll diese Bedingungen in Mo-
dellprojekten erarbeiten, testen und letztlich die Funktio-
nalität sicherstellen. Ist all dies gewährleistet, so wird
auch die Bevölkerung das Angebot von Onlinewahlen ge-
wiss annehmen.
CDU und CSU werden die Anstrengungen der Bun-
desregierung zur Ermöglichung von Onlinewahlen in
diesem Sinne wohlwollend-kritisch begleiten, um die zu-
kunftsgewandte Option einer zusätzlichen Onlinestimm-
abgabemöglichkeit zügig einzuführen. Allerdings kann
dieses nur geschehen, wenn die nötigen Sicherheitsanfor-
derungen eingehalten werden und auch die weiteren Vo-
raussetzungen geschaffen sind.
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, einen
entsprechenden Bericht vorzulegen. Erst muss die Bun-
desregierung ihre Hausaufgaben erledigen. Dann können
wir hoffentlich auch bald per Mausklick wählen. In die-
sem Sinne schließe ich:
Heute Schily, morgen scharf, starke Sprüche
nach Bedarf. Doch bis zum Online-Wähler-
glück, fehlt ihm noch ein ganzes Stück.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
leben im Internetzeitalter, aber wir wählen mit Lochkar-
ten-Technologie, die so alt ist wie das Radio.
Dies sagte der ehemalige Cisco-Chef John Chambers
anlässlich des Wahldebakels in Florida während der ver-
gangenen amerikanischen Präsidentenwahl.
Wie ist die Situation bei uns in Deutschland? Loch-
karten gibt es meines Wissens zwar nicht mehr, aller-
dings wählen auch wir noch traditionell in der Wahlka-
bine oder per Briefwahl. Bis die Wahlberechtigten ihre
Stimme von zu Haus aus über das Internet abgeben kön-
nen, wird es noch eine Weile dauern, sagte Bundesin-
nenminister Otto Schily kürzlich auf einer Konferenz.
Erst müsse noch eine zuverlässige Technik entwickelt
werden, die eine sichere und anonyme Stimmübermitt-
lung ermögliche.
Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen: Rot-
Grün ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass On-
linewahlen zukünftig ein wichtiges Mitbestimmungsin-
strument sein müssen und auch sein werden. Allerdings
darf man bei der Durchsetzung neuer Formen von elek-
tronischer Mitbestimmung zu denen nach Ansicht von
Bündnis 90/Die Grünen unter anderem auch Volksab-
stimmungen und Petitionen zählen nicht mit dem Kopf
durch die Wand. Geeignete Verfahren müssen erst gründ-
lich erprobt und evaluiert werden und hier sind wir in
Deutschland mit Unterstützung der Bundesregierung auf
einem guten Weg.
Es gibt bereits mehrere vorzeigbare Pilotprojekte
im gesamten Bundesgebiet: So schrieben vor kurzem
234 Briefwählern in Marburg ein Stück Internetge-
schichte, indem sie als erste Netzwähler überhaupt bei ei-
ner Landratswahl ihre Stimme online abgeben durften.
Ähnliche Wahlen wurden bereits unter anderem für das
Studentenparlament in Osnabrück und für den Jugendge-
meinderat in Esslingen erfolgreich durchgeführt. Weitere
Projekte wie die Onlinewahl zu einem Europäischen
Studentenrat oder zu der Seniorenvertretung der Stadt
Köln folgen in nächster Zeit.
Gerade die wachsende Zahl von Briefwählerinnen und
Briefwählern würde sicherlich von der zusätzlichen Mög-
lichkeit durch Onlinewahlen profitieren. Doch darf man
bei aller Euphorie über die Möglichkeiten auch die immer
noch vorhandenen Schwierigkeiten nicht vergessen: ins-
besondere den Datenschutz, die Identitätsüberprüfung
und die Unverfälschlichkeit der Stimmabgabe.
Die technische Umsetzung stellt dabei sicherlich kein
Hindernis dar. Aber es sind nicht nur Sicherheitspro-
bleme, die Onlinewahlen schwierig machen, sondern es
kommt auch auf die Zuverlässigkeit der Netze an. Bei ei-
ner Vielzahl von benötigten Clients und Servern ist diese
Sorge sicherlich nicht unbegründet darf aber nicht als
Totschlagargument benutzt werden.
Doch nicht nur die technische Funktionsfähigkeit
von Onlinewahlen muss gewährleistet sein, sondern
auch die breite Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger
über das elektronische Wahlverfahren, um für die nötige
Akzeptanz in der Bevölkerung zu sorgen. Die rechtli-
chen Grundlagen sind für Onlinewahlen ebenfalls noch
nicht geschaffen. Kommunalwahlgesetze, aber auch die
Wahlgesetze auf Landes-, Bundes- und Europaebene,
lassen ein E-Voting noch nicht zu. Hier sind unter
sorgfältiger juristischer Prüfung entsprechende An-
passungen notwendig, die nach und nach zu erfolgen
haben.
Langfristiges Ziel muss es sein, Kommunalwahlen,
aber auch Landtags- und Bundestagswahlen über das
Netz abzuwickeln.
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Dies ist sicherlich auch ein sehr sinnvoller Ansatz,
Wahl- und Politikverdrossenheit gerade auch bei jungen
Menschen entgegenzutreten.
Die Bundesregierung ist mit ihrem Schritt-für-Schritt-
Programm sicherlich auf einem guten Weg. Wir begrüßen
ausdrücklich, dass bereits zur nächsten Bundestagswahl
die Wahllokale so miteinander vernetzt sein sollen, dass
alle Bürgerinnen und Bürger in einem beliebigen Wahl-
lokal ihre Stimme abgeben können. Als nächsten Schritt
sollen die Bürgerinnen und Bürger sich dann in den Wahl-
lokalen an die elektronische Stimmabgabe per PC ge-
wöhnen. Diese sollte dann in nicht allzu ferner Zukunft
auch, aber nicht nur ausschließlich, vom heimischen PC
aus erfolgen.
Doch Onlinewahlen sind sicherlich kein Allheilmittel
gegen Wahlmüdigkeit. Es kommt darauf an, die neuen
technischen Möglichkeiten insgesamt für mehr Transpa-
renz, Information und Mitbestimmung zu nutzen.
Hierin liegt vor allem eine politische Herausforderung,
nämlich diese Offenheit und Partizipation wirklich zu
wollen. Die Technik steht uns im Prinzip jetzt schon zur
Verfügung.
Helfen Sie alle mit, diese Herausforderung anzu-
nehmen.
Max Stadler (FDP): In wenigen Jahren wird die
Onlinestimmabgabe bei Wahlen eine Selbstverständlich-
keit sein. Die FDP unterstützt daher alle Bemühungen,
rechtzeitig die hierfür notwendigen rechtlichen Rahmen-
bedingungen zu schaffen.
Das Internet hat schon jetzt die Möglichkeiten der
Menschen, sich Informationen zu verschaffen, gigantisch
ausgeweitet. Zugleich bietet es die Chance, sich mit
anderen Internetnutzern auszutauschen. Es ist somit ein
Medium für einen intensiven politischen Diskurs. Die
FDP nutzt diese neuen technischen Möglichkeiten und
bietet beispielsweise Interessenten an, über das Internet
an der Diskussion für das Wahlprogramm 2002 mitzu-
wirken.
Die wichtigste Form der politischen Mitwirkung ist
die Ausübung des Wahlrechts. Auch dies lässt sich
über das Internet machen. Selbstverständlich muss das
Wahlgeheimnis gewahrt werden, der Wahlvorgang vor
Manipulation gesichert werden und Vorsorge getroffen
werden, dass eine Stimme nur einmal abgegeben
wird. Diese Probleme sind lösbar. Die Einführung der
digitalen Signatur ist dabei ein wichtiger Zwischen-
schritt.
Wenn im Antrag der Union aufgeführt wird, dass bei
Onlinestimmabgabe die Wahlergebnisse schneller verfüg-
bar sein werden, so mag mancher dies im Rückblick auf
die früheren spannenden Wahlabende bedauern. Man er-
innert sich daran, wie sich die Spannung mit der fort-
schreitenden Auszählung der Wahlergebnisse früher am
Wahlabend erst so richtig aufgebaut hat. Heute ist häufig
schon mit Bekanntgabe der ersten Prognose um 18.00 Uhr
fast alles klar.
Dennoch: Die Vorteile der Onlinestimmabgabe über-
wiegen; vor allem jüngere Menschen werden diese Mög-
lichkeit nutzen. Die Onlinestimmabgabe wird eines Tages
wahrscheinlich nahezu vollständig an die Stelle der Brief-
wahl treten. Diese Entwicklung ist ohnehin unaufhaltsam.
Wir sollten sie mit rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen
gestalten.
Angela Marquardt (PDS): Mich hat das Internet im-
mer besonders als Mittel der Demokratie, als ein unkon-
trollierter, unzensierbarer Raum zum freien Informations-
und Kommunikationsaustausch interessiert. In der Tat
glaube ich, dass Onlinewahlen für Menschen mit einge-
schränkter Mobilität, aber gerade auch für Jugendliche eine
Hilfe oder eine zusätzliche Motivation sein könnten, sich
an Wahlen zu beteiligen. Ich unterstütze daher den vorlie-
genden CDU-Antrag an die Bundesregierung, die rechtli-
chen und technischen Voraussetzungen darzustellen.
Ich muss aber ganz klar feststellen, dass ich zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt und für die kommenden Jahre
strikt gegen die Durchführung von Onlinewahlen bin.
Zurzeit können sie bestenfalls eine angeblich bestehende
Sicherheit des Internets suggerieren. Eine Sicherheit, die
es gar nicht gibt!
Akzeptanz für die Sicherheit des Internets gewinnen
wir einzig und allein durch ein wirklich sicheres Internet.
Davon sind wir jedoch meilenweit entfernt. Die Bundes-
regierung tut derzeit alles dafür, dass wir immer weniger
Vertrauen in die Sicherheit unserer Daten haben können.
Die geplante Telekommunikationsüberwachungsver-
ordnung ist auch nach gründlicher Überarbeitung immer
noch ein Freibrief für den Überwachungsstaat. Auch die
von der Bundesregierung zumindest mitgetragene Cyber-
crime-Konvention wird einschneidende Folgen für den
Schutz der persönlichen Daten haben. Es ist doch wohl
nicht ernsthaft zu glauben, dass das Vertrauen in das In-
ternet wächst, wenn die Nutzer immer weniger davon aus-
gehen können, dass ihre Kommunikation wirklich ano-
nym ist! Einerseits wird das Netz zu einem durchsichtigen
Gebilde und auf der anderen Seite wollen Sie den Leuten
erklären, ihre Anonymität wäre hundertprozentig zu ge-
währleisten. Genau das aber wäre bei einer Wahl die Vo-
raussetzung.
Auch hat sich die Regierung in ihren Kryptographie-
Eckpunkten von 1999 nicht darauf verständigen können,
einer staatlichen Reglementierung starker Verschlüsse-
lung ein für alle mal eine Absage zu erteilen. Im Gegen-
teil, Sie haben sich ein Türchen offen gehalten und woll-
ten darüber im Juni dieses Jahres wieder befinden. Auf
den angekündigten Bericht warten wir noch; ich bin ge-
spannt. Auch von der versprochenen Förderung starker
Kryptographie im Alltag hat man leider bis heute kaum et-
was bemerkt.
Mich stört an diesem CDU/CSU-Antrag, dass er so tut,
als würde das Netz immer sicherer und dass es irgend-
wann so sicher sei, dass wir auch Onlinewahlen durch-
führen können. Doch die CDU/CSU verwechselt da et-
was: Was die CDU/CSU als Sicherheit bezeichnet, ist die
Überwachung des Datenverkehrs. Dies jedoch ist das Ge-
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genteil von der Sicherheit, die wir brauchen, um im Inter-
net vertrauliche Wahlen zu veranstalten. Wir brauchen Si-
cherheit statt Überwachung.
Wie gesagt, Onlinewahlen ja, aber nicht als Feigenblatt
eines total kontrollierten Internets.
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Die Bundesregierung hat schon
lange erkannt, dass eine der vielen Chancen des Internets
darin besteht, demokratische Entscheidungsprozesse zu
unterstützen. Seit Ende 1998 verfolgt sie das Thema On-
linewahlen als einen Schwerpunkt innerhalb ihrer E-Go-
vernment-Aktivitäten.
Wahlen im Internet sind Bestandteil des Aktionspro-
gramms Innovation und Arbeitsplätze in der Informati-
onsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Mit einem im
Frühjahr 1999 angelaufenen Projekt des Bundesministe-
riums für Wirtschaft und Technologie wurden erstmals die
technischen Voraussetzungen für eine Wahl über das In-
ternet geschaffen. Die Erfahrungen mit solchen Formen
der Stimmabgabe hat das Bundesinnenministerium im
Herbst letzten Jahres gebündelt und weitere konkrete Ini-
tiativen zu Onlinewahlen angeregt, zum Beispiel Perso-
nalratswahl, Gremienwahl einer Hochschule. Das BMI
koordiniert diese verschiedenen Ansätze und unterstützt
gemeinsam mit der Initiative D 21 den Transfer der Er-
gebnisse in Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit. Diese
Erfahrungen fließen seither in die Entwicklung eines On-
linewahlkonzeptes für politische Wahlen ein. Parallel
dazu wurde im Oktober letzten Jahres im Bundesinnen-
ministerium die Arbeitsgruppe Onlinewahlen einge-
richtet.
Als ein erstes Ergebnis der bisherigen Arbeiten hat
Bundesinnenminister Otto Schily in seiner Rede am
3. Mai 2001 anlässlich des Kongresses Internet eine
Chance für die Demokratie? die geplanten nächsten
Schritte angekündigt. Damit ist klar: Wir sind schon auf
dem Weg zu Onlinewahlen auch ohne Antrag der
CDU/CSU-Fraktion.
Die Vielzahl von Wahlen auf den verschiedenen politi-
schen Ebenen in Deutschland und Europa macht eine er-
leichterte Teilnahme daran erstrebenswert. Bei steigender
Mobilität und Alterung der Wahlbevölkerung bieten On-
linewahlen eine zeitgemäße, attraktive Form der Stimm-
abgabe. Das Wahlergebnis ist schneller verfügbar und
Aufwand und Kosten für Wahlvorbereitung und -durch-
führung können gegebenenfalls gesenkt werden. Dabei
können Onlinewahlen die Urnenwahl und Briefwahl nicht
ersetzen, vielmehr sollen diese bisherigen Formen der
Stimmabgabe um eine zeitgemäße, neue Form ergänzt
werden.
Auf den ersten Blick scheint die Onlinestimmabgabe
ebenso unproblematisch wie die Briefwahl. Doch bei de-
mokratischen Wahlen haben wir es nicht mit schlichten
Meinungsäußerungen zu tun, die ohne Sicherungsmaß-
nahmen über das Netz geschickt werden könnten. Weil
die demokratische Legitimation der politischen Wahl an
die strikte Einhaltung der verfassungsrechtlichen Wahl-
grundsätze gebunden ist, müssen an die Zuverlässigkeit
und Effizienz von Onlinewahlverfahren hohe Anforde-
rungen gestellt werden.
Voraussetzung sind technische Systeme und organisa-
torische Abläufe, die Betrug unmöglich machen, zuver-
lässig gegen Angriffe und Ausfälle geschützt sind und den
hohen Anforderungen an allgemeine, unmittelbare, freie,
gleiche und geheime Wahlen gerecht werden. Dabei ist
insbesondere die notwendige Kombination von eindeu-
tiger Authentifizierung der einzelnen Wahlberechtigten
bei gleichzeitiger Geheimhaltung seiner Wahlentschei-
dung eine nicht triviale Aufgabe. Diese hohen Anforde-
rungen müssen wir gewährleisten, damit die Bürgerinnen
und Bürger auch weiterhin der Korrektheit der Wahl ver-
trauen können.
Bundesinnenminister Otto Schily hat in seiner Rede
am 3. Mai dieses Jahres die nächsten Schritte auf dem
Weg zu Onlinewahlen konkret benannt. Die Erfahrungen
bei Onlinewahlen in kleinerem Rahmen, zum Beispiel
Personalratswahl, Gremienwahl einer Hochschule, Seni-
orenwahl einer deutschen Großstadt, werden in die Ent-
wicklung eines Onlinewahlkonzeptes für politische
Wahlen einfließen. Das BMI führt dazu gemeinsam mit
der Initiative D 21 unter anderem einen weiteren Work-
shop noch im Dezember dieses Jahres durch, in dem auch
internationale Initiativen, zum Beispiel aus der Schweiz,
berücksichtigt werden.
Die im Bundesinnenministerium eingerichtete Arbeits-
gruppe Onlinewahlen erarbeitet im Dialog zwischen In-
formatikern, Juristen und Wahlorganisatoren Anforderun-
gen an die Funktionalität und Sicherheit technischer
Wahlsysteme, die rechtlichen Rahmenbedingungen für
ihre Zulassung sowie die aus dem Einsatz der Technik re-
sultierenden Kriterien für die Organisation von Online-
wahlen. An dieser Arbeitsgruppe sind die Bundesländer
und eine Kommune aktiv beteiligt. Wahlprojekte auf Lan-
des- und Kommunalebene fallen zwar nicht in die Zu-
ständigkeit des Bundes, aber es findet auf diesem Gebiet
mit den Ländern eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
statt. Erfahrungsaustausch und gegenseitiges Lernen sind
somit gewährleistet.
Bevor wir die Stimmabgabe vom heimischen PC oder
per Handy anvisieren, werden wir die Wahllokale so ver-
netzen, dass die Wählerinnen und Wähler nicht mehr nur
in dem Wahlbezirk, in dem ihre Wohnung liegt, sondern
in jedem beliebigen Wahllokal wählen gehen können. In
einer zunehmend mobilen Gesellschaft mit steigendem
Briefwähleranteil soll damit auch den am Wahltag ver-
reisten Wahlberechtigten der Gang ins Wahllokal ermög-
licht werden. Dies trägt zur Vertrauensbildung bei. Das
Ziel ist, diese Form des Wählens bei der Bundestagswahl
2006 anzubieten.
Technologische Möglichkeiten dürfen kein Sachzwang
sein die Gestaltung von Wahlprozessen ist nach wie vor
politische Aufgabe. Erst am Ende eines intensiven Erfah-
rungsprozesses können wir verantwortungsvoll darüber
entscheiden, ob eine Stimmabgabe via Internet bei politi-
schen Wahlen verfassungskonform und technisch sicher
verwirklicht werden kann. Darauf arbeiten wir hin, doch
nicht mit Geschwindigkeit um jeden Preis, sondern in ei-
ner sicheren Gangart.
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Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von
öffentlichen Angeboten zum Erwerb von
Wertpapieren und von Unternehmensüber-
nahmen
des Antrags: Fairer Wettbewerb und Rechts-
sicherheit bei Unternehmensübernahmen in
Europa
der Großen Anfrage: Zur gesetzlichen Rege-
lung von Firmenübernahmen
(Tagesordnungspunkt 11 a bis c)
Nina Hauer (SPD): Es freut mich, dass heute endlich
ein Gesetz zur Beratung vorliegt, das für Deutschland
lange überfällig ist. Spätestens seit der spektakulären
Übernahme von Mannesmann durch das britische Unter-
nehmen Vodafone beschäftigt die Regelung von Unter-
nehmensübernahmen auch die Öffentlichkeit. Nicht jeder
Übernahmeversuch ist übrigens so spektakulär wie der
von Mannesmann durch Vodafone. Die Deutsche Börse
AG berichtet von 30 Übernahmeangeboten allein in die-
sem Jahr. Diese Zahl zeigt auch, dass freundliche oder
feindliche Übernahmen von Unternehmen zum Wirt-
schaftsprozess gehören.
Übernahmen sind Motor regelmäßiger Neustrukturie-
rungen in der Wirtschaft. Unternehmen langsam wach-
sender Branchen, die in ihrem Betriebsergebnis unter dem
Durchschnitt liegen, sind häufiger von feindlichen Über-
nahmen betroffen. Freundliche Übernahmen sind dann
häufiger, wenn Unternehmen ihre Chancen in einem dy-
namischen Umfeld nicht nutzen. Insgesamt weisen Un-
ternehmen, für die Übernahmeangebote abgegeben wer-
den, ähnliche Merkmale auf. Dazu gehören eine schlechte
Kursentwicklung und eine schlechte Beschäftigungsent-
wicklung.
Natürlich sind Übernahmen auch dann wirtschaftlich
interessant, wenn Wettbewerber damit geschluckt werden
sollen. Vor Wettbewerbsverzerrungen durch missbräuch-
liche Übernahmen schützt uns eine effektive Kartellauf-
sicht. Übernahmen kommen ohnehin aber weitaus öfter
dann vor, wenn Unternehmen hinter ihren Möglichkeiten
zurückbleiben. Durch Übernahmen entstehen in der Regel
Unternehmen, die innovativer und finanzstärker sind und
sich am Erfolg orientieren. Und nur dort entstehen sichere
Arbeitsplätze.
Die SPD-Fraktion unterstützt die Bundesregierung in
ihrem Ziel, mit diesem Übernahmegesetz verbindliche
Regeln für Unternehmensübernahmen aufzustellen. Ein
klares Regelwerk ist auch eine Chance für den Finanz-
platz Deutschland, damit nicht die Interessen von Vor-
ständen, sondern diejenigen von Aktionären in den Mit-
telpunkt rücken. Wir haben Pensionsfonds als Mittel der
Alterssicherung eingeführt, weil wir wollen, dass Arbeit-
nehmer auch in Deutschland zukünftig zu mitbestimmen-
den Aktionären werden.
Das Leitbild des Entwurfs sind faire Spielregeln für
den Wettbewerb, um den besten Weg für ein Unternehmen
im Sinne der Eigentümer, der Aktionäre, zu erreichen.
Wirtschaftlich leben wir ebenso in Deutschland wie in Eu-
ropa. In diesem europäischen Wettbewerb müssen unsere
Unternehmen bestehen können. Dieser Entwurf bietet die
Chance, sich dort auf Augenhöhe zu begegnen. Es ist be-
dauerlich, dass es noch keine europäische Richtlinie gibt.
Es ist aber erfreulich, dass jetzt der Prozess angestoßen
wurde, die Unternehmen in Europa in ihrer rechtlichen
Ausgangsposition einander anzugleichen.
Wir nehmen die Bedenken der Unternehmensverbände
ernst, die den Ausverkauf der deutschen Wirtschaft als
Horrorbild zeichnen. Die Verpflichtung zur Neutralität im
Falle eines Übernahmeangebots liegt uns allerdings sehr
am Herzen. Wir wollen die bestmögliche Entwicklung des
Unternehmens und die Interessen der Aktionäre wahren.
Nicht der Vorstand, sondern Eigentümer und Beschäftigte
stehen für uns im Mittelpunkt. Deshalb knüpfen wir an die
Möglichkeit des Vorratsbeschlusses für Abwehrmaßnah-
men die Dreiviertelmehrheit in der Hauptversammlung
und begrenzen deren Gültigkeit auf 18 Monate.
Zu einer sinnvollen Regelung von Unternehmensüber-
nahmen gehören auch ein zügiges Verfahren für Angebot
und Annahme, Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen ge-
gen die Regeln und eine wirksame Aufsicht durch das
Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel. Es ist
selbstverständlich, dass der Bieter Aktionäre und Arbeit-
nehmer umfassend und zeitnah informieren muss.
Wir wollen das Vertrauen in Deutschland auf dem in-
ternationalen Finanzmarkt weiter stärken. Ein entwickel-
ter Finanzmarkt sichert die Finanzierung von Unterneh-
men in unserem Land, schafft Arbeitsplätze und ist Motor
für wirtschaftliches Wachstum.
Dieser Entwurf ist ein weiterer wichtigerer Schritt zur
Modernisierung Deutschlands. Wir möchten nicht zurück
in die Vergangenheit und geschlossenen Märkten. Wir
wollen offene Märkte mit klaren Regeln und mehr Trans-
parenz. Dies schafft wirtschaftliche Dynamik und Be-
schäftigung.
Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Unternehmens-
übernahmen sind Ausdruck freier unternehmerischer Ent-
scheidung. In- und ausländische Investoren sind dabei
gleichermaßen willkommen. Viele Zusammenschlüsse
haben positive Auswirkungen auf die Innovationsfähig-
keit der betroffenen Unternehmen und die Wettbewerbs-
fähigkeit ihrer Arbeitsplätze und stärken so den Standort
Deutschland.
Ein verbindlicher gesetzlicher Rahmen für Übernah-
men existiert bislang weder auf europäischer Ebene noch
im deutschen Recht. In Deutschland gibt es derzeit noch
einen freiwilligen Übernahmekodex, den weniger als die
Hälfte aller börsennotierten Unternehmen anerkannt ha-
ben und der keine Sanktionsmöglichkeiten vorsieht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat deshalb schon
vor nunmehr anderthalb Jahren die Bundesregierung mit
Nachdruck aufgefordert, endlich für einen EU-weiten ge-
setzlichen Mindeststandard als ordnungspolitischen Rah-
men von Unternehmensübernahmen zu sorgen. Das
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zusammenwachsende Europa mit dem Ziel eines funktio-
nierenden Binnenmarktes und die zunehmende Globali-
sierung der Weltwirtschaft machen europaweite Regelun-
gen und die Angleichung an internationale Standards
notwendig. Da Fusionen und Übernahmen ihrer Natur
nach in den allermeisten Fällen grenzüberschreitend statt-
finden, sind nationale Alleingänge ungenügend. Wir
benötigen ein europäisches Level-Playing-Field.
Die Personalabteilungen der Merger & Acquisition-
Unternehmen in Deutschland, insbesondere in Frankfurt,
aber auch in London, werden derzeit in Erwartung der
kommenden Geschäfte deutlich aufgestockt. Deutschland
wird zum Jahreswechsel mit der Steuerfreistellung von
Kapitalbeteiligungs-Veräußerungen für die international
agierende Branche zum weltweit interessantesten M&A-
Markt.
Der Rechtsrahmen, den es zu finden gilt, muss einen
angemessenen Ausgleich der Interessen der Aktionäre der
Zielgesellschaft und des Bieters gewährleisten. Er muss
die Interessen der Shareholder und Stakeholder auf beiden
Seiten angemessen berücksichtigen. Die Interessen der
Privatanleger dürfen nicht unter den Tisch fallen, denn ge-
rade in Zeiten volatiler Kurse und schwacher Börsen muss
das Vertrauen in die Aktie und die Entwicklung einer
deutschen Aktienkultur gestärkt werden. Als Ausdruck
freier unternehmerischer Entscheidung und als Motor für
Innovation und Wettbewerbsfähigkeit des Standortes und
Finanzplatzes Deutschland ist ein Mindestmaß gesetzge-
berischer Regulierung ordnungspolitisch geboten. Recht-
liche Regelungen müssen den betroffenen Unternehmen
und den Entscheidungsträgern einen verlässlichen Rah-
men geben. Sie dürfen nicht dazu führen, dass Übernah-
men zukünftig unnötig erschwert werden. Der rechtliche
Rahmen darf nicht zwischen in- und ausländischen Un-
ternehmen unterscheiden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihre inhaltli-
chen Anforderungen an ein deutsches und europäisches
Übernahmerecht im August vergangenen Jahres vorge-
stellt, nachdem die Expertenkommission des Kanzlers
sich auf zehn Eckpunkte für ein deutsches Übernahme-
recht verständigte und der federführende Bundesfinanz-
minister seinen darauf aufbauenden Diskussionsentwurf
der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Den damaligen Dis-
kussionsentwurf aus dem Hause Eichel musste man als ei-
nen übereilten Schnellschuss bezeichnen. Aus diesem
Grund haben wir im vergangenen Jahr gefordert, diesen
Diskussionsentwurf zurückzuziehen und abermals zu
überarbeiten. Erfreulicherweise sind unsere damaligen
wesentlichen Forderungen größtenteils erfüllt worden.
Außerhalb der europarechtlichen Fragen, auf die ich heute
nicht eingehen will, hatten wir damals gefordert, von
wettbewerbsschädlichen Überregulierungen abzusehen
und statt dessen Flexibilität und Praktikabilität zum Maß-
stab eines Übernahmegesetzes zu machen, das durch die
Sicherstellung eines angemessenen Abwehrpotenzials
von Zielgesellschaften gewährleisten muss, dass deutsche
Unternehmen nicht benachteiligt werden, weil in anderen
europäischen Ländern durch Golden Shares und Mehr-
fachstimmrechte ein Level-Playing-Field nicht existiert.
Das damals vom Finanzminister geplante verschärfte
deutsche Bargebot haben wir abgelehnt, flexible und
praktikable Fristen, eine vereinfachte und sinnvolle Preis-
findung gefordert und ein generelles Pflichtangebot bei
mittelbarem Erwerb abgelehnt.
Gerade weil es bei dieser Bundesregierung äußerst sel-
ten der Fall war und ist, dass sachlich stichhaltige und
sinnvolle Änderungsvorschläge aufgegriffen werden, hat
uns die Einsicht des Finanzministeriums gefreut. In dem
nun vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung
wurden die meisten unserer Vorschläge berücksichtigt.
Würde die Bundesregierung öfter auf die Opposition
hören, wäre es mit unserer Finanz- und Wirtschaftspolitik
sicher besser bestellt.
Skandalös ist hingegen das bisherige und aktuelle Vor-
gehen der Bundesregierung auf dem Brüsseler Parkett.
Das Bild vom Elefanten im Porzellanladen wäre geradezu
eine Beschönigung der Vorgänge, die sich seit Frühjahr
dieses Jahres im Zusammenhang mit der Europäischen
Übernahmerichtlinie ereigneten.
Die Bundesregierung hat ihre notwendige, von der
Union seit langem geforderte Kurskorrektur hin zu mehr
gestalterischen Abwehrmöglichkeiten von Zielgesell-
schaften bei feindlichen Übernahmen so spät, so unpro-
fessionell und so undiplomatisch in die Beratungen in
Brüssel eingeführt, dass die Sache scheitern musste. Ne-
ben dem Schaden in der Sache hat die Bundesregierung
durch ihre missglückte Verhandlungsführung und den
verspäteten Sinneswandel bei der Neutralitätspflicht eine
herbe Niederlage auf dem europäischen Parkett erlitten.
Das ungenügende Ergebnis des europäischen Vermitt-
lungsverfahrens mit der dort zementierten absoluten Neu-
tralitätspflicht, das auch durch die fehlende Kompromiss-
bereitschaft des Ministerrats entstand, konnte vom
Europäischen Parlament sinnvollerweise nicht akzeptiert
werden. So bitter es angesichts der jahrzehntelangen Vor-
geschichte der europäischen Übernahmerichtlinie und der
Notwendigkeit schneller europäischer Lösungen ist: Es
war gut, dass diese Übernahmerichtlinie, die eine ver-
nünftige Handhabung der Neutralitätspflicht vermissen
ließ, am 4. Juli 2001 unter Führung des EVP-Abgeordne-
ten Lehne, MdEP, gescheitert ist.
Es galt unter allen Umständen, und gilt noch immer,
einheitliche europäische Regelungen für Unternehmens-
übernahmen zu finden, denn in kaum einem anderen Feld
sind einheitliche EU-weite Bedingungen so wichtig wie
im Recht der Unternehmensübernahmen, die naturgemäß
vor allem, auch grenzüberschreitend stattfinden. Nach
jahrzehntelangem Bemühen um eine europäische Lösung
ist die Chance für ein Level-Playing-Field vorerst ge-
scheitert.
In den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen
eines nationalen Übernahme-Gesetzes muss die Möglich-
keit vernünftiger und maßvoller HV-Vorratsbeschlüsse
gefunden werden, damit die Vorstände von Zielgesell-
schaften im Interesse von Aktionären, Arbeitsplätzen und
Unternehmen bei drohenden feindlichen Übernahmen
vernünftig reagieren können. Dies ist umso dringlicher,
weil andere EU-Staaten ihre Unternehmen weiterhin mas-
siv mit Golden Shares vor Übernahmen schützen. Erfreu-
licherweise ist die Bundesregierung auch hier zur Einsicht
gekommen.
Im Zusammenwirken mit dem KonTraG Abschaffung
von Höchst- und Mehrfachstimmrechten in Deutschland
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und der Steuerreform Freistellung von Beteiligungsver-
käufen bei Kapitalgesellschaften ab 1. Januar 2002 rech-
nen wir ab kommendem Jahr mit einem großen Umbau der
deutschen Wirtschaft, der in Tempo und Umfang massiver
sein wird als alle Veränderungen in der Vergangenheit.
Deshalb brauchen wir eine verlässliche gesetzliche Grund-
lage in Deutschland bis spätestens Ende dieses Jahres.
Es bleibt aber dabei, dass allein europäische Lösungen
wirklich brauchbar sind. Nach dem Scheitern des jetzi-
gen, in Teilen unvernünftigen Richtlinienentwurfs gilt es,
schnell einen neuen Anfang für wirklich brauchbare EU-
weite Lösungen in Brüssel zu wagen. Aber was tut die
Bundesregierung, die seit der Mannesmann-Vodafone-
Übernahme dieses Thema sogar zur Chefsache des Kanz-
lers und seines Kanzleramtsministers höchstpersönlich
erklärt hat? Statt Boden in Brüssel wieder gutzumachen
und dafür zu sorgen immerhin als größter EU-Mitglied-
staat , dass die Kommission schnell einen akzeptablen,
überarbeiteten Richtlinienvorschlag vorlegt, legt sie wie-
der einmal ihre Hände in den Schoß. Wir werden abge-
speist mit einer Expertenrunde, die unverbindliche Vor-
schläge über die mittelfristige Abschaffung von Golden
Shares machen soll und dazu noch recht parteilich besetzt
ist. Gleichzeitig wissen alle in der Sache Versierten, dass
der zuständige Kommissar Frits Bolkestein bereits Ende
dieses Jahres, also in wenigen Wochen, eine vermeintlich
neue Übernahmerichtlinie vorlegen will, die im Wesentli-
chen der zu recht gescheiterten alten Richtlinie entspre-
chen wird. Während die gescheiterte Richtlinie zumindest
im Hinblick auf die Neutralitätspflicht des Vorstands eine
Umsetzungsfrist von insgesamt fünf Jahren vorsah, ist an-
zunehmen, dass der neue Richtlinienvorschlag bereits
vollständig in zwei Jahren in nationales Recht umzuset-
zen sein wird. Ob angesichts einzelstaatlicher Sonderin-
teressen mancher Mitgliedstaaten und entsprechendem
sanften Druck auf EP-Mitglieder eine abermalige Ver-
hinderung der gleichen, unzureichenden Richtlinie in
Brüssel gelingen kann, ist bedenkt man das denkbar
knappste aller möglichen Abstimmungsergebnisse von
4. Juli mehr als fraglich.
Kurzum: Wir beraten heute in erster Lesung ein natio-
nales Übernahmerecht, das nun endlich vernünftige und
angemessene Waffengleichheit zwischen Anbieter und
Zielgesellschaft durch das Mittel des HV-Vorratsbe-
schlusses gewährleisten will, und werden wahrscheinlich
in nur wenigen Monaten eine EU-Richtlinie bekommen,
die diese Möglichkeiten wieder kassieren wird. Es ist fast
eine Zumutung, dem Gesetzgeber einen Gesetzentwurf
mit einer Halbwertzeit von vielleicht einmal zwei Jahren
in materiellen Angelegenheiten vorzulegen, die Hände in
Brüssel wieder in den Schoß zu legen und so zu tun, als
sei alles wunderbar. Oder weiß die Bundesregierung nicht
was in Brüssel passiert? Die europarechtliche Klippe, ein
deutsches Gesetz in Ansehung einer europäischen Be-
schlussvorlage mit gegenteiligen Bestimmungen zu bera-
ten, ist nun umschifft, denn die neu-alte Richtlinie wird
nach Einbringung unseres Gesetzes wieder auf den Weg
gebracht. In der Sache aber drohen die mühsam erreich-
ten Verbesserungen im nationalen Recht durch abermali-
ges Unvermögen bzw. Untätigkeit der Bundesregierung
auf Brüssler Parkett nun erneut in Kürze vereitelt zu wer-
den. Gegenüber den Betroffenen, die Rechtssicherheit
und Rechtskohärenz verlangen, ist ein solches Vorgehen
nicht zu begründen. Dann seien Sie lieber ehrlich, geste-
hen Ihre Bedeutungslosigkeit in dieser Sache in Brüssel
ein und machen uns allen keine falschen Hoffnungen mit
einer angemessenen Neutralitätspflicht, die sie über kurz
oder lang in der Kommission nicht durchsetzen können.
Ich frage mich ernsthaft: Was will der Kanzler eigent-
lich in dieser Angelegenheit? War der Sinneswandel
zur Waffengleichheit nur ein Medienspektakel à la
Holzmann? Sollen wir etwa das deutsche KonTraG wie-
der zurücknehmen, um so ein Level-Playing-Field zu er-
zeugen?
Die zuständigen Ausschüsse werden in Kürze eine Ex-
pertenanhörung zum vorgelegten Gesetzentwurf der Bun-
desregierung durchführen. Auch wenn die Grundrichtung
der Vorschläge der Bundesregierung nun stimmt, werden
wir nach Anhörung der Sachverständigen die einen oder
anderen Detailfragen und technischen Einzelvorschriften
kritisch zu prüfen haben. Ich meine zum Beispiel, dass die
Frist für die Ermächtigung in Höhe von 18 Monaten im
Rahmen des so genannten Vorratsbeschlusses zu kurz be-
messen ist.
Dies hätte die Konsequenz, dass sich jeder Aktionär bei
jeder Hauptversammlung mit dem Thema einer mögli-
chen Übernahme konfrontiert sähe und andere Problem-
punkte vernachlässigen würde.
Hinsichtlich der Anwendung der Mindestpreisregel so-
wohl auf Pflicht als auch auf freiwillige Angebote ergibt
sich vielleicht ein europarechtliches Problem. So könnte
dies sowohl gegen die im EG-Vertrag verankerte Nieder-
lassungsfreiheit als auch gegen die Kapitalverkehrsfrei-
heit verstoßen. Die einheitliche Behandlung die in der
gescheiterten Richtlinie nicht vorgenommen wurde
sollte nochmals kritisch überprüft werden.
Gleiches gilt für einen steuerrechtlichen Aspekt: Zur
Gleichbehandlung von Privatanlegern und Beleg-
schaftsaktionären muss sichergestellt werden, dass es bei
Privataktionären nicht zur Doppelbesteuerung im Über-
nahmefall während der Haltefrist kommt.
Ferner sollte hinsichtlich der Arbeitnehmer-Unterrich-
tung nicht über den Regelungsgehalt der zu erwartenden
alt-neuen Übernahmerichtlinie hinaus gegangen werden.
Übertriebene Mitbestimmungshürden, wie sie derzeit in
den Reihen der SPD-Fraktion diskutiert werden, sind
auch verfassungsrechtlich bedenklich, weil sie in die Ei-
gentumsrechte der Aktionäre eingreifen. Sie gefährden
eine Modernisierung der Deutschland AG und er-
schweren einen neuen Anlauf für ein einheitliches euro-
päisches Übernahmerecht. Die Reputation des Finanz-
platzes Deutschland wäre nachhaltig geschädigt. Wir
brauchen Waffengleichheit und ein europäisches Level-
Playing-Field, keinen neuen Protektionismus und ein
Übernahmeverhinderungs-Gesetz. Das Übernahmerecht
darf nicht zum Lex-DGB werden.
Der Überweisung in die Ausschüsse stimmen wir zu.
Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Im Jahr 2000 umfassten die Unternehmensüber-
nahmen, an denen deutsche Firmen beteiligt waren, knapp
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1 000 Milliarden DM. Gegenüber 1999 bedeutete das fast
eine Verdopplung. In diesem Jahr haben wir einen drasti-
schen Einbruch erlebt. Die Unternehmen sind angesichts
der Entwicklung der Aktienkurse und angesichts des
schwierigen konjunkturellen Umfelds vorsichtiger ge-
worden. Aber alle Prognosen gehen davon aus, dass es
sich dabei um einen vorübergehenden Rückgang handelt
und der Trend zu Übernahmen grundsätzlich anhalten
wird. Bisher gab es keinen Rechtsrahmen für Über-
nahmen, es gibt lediglich den Übernahmekodex der Bör-
sensachverständigenkommission. Rund drei Viertel der
börsennotierten Unternehmen hatten diesen Kodex ak-
zeptiert. Das Gesetz orientiert sich an dem Kodex und
macht die Regelungen verbindlich.
Im europäischen Binnenmarkt brauchen wir ein ein-
heitliches Recht für Kapitalgesellschaften und ihre Fusio-
nen. Der Nationalstaat ist angesichts der engen ökonomi-
schen Verflechtungen nicht mehr die Ebene, auf der ein
wirkungsvoller Rechtsrahmen für den Markt gesetzt wer-
den kann. Höchst unterschiedliche einzelstaatliche akti-
enrechtliche Regelungen führten zu großen Differenzen
bei der Ausgangsposition von Unternehmen im Fall der
Übernahmeabsicht. Deshalb gibt es schon seit langer Zeit
Anstrengungen für eine europäische Übernahmerichtli-
nie. Ich halte es für einen Rückschlag, dass die Richtlinie
der EU-Kommission vorerst gescheitert ist. Fraglich ist
allerdings, ob der Grund, über den dabei so intensiv ge-
stritten wurde, den Streit wert war. Kontrovers war die
Frage der so genannten Vorratsbeschlüsse: Soll eine
Hauptversammlung den Vorstand ermächtigen dürfen, im
Falle von Übernahmeangeboten Gegenmaßnahmen zu er-
greifen? Wir haben diese Frage in unserem nationalen Ge-
setzentwurf nun mit Ja beantwortet.
Ich frage mich, ob diese Regelung überhaupt je zur An-
wendung kommen wird. Ermächtigt eine Hauptversamm-
lung den Vorstand, Gegenmaßnahmen durchzuführen, so
wird der Aktienkurs sinken. Die HV würde deutlich ma-
chen, dass sie befürchtet, das die Gesellschaft Ziel einer
feindlichen Übernahme würde. Das würde das Ver-
trauen der Aktionäre beeinträchtigen. Im Übrigen ist of-
fen, ob die Aktionäre überhaupt ein Interesse daran haben,
dem Vorstand freie Hand dafür zu geben, Übernahmen ab-
zuwehren? Aktionäre wissen, dass sie bei Übernahmen
auch gut verdienen können.
Spätestens seit der größten Fusion in der Wirtschafts-
geschichte Vodafone/Mannesmann wissen wir, dass
der globale Kapitalmarkt auch für die Deutschland AG
eine Realität ist. Auch deswegen schaffen wir in Deutsch-
land Regeln für den Kapitalmarkt, wie es sie in anderen
Staaten längst gibt. Schützenswerte Interessen bei Über-
nahmen sind die von Arbeitnehmern und die von Ak-
tionären, insbesondere Kleinaktionären. Die Rechte der
Vorstände, ihre Jobs zu verteidigen, können aus meiner
Sicht dahinter zurückstehen.
Mit dem Übernahmegesetz schaffen wir eine weitere
Voraussetzung zur Modernisierung unserer Volkswirt-
schaft. Ein abgeschotteter Markt verhindert Innovation,
Kreativität und Wettbewerbsfähigkeit. Die große Zahl
von Mergers reflektiert die Globalisierung der wirtschaft-
lichen Strukturen. Die Unternehmen konzentrieren sich
auf ihre Kernkompetenzen und bearbeiten dann den glo-
balen Markt.
Für eine übernommene Gesellschaft kann die Integra-
tion in einen Konzern eine Verbesserung der Perspektiven
bedeuten: Neue Vertriebssysteme und Märkte kommen
hinzu, Forschungskapazitäten können effizienter genutzt
werden, Synergien können genutzt werden.
Allerdings ist diese Strategie auch mit hohen Risiken
verbunden: Bei mehr als der Hälfte der großen Fusionen
ist die Kapitalrendite hinterher schlechter als vorher, die
Zahl der Beschäftigten ist zugleich niedriger.
Aktionäre und Unternehmen haben also sehr sorgfältig
zu entscheiden, ob sie sich auf Fusionen einlassen. Aber
es ist nicht die Aufgabe des Staates, darüber zu entschei-
den. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist es, den Rechtsrah-
men für ein geordnetes Verfahren bereitzustellen, in dem
fairer Wettbewerb möglich ist. Das ist das sinnvolle Ziel
des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Rainer Funke (FDP): Nachdem die Bundesregie-
rung das Zustandekommen einer europäischen Übernah-
merichtlinie maßgeblich verhindert hat, beraten wir heute
ihre Vorstellung von einem nationalen Übernahmegesetz.
Der Begriff allein spricht schon Bände: Wir stehen heute
vor einem Rückschritt bei der Vollendung des europä-
ischen Binnenmarktes, da es einheitliche Regeln für
grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen vorläu-
fig nicht geben wird. Wir können uns damit auf weitere
Übernahmeschlachten wie die um die Mannesmann AG
gefasst machen.
Für die FDP möchte ich feststellen: Eine Übernahme
ist kein Angriff auf Unternehmen, insbesondere auf deut-
sche Unternehmen aus dem Ausland. Der Begriff feind-
liche Übernahme ist irreführend. Übernahmen sind
Ergebnis und Teil einer Unternehmenspolitik im interna-
tionalen Wettbewerb. Übernahmen bedeuten neue Unter-
nehmenskonzepte, neue Ideen und frisches Kapital. Von
einer erfolgreichen Übernahme können nicht nur Unter-
nehmensleitung und Arbeitnehmer profitieren, sie sind
auch positiv für die Kapitalmärkte und damit für ganze
Wirtschaftsstandorte.
Die rot-grüne Bundesregierung hat in Gestalt des Bun-
deskanzlers verhindert, dass es ein liberales europäisches
Übernahmerecht gibt. Der Bundeskanzler hat in kurzsich-
tiger Art und Weise dem Drängen von Gewerkschafts-
funktionären und Unternehmensvorständen nachgege-
ben, die um ihre Pfründe fürchten und sich nicht dem
internationalen Wettbewerb stellen wollen. Frühzeitige
Vorratsbeschlüsse zur Verhinderung von Übernahmen,
wie sie der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorsieht,
sind protektionistisch, wettbewerbsfeindlich und daher
provinziell. Faire, liberale Übernahmeregelungen müssen
Wettbewerb zulassen und sich ausschließlich daran orien-
tieren, was für unsere Wirtschaft wichtig ist. Wachstum,
Arbeitsplätze und Strukturwandel wird es das wird nie-
mand bestreiten nur dann geben, wenn Unternehmen
auch international attraktiv sind, was sich in den Wachs-
tumszahlen, in Investitionen und Arbeitsplätzen und letzt-
lich auch im Aktienkurs widerspiegelt. In diesem Sinn
wird ein Unternehmen nicht attraktiv sein, wenn der Ge-
setzgeber durch strenge Regulierungen Übernahmen ver-
hindert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18827
(C)
(D)
(A)
(B)
Ursula Lötzer (PDS): In wenigen Monaten wird sich
der Prozess von Fusionen und Übernahmen durch die
Steuerbefreiung der Gewinne aus Beteiligungsverkäufen
beschleunigen. Zu erwarten ist, dass ein Markt für den
Kauf und Verkauf von Unternehmen bzw. Bestandteilen
entstehen wird, der oft unabhängig von Notwendigkeiten
nach Strukturveränderungen funktioniert. Der Preis des
gehandelten Unternehmens und wie er kurzfristig an den
Börsen zu steigern ist, wird entscheiden, wer mit wem fu-
sioniert. Die sozialen Folgen, Arbeitsplatzsicherheit oder
regionalpolitische Interessen werden dabei kaum eine
Rolle sielen.
Das ist nicht aus der Luft gegriffen, genauso hat es sich
in den 80er- und 90er-Jahren in den USA abgespielt. Die
New York Times hob diesen Zusammenhang in ihrem
Kommentar zur Steuerreform ausdrücklich hervor. Umso
dringlicher ist ein Gesetzentwurf, mit dem die Sicherung
von Arbeitsplätzen und der Interessen der Beschäftigten
bei den damit verbundenen Umstrukturierungen ermög-
licht werden.
Die Antworten der Bundesregierung auf die Große An-
frage der FDP Zur gesetzlichen Regelung von Firmen-
übernahmen auf diese Frage sind ausweichend. Natür-
lich ist die funktionierende Partnerschaft zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern angesichts der fort-
schreitenden Globalisierungsprozesse unverzichtbar.
Richtig ist auch, dass die Beschäftigten an den wesentli-
chen Prozessen und Entscheidungen beteiligt werden sol-
len. Aber gerade hierzu bedarf es klarer Rechte und
Sanktionsmöglichkeiten für die Beschäftigten und ihre
gewerkschaftliche Vertretung. Der Gesetzentwurf wird
dem nicht gerecht.
Zu Recht kritisiert der DGB unter anderem am vorlie-
genden Gesetzentwurf, dass die Angaben in den Ange-
botsunterlagen noch nicht einmal mehr so detailliert sein
müssen, wie es noch im Diskussionsentwurf aus dem letz-
ten Jahr vorgesehen war. Relevante Informationen über
die Absichten des Bieters, was mit allen betroffenen Be-
triebsteilen zu geschehen habe und wie sich die Beschäf-
tigungsbedingungen generell verändern könnten, fehlen.
Wie sich so die Belegschaften überhaupt ein vollständiges
Bild über ihre weitere Zukunft im neuen Unternehmen
machen können, bleibt ein Rätsel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem aber rei-
chen Informationsrechte nicht aus, genauso wenig wie
eine aktive Rolle des Aufsichtsrats. 1979 hat das Bundes-
verfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Mitbe-
stimmungsgesetz ausgeführt, dass trotz gleicher Zahl von
Anteilseignern und ArbeitnehmerInnenvertretern im Auf-
sichtsrat keine wirkliche Parität besteht, sodass im Kon-
fliktfall diejenige Seite den entscheidenden Einfluss aus-
übt, die den Aufsichtsratsvorsitzenden stellt. Dieses
Übergewicht ist den Anteilseignern eingeräumt.
Erinnern Sie sich an die Mannesmann AG: In Rekord-
zeit wurde der Konzern mit 131 000 Beschäftigten zer-
schlagen. Keines der vorher abgegebenen Versprechen,
die Chris Gent gegenüber Beschäftigten und Gewerk-
schaft damals gemacht hatte, ist trotz Informationsrechten
gehalten worden.
Mitbestimmung bedeutet Mitentscheidung. Deshalb
haben wir in unserem Antrag bereits vor einigen Monaten
gefordert, den Gewerkschaften in dem Gesetz ein Recht
auf den Abschluss eines Fusionstarifvertrages zu gewähr-
leisten. Darin sollen die Fragen von Beschäftigungssiche-
rung, Qualifizierung, Erhalt sozialer und tariflicher Stan-
dards sowie die Regelungen zur Sicherstellung
betrieblicher und gewerkschaftlicher Mitbestimmungs-
rechte und -gremien geregelt werden. Darüber hinaus tre-
ten wir für ein Vetorecht von Betriebsräten und Gewerk-
schaften gegenüber Fusionen und Übernahmen ein. In
diesem Sinne muss der Gesetzentwurf dringend nachge-
bessert werden.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen: Die Bundesregierung hat
sich eine nachhaltige Modernisierung des Standortes
Deutschland zum Ziel gesetzt, um die Rahmenbedingun-
gen für Investitionen und die Schaffung neuer Arbeits-
plätze zu verbessern. Der vorliegende Gesetzentwurf zur
Regelung von öffentlichen Angeboten und von Unterneh-
mensübernahmen ist ein wichtiger Bestandteil dieses
Konzeptes.
Öffentliche Angebote zum Erwerb von Wertpapieren,
insbesondere Angebote mit dem Ziel der Unternehmens-
übernahme, gewinnen im Wirtschaftsleben eine immer
größere Bedeutung. Am deutschen Kapitalmarkt besteht
im Gegensatz zu anderen führenden internationalen Fi-
nanzplätzen bislang keine gesetzliche Regulierung öffent-
licher Angebote zum Erwerb von Wertpapieren und von
Unternehmensübernahmen. Der Übernahmekodex der
Börsensachverständigenkommission hat sich in der Praxis
insoweit nicht bewährt, als er keine flächendeckende Ak-
zeptanz gefunden hat. Um gleiche Wettbewerbsbedingun-
gen zu schaffen und in Anbetracht der steigenden Anzahl
und Bedeutung von Unternehmensübernahmen bedarf es
daher einer gesetzlichen Regelung. Diese Regelung muss
den Anforderungen der Globalisierung und der Finanz-
märkte angemessen Rechnung tragen; sie wird zugleich
auch den Finanzplatz Deutschland im internationalen
Wettbewerb weiter stärken.
Der vorliegende Regierungsentwurf stellt eine Fortent-
wicklung des im Juni letzten Jahres vorgelegten Diskus-
sionsentwurfs und des Referentenentwurfs vom März die-
ses Jahres dar. Durch das Gesetz werden Leitlinien für
faire und geordnete öffentliche Angebote von Wertpapie-
ren geschaffen. Die rechtzeitige und umfassende Infor-
mation der betroffenen Wertpapierinhaber und der Arbeit-
nehmer sowie ihre Möglichkeit zur Stellungnahme
werden gesetzlich verankert und es wird dem Bedürfnis
nach transparenten Verfahren Rechnung getragen. Zudem
wird die rechtliche Stellung von Minderheitsaktionären
und Arbeitnehmern bei Unternehmensübernahmen ge-
stärkt.
Durch die gesetzlichen Regelungen soll den Adressa-
ten eines Übernahmeangebots, das heißt den Aktionären,
ermöglicht werden, in Kenntnis der Sachlage eigenstän-
dig über das Übernahmeangebot zu entscheiden. Daher
haben Vorstand und Aufsichtsrat grundsätzlich alle Hand-
lungen zu unterlassen, durch die der Erfolg des Angebots
verhindert werden könnte.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118828
(C)
(D)
(A)
(B)
Dies gilt jedoch nicht für solche Handlungen, die auch
ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer
Gesellschaft vorgenommen hätte, die nicht von einem
Übernahmeangebot betroffen ist. Hierdurch wird sicher-
gestellt, dass die Zielgesellschaft während des Angebots
nicht unangemessen in ihrer Geschäftstätigkeit behindert
wird. Darüber hinaus ist auch die Suche nach einem kon-
kurrierenden Angebot jederzeit zulässig.
Handlungen, durch die darüber hinaus der Erfolg von
Übernahmeangeboten verhindert werden kann, dürfen
vom Management einer Gesellschaft nur mit Billigung
der Aktionäre als Eigentümer des Unternehmens vorge-
nommen werden. Eine entsprechende Ermächtigung kann
durch die Hauptversammlung sowohl während eines lau-
fenden Übernahmeverfahrens als auch im Vorhinein er-
teilt werden. Erfolgt eine Ermächtigung auf Vorrat, das
heißt ohne dass ein konkretes öffentliches Angebot vor-
liegt, müssen sich drei Viertel der Aktionäre hierfür aus-
gesprochen haben. Die Ermächtigung kann für höchstens
18 Monate erteilt werden; Handlungen des Vorstands auf-
grund der auf Vorrat erteilten Ermächtigung bedürfen
stets der Zustimmung des Aufsichtsrats.
Zugleich wird durch eine Änderung des Aktiengeset-
zes eine Regelung in das deutsche Gesellschaftsrecht auf-
genommen, die einem Hauptaktionär ab einer Beteiligung
von 95 Prozent des Grundkapitals die Möglichkeit ver-
schafft, Minderheitsaktionäre in gesetzlich zulässiger
Weise aus der Gesellschaft gegen die Gewährung einer
Barabfindung auszuschließen. Für eine solche Regelung
besteht in der Praxis ein Bedürfnis. Sie entspricht schließ-
lich auch internationalem Standard.
Der Bundesrat hat zu dem Entwurf am 27. September
2001 Stellung genommen und gebeten, die im Entwurf
enthaltene Regelung zur so genannten Neutralitätspflicht
zu überprüfen. Die Bundesregierung wird dem Wunsch
des Bundesrates nachkommen und die Anregungen des
Bundesrates sorgfältig prüfen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
von streckenbezogenen Gebühren für die Be-
nutzung von Bundesautobahnen mit schweren
Nutzfahrzeugen
des Antrags: Keine Abgabenerhöhung durch
LKW-Maut
(Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesordnungs-
punkt 6)
Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Ich freue mich, dass
wir heute ein ganz wichtiges verkehrspolitisches Vorha-
ben der Koalitionsparteien auf den parlamentarischen
Weg bringen: Die Einführung der entfernungsabhängigen
LKW-Maut auf Bundesautobahnen nimmt eine Schlüs-
selstellung unserer Verkehrspolitik ein.
Wir sorgen damit endlich für eine verursachergerechte
Anlastung der Wegekosten. Wir werden endlich die aus-
ländischen LKW angemessen an der Finanzierung unse-
res Verkehrsnetzes beteiligen.
Wir leisten mit der Einführung der entfernungsabhän-
gigen LKW-Maut einen großen Beitrag zum Abbau der
Wettbewerbsverzerrungen in Europa. Die Maut ist inso-
fern wettbewerbsneutral, weil sich kein ausländischer
Konkurrent dieser Abgabe entziehen kann.
Schließlich stärken wir mit der Einführung der LKW-
Maut die Wettbewerbsstellung der Schiene gegenüber der
Straße. Wir beenden endlich den untragbaren Zustand,
dass heute ein LKW mit einer Jahresvignette von
2 500 DM rund 120 000 Kilometer fahren kann, während
ein Güterzug für diesen Betrag gerade einmal quer durch
Deutschland kommt.
Insgesamt schlagen wir mit der LKW-Maut ab dem
Jahr 2003 ein ganz neues verkehrspolitisches Kapitel auf.
Es ist ein teilweiser Übergang von der reinen Steuer zur
anteiligen Nutzerfinanzierung von Verkehrswegen.
Wir werden durch die LKW-Maut auch neue Investiti-
onsspielräume gewinnen. Das Anti-Stau-Programm ab
dem Jahre 2003, mit dem wir gezielt Engpässe auf beson-
ders belasteten Verkehrswegen beseitigen wollen, wäre
ansonsten gar nicht finanzierbar. So werden wir für das
Anti-Stau-Programm ab 2003 3,7 Milliarden DM in das
Straßennetz, 2,8 Milliarden DM in die Schienenwege und
0,9 Milliarden DM in die Bundeswasserstraßen zusätzlich
investieren.
Statt diesen Schritt in die richtige Richtung anzuerken-
nen kommen jetzt wieder die ewigen Bedenkenträger
bzw. die Vertreter von Partikularinteressen und verlangen
völlig kleinkariert, die Mauteinnahmen nur in die Bun-
desfernstraßen zu stecken. Manche haben offensichtlich
immer noch nicht verstanden, dass es in der Zukunft nur
um ein integriertes Verkehrsnetz geht. Wer die Straße ent-
lasten will, muss auch Platz auf der Schiene schaffen. Das
neue EU-Weißbuch ist ein hochaktuelles Plädoyer für die
verkehrsträgerübergreifende Verwendung der Mautein-
nahmen. Der Opposition sei das Weißbuch zur Lektüre
deshalb wärmstens empfohlen.
Ich halte die bisher geplante Gebührenhöhe für ver-
nünftig. Sie entspricht in der Größenordnung dem, was
der LKW auch in Italien oder Frankreich bezahlen muss.
Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass kein Staat bei der
Festlegung der Mauthöhe völlig frei ist. Die Mauthöhe
muss sich an den Wegekosten orientieren. Das sei auch in
Richtung derjenigen gesagt, die eine deutlich höhere
Maut fordern.
Man hätte darauf wetten können, dass sich die Beden-
kenträger von allen Seiten wieder melden werden. Auf
zwei viel gehörte Bedenken möchte ich hier gerne ein-
gehen:
Die Vorstellung, als Folge der LKW-Maut müssten wir
nun mit einer riesigen Preiserhöhungswelle rechnen, halte
ich für grundlegend falsch. Natürlich wird sich der LKW-
Transport verteuern. Warnungen, dadurch würden sich
nun aber auch die Lebenshaltungskosten drastisch verteu-
ern, halte ich jedoch für unangebracht. Zur Klarstellung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18829
(C)
(D)
(A)
(B)
haben wir in unserer Anhörung ja einen Fragenkomplex
formuliert. Viel eher werden wir damit rechnen können,
dass unsinnige Ferntransporte, wie zum Beispiel der
Transport des berühmten Joghurtbechers künftig unter-
bleiben werden. Das wäre übrigens ein äußerst erwünsch-
ter Effekt.
Die Sorge, die LKW-Transporte könnten sich in Zu-
kunft auf das nachgeordnete Straßennetz verlagern, halte
ich ebenfalls für unberechtigt. Die im Gesetz angelegte
Regelung ist vernünftig, im Falle von Ausweichverkehren
die Mautgebühr gegebenenfalls auf eine bestimmte Aus-
weichstrecke auszuweiten. Ob es sich irgendwann einmal
als sinnvoll erweisen kann, das gesamte Straßennetz für
den LKW-Verkehr zu bemauten, soll jetzt nicht entschie-
den werden. Erst einmal sollte man in aller Ruhe die
tatsächliche Entwicklung beobachten und Erfahrungen
sammeln.
Letzte Anmerkung. Die Einführung der LKW-Maut
zum 1. Januar 2003 wird der richtige Zeitpunkt sein, um
einen weiteren Harmonisierungsschritt bei der Abgaben-
belastung für unser Transportgewerbe zu erzielen. Seit
vielen Jahren ist der europäische Transportmarkt in Un-
ordnung, weil unsere EU-Partner in einem Dumping- und
Subventionswettlauf versucht haben, für ihr eigenes
Transportgewerbe Vorteile zu schaffen.
Anders als alle Vorgängerregierungen hat die rot-grüne
Bundesregierung aber schon einige wichtige Schritte un-
ternommen, um die Wettbewerbsverzerrungen auf dem
europäischen Transportmarkt zu beenden. Ich erwähne
nur die von uns eingeführte Fahrerlizenz für Fahrer aus
Drittstaaten und die Übergangsfristen bei der EU-Ost-
erweiterung. Wir werden deshalb alle Vorschläge für wei-
tere Harmonisierungsschritte, die auf dem Tisch sind,
sorgfältig prüfen.
Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung wird in
Deutschland eine überaus wichtige verkehrspolitische
Initiative in die parlamentarische Beratung überführt. Es
geht um die Umstellung von der Steuer- zur Nutzerfinan-
zierung des Straßenbaus und der Straßenunterhaltung, ein
Grundsatz, der in Übereinstimmung mit den Vorgaben der
Europäischen Union auch von der CDU/CSU mitgetragen
wird. Nicht nur die Verkehrspolitik, auch die Finanz- und
Wirtschaftspolitik werden in weitem Umfang von den
Entscheidungen tangiert werden, die im Gesetzgebungs-
verfahren zu treffen sind.
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf ist unvollständig
und wird dem gesetzten Anspruch bei weitem nicht ge-
recht. Es stehen noch viele Fragen offen und es ist noch
vieles nachzubessern. Man kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass die Kabinettsvorlage vom Sommer im
Schweinsgalopp in einem beispiellosen Zustand der Un-
ausgegorenheit verabschiedet wurde.
Uns allen ist die schwierige Lage des gesamten deut-
schen Transportgewerbes aus vielen Diskussionen be-
kannt. Aus vielen Gesprächen mit Unternehmern vor Ort
weiß ich, dass vielen das Waser bis zur Oberkante Unter-
lippe steht.
Jetzt mag ja manch einer denken, wenn einige Unter-
nehmen über den berühmten Jordan gehen, dann gäbe es
weniger LKW auf unseren Straßen. Weit gefehlt! Jeder
deutsche LKW, der in unserem Land weniger auf den
Straßen fährt, wird von einem LKW aus einem unserer
Nachbarländer ersetzt werden. Dies bedeutet nicht weni-
ger Betrieb oder Stau auf unseren Straßen, sondern mehr
Unsicherheit; denn ob bei allen ausländischen Verkehrs-
teilnehmern unsere Sicherheitsstandards immer eingehal-
ten werden, ist doch stark zu bezweifeln.
Vielen Unternehmen ist durch die Kostenentwicklung
der letzten beiden Jahre jeglicher Spielraum genommen
worden. Neben der viel diskutierten und falschen Öko-
steuer müssen die Unternehmer die Schwefelsteuer sowie
die Erhöhung der Versicherungsteuer hinnehmen und nun
soll es zu einer weiteren zusätzlichen Belastung durch die
LKW-Maut kommen. Wir, die CDU/CSU, werden einer
zusätzlichen Belastung nicht zustimmen. Unsere klare
Forderung ist, dass es zu einer Umfinanzierung kommen
muß.
Im Tenor LKW-Maut hört sich das so an, dass die
Bundesregierung im Zuge ihrer Einführung damit einen
höchstmöglichen Harmonisierungsschritt verbinden wol-
le. Hört sich ja gut an, aber wenn es dann in die Richtung
geht, dass man die Harmonisierung nur noch anstrebt,
klingt es schon nicht mehr so gut. Wahrscheinlich kommt
es am Ende so, dass man auf europäischer Ebene nur noch
Gespräche führt.
Die Wettbewerbssituation des deutschen Gewerbes
wir sprechen an dieser Stelle nicht zum ersten Male da-
rüber im europäischen Maßstab ist nach wie vor mise-
rabel und auch drei Jahre rot-grüner Ankündigungspolitik
haben daran nichts geändert. Der Harmonisierungspro-
zess in Europa tritt auf der Stelle, ja er verzeichnet Rück-
schritte, wenn man an die zuletzt eingeführten Steuer-
erstattungen in Frankreich, Italien und den Niederlanden
denkt. Es bleibt unverrückbare Position der CDU/CSU,
dass die Abgabenbelastung des deutschen Güterkraftver-
kehrs durch die Maut nicht weiter steigen darf. Ein Drauf-
satteln auf die KFZ-Steuer und vor allem die Mineral-
ölsteuer kommt für uns nicht infrage.
Bereits heute besteht bei einem 40-Tonner in Deutsch-
land bei einer Jahresfahrleistung von 135 000 Kilometern
und einem Verbrauch von 35 Litern auf 100 Kilometern
eine jährliche Abgabenlast von insgesamt 43 400 DM
Steuern; der Franzose kommt mit 34 100 DM und der Bel-
gier mit 30 800 DM hin. Hier müssen Sie ansetzen, hier
haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht!
Völlig inakzeptabel ist in diesem Zusammenhang für
mich die Aussage daes Bundesverkehrsministers auf der
Internetseite des Ministeriums, wo es heißt, dass negative
Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland
ausgeschlossen werden. Ein starkes Wort! Würden die
Regierungspläne so wie geplant umgesetzt, so stünden ein
ganzer Gewerbezweig und Hunderttausende von Arbeits-
plätzen auf dem Spiel. Bereits jetzt gehen die Margen der
Branche gegen Null und die Verbände haben ja schon an-
gekündigt, dass sie die Maut auf die Transportpreise
draufschlagen müssen. Dies geht aber nur das müssten
selbst Sie verstehen , wenn man auf europäischer Ebene
wettbewerbsfähig ist. Umso mehr gilt dies nach Freigabe
der Kobotagefahrten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118830
(C)
(D)
(A)
(B)
In Ihrem Gesetzentwurf führen Sie aus, dass die Wett-
bewerbssituation des deutschen Gewerbes nicht ver-
schlechtert werde. Im Ausschuss hat der Herr Minister
von Wettbewerbsneutralität gesprochen und davon,
dass er das Gewerbe keinem ruinösen Wettbewerb ausset-
zen wolle. Dem Gewerbe nützt dies wenig, denn zurzeit
sind keine wettbewerbsneutralen Bedingungen unter den
europäischen Partnern gegeben. Es dient auch nicht der
Vertrauensbildung, wenn er die Ideenlosigkeit und Kurz-
atmigkeit seiner Konzeption auch noch mit solch leeren
Parolen zu untermauern sucht.
Wenn ich lese, dass die Umlegung der Maut auf die
Preise durch betriebliche Optimierung vermeidbar sei,
so sage ich: Gehen Sie doch in die Betriebe, fragen Sie die
Unternehmer nach ihren Gewinnen, fragen Sie die
Brummi-Fahrer nach ihrem Gehalt, fragen Sie doch ein-
mal nach, warum die Spediteure in Thüringen mit Trauer-
flor fahren, seit die Regierungspläne zur Maut bekannt
sind.
Wenn wir nun noch die LKW-Maut bei der von Minis-
ter Bodewig genannten Untergrenze von 27 Pfennigen an-
setzen, so sind das schon wieder 36 500 DM zusätzlich.
Netto bei Wegfall der Vignette sind es immerhin noch
34 000 DM. Auch wenn ausländische LKW auf unseren
Straßen die gleiche Maut zahlen werden, bleibt bei Belas-
sung aller übrigen Abgabenbelastungen der Wettbewerbs-
nachteil der deutschen LKW bestehen. Fakt ist doch, dass
der ausländische Spediteur nach wie vor günstigere Preise
anbieten kann, und bei der vom Gewerbe zu erwartenden
Preissteigerung von bis zu 10 Prozent durch deutsche An-
bieter wird sich doch der Kunde erst recht nach ausländi-
schen Spediteuren umsehen. Insofern stehen Zehntau-
sende Arbeitsplätze in Deutschland auf dem Spiel und
insofern ist der Verweis, man schaffe durch die Maut ja
830 Arbeitsplätze beim Bundesamt für Güterverkehr für
die Mautkontrolleure, wohl mehr als verfehlt.
Es gilt, Wege zu finden, in Übereinstimmung mit dem
europäischen Recht die Benachteiligung des deutschen
Gewerbes abzumildern. Sie wissen, dass es ernst zu neh-
mende Vorschläge im Hinblick auf die Anrechnung der
Mineralölsteuerbelastung hierzu gibt und dass wir alle
aufgefordert sind, dies politisch umzusetzen. In diesem
Zusammenhang mache ich nochmals darauf aufmerksam,
dass wir, ebenso wie die beteiligten Verbände grundsätz-
lich bereit sind, eine LKW-Maut mitzutragen, sofern da-
durch Wettbewerbsgerechtigkeit in Europa umgesetzt
wird.
Der an sich richtige Schritt, unsere Straßen aus dem
mittlerweile als Dschungel zu bezeichnenden deutschen
Steuersystem herauszunehmen, wird sich als Eigentor er-
weisen, sofern nicht die gesamten Einnahmen aus der be-
absichtigten Nutzerfinanzierung auch tatsächlich wieder
in den Straßenbau und Straßenunterhaltung gehen. Die
von Ihnen vorgesehene Aufteilung der Mittel auf ver-
schiedene Verkehrsträger halten wir für falsch.
Wir können nicht die Einnahme aus der Maut bequem
im Staatssäckel einstreichen und gleichzeitig die Straßen-
verkehrsinfrastruktur wie bislang unter Ihrer Regierung
geschehen vernachlässigen. Der Güterkraftverkehr darf
nicht zur Melkkuh für alle anderen Verkehrsträger wer-
den. An Absichtserklärungen mangelt es ja in letzter Zeit
nicht und so hat ja auch der Bundesfinanzminister zuletzt
in der Haushaltsdebatte erklärt, er sehe die LKW-Maut als
Finanzierungsinstrument für die Verkehrsinfrastruktur.
Gut gebrüllt Löwe, kann man da nur sagen, aber so
manch losgesprungener Tiger ist schon als Bettvorleger
gelandet.
Skepsis ist also angebracht und wir werden das sehr
aufmerksam verfolgen: So tanken wir ja mittlerweile im
dritten Jahr für Opis Rente und wissen doch genau, dass
mit jedem Liter Sprit über die so genannte Ökosteuer auch
etwas für den Bundeshaushalt übrig bleibt.
Wenn man sich die aktuelle Entgegnung der Bundesre-
gierung auf den Bundesratsbeschluß ansieht, so findet
man dort den Begriff weitgehend. Weitgehend also sol-
len die Einnahmen in das Anti-Stauprogramm einfließen.
Man lässt sich also doch noch ein Hintertürchen offen, um
weitgehend flexibel die Gelder nach Gutdünken zu ver-
wenden.
Ich möchte zum Abschluss nur kurz erwähnen, dass
noch zahlreiche andere Fragen ungelöst sind, etwa wie
man die Umgehung der Mautpflicht durch die Benutzung
von Bundes- und Landesstraßen zufriedenstellend regeln
will oder wie man angemessene Regelungen für be-
stimmte Bereiche, wie etwa die Landwirte oder Schau-
steller, gestalten will. Wir haben uns interfraktionell auf
eine Anhörung zum Thema, einen Fragenkatalog und eine
Expertenrunde geeinigt. Meine Hoffnung ist es, dass wir
daraus sinnvolle Anregungen ziehen und in der Lage sind
nicht zuletzt im Hinblick auf die notwendige Zustim-
mung des Bundesrates sachdienliche Kompromisse zu
finden.
Mein Aufruf zum Schluss an die Kolleginnen und Kol-
legen von SPD und Grünen: Machen Sie sich in dieser
Frage einmal frei von ihren ideologischen Zwängen und
finden Sie mit uns im anstehenden Verfahren eine zweck-
dienliche Lösung der vor uns liegenden Probleme, denn
wir alle wissen: Ohne LKWs geht und geschieht in unse-
rem Lande wirklich nichts, es wird im wahrsten Sinne des
Wortes ohne die Brummis nichts bewegt. Für uns alle ist
ein funktionsfähiges Güterverkehrsgewerbe von größter
Bedeutung.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit dem heute eingebrachten Gesetz zur
Einführung von streckenbezogenen Gebühren für die Be-
nutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahr-
zeugen setzt die rot-grüne Koalition ein Kernstück ihrer
Verkehrspolitik um: Mit der elektronisch und kilometer-
genau erhobenen LKW-Maut gibt es auf den bundes-
deutschen Straßen und im Güterverkehrsmarkt endlich
mehr Kostenwahrheit und mehr Chancengleichheit für
die Bahn.
Die rechte Autobahnspur ist heute ein subventionier-
tes Warenlager mit hohen Umwelt-, Lärm- und
Kostenbelastungen. Die schweren LKW verursachen
enorme Straßenschäden und bezahlen derzeit fast nichts
dafür. Ab 2003 werden dem LKW verursachergerechte
Wegekosten in Rechnung gestellt. Damit bremsen wir
das Verkehrswachstum und lenken Transporte auf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18831
(C)
(D)
(A)
(B)
Schiene und Binnenschiff zusammen mit den folgenden,
bereits beschlossenen Maßnahmen: Die Schienenmaut
für private Güterbahnen ist halbiert; das Streckennetz der
Bahn wird runderneuert, neue Loks und Logistikkon-
zepte der Bahn machen den Güterzug attraktiver. Das
Rückgrat eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems ist die
Bahn. Auch Einnahmen aus der LKW-Maut wollen wir
in ein intelligentes Güterbahn-System investieren. Des-
halb fließen mit dem Anti-Stau-Programm ab 2003 zu-
sätzliche Mittel aus der LKW-Gebühr in den Ausbau von
Bahn und Binnenschiff, im selben Umfang wie zur Eng-
passbeseitigung im Fernstraßennetz. Wir beschreiten da-
mit in der Infrastrukturfinanzierung einen Weg, der nicht
nur inhaltlich geboten und schlüssig ist, sondern auch im
neuen EU-Weißbuch zur Verkehrspolitik aufgezeigt
wird. Dort wird ausdrücklich festgehalten, dass Staats-
einnahmen aus der LKW-Maut auch zur Finanzierung
neuer Bahnstrecken eingesetzt werden dürfen, für die
Opposition und LKW-Lobby ein Sakrileg, das sie als
Quersubventionierung geißeln. In Wahrheit jedoch ein
Segen; denn damit gewinnt die Verkehrspolitik Gestal-
tungsspielraum zurück.
Verkehrswachstum ist kein Naturgesetz; dies haben
wir unter anderem mit der Ökosteuer entgegen mancher
Skepsis gezeigt: Wurde früher von Jahr zu Jahr mehr Auto
gefahren und mehr Kraftstoff verbraucht, so hat sich in-
zwischen der Trend umgedreht. Die heutige PKW-Fahr-
leistung auf Deutschlands Straßen liegt um zwei Prozent
unter dem Vorjahreswert. In derselben Größenordnung
wird mehr Bus und Bahn gefahren. Wir wollen den
Güterverkehr auf der Schiene bis 2015 mindestens ver-
doppeln. Die LKW-Maut ist dafür ein weiterer wichtiger
Baustein, der aus unserer Sicht bezüglich seiner Len-
kungswirkung regelmäßig zu überprüfen ist. Wo das Ziel
verfehlt wird, muss nachjustiert werden. Sie soll eben
nicht nur dafür sorgen, dass die schweren Trucks die Re-
paratur der Straßen bezahlen, sondern umlenken auf die
umweltverträglicheren Systeme Güterzug und Schiff.
Dazu müssen diese Alternativen ausgebaut werden. Des-
halb wird das Aufkommen aus der deutschen LKW-Maut
ab 2003 eben nicht nur in den Straßenbau zurückfließen,
sondern im Sinne der Verkehrsverlagerung zum gleichen
Anteil auch in Schiene und Wasserstraße.
Die Einführung auf den Autobahnen ist ein erster
Schritt. Die Technik muss zunächst erprobt werden und
sich bewähren. Für uns steht aber schon heute fest, dass
der zweite Schritt folgen wird: Eine Ausdehnung auf das
nachgeordnete Straßennetz muss kommen, um insbeson-
dere die hoch belasteten Ortsdurchfahrten im wahrsten
Sinne des Wortes zu entlastern.
Die streckenbezogene LKW-Maut ist aber auch ein
Schritt zu einem fairen Wettbewerb der deutschen Spedi-
tionen mit der ausländischen Konkurrenz, denn niemand
wird mehr von Grenze zu Grenze rauschen und dabei nur
Abgase und kaputte Straßen hinterlassen können. Die
LKW-Maut bezahlen alle. Mit der emissionsbezogenen
Staffelung werden darüber hinaus diejenigen belohnt, die
in einen modernen Fuhrpark investieren.
Die Debatte der letzten Wochen und Monate hat ge-
zeigt, dass die LKW-Maut von einer breiten Akzeptanz in
der Bevölkerung getragen wird. Auch dem Speditionsge-
werbe ist klar, dass sich mit der Maut keine Wettbewerbs-
nachteile verbinden werden. lm Gegenteil: Die LKW-
Maut steht für Kostenwahrheit, Chancengleichheit und
fairen Wettbewerb. Wer einen funktionsfähigen und ver-
träglichen Güterverkehrsmarkt wünscht und dessen
volkswirtschaftliche Bedeutung anerkennt, kann sie nur
begrüßen.
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Die FDP im
Deutschen Bundestag spricht sich für die Umstellung der
zeitbezogenen LKW-Vignette auf eine streckenbezogene
Maut aus. Sie ist ein Schritt in Richtung auf die notwen-
dige Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur.
Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung ist jedoch
in erster Linie eine Abgabenerhöhung, die dem Bundes-
finanzminister nach Expertenschätzungen bis zu 10 Mil-
liarden DM pro Jahr in den Staatssäckel spült. Die Höhe
der Maut übersteigt somit deutlich die Wegekosten, die
den schweren LKW anzulasten sind. Zur wünschenswer-
ten Umstellung der Infrastrukturfinanzierung gehört eine
Entlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer und bei der Mine-
ralölsteuer sowie eine Zweckbindung der Einnahmen zu-
gunsten des Straßenbaus. Zusätzliche Bemühungen zur
Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im euro-
päischen Straßengüterverkehrsgewerbe sind weitgehend
ausgeblieben.
Die FDP im Deutschen Bundestag sieht das Maut-Ge-
setz der Bundesregierung als weiteren schweren Mühl-
stein für den Wirtschaftsstandort und als einen der letzten
Sargnägel für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
an. Die Maut verteuert die Kosten deutscher Produktions-
standorte und erledigt das mittelständisch geprägte deut-
sche Güterkraftverkehrsgewerbe.
Die FDP wird sich im Bundestag dafür einsetzen, die
Abkassiervorlage der Bundesregierung vom Kopf auf die
Füße zu stellen: Wir brauchen neben der Umstellung der
LKW-Maut konkrete Harmonisierungsschritte, die den
Wettbewerbsnachteil des deutschen Güterkraftverkehrs in
Europa reduzieren. Um Abgabenerhöhungen auszu-
schließen, muss die Abgabenbelastung umfinanziert wer-
den, etwa durch die Absenkung der KFZ-Steuer für
schwere LKW und die Mineralölsteuer für Dieselkraft-
stoff.
Das über nur drei Jahre aus Teilen der Maut-Einnah-
men finanzierte Anti-Stau-Programm reicht nicht aus, um
die dauerhafte Zweckbindung zu gewährleisten. Die
Nettoeinnahmen müssen vollständig in den Straßenbau
fließen. Direkte Quersubventionierungen zugunsten der
Schiene oder der Binnenwasserstraße sind der falsche
Weg. Die Höhe der Maut darf nicht nach Gutsherrenart
durch Regierungsverordnung festzulegen sein. Der Bun-
destag muss sich sein Budgetrecht erhalten; die Höhe der
Maut ist durch Gesetz festzulegen. Die Maut muss durch-
schaubar und administrierbar sein. Dazu gehört es auch,
Ausweichverkehre zu vermeiden, beispielsweise durch
eine Ausweitung der Mautpflicht auf Teilstrecken von
Bundesstraßen oder Ausnahmen von der Mautpflicht auf
Stadtautobahnen. Ziel der Maut ist vor allem der Güter-
fernverkehr, weniger der lokale und regionale Wirt-
schaftsverkehr.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118832
(C)
(D)
(A)
(B)
Wenn es Kurt Bodewig nicht gelingt, im Gesetzge-
bungsverfahren diese Kriterien umzusetzen, ist es besser,
keine Maut einzuführen als diese, die die deutsche Ver-
kehrswirtschaft nachhaltig benachteiligt und dem Wirt-
schaftsstandort Deutschland schadet.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Die Kritik der PDS an der
Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe, der LSVA,
wie sie die Bundesregierung jetzt plant, lässt sich in fünf
Punkten zusammenfassen:
Erstens. Die Reduktion dieser LSVA auf Autobahnen
wird zu mehr LKW-Transporten auf Bundesstraßen füh-
ren. Damit wird sich die Belastung durch LKW-Verkehr
in dichter besiedelten Räumen erhöhen, was zweifellos
absolut kontraproduktiv ist.
Zweitens. Die Festlegung, wonach die LKW-Maut nur
bei LKW ab 12 Tonnen erhoben wird, wird zu mehr Gü-
terverkehr mit kleineren LKW führen. In diesem Rahmen
dürfte es zu einer massiven Steigerung der Expressgut-
dienste kommen und zu einer spezifischen Schmutzkon-
kurrenz auf diesem Gebiet. Damit wird eine deutlich ne-
gative Entwicklung der jüngeren Zeit, die auch Resultat
der falschen Privatisierungspolitik ist, nochmals ver-
stärkt.
Drittens. Die LSVA soll nach dem Konzept der Bun-
desregierung nur die Wegekosten Bau und Unterhalt
der BAB berücksichtigen und dies wohl nur zum Teil.
Sie wird die externen Kosten Unfälle, Zeitverluste
durch Stau, Lärm, Abgase nicht berücksichtigen. Das
heißt, diese Abgabe wird zu niedrig sein, um eine Kos-
tenwahrheit im Transportgewerbe herzustellen, und in je-
dem Fall zu niedrig, um eine verkehrslenkende Wirkung
zu haben und Verkehre auf Schiene und Binnenwasser-
straßen zu verlagern.
Viertens. Bezeichnenderweise werden im Gesetzent-
wurf Begründung, Teil Finanzielle Auswirkungen
hinsichtlich der Verwendung der neuen Einnahmen nur
Maßnahmen für den Straßenbau genannt, obgleich das
Anti-Stau-Programm, das damit finanziert werden soll,
formell auch Maßnahmen für die Schiene vorsieht. Das ist
Klartext. Tatsächlich wird die LSVAzusätzliche Mittel für
den Straßenbau und damit den Bau neuer Straßen mit sich
bringen. Damit dürfte es mittelfristig zu einem neuen
Schub für die Straße im Allgemeinen und für den LKW-
Verkehr im Besonderen kommen.
Fünftens. Das deutsche LKW-Gewerbe soll durch an-
dere Maßnahmen entlastet werden. Das steht zwar nicht
im Gesetzentwurf, weil man der EU keine Handhabe zum
Einschreiten geben will. Dies wird aber einigermaßen of-
fen auf LKW-Lobby-Tagungen durch Regierungsver-
treter geäußert. Das aber heißt: Die LKW-Maut wird
primär eine protektionistische Wirkung für das deutsche
LKW-Gewerbe haben: Ausländische Konkurrenz wird
verteuert und deutsche relativ begünstigt.
Laut offiziellem Entwurf für einen neuen Bundesver-
kehrswegeplan soll der LKW-Verkehr bekanntlich in den
nächsten zehn bis 15 Jahren nochmals um bis zu 80 Pro-
zent anwachsen. Diese Planung wurde bereits unter Be-
rücksichtigung der LSVA-Planungen gemacht und bei-
spielsweise im Verkehrsbericht 2000 festgehalten. Auch
das ist Klartext: Die LSVA wird nach dem Willen derje-
nigen, die sie nun einführen wollen, die unverantwort-
liche, Umwelt und Menschen enorm belastende weitere
Steigerung des Straßengüterverkehrs nicht oder völlig un-
zureichend reduzieren.
Die LSVAkönnte grundsätzlich einen richtigen Weg zu
einer Politik weisen, die Verkehre von der Straße auf
Schiene und Wasserstraßen lenkt. In der realen Ausge-
staltung dürfte sie nur immanente Verlagerungseffekte
von ausländischen auf deutsche LKW , keinen Abbau
des real existierenden LKW-Verkehrs und auch keinen
geringeren Anstieg des LKW-Verkehrs, als offiziell ge-
plant, mit sich bringen.
Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen: Ers-
tens. Die Bundesregierung beabsichtigt mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf, die derzeit geltende zeitabhängige
LKW-Eurovignette durch eine fahrleistungsabhängige
Gebühr, also durch eine Maut, zu ersetzen, wie wir dies
im Koalitionsvertrag vom Oktober 1998 vereinbart ha-
ben. Betroffen sein werden hiervon in- und ausländische
Fahrzeuge.
Zweitens. Mit der für den 1. Januar 2003 geplanten
Einführung der LKW-Maut wird ein großer und wichtiger
Schritt in Richtung auf eine verstärkte Nutzerfinanzie-
rung beim Verkehrsträger Straße vollzogen. Denn die al-
leinige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur aus öffent-
lichen Haushaltsmitteln stößt bekanntlich zunehmend an
ihre Grenzen. Die Bundesregierung verfolgt deshalb im
Einklang mit der EU-Verkehrspolitik das Ziel, die Nutzer
stärker an den Kosten der Infrastruktur zu beteiligen. Dies
gilt speziell für den schweren LKW, der im besonderen
Maße Kosten für den Bau, die Instandhaltung und den Be-
trieb unserer Autobahnen verursacht.
Drittens. Diese Wegekosten können mit der künftigen
LKW-Maut in optimaler Weise den Verursachern angelas-
tet werden, da die Maut direkt von den tatsächlichen Fahr-
leistungen abhängt.
Viertens. Die Maut schafft darüber hinaus auch einen
Anreiz zur noch wirtschaftlicheren Ausnutzung der
Transportkapazitäten.
Fünftens. Sie kann außerdem dazu beitragen, dass Gü-
ter von der Straße auf die Schiene und das Schiff verlagert
werden.
Sechstens. Die wichtigsten Regelungen des Gesetzent-
wurfes sind: Die Mautpflicht wird für Fahrzeuge ab
12 Tonnen zulässigem Gesamtgewichts festgelegt. Aus-
nahmen sind nur für Fahrzeuge der Polizei, der Notdiens-
te, der Streitkräfte und des Straßenbetriebsdienstes sowie
für Kraftomnibusse zulässig. Mautpflichtiges Straßennetz
wird das Bundesautobahnnetz sein. Zugleich wird die
Möglichkeit eröffnet, die Mautpflicht durch Rechtsver-
ordnung mit Zustimmung des Bundesrates auf einzelne
Bundesstraßenabschnitte auszudehnen, wenn es dort zu
sicherheitsrelevanten Ausweichverkehren kommen sol-
lte. Das Mautaufkommen wird dem Bund zustehen. Die
Gebührenhöhe wird ebenfalls durch Rechtsverordnung
der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18833
(C)
(D)
(A)
(B)
festgelegt werden. Dabei wird die Mauthöhe nach Achs-
zahl und Emissionsverhalten der schweren LKWs gestaf-
felt werden. Das Bundesamt für Güterverkehr wird als
Kontroll- und Ordnungswidrigkeitenbehörde dienen. Der
Gesetzentwurf enthält außerdem die Rechtsgrundlagen
für die Einbeziehung der Privatwirtschaft in das Vorhaben
LKW-Maut.
Siebtens. Es war von Beginn an die Absicht der Bun-
desregierung, die Privatwirtschaft an der Realisierung des
Vorhabens zu beteiligen. Deshalb wurde nicht nur die
Technik des Mauterhebungssystems, sondern auch die Er-
richtung des Gesamtsystems und insbesondere dessen
späterer Betrieb europaweit ausgeschrieben. Die Einbe-
ziehung der Privatwirtschaft ist auch Ausdruck des Ver-
trauens der Bundesregierung in die Fähigkeit der Indus-
trie, innovative Lösungen zu entwickeln und zeitgerecht
zu realisieren.
Achtens. Die Einführung der LKW-Maut findet im
Prinzip grundsätzliche Zustimmung. Es werden aber häu-
fig zugleich die Forderungen erhoben, die künftigen
Mauteinnahmen vollständig der Verkehrsinfrastruktur zu-
kommen zu lassen und das von der Maut betroffene Gü-
terkraftverkehrsgewerbe an anderer Stelle zu entlasten.
Hierzu kann ich Ihnen mitteilen: Die Bundesregierung
wird die Einnahmen aus der Mauterhebung weitgehend
für den Bau und den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur ver-
wenden. Ein Teil des künftigen Mautaufkommens wird
im Rahmen eines bereits bestehenden Anti-Stau-Pro-
gramms zur nachhaltigen Verbesserung der Verkehrsin-
frastruktur eingesetzt werden.
Neuntens. Das Anti-Stau-Programm als Teil der Infra-
strukturpolitik der Bundesregierung verfolgt das Ziel, die
Kapazitätsengpässe im Straßen-, Schienen- und Wasser-
straßennetz zu reduzieren bzw. die Kapazitäten zu si-
chern. Erfolge bei den Verkehrsträgern Schiene und Was-
serstraße führen letztlich auch zu Entlastungen im
Autobahnnetz. Das Programmvolumen von rund 7,4 Mil-
liarden DM wird deshalb je zur Hälfte auf Bundesauto-
bahnen einerseits und die Schiene und Wasserstraßen an-
dererseits aufgeteilt werden. Auch über die Finanzierung
des Anti-Stau-Programms hinausgehende Einnahmen
werden noch weitgehend zusätzlich zu den Ansätzen des
Verkehrshaushalts des Bundes in die Verkehrsinfrastruk-
tur fließen.
Zehntens. Im Hinblick auf eine Angleichung der Wett-
bewerbsbedingungen im europäischen Güterkraftver-
kehrsgewerbe beabsichtigt die Bundesregierung die
Einführung der Maut mit einem größtmöglichen Har-
monisierungsschritt im Rahmen der EU-Rechtsetzung zu
verbinden. Dabei sind die Maßnahmen zugunsten des Gü-
terkraftverkehrsgewerbes in ihrer Gesamtheit zu beurtei-
len. Das Steuersenkungsgesetz der Bundesregierung ent-
lastet nachhaltig die Unternehmen und damit auch das
mittelständische Transportgewerbe. Weiterhin hat die
Bundesregierung mit dem Gesetz gegen illegale Beschäf-
tigung im LKW-Gewerbe ihre Zusage, gegen illegale
Wettbewerbspraktiken vorzugehen, bereits konsequent
umgesetzt.
Elftens. Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist
wesentlicher Bestandteil eines starken und dynamischen
Wirtschaftsstandorts Deutschland sowie zentrale Voraus-
setzung für Wachstum und Beschäftigung. Mit dem Ein-
stieg in eine stärkere Nutzerbeteiligung bei der Infra-
strukturfinanzierung durch die LKW-Maut werden die
Voraussetzungen für dringend erforderliche zusätzliche
Investitionen geschaffen, die zu einer klaren Verbesse-
rung dieses wichtigen Standortfaktors führen werden.
Zwölftens. Deutschland wird außerdem mit der Er-
richtung eines Mauterhebungssystems, das und dies ist
das eigentlich technisch weltweit Neue ohne jeden Ein-
griff in den freien Verkehrsfluss auskommen, eine Vorrei-
terrolle auf diesem Gebiet einnehmen können. Das inter-
nationale Interesse ist beträchtlich und nimmt weiter zu.
Dies eröffnet neue nationale und internationale Markt-
chancen für die Industrie und trägt so zur Sicherung von
Arbeitsplätzen bei. Die Realisierung eines solchen Sys-
tems kann in Deutschland zudem auch auf anderen Fel-
dern der Informationstechnologie einen Innovationsschub
auslösen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Deutsche Bundesbank
Gesetzes über die integrierte Finanzdienstleis-
tungsaufsicht
(Tagesordnungspunkt 13 a und b)
Jörg-Otto Spiller (SPD): Die Organisation von Be-
hörden muss aufgabengerecht sein. Wenn sich Aufgaben
und Rahmenbedingungen ändern, gehören Organisation
und Arbeitsweisen auf den Prüfstand. Mit den beiden vor-
liegenden Gesetzentwürfen, die darauf abzielen, die
Struktur der Deutschen Bundesbank und die Organisation
der staatlichen Finanzmarktaufsicht sachgemäß zu verän-
dern, werden aus schwer wiegenden rechtlichen und
tatsächlichen Veränderungen organisatorische Konse-
quenzen gezogen.
Werden Änderungen in der Behördenorganisation vor-
wiegend unter sachlichen Gesichtspunkten beurteilt,
dürfte es über die Zusammenführung der heute auf drei
Ämter verteilten Banken-, Versicherungs- und Wertpa-
pieraufsicht in einer Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht wenig Streit geben. Denn die Märkte, die
diese Ämter beaufsichtigen, wachsen immer stärker zu-
sammen. Das gilt zum einen für die Produkte. Die im
Zuge der Rentenreform geschaffenen kräftigen Anreize
zum Aufbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Alters-
vorsorge werden diesen Trend noch verstärken. Es gilt
auch für die Unternehmen. Das Zusammengehen von Al-
lianz und der Dresdner Bank ist nur die Spitze des Eis-
bergs.
Schon heute führt das Bundesaufsichtsamt für das Kre-
ditwesen nicht nur eine Solvenzaufsicht der Banken und
Finanzdienstleister, sondern auch eine Marktaufsicht der
Investmentfonds durch. Die Bundesaufsichtsämter für
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118834
(C)
(D)
(A)
(B)
das Kreditwesen und für den Wertpapierhandel beauf-
sichtigen zusammen die Wertpapierdienstleistungsunter-
nehmen.
Mit anderen Worten: Der Schritt zur Allfinanzaufsicht
ist konsequent und wohlbegründet. Gute Gründe sprechen
auch dafür, die drei bisherigen Aufsichtsämter künftig in
die Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts zu-
sammenzufassen. Bietet sie doch die Chance, für spezi-
elle Aufgaben auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ge-
winnen zu können, für die Tarifgehälter wenig attraktiv
sind.
Ausdrücklich begrüßen möchte ich, dass wir diesen
Gesetzentwurf in Verbindung mit dem Entwurf zur Ände-
rung des Bundesbankgesetzes beraten. Zwischen beiden
bestehen Sachzusammenhänge. Die Beteiligung der Bun-
desbank an der Bankenaufsicht soll durch die Zusam-
menführung der Aufsichtsämter nicht geschmälert, son-
dern eher gestärkt werden. Das ist sehr vernünftig. Allein
schon deshalb, weil die Bundesbank eine der wenigen
Behörden ist, die über die ganze Republik Präsenz in der
Fläche vorweisen kann.
Anlass für eine Strukturreform der Deutschen Bundes-
bank hätte es eigentlich schon Ende 1997 gegeben, als die
Entscheidung für den Eintritt in die 3. Stufe der Europä-
ischen Wirtschafts- und Währungsunion fiel. Mit der Er-
richtung der Europäischen Zentralbank, die nun allein für
die Geldpolitik in der Währungsunion zuständig ist, ha-
ben die nationalen Zentralbanken am 1. Januar 1999 ihre
mit Abstand wichtigste Aufgabe verloren. Es ist Ausdruck
für das auch international hohe Ansehen, als Garant, ja ge-
radezu als Synonym für Geldwertstabilität, das sich die
Bundesbank in einem halben Jahrhundert erworben hat,
dass die Europäische Zentralbank streng nach ihrem Vor-
bild konstruiert worden ist.
Aber das darf nicht heißen, dass die Bundesbank selbst
in ihrer Struktur unverändert bleibt, so als gäbe es die Eu-
ropäische Zentralbank nicht. Geldpolitische Entscheidun-
gen trifft heute der Rat der Europäischen Zentralbank. Da
hat die Bundesbank, vertreten durch ihre Präsidenten,
eine Stimme. Der einst so mächtige Zentralbankrat der
Bundesbank hat seine wichtigste Entscheidungskompe-
tenz verloren. Das kann nicht ohne Konsequenzen für die
Leitungsstruktur der Bundesbank bleiben.
Im Einzelnen wird die im Gesetzentwurf vorgeschla-
gene Strukturreform im Finanzausschuss zu beraten sein;
auch im Lichte der dort durchzuführenden Anhörung.
Vielleicht wird nicht jedes Detail des Entwurfs Bestand
haben. Beispielsweise bin ich nicht sicher, ob der Bun-
destag gut beraten wäre, einen Anspruch zu formulieren,
der Bundesbank Ratschläge über betriebswirtschaftliche
Effizienz zu erteilen. Auf die Unabhängigkeit der Noten-
bank sollte kein Schatten fallen.
Ein Wort noch zur Stellungnahme des Bundesrates.
Gewiss, Veränderungen in der Organisation einer Bun-
desbehörde bedürfen nicht der Zustimmung des Bundes-
rates. Es ist ein schönes Zeichen, dass die Länder für diese
Bundesbehörde so viel Anteilnahme zeigen. Die Bundes-
bank ist ja auch eine Bundesbehörde von besonderem
Rang und besonderem Ansehen. Bisher zeigt der Bundes-
rat sich sehr ablehnend.
Ich hoffe, es wird uns allen, Bundestag und Bundesrat,
gelingen, das Maß an Übereinstimmung noch zu erhöhen.
Otto Bernhardt (CDU/CSU): Zunächst einige An-
merkungen zum Gesetz über die Deutsche Bundesbank:
Durch diesen Gesetzentwurf zieht die Bundesregierung
die Konsequenzen aus der Einführung des Euro zum 1. Ja-
nuar und dem Übergang der geldpolitischen Kompetenz
von der Deutschen Bundesbank auf die Europäische Zen-
tralbank. Mit diesem Übergang verliert die Deutsche Bun-
desbank einen wesentlichen Teil ihrer Kompetenzen.
Nicht mehr der Zentralbankrat, sondern nur noch der Prä-
sident der Bundesbank wirkt an den geldpolitischen Ent-
scheidungen im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der Eu-
ropäischen Zentralbank mit. Bisher steht an der Spitze der
Bundesbank ein achtköpfiges Direktorium, deren Mit-
glieder vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bun-
desregierung ernannt werden. Daneben gibt es neun Lan-
deszentralbankpräsidenten, die vom Bundespräsidenten
auf Vorschlag des Bundesrates ernannt werden und ge-
meinsam mit dem Direktorium den Zentralbankrat bilden.
Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll in
Zukunft als einziges Gremium ein sechsköpfiger Vorstand
bestehen. Der Präsident und der Vizepräsident sollen auf
Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten
ernannt werden und die weiteren Mitglieder auf Vorschlag
des Bundesbankpräsidenten im Einvernehmen mit der
Bundesregierung. Die neun Landeszentralbanken sollen
zwar erhalten bleiben und deren Präsidenten weiterhin auf
Vorschlag des Bundesrates ernannt werden; da in Zukunft
aber weder die Landeszentralbanken noch die Landes-
zentralbankpräsidenten eigene Kompetenzen haben sol-
len, bedeutet dies letztlich, dass das förderative Element
in der Bundesbank weitgehend zurückgedrängt wird. Der
Bundesrat spricht in seiner Stellungnahme zu Recht da-
von, dass durch den Gesetzentwurf die Landesbankpräsi-
denten zu weisungsgebundenen Regionaldirektoren ab-
gestuft werden sollen und dies nicht ihre Zustimmung
finden wird. Hier ist ein Konflikt zwischen dem Bund und
den Ländern vorprogrammiert, unter dem das Image der
Deutschen Bundesbank leiden wird, und dies gerade in ei-
ner Zeit, in der wir das gute Image dieser Institution, das
über 50 Jahre aufgebaut wurde, dringend im Zusammen-
hang mit der Einführung der Euronoten und -münzen
benötigen. Natürlich ist eine Verschlankung der Deut-
schen Bundesbank notwendig und dies muss zwangsläu-
fig zum Abbau von Stellen führen. Wir begrüßen, dass
Plankostenrechnung, Investitionsplan und Plan-Ist-Ana-
lyse als Pflichtinstrumente gesetzlich verankert werden
sollen.
Einige Anmerkungen zur Finanzdienstleistungsauf-
sicht: Die Finanzdienstleistungsmärkte haben sich verän-
dert. Die Entstehung integrierter Finanzdienstleister, wie
zum Beispiel im Falle des Zusammenschlusses von Alli-
anz und Dresdner Bank, zwingen, darüber nachzudenken,
ob unser bisheriges System, bestehend aus selbstständi-
gen Bundesämtern für das Kreditwesen, für das Versiche-
rungswesen und den Wertpapierhandel, noch optimal ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18835
(C)
(D)
(A)
(B)
Ob allerdings die Schaffung einer neuen Bundesanstalt
quasi als Oberbehörde der richtige Weg ist, bedarf noch
eingehender Diskussionen. Wir haben bei einem Besuch
einer Gruppe des Finanzausschusses in den Vereinigten
Staaten vor wenigen Monaten dieses Thema diskutiert.
Dort wurde dringend von einer integrierten Lösung abge-
raten. Niemand in Amerika ist bereit, über so etwas auch
nur nachzudenken, war die einhellige Auffassung sowohl
bei der amerikanischen Administration in Washington als
auch bei Vertretern der Finanzwelt in New York und Chi-
cago. Großbritannien ist den Weg einer integrierten Auf-
sicht gegangen. Die Erfahrungen werden sehr unter-
schiedlich beurteilt.
Ob der Weg über eine neue Superbehörde wirklich ef-
fektiver ist oder ob nicht eine engere Kooperation die Ant-
wort auf neue Herausforderungen sein könnte, bleibt da-
hingestellt. Auf jeden Fall dürfte der neue Weg teuerer
werden. In diesem Zusammenhang ist im Gesetz vorgese-
hen, dass sämtliche Kosten und nicht, wie bisher,
90 Prozent auf die zu prüfenden Institute abgewälzt
werden sollen, eine im Interesse der Effizienz bedenkli-
che Lösung.
Einige abschließende Anmerkungen: Vom Bundesrat
gibt es zu Recht über die Grenzen der Parteien hinweg
sehr kritische Anmerkungen zu beiden Gesetzen. Die weit
gehende Zustimmung der deutschen Großbanken kann
nicht überraschen. Sie werden in der geplanten Super-
behörde ihren Ansprechpartner finden. Wie sieht es aber
mit den vielen Sparkassen und Genossenschaftsbanken in
der Fläche aus? Nur wenn die Deutsche Bundesbank um-
fassend in die Bankenaufsicht eingeschaltet bleibt, ist si-
chergestellt, dass vor Ort kompetente Gesprächspartner
zur Verfügung stehen. Gerade bei der bevorstehenden
Umsetzung von Basel II dürfte dies von erheblicher Be-
deutung sein, nicht zuletzt für die mittelständische Wirt-
schaft.
Ernst sollte man auch die Kritik zahlreicher Fachleute
nehmen, so zum Beispiel die Ausführungen des langjähri-
gen LZB-Präsidenten Professor Hans-Jürgen Krupp,
SPD, der in diesem Zusammenhang befürchtet, dass die
Stabilität des Finanzsystems beeinträchtigt und der mit-
telständischen Wirtschaft geschadet wird und der wört-
lich von einem Zentralisierungswahn spricht.
Ich fasse abschließend die Kritik unserer Fraktion wie
folgt zusammen:
Beide Gesetzentwürfe sind geprägt von einem über-
triebenen Zentralismus, provozieren einen völlig unnöti-
gen Konflikt mit der Mehrzahl der Bundesländer, gefähr-
den das hervorragende Ansehen der Bundesbank und von
bestehenden Aufsichtsämtern, berücksichtigt zu wenig
die mittelständisch geprägte Struktur unserer Wirtschaft
sowie die Interessen der in der Fläche vorherrschenden
Sparkassen und genossenschaftlichen Banken und ver-
nachlässigen die Erfahrungen anderer Staaten.
Beide Gesetze sind zwar nicht zustimmungspflichtig,
dennoch kann der Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit er-
reichen, dass auch eine Zweitdrittelmehrheit im Bundes-
tag erforderlich wird. Nicht zuletzt vor diesem Hinter-
grund hoffen wir, dass beide Gesetze im Rahmen der
parlamentarischen Beratungen noch in wesentlichen
Punkten verändert werden, damit beide Gesetze eine
breite Mehrheit in Bundestag und Bundesrat finden. Dies
ist für die wichtigen und sensiblen Bereiche, um die es in
beiden Gesetzen geht, sinnvoll und erstrebenswert.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir beraten die Gesetzentwürfe zur Reform der Bundes-
bank und zur integrierten Finanzdienstleistungsaufsicht
ab heute zusammen. Das ist die richtige Entscheidung,
denn letztlich können wir nicht vernünftig über die neue
Struktur der Bundesbank beraten, bevor nicht klar ist,
welche Aufgaben die Bundesbank innerhalb des neuen
Aufsichtssystems haben wird. Das eine geht nicht ohne
das andere.
Nach dem Übergang der geld- und währungspoliti-
schen Entscheidungsbefugnisse auf die Europäische Zen-
tralbank muss die Bundesbank ihrer neuen Rolle gerecht
werden. Das heißt in erster Linie, dass die Zentrale der
Bundesbank in Frankfurt am Main und damit der Bun-
desbankpräsident gestärkt werden müssen. Die Zentrale
braucht ein entsprechendes Gewicht, damit die Stimme
der Bundesbank bei den geld- und währungspolitischen
Entscheidungen im ESZB angemessen berücksichtigt
wird. Deutschland kann hier nicht mit einem ganzen Stim-
menchor sprechen. Das würde die Glaubwürdigkeit und
das Vertrauen der Bevölkerung, das auch mit einer Euro-
päischen Zentralbank die Stabilität nach innen und außen
gewahrt werden kann, erst recht beeinträchtigen.
Kernstück der Reform ist der neue sechsköpfige Bun-
desbankvorstand. Dieser wesentlich kleinere Vorstand
wird zukünftig die Leitungsfunktionen der bisherigen
Bundesbankorgane in sich vereinen. Die Vorbehaltszu-
ständigkeiten der Landeszentralbanken entfallen. Die
Landeszentralbankpräsidenten sind im Vorstand nicht
mehr vertreten und darüber hinaus weisungsgebunden.
Ihre Bestellung erfolgt auf Vorschlag des Bundesrates im
Einvernehmen mit dem neuen Bundesbankvorstand.
Durch diese einheitliche Leitungs- und Entscheidungs-
struktur wird die Zentrale der Bundesbank entscheidend
gestärkt.
Zusätzlich erhält der Präsident eine sehr starke Position
innerhalb dieses Gremiums: So bestimmt der Präsident
zukünftig im Einvernehmen mit der Bundesregierung die
weiteren vier Mitglieder des Vorstandes, Hinzu kommt
noch, dass der Präsident bei wichtigen Sachentscheidun-
gen das letzte Wort hat. Der Vorstand kann nicht gegen ihn
entscheiden. Darüber hinaus ermöglicht die neue, schlan-
kere Struktur effiziente Organisationsabläufe. Bisherige
Doppelarbeiten können reduziert werden und aufwendige
Koordinierungsaufgaben entfallen.
Ebenfalls mehr Effizienz versprechen wir uns davon,
dass die Bundesbank in Zukunft verstärkt betriebswirt-
schaftliche Instrumente wie etwa Kostenrechnung einset-
zen muss. Durch diese Maßnahme werden die Ausgaben
transparent und das bringt sicherlich auch mehr Ausga-
bendisziplin mit sich. Zusätzlich erhält der Bundestag die
Möglichkeit, Empfehlungen auszusprechen, wie die Effi-
zienz gesteigert werden kann. Hier haben verschiedene
Seiten Bedenken angemeldet, ob dies nicht die Unabhän-
gigkeit der Bundesbank beschädigt, deshalb auch der ex-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118836
(C)
(D)
(A)
(B)
plizite Verweis auf den europarechtlichen Schutz der Un-
abhängigkeit der Bundesbank. Dies ist ein hohes Gut, das
wir keinesfalls gefährden wollen.
Trotz dieser Zentralisierung soll aber auch die Veran-
kerung in den Regionen erhalten bleiben, damit die Er-
fahrungen und damit verbundenen Kompetenzen und Ka-
pazitäten vor Ort weiterhin nutzbar sind, um die
Geldpolitik dezentral umzusetzen. Denn die föderale
Struktur der Bundesbank, ihre Präsenz und Kompetenz
auch in der Fläche, ist ein entscheidendes Plus, das man
nicht ohne Not opfern darf. Und das auch nicht geopfert
wurde. Die neun Landeszentralbanken bleiben erhalten.
Es besteht die Möglichkeit, regionale Kompetenzzentren
zu schaffen. Und wie schon erwähnt kann der Bun-
desrat bei der Benennung der Landeszentralbankpräsi-
denten weiter mitwirken.
Damit ist gesichert, dass Wirtschaft, Banken und Poli-
tik auch in der Fläche in den Landeszentralbanken wei-
terhin kompetente Partner finden werden. Über die kon-
krete Ausgestaltung des Kollegialprinzips werden wir bei
den parlamentarischen Beratungen des Gesetzentwurfes
sicherlich noch einmal zu reden haben. Ich denke, es
sollte nicht einfach hinten herunterfallen.
Wie stark die Bundesbank sein wird, ist aber nicht zu-
letzt eine Frage, welche Rolle sie bei der Bankenaufsicht
spielen wird. Hier verfügt die Bundesbank über umfang-
reiche Erfahrungen und die entsprechenden Ressourcen,
die es auch weiterhin zu nutzen gilt. Dies ist umso wich-
tiger, als mit Basel II neue Anforderungen auf Banken, die
Bankenaufsicht und besonders auf die mittelständische
Wirtschaft zukommen.
In der Banken- und Versicherungslandschaft ist schon
seit einiger Zeit ein Trend zu Allfinanzkonzepten zu be-
obachten. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Ty-
pen von Finanzdienstleistern verschwimmen. Damit wer-
den gefährliche Risikokonzentrationen häufig erst dann
erkennbar, wenn alle Aktivitäten gemeinsam betrachtet
werden. Die derzeit getrennten Kompetenzen der Auf-
sichtsämter führen dazu, dass Geschäftsbereiche nicht
ausreichend oder aber gleich doppelt überwacht werden.
Mit der Zusammenlegung der Aufsichtsämter für das Ver-
sicherungswesen, den Wertpapierhandel und das Kredit-
wesen ziehen die Aufsichtsbehörden jetzt die notwendi-
gen Konsequenzen aus diesen Entwicklungen.
In diesem Rahmen wird die Aufgabenverteilung zwi-
schen der zukünftigen Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht und der Bundesbank erstmals gesetzlich ge-
fasst. Auch hier werden wir bei den parlamentarischen
Beratungen genau prüfen, ob so Doppelarbeiten tatsäch-
lich vermieden und die vorhandenen Kapazitäten effi-
zienter genutzt werden.
Gerhard Schüßler (FDP): Die vorliegenden Gesetz-
entwürfe enthalten Reformen, die von der FDP ausdrück-
lich begrüßt werden. Die Strukturreform der Bundesbank
und eine Neuregelung unserer komplizierten Finanz-
marktaufsicht sind vor dem Hintergrund der veränderten
Zentralbankstruktur in Europa einerseits und der zuneh-
menden Globalisierung der Finanzmärkte andererseits
sinnvoll, aber auch notwendig.
Die Schaffung einer einheitlichen Leitungs- und Ent-
scheidungsstruktur bei der Bundesbank und die Zusam-
menfassung der Aufgaben, die bisher von Zentralbankrat,
Direktorium und den Vorständen der Landeszentralban-
ken wahrgenommen wurden, werden von der FDP unter-
stützt. Die Bundesbank hat mit dem Übergang der Geld-
politik auf die Europäische Zentralbank Kompetenzen
abgegeben. Geld- und währungspolitische Entscheidun-
gen werden im EZB-Rat unter Mitwirkung des Bundes-
bankpräsidenten getroffen. Für die vorbereitende Arbeit
im ESZB-Rat bedarf es einer Straffung der komplexen
Abstimmungs- und Koordinierungsprozesse innerhalb
des deutschen Zentralbanksystems.
Diese Strukturreform der Bundesbank muss allerdings
eine angemessene regionale Präsenz weiterhin gewähr-
leisten. Die Zweiganstalten haben Erkenntnisse über Ban-
ken vor Ort, die sie im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit
dringend benötigen.
Hier ist der Zusammenhang mit der Schaffung einer in-
tegrierten Finanzmarktaufsicht zu sehen, an der die Bun-
desbank wesentlich beteiligt ist. Einerseits verlangt
unsere dezentrale Bankenstruktur eine dezentrale, insti-
tutsnahe Struktur der Bank- bzw. Finanzmarktaufsicht.
Andererseits verlangen die zunehmende Internationalisie-
rung der Finanzmärkte sowie das fortschreitende Ent-
stehen von Allfinanzkonzernen die zentrale Zusam-
menfassung der Finanzmarktaufsicht. Für eine zentrale
Finanzmarktaufsicht spricht insbesondere die zurzeit dis-
kutierte Bekämpfung der Geldwäsche und die Austrock-
nung illegaler Finanzströme. Dem ist unsere sowohl ver-
tikal wie horizontal zersplitterte Aufsicht keinesfalls
gewachsen.
Für die FDP begrüße ich nochmals die von der Bun-
desregierung vorgelegten Gesetzentwürfe. Wir werden im
Rahmen der parlamentarischen Beratungen konstruktiv
daran mitwirken.
Dr. Barbara Höll (PDS): Wir beraten heute zwei
Gesetzentwürfe den Entwurf eines siebten Bundes-
bankänderungsgesetzes und den Entwurf eines Gesetzes
über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht , die in
unmittelbarem Zusammenhang stehen. Deshalb erscheint
mir die gemeinsame Behandlung der Vorlagen auch sinn-
voll.
Die Bundesregierung plant, eine Allfinanzaufsicht zu
installieren, in deren Händen die Aufsicht über die Ban-
ken, Versicherungsunternehmen und Finanzdienstleis-
tungsinstitute gebündelt wird. Unbestritten ist, die Fi-
nanzmärkte haben sich gewandelt. Wer heute in seine
Bankfiliale kommt, erhält nicht mehr nur Angebote über
Anlagemöglichkeiten oder günstige Kredite. Immer öfter
nehmen Banken auch Versicherungen, Ausbildungs- oder
Rentenversicherungen, in ihren Leistungskatalog auf.
Gleichzeitig offerieren Versicherungsunternehmen neben
einer Haftpflicht-, Hausrat- oder Lebensversicherung
auch Sparpläne und Anlagemöglichkeiten. Auch wenn
meines Erachtens in Zukunft Finanzkonglomerate wie
das Konglomerat der Allianz mit der Dresdner Bank nicht
bestimmend sein werden, so ist es doch klar, dass die
Kooperation von Banken, Finanzdienstleistern und Ver-
sicherern stetig zunimmt, die Produkte immer mehr
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18837
(C)
(D)
(A)
(B)
verschwimmen. Auch verstärken sich die Wechselbezie-
hungen zwischen Bank- und Kapitalmarktfinanzierung
permanent. Eine einheitliche Aufsicht über die Anbieter
und ihre Produkte ist da nur sinnvoll. In mehreren euro-
päischen und außereuropäischen Ländern hat sich eine
Allfinanzaufsicht bewährt, unter anderem in Japan, in der
Schweiz oder in den skandinavischen Ländern.
Aus diesen Gründen unterstützen wir das Anliegen des
Gesetzentwurfes.
Allerdings sind in den vor uns stehenden Beratungen
noch erhebliche Einwände zu debattieren: Zweifelhaft ist
meines Erachtens zum Beispiel die Integration der Versi-
cherungsaufsicht in die Allfinanzaufsicht. Diese leitet
sich nicht automatisch aus der Bildung einzelner großer
Bank- und Versicherungskonzerne ab. Hier sollte noch
genauer analysiert und differenzierter reagiert werden.
Ein zweiter Aspekt, der insbesondere in der Fachwelt
immer wieder angebracht wird, ist die Frage, wer die Fi-
nanzaufsicht ausübt. Ist es notwendig, eine neue Behörde
zu installieren, oder kann das Know-how der Bundesbank
genutzt und die Aufsicht von dieser übernommen werden,
wie es zum Beispiel in den Niederlanden oder Spanien der
Fall ist?
Damit sind wir bei dem zweiten Gesetzentwurf, dem
Entwurf eines siebten Bundesbankänderungsgesetzes.
Meines Erachtens muss im Rahmen der Strukturreform
der Bundesbank auch darüber beraten werden, ob die
Bundesbank eine Allfinanzaufsicht übernehmen kann.
Mit der endgültigen Einführung des Euro in genau
82 Tagen wird offensichtlich, dass die Geldpolitik als Auf-
gabe der Bundesbank wegfällt. Sie hat nun vor allem die
Aufgabe, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank
national umzusetzen. Entsprechend müssen die Struktu-
ren reformiert werden. Wir unterstützen die entsprechen-
den Vorschläge im Gesetzentwurf.
Allerdings sind auch hier Korrekturen notwendig: Dies
betrifft zum Beispiel die Einbeziehung der Vorschläge des
jetzigen Bundesbankpräsidenten in Bezug auf das ein-
heitliche Bestellungsverfahren und das Vetorecht des
zukünftigen Bundesbankpräsidenten. Besonderes Augen-
merk muss weiterhin auf das Mitwirkungsrecht der Be-
legschaft gelegt werden. Nehmen Sie die entsprechenden
Vorschläge der Gewerkschaften auf, den Beschäftigten
Sitz und Stimme im Verwaltungsbeirat zu geben! Damit
könnten sich zukünftig auch die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wirksam an der inneren Gestaltung der
Bundesbank beteiligen.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen: Das Bundeskabinett hat
am 30. Mai 2001 den Entwurf für ein Bundesbankstruk-
turreformgesetz Siebentes Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über die Deutsche Bundesbank und am 15. Au-
gust 2001 den Entwurf eines Gesetzes über die integrierte
Finanzdienstleistungsaufsicht verabschiedet. Beide Ge-
setzentwürfe sollen im Parlament gemeinsam behandelt
werden. Lassen Sie mich im Folgenden die konzeptionel-
len Überlegungen der Bundesregierung darlegen.
Die konzeptionellen Kernpunkte der Bundesbank-
strukturreform lauten wie folgt: angemessene Vertretung
deutscher Interessen im Europäischen System der Zen-
tralbanken (ESZB) durch die Stärkung der Bundes-
bankzentrale in Frankfurt am Main und der Position des
Bundesbankpräsidenten; einheitliche Leitungs- und Ent-
scheidungsstruktur durch die Einrichtung eines Bundes-
bankvorstands, der die Funktionen der bisherigen Bun-
desbankorgane in sich vereint dazu gehört auch der
Wegfall der so genannten Vorbehaltszuständigkeiten der
Landeszentralbanken ; Bewahrung eines in der Fläche
präsenten Bundesbanksystems durch den Erhalt der neun
Landeszentralbanken und die Möglichkeit zur Einrich-
tung regionaler Kompetenzzentren durch ein Organisa-
tionsstatut; Schaffung größerer Ausgabentransparenz und
Kostenkontrolle bei der Bundesbank für eine effizientere
Aufgabenwahrnehmung unter voller Wahrung ihrer euro-
parechtlich geschützten Unabhängigkeit.
Der Gesetzentwurf enthält die folgenden wesentlichen
Regelungen: Die Bundesbank soll zukünftig von einem
sechsköpfigen Vorstand geleitet werden. Ihr Präsident und
der Vizepräsident werden auf Vorschlag der Bundesregie-
rung bestellt. Bei den übrigen Vorstandsmitgliedern er-
folgt die Bestellung auf Vorschlag des Bundesbankprä-
sidenten im Einvernehmen mit der Bundesregierung.
Bei wichtigen Sachentscheidungen und zwar bei der
Aufstellung des Jahresabschlusses, der Plankostenrech-
nung und des Investitionsplans sowie bei der Zuständig-
keitsverteilung innerhalb des Vorstands und der Bank
kann nicht gegen den Präsidenten entschieden werden.
Durch diese Regelung soll die herausgehobene Position
des Bundesbankpräsidenten als Vertreter der Zentralbank
Deutschlands im EZB-Rat unterstrichen werden.
Die Landeszentralbankpräsidenten sind nicht mehr im
Leitungsorgan der Bundesbank vertreten. Ihre Bestellung
erfolgt auf Vorschlag des Bundesrats im Einvernehmen
mit dem Vorstand. Auf diese Weise wird die einheitliche
Umsetzung der von der Bundesbankzentrale vorgegebe-
nen Leitlinien durch die Hauptverwaltungen sicherge-
stellt.
Die Bundesregierung bedauert, dass der Bundesrat den
Entwurf in der vorliegenden Form ablehnt. Gleichwohl
geht die Bundesregierung davon aus, dass die parlamen-
tarischen Beratungen wie nunmehr vorgesehen im
März 2002 abgeschlossen sein werden.
Der gleiche Zeitplan gilt für den Gesetzentwurf über
die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht. Dieser Ge-
setzentwurf beinhaltet im Wesentlichen die Errichtung
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht mit
Ermächtigungsgrundlagen für flankierende Verordnun-
gen zur Satzung und Finanzierung und die Regelung der
Zusammenarbeit mit der Bundesbank.
Die neue Bundesanstalt mit Sitz in Bonn und Frankfurt
soll die Aufgaben der heutigen Aufsichtsbehörden Bun-
desaufsichtsamt für das Kreditwesen, Bundesaufsicht-
samt für das Versicherungswesen und Bundesaufsicht-
samt für den Wertpapierhandel übernehmen. Der
Gesetzentwurf regelt dazu überwiegend organisations-
und dienstrechtliche Fragen, ohne das materielle Auf-
sichtsrecht zu ändern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118838
(C)
(D)
(A)
(B)
Bei diesem Entwurf geht es um mehr als nur um die
Zusammenlegung dreier Aufsichtsbehörden und um Auf-
gabenzuweisung hinsichtlich der Bankenaufsicht. Es geht
darum, die Voraussetzungen für eine integrierte, stärker
kapitalmarktorientierte Aufsicht zu schaffen.
Die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht schafft
Voraussetzungen für mehr Wettbewerbsneutralität der
Aufsicht, die Zusammenführung gemeinsamer Funktio-
nen, die Nutzung sektorübergreifenden Know-hows und
von Synergieeffekten bei Personal und Equipment sowie
Rekrutierung der erforderlichen Spezialisten. Dies er-
möglicht den erforderlichen Schritt über die institutsbe-
zogene Aufsicht herkömmlicher Prägung hinaus zu mehr
Kapitalmarktorientierung.
Der Gesetzesentwurf sichert insbesondere im Ver-
gleich zum Finanzplatz London und der dortigen Aufsicht
der FSA die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Fi-
nanzmarktes am Standort Deutschland. Er hat großes In-
teresse und überwiegend positives Echo hervorgerufen
zuletzt vom IWF , auch hinsichtlich der Rolle der Bun-
desbank bei der Bankenaufsicht.
Der Entwurf erfüllt die Vorgabe der Sicherstellung der
Einbeziehung der Bundesbank zur Erfassung systemi-
scher Risiken und zur Nutzung der Präsenz in der Fläche.
Erstmals wird die Kooperation zwischen der Bundesbank
und der Bundesanstalt sowie ihre Einbindung in die lau-
fende Bankenaufsicht gesetzlich konkretisiert.
Der Vergleich mit dem Status quo zeigt, dass die Rolle
der Bundesbank nicht geschwächt, sondern im Gegenteil
eindeutig gestärkt wird. Die Anträge im Bundesrat zu un-
serem Gesetzentwurf müssen enttäuschen. Das Konzept
ist ausgewogen. Die Bundesbank ist mit dem Gesetzes-
entwurf weitgehend zufrieden. Wichtige Vorstellungen
der Bundesbank sind erfüllt so kürzlich Edgar Meister,
Mitglied des Direktoriums. Weitere Verschiebungen zu-
gunsten der Bundesbank schwächten die Stellung der
Bundesanstalt und führten zu einer Aushöhlung des Kon-
zepts.
Ich fasse zusammen. Helfen Sie mit, dass die Bundes-
bank und die neue Bundesanstalt den Platz einnehmen
können, der im Sinne der Finanzstabilität und des Finanz-
platzes Deutschland künftig erforderlich ist.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-
rung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
des Antrags: Änderung des Schuldrechtsan-
passungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14 a
und b)
Hans-Joachim Hacker (SPD): Die Problematik der
Schuldrechtsanpassung, verständlich gesagt, die Rege-
lung der Rechtsverhältnisse zwischen Grundstücksei-
gentümern und Nutzern von Erholungs- und Garagen-
grundstücken, gehörte zu den komplizierten Rechtsfragen
bei der Wiedervereinigung. Wer heute über diese Thema-
tik spricht, vor allem über den vorgelegten Entwurf der
Bundesregierung zur Änderung des Schuldrechtsanpas-
sungsgesetzes, darf einerseits den historischen Bezug
nicht vergessen. Andererseits muss er sich jedenfalls
dann, wenn er verantwortungsbewusst diskutiert von
den Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes vom 14. Juli 1999 leiten lassen.
Zum historischen Bezug gehört, dass die Nutzer
während der DDR-Zeit Grundstücke erschlossen und mit
viel Engagement in Zeiten von Materialknappheit Erho-
lungsmöglichkeiten für ihre Familien geschaffen haben.
Dabei wurden Privateigentümer, wenn über deren Grund-
stücke durch Staatsorgane verfügt wurde, nicht gefragt.
Das war in der DDR so. Das weiß jeder, der sich mit der
Materie beschäftigt hat. Das geschaffene Eigentum war
jedoch nicht durch dingliche Rechte gesichert, auch die
Regelungen des ZGB der DDR ließen Kündigungen zu.
Bei der Wiedervereinigung hat der Gesetzgeber die
Nutzungsrechte an Erholungs- und Garagengrundstücken
durch ein Moratorium gesichert und dem gesamtdeut-
schen Gesetzgeber die abschließende rechtliche Regelung
überlassen. Ohne Moratorium wären die betroffenen Bau-
lichkeiten bereits am 3. Oktober 1990 nach den Bedin-
gungen des BGB zu behandeln gewesen. Das heißt unter
anderem, dass die üblichen Kündigungsvorschriften ge-
griffen hätten. Der Einigungsvertrag, den die PDS in der
Volkskammer abgelehnt hatte, hat also für die Nutzer in
der Übergangsfrist Rechtssicherheit geschaffen und das
Schuldrechtsanpassungsgesetz brachte die abschließende
gesetzliche Regelung so dachten wir es im Deutschen
Bundestag jedenfalls bei dessen Verabschiedung 1994.
Zur Gesamtbetrachtung gehört jedoch auch ich hatte
eingangs bereits darauf hingewiesen , dass sich auf die
Klage von Grundstückseigentümern hin das Bundesver-
fassungsgericht mit den Regelungen des Schuldrechtsan-
passungsgesetzes befasst und in seinem Urteil vom
14. Juli 1999 jedenfalls teilweise die Verfassungswidrig-
keit einzelner Bestimmungen kritisiert hatte. Dieses
zwingt den Gesetzgeber zum Handeln. Ob der Gesetzent-
wurf den Vorgaben des Verfassungsgerichtes gerecht wird
und den vom Gesetzgeber angestrebten verträglichen
Ausgleich der Interessen erreicht und dabei die ge-
wünschte Befriedungsfunktion erfüllt, darüber können
und müssen wir ernsthaft diskutieren, allerdings auf einer
ehrlichen Basis.
Zum Änderungsantrag der PDS-Fraktion ist festzustel-
len, dass damit das Ziel nicht erreicht wird. Man könnte
auch sagen: Gewogen und für zu leicht befunden!
Auf jeden Fall das geht an die PDS-Fraktion, aber
auch an die Nutzer und ihre Verbände : Die PDS bleibt
ihrer Linie treu. Sie verspricht alles, weil sie selbst für
nichts einstehen muss, verdreht dabei noch die Tatsachen
und weckt unerfüllbare Hoffnungen. Wie anders sind
sonst Forderungen im Änderungsantrag zu verstehen, die
darauf abzielen, dass künftig bei der Festlegung des Nut-
zungsentgeltes der Zeitwert des Grundstücks zu Beginn
der Nutzungsverhältnisse berücksichtigt werden soll. Was
heißt das praktisch? Das bedeutet: Der staatlich regle-
mentierte Grundstückspreis, zum Beispiel aus dem Jahre
1972, soll nun die Grundlage darstellen. Das sind in der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18839
(C)
(D)
(A)
(B)
Regel Pfennigbeträge, die nie an marktwirtschaftlichen
Werten orientiert waren, also ein bisschen Staatssozialis-
mus und wenn es denn recht ist auch ein wenig Markt-
wirtschaft. Das dürfte nicht einmal die Nutzer überzeugen.
Was bedeutet die Forderung nach einer Orientierung
der Bundesländer zur Schaffung von Stundungsregelun-
gen? Diese Forderung ist völlig unverständlich; denn für
Anlagen nach dem Bundeskleingartengesetz hat der Bun-
desgesetzgeber längst eine derartige Regelung verab-
schiedet und für die Erholungsgrundstücke haben die
Länder gemäß Art. 74 GG, Abs. 1, Nr. 18 die Befugnis, das
Erschließungsbeitragsrecht landesrechtlich abzuändern.
Das heißt, die Länder können eine zinslose Stundung der
Erschließungsbeiträge vorsehen mit der Folge, dass man-
gels Fälligkeit keine Erstattung verlangt werden kann. In-
sofern existiert ein entsprechender Handlungsrahmen.
Die neuen Länder brauchen weder einen Fürsprecher
noch einen Zensor.
Im Folgenden möchte ich auf die Kernpunkte des Ge-
setzentwurfes eingehen. Das Bundesverfassungsgericht
hat unter anderem gefordert, dass der Gesetzgeber eine
Regelung zur angemessenen Beteiligung des Nutzers an
den öffentlichen Lasten des Grundstücks und zur Ge-
währung eines Teilflächenkündigungsrechtes für Ei-
gentümer großer Grundstücke schafft. Daher hat die mit
der Erarbeitung von Vorschlägen befasste Bund-Länder-
Arbeitsgruppe Regelungen zur Beteiligung der Nutzer an
den Kosten für einmalige Erschließungs- oder Anschluss-
leistungen sowie für regelmäßig wiederkehrende öffentli-
che Lasten unterbreitet.
Diese Vorschläge greift der vorliegende Gesetzentwurf
auf. Danach sollen die Nutzer bei den einmaligen Lasten
in Höhe von 50 Prozent und das verteilt auf zehn Jah-
re beteiligt werden. Endet das Vertragsverhältnis vor
Ablauf des Zehnjahreszeitraums, werden keine weiteren
Teilbeträge mehr fällig. Ich wiederhole mich: Eine Stun-
dungsregelung ist durch landesrechtliche Regelung mög-
lich.
Für regelmäßig wiederkehrende öffentliche Lasten soll
der Grundstückseigentümer ab dem 1. Juli 2001 die Er-
stattung verlangen können. Beide Regelungstatbestände
sind keine Böswilligkeiten der Bundesregierung oder der
Regierungskoalition, sondern stellen die Umsetzung der
Intention des Bundesverfassungsgerichtes im Urteil vom
14. Juli 1999 dar.
Der Vorwurf, der von der PDS im Änderungsantrag er-
hoben wird, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nicht
berücksichtige, ist völlig haltlos und zielt ins Leere. Wer
den Änderungsantrag ernst nimmt, kommt zu dem Ergeb-
nis, dass der Gesetzgeber Gestaltungsspielraum zur Ver-
besserung der Rechtsstellung der Nutzer hat. Dies ist nicht
der Fall.
Insofern das vertrete ich für die SPD-Bundestags-
fraktion und auch im Hinblick auf meine früheren Forde-
rungen ist der Handlungsspielraum des Gesetzgebers
deutlich begrenzt. Weitergehende Schutzrechte für die
Nutzer würden die Rechtsstellung der Grundstücksei-
gentümer verschlechtern. Damit würde nicht nur das Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichtes konterkariert. Wei-
tere Klagen wären die Folge. Wenn das die Zielrichtung
der PDS-Fraktion ist, kann ich nur feststellen: Das ist eine
verantwortungslose Politik, die den betroffenen Nutzern
Steine statt Brot gibt, den Streit zwischen Nutzern und
Grundstückseigentümern weiter schürt und Unfrieden
stiften würde. Mit der SPD-Bundestagsfraktion ist eine
solche Politik nicht zu machen.
Im Rahmen der heutigen Debatte ist es nicht möglich,
über alle Einzelheiten des Entwurfes zu diskutieren. Wir
werden das in den Berichterstattergesprächen und im
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ausführlich
betreiben.
Eines möchte ich zum Abschluss jedoch noch feststel-
len: Mit dem Teilkündigungsrecht für große Grund-
stücksflächen folgen wir nicht nur der Vorgabe des Bun-
desverfassungsgerichtes, sondern wir greifen damit auch
Forderungen der Nutzerverbände auf. Mit der konkrete-
ren Bestimmung der Nachweisführung über die Ortsüb-
lichkeit von Nutzungsentgelten schaffen wir mehr Klar-
heit hinsichtlich der Begründung des Verlangens auf
Nutzungsentgelterhöhung. Dieses Verlangen beinhaltet
jedoch keinen Automatismus. Widerspruch des Nutzers
gegen ein Erhöhungsverlangen des Grundstückseigentü-
mers war und ist weiterhin möglich und in Streitfällen
sind die Gutachterausschüsse gefragt, an deren Verant-
wortung ich deutlich appellieren will.
Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Uns liegt heute ein Ge-
setzentwuf der Bundesregierung vor, dessen Themen-
komplex dieses Hohe Haus ja schon oft beschäftigt hat.
Immer wieder waren und sind die bestehenden Rechts-
verhältnisse zwischen Grundstückseigentümern und Nut-
zern von Erholungs- und Freizeitgrundstücken in den
neuen Ländern Gegenstand der parlamentarischen, aber
auch und insbesondere der außerparlamentarischen Erör-
terung. Unter dem Stichwort Datschengesetz füllt die-
ses Thema bis heute Briefe, Artikel in Tageszeitungen und
natürlich Verbandszeitungen der jeweils Betroffenen.
Mit verständlichen Emotionen und entsprechender
Verunsicherung begegnen gerade die Grundstücksnutzer
daher auch der finanziellen Auswirkungen der jetzt
geplanten Änderungen. Wer immer sich auf Bundestags-
ebene mit diesem Thema beschäftigen durfte, musste bis-
her erfahren, dass sich der Rechtsfrieden dieser vom Ge-
setzgeber zu regelnden schuldrechtlichen Verhältnisse
scheinbar so recht nicht einstellen will.
Aber wenn ich mir nicht nur die bisherigen Gesetzes-
initiativen von SPD und PDS zu diesem Thema ansehe,
sondern auch zum Beispiel die regelmäßig erscheinende
Verbandszeitschrift des VDGN aus den vergangenen Jah-
ren durchblättere und ihre Stellungnahme dort lese, kann
ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie an diesem
Unfrieden keinen unbedeutenden Anteil haben. Immer
wieder haben sie gegenüber den Nutzern in der Vergan-
genheit Hoffnungen geweckt, die nicht erst nach der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch
schon vorher weder haltbar noch verfassungsrechtlich
vertretbar waren.
Zumindest bei der SPD scheinen ja diese Stimmen seit
dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes aus dem
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118840
(C)
(D)
(A)
(B)
Jahr 1999 stumm geworden zu sein. Doch noch bis in die
Jahre 1997 und 1998, also in das damalige Wahljahr hi-
nein wurde den Nutzern schlicht mehr versprochen, als zu
halten war.
Leider habe ich an einer Veranstaltung des VDGN
wohl im Jahr 1997 nicht teilgenommen. Auf der soll
ja die heutige Bundesjustizministerin und damalige
rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Frau Prof.
Däubler-Gmelin, den Nutzern ihre damaligen Vorstellun-
gen von einem Interessenausgleich zwischen den Grund-
stückseigentümern und den Nutzern dargelegt haben. Ich
höre immer wieder Nutzer zuletzt auf der verbandsin-
ternen Anhörung des VDGN am 4. September 2001 die
sich auf die Inhalte dieser Rede der Frau Ministerin beru-
fen, die sie jetzt im Gesetzentwurf mehr als vermissen. Ich
denke, die Nutzer hätten Anspruch auf eine Erklärung,
warum ihre damaligen Vorstellungen mit dem in ihrem
Hause erarbeiteten und heute vorgelegten Entwurf nur
noch wenig Übereinstimmung zeigen.
Nun wird vielleicht der eine oder andere aus der SPD-
Fraktion, dem ähnliche Fragen gestellt werden, erklären,
man habe den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes
damals noch nicht kennen können. Das ist sicher eine zu-
treffende Erklärung, aber für viele enttäuschte Nutzer
wahrlich keine Entschuldigung; denn das Verfassungs-
recht sollte in der Rechtspolitik immer Maßstab des Han-
delns sein und nicht erst, wenn das Bundesverfassungs-
gericht entschieden hat.
Wer zu viel Hoffnungen weckt, muss sich fragen las-
sen, was er damit beabsichtigt.
Und die PDS? Sie baut auch mit dem heutigen Än-
derungsantrag weiter an ihrer sozialistischen Denkwelt,
in die das Privateigentum nicht hineinpasst, und deshalb
nicht sein darf, was das Grundgesetz in Art. 14 definiert
hat. Dass diese Forderungen nicht umgesetzt werden, be-
gründet die PDS gegenüber den Betroffenen immer wie-
der mit den Mehrheitsverhältnissen des Bundestages. Das
ist prinzipiell richtig; mir bleibt ja Gott sei Dank nur
vorübergehend in manchen Fällen auch nichts anderes
übrig. Aber als eine im Bundestag vertretene Oppositi-
onspartei ist es auch ihre Pflicht, auf die rechtspolitischen
Grenzen hinzuweisen, die das Grundgesetz nun einmal
vorgibt.
Wer dies beharrlich ignoriert und stattdessen mit un-
haltbaren Forderungen auch jetzt mit dem vorliegenden
Änderungsantrag der PDS erneut nicht erfüllbare Hoff-
nungen von Grundstücksnutzern weckt und damit gleich-
zeitig berechtigte Ansprüche der Grundstückseigentümer
schlicht ignoriert, verspielt seine rechtspolitische Glaub-
würdigkeit. Gerade diese aber schulden wir den Betroffe-
nen, und zwar Nutzern gleichermaßen wie Eigentümern,
in dem so schwierigen Prozess der Anpassung dieser Nut-
zungsrechtsverhältnisse.
Auch ich weiß aus Gesprächen mit vielen Grund-
stücksnutzern, dass sie sich mehr als schwer tun mit der
bestehenden Gesetzeslage und für die jetzt notwendigen
Änderungen nur wenig Verständnis aufbringen können.
Aus nicht wenigen Einzelfällen weiß ich, dass viele von
ihnen seinerzeit Grund und Boden urbar gemacht haben.
Sie haben aus grundbuchtechnisch bezeichnetem Un-
land, das nämlich als nicht kultivierbar eingestuft wurde,
kleine Paradiese gemacht. Und sie sind gerade deshalb
mit dem Grundstück so verbunden, als ob es ihr eigenes
wäre.
Aber ich kenne auch Grundstückseigentümer, insbe-
sondere ältere Menschen, denen seinerzeit systembedingt
gegen ihren Willen die Verwertung und Nutzung ihres Ei-
gentums entzogen wurde und denen heute, zum Beispiel
durch den ausgedehnten Kündigungsschutz, die Verwer-
tung oder auch Nutzung des Grundstücks vielleicht für
den Rest ihres Lebens verwehrt bleiben werden.
Beide Beispiele zeigen das Spannungsfeld, in dem sich
der Gesetzgeber bewegt, wenn er um einen Interessen-
ausgleich bemüht sein muss. Jede Regelung wird deshalb
immer auf beiden Seiten zu Enttäuschungen oder Ableh-
nung führen. Gleichwohl ist es Aufgabe dieses Hohen
Hauses, mit der Umsetzung der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes die dort beanstandete Benachtei-
ligung der Eigentümer zu beseitigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung vom 14. Juli 1999 trotz der Beanstandungen die
damalige Ausgestaltung des Schuldrechtsanpassungsge-
setzes dem Grunde nach bestätigt. Dies gilt für den langen
Kündigungsschutz, der dem berechtigten Vertrauens-
schutz der Nutzer Rechnung tragen soll. Dies gilt auch,
bis auf die Beteiligung des Nutzers an den öffentlichen
Lasten, für die gestaffelte Regelung der Anpassung des
Nutzungsentgelts an die wirtschaftlichen Verhältnisse. So
weit, so gut!
Wir haben aber auch zur Kenntnis genommen, dass das
Gericht sehr deutlich gemacht hat, dass Regelungen der
Schuldrechtsanpassung zum Nachteil der Eigentümer ein-
deutig verfassungswidrig sind. Darauf hat sich Hand-
lungsbedarf ergeben, der mit dem heutigen Entwurf auch
umgesetzt werden soll und muss. In vielen Punkten stim-
men wir daher dem Regelungsansatz zu.
Aber wir melden schon jetzt auch Diskussionsbedarf
und gegebenenfalls Änderungsbedarf an. Ich will nur ei-
nige Punkte anschneiden, die für uns noch diskussions-
würdig sind: So bedarf der Erörterung, ob die Umsetzung
des Teilkündigungsrechts für den Eigentümer und des
subsidiären Teilkündigungsrecht für den Nutzer im Inte-
resse beider Seiten hinsichtlich der im Gesetz genannten
Kriterien praktikabel ist.
Der Entwurf sieht zudem vor, dass der Nutzer künftig
50 Prozent der in der Zeit seit dem 3. Oktober 1990 ange-
fallenen einmaligen öffentlichen Lasten, zeitlich ge-
streckt, nachzahlen muss. Der Gesetzentwurf will damit
der Forderung des Gerichtes nach einer, wie es im Urteil
heißt, angemessenen Beteiligung nachkommen. Hier
bedarf es schon einer genauen Prüfung, inwieweit etwaige,
vom Nutzer seit der Wiedervereinigung aufgewendete
Kosten aus solchen Maßnahmen, die dem Eigentümer
wertmäßig zugewachsen sind, in dieser anteiligen Beteili-
gung ausreichend berücksichtigt wurden.
Schließlich sehe ich auch noch Klärungsbedarf in der
immer wieder diskutierten Frage der Beteiligung des Nut-
zers an den Abrisskosten im Falle seiner Kündigung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18841
(C)
(D)
(A)
(B)
Zur Vermeidung von Missverständnissen sage ich: Ich
stelle in dieser Frage den Grundansatz der hälftigen Kos-
tenteilung nicht in Frage. Gleichwohl müssen wir der
Frage nachgehen, ob und in welchem Umfang es Fälle
gibt, in denen Nutzer nicht kündigen können, weil sie die
Abrisskosten nicht zahlen können. Darauf ergibt sich die
Frage, ob und mit welchem Instrumentarium der Gesetz-
geber diesem Umstand Rechnung tragen muss.
Wir werden diese Fragen im Rechtsausschuss ausführ-
lich zu beraten haben und sollten mit einem Ergebnis ab-
schließen, das keine neuen verfassungsrechtlichen Fragen
aufwirft. Ich werde mich auch dafür einsetzen, vor einer
abschließenden Regelung eine Anhörung durchzuführen,
in der die Vertreter der betroffenen Eigentümer und Nutzer
Gelegenheit haben werden, ihre Einwände vorzubringen.
Abschließend, meine Damen und Herren von den Re-
gierungsfraktionen, appelliere ich an Sie, diesen Gesetz-
entwurf nicht im Hauruck-Verfahren durchzuziehen. Das
Bundesverfassungsgericht hatte zur Umsetzung eine Frist
bis zum 30. Juni 2001 vorgegeben. Diese Frist ist leider
längst verstrichen. Dennoch sollte sich das Parlament im
Interesse der Betroffenen die notwendige Beratungszeit
nehmen.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Benachteiligung der Nutzer gegenüber den
Alteigentümern von Grundstücken in den Ost-Bundeslän-
dern nach der Vereinigung habe ich immer für falsch ge-
halten. Die damalige Regierung Kohl und die Koalition
haben nach dem Motto Rückgabe vor Entschädigung
anders entschieden. Die Regelungen des Einigungsvertra-
ges nach dem Motto sind jetzt nach elf Jahren nicht
mehr rückgängig zu machen. Spätere Gesetze wie das
Schuldrechtsänderungsgesetz oder das Sachenrechtsbe-
reinigungsgesetz haben wenigstens einige Härten gemil-
dert.
Die damalige Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grü-
nen hatte einen eigenen Gesetzentwurf zur Regelung der
Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Freizeitgrund-
stücken vorgelegt. Der wurde von der früheren Koalition
abgelehnt. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf zum
Schuldrechtsanpassungsgesetz war notwendig geworden,
weil das Bundesverfassungsgericht eine Besserstellung
der Grundstückseigentümer verlangt hat. Die Nutzer müs-
sen an den öffentlichen Lasten beteiligt und den Eigentü-
mern muss eine Teilkündigung ermöglich werden. Das
Gericht leitet dies aus der Eigentumsgarantie der Verfas-
sung ab. Daran sind wir als Gesetzgeber gebunden, auch
wenn ich es anders sehe und will. Ich sage ausdrücklich:
leider, leider.
Ich weiß, dass die Betroffenen oft unter großen Opfern
ihre Datsche gepflegt und bewohnbar gemacht haben. Ich
weiß auch, welche besondere Bedeutung privat genutzte
Freizeitgrundstücke für die persönlichen und Familien-
biografien hatte. Dies galt besonders wegen des Fehlens
von Reisefreiheit und Ferienmöglichkeiten in der DDR.
Inzwischen sind all diese Möglichkeiten, zu reisen und
Ferien zu gestalten wie überall in Deutschland gegeben,
wenn das nötige Geld vorhanden ist. Es gibt einen ein-
heitlichen Rechtsraum, in dem nun einmal das Grundge-
setz in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsge-
richt Geltung beansprucht. Es wird auch gegenüber den
Nutzern entsprechender Grundstücke in den alten Bun-
desländern immer schwieriger, die Sonderregelung Ost zu
begründen, gerade was die Höhe der Entgelte angeht.
Auch Rentner im Westen haben nicht selten Probleme, die
im Kleingartengesetz festgelegten Kosten der öffentli-
chen Lasten zu tragen.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Bild, was die PDS
in ihrem Antrag zeichnet, der sozialen Realität im verei-
nigten Deutschland noch entspricht. Nicht jeder Nutzer
aus dem Osten ist arm und alt, nicht jeder Eigentümer des
Freizeitgrundstücks aus dem Westen reich und mit vielen
alternativen Möglichkeiten ausgestattet. Auch im Westen
gibt es derartige Konflikte zwischen Nutzern und Ei-
gentümern immer wieder. Es verwischen sich langsam die
Unterschiede und damit die Berechtigung unterschiedli-
cher Rechtssysteme.
Wir kommen nicht darum herum, die heutigen Nutzer
kleingärtnerisch genutzter Grundstücke an den öffentli-
chen Lasten stärker zu beteiligen. Die Regelungen des
Gesetzes müssen sich an den Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts orientieren. Es muss ausgeschlossen
werden können, dass eine erneute Anrufung des Gerichts
durch Eigentümer, denen die Regelung nicht weit genug
geht, Erfolg hat. Keine Regierung und keine Parlaments-
mehrheit will sich noch mal dem Risiko aussetzen, dass
das Gericht die Neuregelung für verfassungswidrig er-
klärt. Das Gesetz versucht die öffentlichen Lasten gerecht
zu verteilen. Solche aus den vergangenen elf Jahren sol-
len vom Nutzer nur zur Hälfte getragen werden. Es gibt
eine sozialverträgliche Regelung für die Nachzahlung.
Nur die zukünftigen Lasten trägt der Nutzer allein.
Damit wird die Lastenverteilung marktwirtschaftli-
chen Verhältnissen angepasst, auch wenn eine eventuelle
Wertsteigerung des Grundstückes unberücksichtigt bleibt.
Eine Wertsteigerung ist schwer zu kalkulieren. Sie wird
auch nicht immer eintreten. In einer generell gültigen ge-
setzlichen Regelung ist sie deshalb nur schwer zu fassen.
Die unvermeidliche Entgelterhöhung ist letztlich der
Preis für die gesetzlich bewusst langen Kündigungs-
schutzfristen zugunsten der Nutzer. Die Eigentümer blei-
ben gemessen am deutschen Zivilrecht für einen über-
aus langen Zeitraum von der wirtschaftlichen Nutzung
ihres Eigentums und der Verfügungsmacht über ihr Ei-
gentum ausgeschlossen.
Bei größeren Grundstücken von mindestens 1 000 Qua-
dratmetern kann in Zukunft der Eigentümer hinsichtlich
einer Teilfläche kündigen. Er muss dann dem Nutzer Auf-
wendungen ersetzen. Nutzer können den Eigentümer auf-
fordern, das Kündigungsrecht innerhalb von sechs Mona-
ten auszuüben. So soll Rechtsklarheit erzwungen werden
können. Wir haben Zuschriften von Eigentümern einer-
seits und Nutzerverbänden andererseits erhalten. Sie for-
dern Veränderungen, aber in gegensätzlicher Richtung.
Ich meine, die gefundene Regelung wird innerhalb der
Vorgaben den Interessen beider Seiten halbwegs gerecht.
Auch ich bin über die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts und das Gesetz nicht glücklich. Aber wir
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118842
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müssen diese Entscheidung, die weitgehend zulasten der
Nutzer geht, treffen. So halten wir uns im Rahmen der
Verfassung, wie er vom Gericht festgelegt wurde. Nur so
vermeiden wir eine neue Anrufung des Verfassungsge-
richts. Das Gesetz bringt einen schwierigen Kompromiss
zwischen den Interessen der Eigentümer, wie sie das Ver-
fassungsgericht gewahrt wissen will, und denen der Nut-
zer und Nutzerinnen.
Rainer Funke (FDP): Erneut dürfen wir uns heute zu
später Stunde mit eigentums- und nutzungsrechtlichen
Problemen des Beitrittsgebiets befassen. Wenn wir alle
ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass es uns noch immer
nicht gelungen ist, Rechtsfrieden im Bereich der Nutzung
von Freizeit- und Erholungsgrundstücken sowie Klein-
gärten zu erreichen. Ich zweifle auch, dass, wenn das
Schuldrechtsanpassungsgesetz beschlossen worden ist,
Rechtsfrieden der ja letztlich ein großes Maß an Ge-
rechtigkeit erfordert eintritt. Es sind einfach zu unter-
schiedliche Interessen betroffen. Es handelt sich auch
nicht, wie einige immer wieder versuchen darzustellen,
um eine Ost-West-Problematik. Viele Eigentümer der
vom Schuldrechtsanpassungsgesetz betroffenen Grund-
stücke sind Bürger der neuen Bundesländer.
Dass wir nunmehr Änderungen vornehmen müssen,
hat sich der Bundestag letztlich hierbei nehme ich auch
meine Partei nicht aus selbst eingebrockt. Das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1999 macht uns
eindeutige Vorgaben und hat uns allen ausdrücklich ge-
zeigt, dass die Grenzen des Art. 14 Grundgesetz vom ein-
fachen Gesetzgeber nicht missachtet werden dürfen, auch
wenn dieses manchmal politisch opportun scheint. Eine
angemessene Beteiligung des Nutzers an den öffentlichen
Lasten, die auf einem kleingärtnerisch genutzten Grund-
stück oder einem Freizeitgrundstück ruhen, ist letztlich
auch aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils vonnöten.
Ob die hier von der Bundesregierung vorgeschlagene Lö-
sung wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, mag man
bezweifeln. Letztlich müsste eine Regelung gefunden
werden, die die Beteiligung des Nutzers an den öffentli-
chen Lasten in Verhältnis zum tatsächlichen Nutzungs-
zeitraum setzt.
Ebenso müssen wir noch überprüfen, ob die Erstat-
tungsansprüche des Grundstückseigentümers in Höhe von
50 Prozent der einmalig erhobenen Beiträge stets gelten
können. Etwa auch in den Fällen, in denen der Nutzer
letztlich nur ein oder zwei Jahre, etwa aufgrund später er-
folgender berechtigter Kündigung des Eigentümers oder
sogar eigener Kündigung in den Vorteil der etwa durch
Abwassererschließung erfolgtenVerbesserung des Grund-
stückes gekommen ist. Es kann jedenfalls nicht angehen,
dass ein Nutzer aufgrund der Beendigung des Nutzungs-
verhältnisses nur zwei Jahre lang einen Frischwasseran-
schluss nutzen kann und dann für diese kurze Zeit den-
noch 50 Prozent der gesamten Erschließungskosten
tragen muss.
Das Auslaufen der Beschränkung der Kündigungs-
möglichkeiten von Garagengrundstücken zum 31. De-
zember 1999 ist aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils
selbstverständlich und wird von der FDP ausdrücklich un-
terstützt. Ebenso unterstützt die FDP die Möglichkeit
bei Erholungs- und Freizeitgrundstücken von mehr als
1 000 Quadratmetern Größe durch Teilkündigung dem Ei-
gentümer seine in Art. 14 Grundgesetz niedergelegten
Rechte der möglichst freien Verfügung über sein Eigen-
tum zurückzugeben.
Mit der neu eingefügten Regelung des § 23 a Schuld-
rechtsanpassungsgesetz versucht der Gesetzgeber ein
Verfahren zu entwickeln, von dem man eigentlich hätte
hoffen dürfen, dass es die Beteiligten im Rahmen eines
Vergleiches bereits heute schon gefunden hätten. Dieses
ist leider nicht der Fall, sonst wäre es nicht zu dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes gekommen. Die nun ge-
fundene Lösung, dem Nutzer in jedem Fall mindestens
400 Quadratmeter zu belassen, erscheint für beide Seiten
erträglich, da einerseits dem Eigentümer ein höchstmög-
liches Maß an Verfügungsrechten über sein Grundstück
gegeben wird, während andererseits garantiert ist, dass
der Nutzer weiterhin die Grundlagen seiner bisherigen
Nutzung vorbehaltlich kleinerer zumutbarer Einbußen
fortsetzen kann. Umgekehrt muss dem Nutzer ebenso ein
Teilkündigungsrecht eingeräumt werden, wenn der Ei-
gentümer von seinem Teilkündigungsrecht keinen Ge-
brauch macht und es ansonsten zu einer unzumutbaren
Härte für den Nutzer käme. In Verbindung mit der Frage
der Beteiligung an den öffentlichen Lasten und der in den
letzten Jahren entsprechend der wirtschaftlichen Ent-
wicklung gestiegenen Nutzungsentgelte ist dieses sicher-
lich eine vernünftige Regelung. Dies gilt insbesondere,
wenn nicht alleine auf objektive Kriterien bei der unzu-
mutbaren Härte abgestellt wird, sondern auch das jewei-
lige Einzelschicksal des Nutzers berücksichtigt wird.
Ein noch lange Jahre währender Streitpunkt wird die
Ermittlung des ortsüblichen Nutzungsentgeltes sein. Da-
bei erscheinen mir die Probleme aber die gleichen zu sein,
die auch bei der Vergleichsmiete im Wohnungsmietrecht
anzutreffen sind.
Das Bemühen, nunmehr durch Präzisierung der Nut-
zungsentgeltverordnung die Vergleichskriterien trenn-
schärfer darzustellen, ist ebenfalls zu begrüßen.
Im Übrigen werden wir uns im Rechtsausschuss auch
noch mit den Änderungsanträgen des Bundesrates befas-
sen müssen. Allerdings habe ich bei dem Vorschlag zum
Sonderkündigungsrecht dahingehend Bedenken, dass
dieser die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
unterläuft.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Das Gesetz von 1994, das
jetzt geändert werden soll, und die dazugehörige Nut-
zungsentgeltverordnung von 1993 waren von Anfang an
auf entschiedene Kritik meiner Fraktion gestoßen. Diese
Vorschriften waren und sind bis auf den heutigen Tag die
Grundlage dafür, dass hunderttausende Nutzer ihre
Grundstücke aufgeben mussten, genauer gesagt: vertrie-
ben wurden. Die PDS-Fraktion hat zahlreiche parlamen-
tarische Initiativen unternommen, um den Sorgen und
Nöten der Nutzer abzuhelfen und zugleich das will ich
sehr deutlich hinzufügen einen vernünftigen Ausgleich
mit den legitimen Interessen der Eigentümer zu erreichen.
Ich erinnere nur an unsere Anträge vom November 1998
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18843
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zum Schuldrechtsanpassungsgesetz und zur Nutzungsent-
gelt-VO oder an unseren Antrag vom April 2000 zur zeit-
weiligen Aussetzung der Erhöhung der Nutzungsentgelte.
Die Bundesregierung hat nach unverantwortlich lan-
gem Zögern einen Gesetzentwurf vorgelegt, über den die
Betroffenen zutiefst enttäuscht sind und den meine Frak-
tion für nicht akzeptabel hält, und zwar aus folgenden
Gründen:
Erstens löst er keines der seit langem anstehenden Pro-
bleme. Er zementiert die Ungleichbehandlung von Nut-
zern und Eigentümern im Kündigungsrecht und bei der
Entschädigung für Aufbauten und Anpflanzungen. Er
belässt es bei den in vielen Fällen unerträglich hohen Nut-
zungsentgelten.
Zweitens legt er den Nutzern unangemessen hohe, ja
finanziell geradezu strangulierende Verpflichtungen zur
noch dazu rückwirkenden Beteiligung an einmaligen
Beiträgen und Abgaben auf. Bei ständig wiederkehrenden
öffentlichen Lasten wird nicht berücksichtigt, dass diese
zum Teil schon durch die hohen Nutzungsentgelte abge-
golten sind.
Die Bundesregierung kann sich bei diesen die Nutzer
zu einseitig belastenden Regelungen auch nicht einfach
auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli
1999 zurückziehen und darauf, dass sie keinen gesetzge-
berischen Handlungsspielraum habe. Die Karlsruher
Richter haben eine angemessene Beteiligung der Nut-
zer an den öffentlichen Lasten vorgeschrieben. Sie haben
aber nicht davon gesprochen, dass das 50 Prozent der ein-
maligen Gebühren und Abgaben sein müssen und dass bei
der Berechnung der laufenden Lasten die überhöhten Nut-
zungsentgelte unberücksichtigt bleiben sollen. Das Urteil
hindert die Regierung auch nicht daran, Probleme zu re-
geln, die in dem Verfahren gar nicht berührt wurden.
Das eigentliche Problem ist, dass die jetzige Bundesre-
gierung, ganz ähnlich wie ihre Vorgängerregierung unter
Kanzler Kohl, den Sorgen und Problemen der ostdeut-
schen Nutzer nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt
und darauf setzt, dass sich die bestehende Rechtsunsi-
cherheit bei den Betroffenen und die noch immer vorhan-
dene soziale Schieflage durch Zeitablauf erledigt.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung in unserem
Antrag auf, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen. Die Re-
gierung wäre gut beraten, wenn sie sich mit den Verbän-
den der Betroffenen, natürlich auch mit der Eigentümer-
und Verpächterseite, an einen Tisch setzen würde, um ei-
nen neuen Entwurf auszuarbeiten, der einen tatsächlichen
abschließenden Interessenausgleich herbeiführt.
Meine Fraktion fordert in ihrem Antrag, dass erstens
die Eigentümer und Nutzer im Kündigungsrecht vollstän-
dig gleichgestellt werden und dass die Entschädigungs-
fragen vernünftig und gerecht gelöst werden, dass zwei-
tens die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
geforderte angemessene Beteiligung der Nutzer an den
öffentlichen Lasten erfolgt, die nicht zu einer für viele un-
erträglichen Belastung wird, dass drittens die rechtliche
Möglichkeit der Übernahme des Nutzungsvertrags durch
einen Dritten geschaffen wird und dass viertens mit den
überhöhten Nutzungsentgelten Schluss gemacht wird. Es
darf kein Entgelt für Leistungen geben, die der Nutzer und
nicht der Eigentümer erbracht hat.
Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin der Justiz: Nachdem wir im vergangenen
Monat nach langen und gründlichen und wie ich meine
konstruktiven Beratungen das Grundstücksrechtsberei-
nigungsgesetz verabschiedet haben, liegt uns nunmehr
mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Schuldrechtsanpassungsgesetzes ein weiteres Vorhaben
vor, dass sich mit dem Immobilienrecht der neuen Bun-
desländer befasst. Es geht um den so sensiblen Bereich
des so genannten Datschenrechts.
Auch der vorliegende Entwurf geht auf intensive Bera-
tungen einer von der Konferenz der Justizminister der
neuen Bundesländer und der Bundesministerin der Justiz
eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zurück. Er stellt
und dies halte ich angesichts der kontroversen Diskussio-
nen in diesem Regelungsbereich für hervorhebenswert
einen gemeinsam gefundenen Kompromiss dar. Mit dem
Entwurf soll in erster Linie der vom Bundesverfassungs-
gericht in dem Beschluss vom 14. Juli 1999 (1 BvR 995/95
u. a.) erteilte Gesetzgebungsauftrag erfüllt werden.
Das Gericht hat auf die Verfassungsbeschwerde von
Grundstückseigentümern hin festgestellt, dass der Ge-
setzgeber die schutzwürdigen Interessen von Nutzern und
Grundstückseigentümern mit dem Schuldrechtsanpas-
sungsgesetz grundsätzlich in ein gerechtes und sozial aus-
gewogenes Verhältnis gebracht hat und die angegriffenen
Regelungen im Wesentlichen mit dem Grundgesetz ver-
einbar sind. Einzelne, die Grundstückseigentümer belas-
tende Bestimmungen des Schuldrechtsanpassungsgeset-
zes hat das Gericht jedoch für verfassungswidrig erklärt
und für andere Bestimmungen eine verfassungskonforme
Auslegung zugunsten der Eigentümer vorgegeben.
Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht den Auftrag
an den Gesetzgeber erteilt, zusätzliche Regelungen zur
angemessenen Beteiligung des Nutzers an den öffentli-
chen Lasten des Grundstücks und zur Gewährung eines
Teilflächenkündigungsrechts für Eigentümer großer
Grundstücke zu schaffen. Den Kern des Entwurfs stellen
daher die Regelungen zur Beteiligung des Nutzers an den
öffentlichen Lasten des Grundstücks (Art. 1, § 20 a neu
SchuldRAnpG) und zum Teilkündigungsrecht (Art. 1,
§ 23 a neu SchuldRAnpG) dar.
Zur Beteiligung der Nutzer an den öffentlichen Lasten
differenziert der Entwurf zwischen den regelmäßig wie-
derkehrenden und den einmalig erhobenen Lasten:
Für die regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen Las-
ten soll der Grundstückseigentümer ab dem 1. Juli 2001
die Erstattung verlangen können. Eine Erstattung von
weiter in der Vergangenheit angefallenen wiederkehren-
den Lasten soll nicht erfolgen. Da aber nach dem Bun-
desverfassungsgericht die Neuregelung bis zum 30. Juni
2001 vorliegen sollte, knüpft der Entwurf den entspre-
chenden Anspruch an dieses Datum an.
Die Kosten für einmalige Erschließungs- oder An-
schlussleistungen haben sich der Grundstückseigentümer
und der Nutzer grundsätzlich zur Hälfte zu teilen. Ich
denke, dies ist dem Grundstückseigentümer zuzumuten,
weil sich die den Beiträgen zugrunde liegenden Leistun-
gen in der Regel wertsteigernd auf das Grundstück aus-
wirken. Aber auch dem Nutzer kann diese Beteiligung zu-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118844
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gemutet werden, weil wie das Bundesverfassungsge-
richt betont hat der Nutzungsvorteil während der Lauf-
zeit des Vertrags allein bei ihm liegt. Um den Grund-
stücksnutzern die neu auf sie zukommende finanzielle
Belastung erträglicher zu gestalten, soll die Erstattungs-
pflicht zeitlich auf bis zu zehn Jahre gestreckt werden,
sodass jährlich nur ein Teilbetrag in Höhe von fünf Pro-
zent fällig wird. Außerdem ist vorgesehen, dass nach der
Beendigung des Nutzungsvertrages also auch dann,
wenn das Vertragsverhältnis vor Ablauf von zehn Jahren
beendet wird keine weiteren Teilbeträge mehr fällig
werden; die Erstattungspflicht wird also an die Nutzungs-
dauer geknüpft.
Der Vorschlag zum Teilkündigungsrecht der Eigentü-
mer sieht ein solches Recht vor, wenn das genutzte
Grundstück eine Fläche von über 1 000 Quadratmeter hat.
Dem Nutzer sollen nach Ausübung des Kündigungsrechts
mindestens 400 Quadratmeter zur Nutzung verbleiben.
Der Vorgabe des BVerfG entsprechend darf der Grund-
stückseigentümer die Teilkündigung aber nur vornehmen,
wenn der Nutzer die bisherige Nutzung ohne unzumut-
bare Einbußen fortsetzen kann.
Die zusätzliche finanzielle Belastung und die Mög-
lichkeit einer Teilkündigung werden für viele Nutzer ei-
nen Einschnitt bedeuten. Wir wissen das und nehmen ihre
Sorgen ernst. Wir haben deshalb unser Möglichstes getan,
diese Belastungen erträglich zu gestalten. Deshalb die
Teilung der Kosten und die zeitliche Streckung. Ich erin-
nere daran, dass im durchaus vergleichbaren Bereich des
Bundeskleingartengesetzes der Nutzer die öffentlichen
Lasten grundsätzlich zu 100 Prozent zu tragen hat. Wir ha-
ben aber noch mehr getan:
Über den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts hi-
nausgehend enthält der Entwurf den Vorschlag eines Teil-
kündigungsrechts auch des Nutzers eines besonders
großen Grundstücks. Der Nutzer kann dieses Kündi-
gungsrecht dann ausüben, wenn der Grundstückseigen-
tümer von seinem Teilkündigungsrecht keinen Gebrauch
macht. Die Regelung ist geeignet, die Nutzer großer
Grundstücke finanziell zu entlasten, indem die Reduzie-
rung der genutzten Fläche sich mindernd auf das zu zah-
lende Nutzungsentgelt auswirkt.
Außerdem enthält der Regierungsentwurf den Vor-
schlag klarstellender Änderungen der Nutzungsentgelt-
verordnung. Es werden die Vergleichbarkeitskriterien zur
Ermittlung des ortsüblichen Nutzungsentgelts deutlicher
gefasst und die wichtigsten Möglichkeiten der Begrün-
dung der Entgelterhöhung in der Verordnung genannt.
Auch diese Vorschläge gehen über den Auftrag des
BVerfG hinaus; sie entsprechen Anregungen der Nutzer-
verbände.
Schließlich wird in zwei Punkten der Gesetzestext an
die mit der Entscheidung des BVerfG geänderte Rechts-
lage angepasst. Nach meiner Überzeugung ist es mit dem
vorliegenden Entwurf gelungen, den Auftrag des Bundes-
verfassungsgerichts in einer für beide Seiten akzeptablen
Weise umzusetzen. Vor allem aber besteht für eine noch
weiter gehende Stärkung der Rechtsstellung der Grund-
stücksnutzer, wie sie von deren Interessenvertretungen
und vereinzelt auch im politischen Raum gefordert wird,
aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Handlungsspiel-
raum. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber
ausdrücklich aufgefordert, Änderungen zugunsten der Ei-
gentümer vorzunehmen, die nicht durch gleichzeitige weit
gehende Änderungen zugunsten der Nutzer kompensiert
oder gar konterkariert werden können.
Die heute ebenfalls zur Beratung stehende Antrag der
Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag verkennt nach
meiner Auffassung die beschriebene verfassungsrecht-
liche Situation. Die Forderung beispielsweise nach der
Änderung der rechtlichen Folgen einer vom Nutzer aus-
gesprochenen Vertragskündigung hinsichtlich der Ent-
schädigung und Abrisskosten für das auf dem Erholungs-
grundstück stehende Bauwerk lehnt die Bundesregierung
ab, weil sie zu einer nicht gerechtfertigten Belastung der
Grundstückseigentümer führen würde. Sie widerspricht
damit klar den Wertungen des Beschlusses des Bundes-
verfassungsgerichts.
Die derzeitige Regelung ist außerdem vernünftig und
ausgewogen. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen im Hin-
blick auf die Entschädigung für das Bauwerk und die Ab-
bruchkosten je nachdem, wer kündigt ergeben sich da-
raus, dass der Nutzer bei eigener Kündigung sich bewusst
gegen eine weitere Fortsetzung des Vertragsverhältnisses
entscheidet, die Rechtsfolgen abwägen und ihren Eintritt
anders als der Eigentümer beeinflussen kann. Die von der
PDS geforderte Gleichstellung in den Kündigungsfolgen
würde dagegen das Risiko der wirtschaftlichen Verwert-
barkeit allein auf den Grundstückseigentümer übertragen.
Einer unter Umständen hohen Entschädigungsverpflich-
tung und den Abbruchkosten kann im Einzelfall durchaus
ein nur geringer Grundstückswert gegenüberstehen; Ent-
schädigung und Abbruchkosten zehren dann den Wert des
Grundstückes auf und wären gar aus weiteren Mitteln des
Eigentümers aufzubringen, für den das Bauwerk mögli-
cherweise aber überhaupt keinen Wert darstellt. Gege-
benenfalls wäre der Eigentümer sogar gezwungen, ein
Darlehen aufzunehmen. Diese Folgen für den Grund-
stückseigentümer bei vom Nutzer ausgelöster Vertragsbe-
endigung wären nicht gerechtfertigt.
Auch den weiteren in dem Antrag der PDS enthaltenen
Forderungen vermag ich nicht zuzustimmen. Die gefor-
derte Regelung eines Rechtsanspruchs auf Vertragsüber-
nahme durch einen Dritten und die in dem Antrag enthal-
tenen Vorschläge zur Umsetzung des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts sind nicht geeignet, einen ge-
rechten Interessenausgleich herbeizuführen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Wirksamer Schutz der
Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Euroum-
stellung (Tagesordnungspunkt 15)
Jella Teuchner (SPD): Ab dem 1. Januar 2002 wer-
den wir mit Euro bezahlen. Es war von Anfang an klar,
dass die Menschen auf die Bargeldeinführung mit Fragen
und teilweise mit Skepsis reagieren werden. Politik, Ban-
ken, Handel und Verbraucherverbände haben deswegen
mit vielen Informationskampagnen den Euro vorgestellt
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(C)
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und Informationen weitergegeben. Wir können mittler-
weile feststellen, dass sowohl diese Aufklärungsarbeit als
auch die Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zu einer
verbraucherfreundlichen Umstellung greifen. Die Zu-
stimmung für den Euro steigt, die Mehrheit der Menschen
fühlt sich gut über die Einführung des Euro informiert.
Es gibt noch Unsicherheiten: Die gilt es aufzugreifen.
Die Zeit bis zur Bargeldeinführung kann dazu genutzt
werden. Die PDS hat dies in einer Kleinen Anfrage zu
Preiserhöhungen im Zuge der Euroumstellung getan
und sie tut dies mit dem heute zu beratenden Antrag. Ich
möchte diese Diskussion nutzen, um eine Bilanz für die
bisherigen Entwicklungen und Maßnahmen zu ziehen.
Wir alle wollen, dass die Menschen Vertrauen in den
Euro haben. Ich bin mir sicher, dass sie dieses Vertrauen
bekommen, wenn sie den Euro erst in den Händen halten
und wenn die Umstellung von Handel und Banken ver-
braucherfreundlich gestaltet wird. Die Empfehlung der
Europäischen Kommission und die freiwillige Selbstver-
pflichtung des deutschen Einzelhandels gegenüber den
Verbrauchern sind aus meiner Sicht wichtige Bausteine
dafür, dass hier vernünftig agiert wird. Die Beobachtung
der Umstellung ist notwendig; ich bitte jedoch alle, keine
neuen Unsicherheiten zu schaffen.
Der Euro ist zwar schon längst Realität, greifbar ist er
noch nicht. Und: Es fehlt uns bisher noch das Gefühl, was
ein Euro wert ist, welchen Preis in Euro ein Produkt wert
ist. Dies führt dazu, dass Preiserhöhungen im Zuge der
Umstellung befürchtet werden. Dazu gibt es einiges an
Material; es lohnt sich, dieses einmal genauer zu betrach-
ten. Und es lohnt sich, im Hinterkopf zu behalten, dass die
Inflationsrate im Euroraum von 1997 bis 2000 im Durch-
schnitt bei 1,5 Prozent im Jahr, in Deutschland bei
1,3 Prozent gelegen hat. Dies ist das Ergebnis der mit der
Währungsunion einhergehenden abgestimmten Stabili-
tätspolitik. Im letzten Jahr ist die Inflationsrate auf
2,3 Prozent im Euroraum bzw. auf 1,9 Prozent in Deutsch-
land gestiegen. Die Verdreifachung der Weltmarktpreise
für Öl und Ölprodukte hat aber nicht zu einer europawei-
ten Inflation, einem Auseinanderlaufen der wirtschaft-
lichen Entwicklung und zu kostspieligen öffentlichen
Programmen und Transfers innerhalb des Euroraumes
geführt. Auch dies ein Erfolg der Währungsunion.
Bisher wurde noch kein wesentlicher Einfluss der Eu-
roumstellung auf die Preisentwicklung festgestellt. So
führt das Statistische Bundesamt bei Preisänderungen für
Nudelprodukte nur 3 Prozent auf die Euroumstellung
zurück. Diese beeinflussen den Preisindex für diese Pro-
dukte um weniger als 0,2 Prozentpunkte bei einem An-
stieg um 2,7 Prozent. Das Institut für Verbraucherfor-
schung hat eine höhere, möglicherweise auf die
Umstellung zurückzuführende Preissteigerung errechnet,
weist aber auch darauf hin, dass die Einführung des Euro
nur einer von vielen Aspekten sei, der die Händler zur
laufenden Überprüfung ihrer Preispolitik veranlasst. In
diesen Monaten kommt dieser Aspekt zu den sonstigen
Gründen, die für die ,Preisfestsetzung maßgeblich sind,
hinzu. Auch das Statistische Bundesamt sieht das Pro-
blem, dass mit Preisbeobachtungen nur schwer zu ent-
scheiden ist, ob Preisänderungen anlässlich der Euro-
umstellung vorgenommen wurden.
In der freien Marktwirtschaft gilt grundsätzlich die
freie Preisgestaltung. Daher halte ich es für einen richti-
gen Weg, dass der deutsche Einzelhandel sich auf Preis-
stabilität und Preistransparenz verpflichtet hat. Ich halte
es genauso für einen richtigen Weg, dass die Verbrau-
cherverbände die Preisentwicklung genau beobachten
und die Verbraucherinnen und Verbraucher über ihre Be-
obachtungen informieren. Ich bin zuversichtlich, dass
durch den Wettbewerb, den Druck von Verbraucherver-
bänden und Medien und durch die Aufmerksamkeit der
Verbraucherinnen und Verbraucher die Preisstabilität ge-
währleistet ist.
Das Gleiche gilt für die Gebühren der Banken für den
Euroumtausch. Die Europäische Kommission hat die
Banken aufgefordert, keine Gebühren für die Umstellung
auf Euro von ihre Kunden zu verlangen; die Banken ha-
ben angekündigt, dieser Aufforderung zu entsprechen.
Das heißt, dass die Menschen zum einen bei ihrer Bank,
zum anderen bei den Landeszentralbanken und natürlich
bis Ende Februar 2002 im Handel ihre D-Mark-Bestände
verwenden können.
Ich sehe keine Möglichkeit für den Gesetzgeber, für die
Euroumstellung in die Preis- oder Gebührengestaltung
des Handels oder der Banken einzugreifen. Ich sehe die
Aufgabe der Politik darin, im Dialog mit dem Handel und
den Banken für eine verbraucherfreundliche Euroumstel-
lung zu sorgen. Dies ist auf allen politischen Ebenen ge-
schehen. Ich sehe die Aufgabe weiterhin darin, die Men-
schen ausführlich über den Euro zu informieren. Hier ist
schon vieles geschehen, vieles ist geplant und wird in den
nächsten Monaten umgesetzt. Wir müssen das Euro-
wissen stärken und damit das Preisbewusstsein schärfen.
Ich möchte hier einmal die Ziele definieren, die wir mit
den Aufklärungskampagnen erreichen wollen. Die Men-
schen müssen wissen, wie viel Mark ein Euro wert ist. Sie
müssen wissen, wie er aussieht. Und sie müssen wissen,
wie der Umtausch abläuft. Dies müssen wir erreichen,
dies werden wir erreichen.
Wir haben in Deutschland zum Glück einen relativ ein-
fachen Umrechnungsfaktor mit ungefähr 1:2. Dies wird
den Menschen das Umrechnen erleichtern. Wir sehen
auch, dass der Einzelhandel sich zu einem großen Teil an
der doppelten Preisauszeichnung beteiligt. Auch dies trägt
dazu bei, dass die Menschen sich an die neuen Preise ge-
wöhnen. Und trotzdem ist das Geld mehr wert. Ein Pro-
dukt für 50 Cent wirkt billiger als eines für eine Mark.
Hier müssen wir deutlich machen: Man muss in der ers-
ten Zeit aufpassen, sich lieber mehr Zeit lassen für den
Einkauf und insbesondere bei spontanen oder bei größe-
ren Käufen die Preise in D-Mark umrechnen.
Wichtig wird es auch sein, dass wir den Menschen sa-
gen, dass die Euroumstellung für sie keine unüberwind-
baren bürokratischen Hindernisse darstellt. Eigentlich
müssen sie sich nur um ihr Bargeld kümmern. Und selbst
hier werden sie normale Beträge ganz einfach beim Ein-
kaufen in den ersten beiden Monaten wechseln, ohne dass
sie einen besonderen Aufwand dafür haben.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir diese Ziele mit den
Informationskampagnen erreichen werden. Nicht nur die
Politik, auch die Verbraucherverbände, die Medien, der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118846
(C)
(D)
(A)
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Handel und die Banken beteiligen sich daran. Ich will
hier nicht alle einzelnen Maßnahmen nennen, trotzdem
scheint es mir sinnvoll, auf ein paar hinzuweisen:
Ich halte das Eurostarterpaket für eine wichtige und ef-
fektive Möglichkeit, den Menschen die Angst vor dem
Euro zu nehmen. Wir alle wollen wahrscheinlich wissen,
wie der Euro aussieht, wie er sich anfühlt und wie schwer
er ist. Daneben werden in vielen Medien der Euro und
seine Sicherheitsmerkmale vorgestellt. Und ich hoffe,
dass viele Unternehmen ihren Angestellten Starterpakete
zu Weihnachten schenken. Steuer- und abgabenpflichtig
wären diese Geschenke nicht.
Seit 2. April ist die Euro-Zelt-Tour der Aktions-
gemeinschaft Euro und der Deutschen Bank unterwegs. In
100 deutschen Städten wird ausführlich über den Euro in-
formiert. Die Aktionsgemeinschaft Euro betreibt außer-
dem ein Bürgertelefon für Fragen zum Euro.
Die Verbraucherverbände beobachten und informieren
über die Preisentwicklung und sorgen somit für die not-
wendige Preistransparenz.
Daneben gibt es unzählige Broschüren, Faltblätter und
Umrechnungstabellen, die den Menschen helfen, sich auf
den Euro einzustellen.
Der Euro ist schon jetzt eine Erfolgsstory. Dies müssen
wir vermitteln. Und wir müssen die Fragen der Menschen
aufgreifen und ihnen deutlich machen, dass die Euro-
umstellung für sie keine Nachteile bringen wird. Dazu
laufen bereits viele Informationskampagnen. Eine Not-
wendigkeit für zusätzliche Gesetze oder für eine weitere
Hotline sehe ich nicht.
Norbert Schindler (CDU/CSU): Heute behandeln
wir hier einen Antrag der PDS, der vom Ansatz her vor
drei Jahren sicherlich aus Ihrer Sicht etwas Verständ-
nis hervorgerufen hätte.
Heute zu fordern, kurzfristig einen Gesetzentwurf vor-
zulegen, mit dem die Bürgerinnen und Bürger für die Ein-
führung des Euro am 1. Januar 2002 ein besseres Rüst-
zeug erhielten, macht jedoch absolut keinen Sinn, nicht
nur, weil die Zeit bis zum 1. Januar 2002 nun deutlich zu
kurz ist, sondern vor allem auch, weil der Inhalt des An-
trages seit der Festlegung des DM-Euro-Kursverhältnis-
ses und der weiteren Maßnahmen der Bundesregierung
zur Euroumstellung schon obsolet ist.
Für mich hat dieser Antrag nur eine Funktion: Redezeit
für eine PDS-Selbstdarstellung einzuheimsen!
Dies versuchten Sie schon, als es noch um hypotheti-
sche Fragen ging: Sie wollten den Euro schlechtreden!
Vor allem wollten Sie eines: Die Verdienste unseres Bun-
deskanzlers a. D., Dr. Helmut Kohl, und seines damaligen
Finanzministers, Dr. Theo Waigel, für die Einigung Euro-
pas auch durch die Einführung der Europäischen Wäh-
rungsunion sollten in den Schmutz gezogen werden. Das
ist Ihnen schon damals nicht gelungen. Warum insistieren
Sie hier weiter? Sie jedenfalls haben nichts dazu beige-
tragen, dass Europa zusammenwächst: Sie versuchen ja
weiterhin, Deutschland zu spalten!
Ich kann nur vermuten, dass Sie sich von der Euroum-
stellung überfordert fühlen; vielleicht war der Schritt vom
Verrechnungsrubel zum Euro dann doch zu groß! Aus die-
sen Gründen wäre es vielleicht gar nicht ratsam, sich mit
dem Inhalt Ihres Antrages zu befassen. Ich möchte den-
noch auf die fachliche Ebene wechseln und kurz zu den
einzelnen Punkten des Antrages Stellung beziehen:
Die PDS fordert, dass beim Umtausch und bei der
Rückgabe von DM-Münzgeld, von Banknoten und Münz-
geld aus dem Euroraum sowie für die Ausgabe von Euro-
bargeld auch über die haushaltsüblichen Beträge hinaus
von den Banken keine gesonderte Gebühr berechnet wird.
Dazu ist anzumerken, dass die Geldinstitute im Rahmen
einer Selbstverpflichtung zugesichert haben, DM-Bar-
geldbestände in der Regel kostenlos anzunehmen oder
umzutauschen.
Aber lassen Sie uns doch einmal das praktische Ver-
fahren zur Jahreswende 2001/2002 durchspielen: Derje-
nige Bürger, der noch große DM-Bargeldbestände hat,
wird sie in den ersten zwei Monaten des Jahres 2002 aus-
geben und als Rückgeld bei seinen Einkäufen Euromün-
zen und -scheine erhalten. Somit ist eine Ausgabe von
Eurobargeld über den haushaltsüblichen Betrag hinaus
absolut nicht notwendig, da dieser automatisch in die
Geldbörsen fließt. Und die Reste an DM-Scheinen und
-Münzen werden bis zum 28. Februar 2002 dann höchst-
wahrscheinlich aufgebraucht sein. Darüber hinaus besteht
immer die Möglichkeit, noch verspätet aufgefundene Be-
träge wo auch immer diese noch herkommen bei den
Landesbanken und der Deutschen Bundesbank kostenlos
in Eurowährung umzutauschen.
Die zweite Forderung im Antrag 14/6895 ist die For-
mulierung diesmal durch die Blume eines sich seit
mehreren Jahren wiederholenden Rituals der PDS: die
Forderung nach einem kostenlosen Girokonto für Jeder-
mann. Diesmal soll gewährleistet werden, dass auch
Kontolose entgeltfrei Bargeld umtauschen können.
Hierbei frage ich mich ernsthaft: Wie kann derjenige, der
sich kein Girokonto leisten kann, nun plötzlich über so
viel Bargeld verfügen, dass dies nicht im haushaltsüb-
lichen Rahmen getauscht würde? Da bleibt nur zu ver-
muten: Es ist etwas faul ...!
Sowohl die alte Bundesregierung als auch die rot-
grüne Nachfolge sehen absolut keinen gesetzlichen Hand-
lungsbedarf und verweisen auf die Selbstverpflichtung
der Banken und auf die Aktionsgemeinschaft Euro, die ja
auch publizistisch aufklärerisch tätig war und ist.
Apropos Aktionsgemeinschaft Euro: Das von Ihnen im
Antrag geforderte Bürgertelefon für Fragen und Kritik in
Bezug auf die Euroumstellung gibt es schon längst bei der
oben angegebenen Adresse. Ich gebe Ihnen aber hier
gerne noch einmal die Telefonnummer des Eurobürgerte-
lefons an die Hand, damit auch Sie und Ihre Klientel sich
umfassend über die Einführung des Euro informieren
können. Die Telefonnummer lautet: 0180/321 2002. Mon-
tags bis freitags von 9.00 bis 19.00 Uhr und samstags von
10.00 bis 14 00 Uhr steht Ihnen ein Experte Rede und Ant-
wort.
Aber genug der Werbung für die Sache des Euro. Als
Verfechter der einheitlichen Währung für Europa kann ich
auch ohne Unterstützung Dritter überzeugen. Und der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18847
(C)
(D)
(A)
(B)
Euro hat uns anders als Ihr Parteiprogramm schon
längst überzeugt. Sie sollten sich mal ruhig zurücklehnen
und überlegen, was die Jahre auf dem Wege zur Europä-
ischen Währungsunion bisher an Vorteilen gebracht ha-
ben. Seit Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gemeinsam mit
den Staats- und Regierungschefs die erste Stufe der
Währungsunion beschlossen hat, wurde der Waren- und
Kapitalverkehr in der EU deutlich liberalisiert und die
Wirtschafts- und Währungspolitik wird seitdem besser
koordiniert. Entscheidend war dann die Festlegung der
Teilnehmerländer durch die Staats- und Regierungschefs;
Voraussetzung war die Erfüllung strenger Kriterien, die
Dr. Theo Waigel maßgeblich mit formuliert hat. Hier hat
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Träger der damali-
gen Regierung für die gesamte Europäische Union Vorga-
ben geliefert, ohne die wir heute noch nicht so weit wären,
bald mit einer neuen Währung dazustehen.
Jetzt ist der Eurokurs fest: Ab dem 1. März 2002 wird
der Euro in allen WWU-Teilnehmerländern alleiniges ge-
setzliches Zahlungsmittel sein. Und ich prophezeie Ihnen:
Es wird eine Entlastung für den Durchschnittsverbraucher
geben: Allein durch den Wegfall des Devisenumtausches
werden jährlich rund 1 Milliarde Euro eingespart werden!
Heute haben Sie die Chance, sich auch mal positiv über
unsere Verdienste um die Stabilität des Euro zu äußern.
Den Willen der Menschen in Europa, enger und wirksa-
mer zum gemeinsamen Nutzen zusammenzuarbeiten und
auf dem Weg der politischen Integration voranzuschrei-
ten, haben wir sowohl gefördert wie auch genutzt. Wir
wollen die ökonomische und politische Stabilität schritt-
weise auf ganz Europa ausweiten. Nutzen Sie Ihre
Chance, sich daran zu beteiligen!
Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Einführung des Euro war ein wesentlicher Schritt auf dem
Weg zur europäischen Integration. Jetzt steht die Bargeld-
umstellung unmittelbar bevor und sie macht den Euro
endlich sinnlich erfahrbar. Dies ist weit mehr als ein tech-
nischer Akt auch wenn die logistische Herausforderung
für alle Beteiligten historisch einmalig ist. Es geht jetzt
darum, das Vertrauen in unsere gemeinsame europäische
Währung zu vertiefen. Entscheidend dafür ist vor allem,
dass die Bargeldumstellung verbraucherfreundlich er-
folgt.
Eine kurze Bemerkung zum Antrag der PDS, die be-
kanntlich den Euro ohnehin nicht wollte: Es kann jetzt
nicht darum gehen, um fünf vor zwölf Gesetzesentwürfe
zu schaffen, die suggerieren, wir müssten die Verbraucher
vor dem Euro schützen. Wir müssen hier auch nicht die
Einrichtung einer Hotline beschließen das Euro-Bürger-
telefon gibt es seit 1997, da kommt die PDS mit ihren Vor-
schlägen wohl etwas zu spät. Die Verbraucher werden von
der höheren Preistransparenz und einem durch den Euro
geförderten Wettbewerb profitieren. Reisenden in Euro-
land bleiben der Währungsumtausch sowie die dazu-
gehörigen Kosten erspart. In Zukunft ist eben nicht mehr
die Frage, wo und zu welchen Gebühren man spanische
oder italienische Banknoten wieder in heimische Noten
umtauschen kann.
Wir haben ein umfassendes Konzept zur Inverkehr-
gabe des Euro, das federführend von der Deutschen
Bundesbank in Zusammenarbeit mit den beteiligten Mi-
nisterien und Verbänden erstellt wurde. Es gibt die Selbst-
verpflichtung von Handel, Dienstleistungsgewerbe und
Kreditwirtschaft zur Euroeinführung sowie die modifi-
zierte Stichtagsregelung, die einen juristischen Big Bang
ermöglicht und eine langwierige Parallelwährungsphase
vermeidet. Banken und Unternehmen werden seit dem
1. September bereits mit den ersten Euros versorgt. In
etwa zwei Monaten können auch Private ein so genanntes
Starter-Kit erwerben und sich mit den neuen Münzen ver-
traut machen. Inzwischen gehen 42 Prozent der Bevölke-
rung davon aus, dass ihnen der Euro persönliche Vorteile
bringt vor einem Jahr war nur knapp jeder Vierte dieser
Auffassung. Deutlich zugenommen hat die Zuversicht in
den langfristigen Erfolg des Euro. Die Zustimmung zur
gemeinsamen Währung wächst, allerdings fühlen sich im-
mer noch mehr als die Hälfte der Bürger und Bürgerinnen
nicht ausreichend informiert.
Nachholbedarf bei praxisbezogenen Informationen zur
Umstellung sehe ich vor allem bei den kleineren, über-
wiegend lokal tätigen Unternehmen. Bei ihnen herrscht
die Tendenz vor, erst zum spätest möglichen Zeitpunkt auf
den Euro umzustellen. Sie unterschätzen möglicherweise
den Zeitaufwand für die Umstellung. Sinnvoll sind des-
halb die Bemühungen des Wirtschaftsministeriums, die
Öffentlichkeitsarbeit zum Euro in Zusammenarbeit mit
den Wirtschaftsverbänden und der Aktionsgemeinschaft
Euro weiter zu intensivieren.
Besonders gefordert sind die kleinen Unternehmen
des Einzelhandels, die im Übergangszeitraum bis Ende
Februar eine wichtige Funktion bei der Umstellung von
der D-Mark auf den Euro übernehmen sollen, bisher je-
doch nur unzureichend auf die Euroumstellung vorberei-
tet sind. Schwierig wird ihre Situation vor allem durch die
Haltung der privaten Kreditwirtschaft. Sie ist nicht bereit,
umfassend auf die Erhebung von Gebühren zu verzichten
und allen auch Nichtkunden einen unbegrenzten, kos-
tenlosen Umtausch von DM-Noten und -Münzen in Euro-
bargeld zu gewährleisten. Den kleinen Einzelhändlern
wird so die Funktion einer Wechselstube zugewiesen.
Auch hat der Bundesverband Deutscher Banken dem
Verbändekompromiss nicht zugestimmt, nach dem die
Kostenvorteile, die die Bundesbank den Kreditinstituten
im Rahmen der Euroumstellung einräumt, an die Ge-
schäftskunden angemessen weitergegeben werden sollen.
Doch Knausern ist an dieser Stelle fehl am Platze. Das
Vertrauen, das die Institute mit Hochglanzbroschüren
schaffen wollen, wird so im direkten Kontakt mit den Bür-
gerinnen und Bürgern zunichte gemacht. Es ist doch ent-
scheidend, dass die Menschen in dem Moment, in dem sie
das erste Mal tatsächlich mit dem Euro in Berührung
kommen, nicht gleich zur Kasse gebeten werden.
Deshalb ist es geboten, dass sich die Kreditinstitute an
den Empfehlungen der EU orientieren, nach denen ein un-
begrenzter Bargeldumtausch für alle erfolgen soll.
Höhere Beträge sollen nach dem Vorschlag vorher an-
gekündigt werden. Die deutschen Kreditinstitute haben
zumindest für ihren Kundenkreis inzwischen weitgehend
einen kostenlosen Bargeldumtausch zugesagt. Problema-
tisch könnte die Situation für Menschen ohne Konto sein.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118848
(C)
(D)
(A)
(B)
Sind ihre Bestände so hoch, dass sie nicht innerhalb von
zwei Monaten ausgegeben werden können, halte ich al-
lerdings die Einrichtung eines Girokontos für zumutbar.
In wenigen Wochen wird der lange Anlauf zur gemein-
samen europäischen Währung zu seinem Ziel kommen.
Die Menschen werden das neue Geld in der Hand halten
und benutzen können. Ich bin sicher, dass viele Befürch-
tungen und Zweifel sich mit diesem Moment erledigen
werden. Der Währungswechsel ist lange und intensiv vor-
bereitet worden. Ich bin überzeugt, dass er gut gelingen
wird.
Gudrun Kopp (FDP): In exakt 81 Tagen hat die Deut-
sche Mark ausgedient. Der Euro wird gesetzliches Zah-
lungsmittel in Deutschland und in den übrigen elf Teil-
nehmerstaaten der Eurozone.
Bei vielen Menschen in diesem Lande kommt Wehmut
über den Verlust der stabilen D-Mark auf, aber auch Miss-
trauen. Misstrauen hat sich breit gemacht, wie Umfragen
belegen, wonach 70 Prozent der Verbraucher in Deutsch-
land fürchten, dass Handel und Geldinstitute die Gele-
genheit der Währungsumstellung zum Kasse machen
nutzen könnten.
Insgesamt, so die Vermutung, könnten durch die Eu-
roeinführung die Kosten für die Lebenshaltung steigen.
Mehrkosten sind jedoch genau das Gegenteil von dem,
was unserer lahmenden Konjunktur derzeit gut tut. Die
Verbraucher sind ohnehin belastet mit hohen Abgaben-
und Steuerzahlungen. Die Umsätze am Markt stagnieren
und führen zum weiteren Anstieg der Zahl der Arbeits-
losen.
Kein Zweifel, mit der Währungsumstellung kommen
zusätzliche Risiken auf die Bürger und Bürgerinnen zu,
aber auch auf die Wirtschaft. Vertrauen schaffen heißt
deshalb das Gebot der Stunde. Dazu bedarf es vor allem
fundierter Sachinformationen, für die in erster Linie die
Bundesregierung Sorge zu tragen hat, ist doch die
Währungsumstellung eine Aufgabe, die die öffentliche
Hand erfüllen muss.
Die Zusage der Banken und des Handels, freiwillig bis
zum 28. Februar 2002 DM-Bargeld anzunehmen und da-
mit zu Wechselstuben der Nation zu werden, ist eine
große Herausforderung, deren Bewältigung zum Gelin-
gen der Euroeinführung und damit zum Aufbau eines
Fundaments für neues Vertrauen beitragen wird. Hieran
beteiligen sich insbesondere auch die deutschen Hotel-
und Gastronomiebetriebe; sie leisten damit einen wahren
Kraftakt.
Die Kreditinstitute beabsichtigen, auch den Umtausch-
wünschen der Verbraucher ohne eigenes Girokonto zu
entsprechen; so sieht dies eine freiwillige Vereinbarung
bereits seit langem vor. Ergänzend tauschen die Bundes-
bank und die Landeszentralbanken DM-Bargeld ge-
bührenfrei um. Zusammen mit der Möglichkeit, DM-
Münzen noch innerhalb von zwei Monaten nach
Jahresende beim Einkaufen auszugeben, dürfte den Be-
langen aller Bevölkerungskreise Rechnung getragen sein.
Insofern ist der Antrag der PDS schlicht gegenstandslos.
Folgende vertrauensbildende Maßnahmen aber muss
die Bundesregierung umgehend auf den Weg bringen:
Erstens. Eine gezielte Infokampagne ist umgehend zu
starten, mit der seriöse Sachinformationen in der verblei-
benden Zeit bis zur Euroumstellung den Verbrauchern
nahe gebracht werden. Zweitens. Sie muss darauf hinwir-
ken, dass keine zusätzlichen Kosten entstehen. Dies gilt
besonders dort, wo die öffentliche Hand hoheitlich wirkt,
beispielsweise bei Gebühren- und Abgabenbescheiden.
Zu lange Zeit zeigte sich die deutsche Bundesregierung
im Vergleich mit den europäischen Nachbarstaaten als
euromüde, indem sie durchschnittlich nur ein Drittel
der Finanzmittel in echte Infokampagnen über das neue
Geld investierte, die beispielsweise die spanische oder
französische Regierung investiert.
Im zweiten Schritt muss sich die Bundesregierung auf
der EU-Ebene stark machen für eine Harmonisierung
beim innereuropäischen Zahlungsverkehr.
Dies sind Herausforderungen, die mit aller Kraft und
großem Engagement von Regierung, Wirtschaft und Ban-
ken offensiv gestaltet und bewältigt werden müssen,
wenn der Start in die neue Währung rundum zum Erfolg
für die Verbraucher werden soll.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Bewertungsgesetzes
(Zusatztagesordnungspunkt 7 a und b)
Nicolette Kressl (SPD): Die heutige Diskussion
schließt nicht an die Diskussion im vergangenen Jahr an,
in der die CDU/ CSU-Fraktion aus wahltaktischen Grün-
den eine angebliche Erhöhung der Erbschaftsteuer durch
die Bundesregierung aus dem Hut zauberte.
In der heutigen Debatte geht es vielmehr um einen
tatsächlichen und dringenden Handlungsbedarf. Auf-
grund der in § 138 des Bewertungsgesetzes bestehenden
Befristung zum 31. Dezember dieses Jahres müssen wir
gemeinsam eine Lösung finden, um die Bewertungs-
grundlagen auch für die Zukunft zu sichern. Ohne eine
Neufassung der Verfallklausel bestehen ansonsten ab dem
1. Januar nächsten Jahres keine sicheren Erhebungsvo-
raussetzungen für die Erbschaftsteuer. Im Interesse der
Länder diesen fließen die Erbschaftssteuern zu gilt es,
hier Rechtssicherheit zu schaffen.
Für die Länder geht es um ein bedeutsames Steuerauf-
kommen. Im Jahr 2000 lag das Steueraufkommen aus der
Grunderwerbs-, Erbschafts- und Schenkungsteuer bei im-
merhin rund 16,6 Milliarden DM. Das sind übrigens rund
2,8 Milliarden DM weniger als noch unter der CDU/CSU-
Regierung im Jahr 1996. Diese Zahlen sind nur als klei-
ner Hinweis darauf, dass unsere Steuerpolitik entlastet,
statt neue Lasten zu schaffen. Es ist vielmehr so, dass die
alte Regierung in ihren letzten sieben Jahren die Steuern
um 100 Milliarden DM erhöht hat, während wir im glei-
chen Zeitraum die Steuern um über 70 Milliarden DM
senken werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18849
(C)
(D)
(A)
(B)
Lassen Sie mich an dieser Stelle zunächst kurz um-
reißen, weshalb wir heute vor der Aufgabe stehen, die erb-
schaftsteuerliche Grundbesitzbewertung neu zu regeln:
Im Jahre 1995 hat das Bundesverfassungsgericht es mit
dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 unseres Grundgeset-
zes für unvereinbar gehalten, dass Grundbesitz mit Ein-
heitswerten, sonstiges Vermögen hingegen mit dem Ver-
kehrswert bewertet wird. Es führte dazu aus, dass die
Steuer eine Gemeinlast ist, die alle Inländer je nach ihrem
Einkommen, Vermögen und ihrer Nachfragekraft zur Fi-
nanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben heranzieht.
Der steuerliche Eingriff in die Vermögens- und Rechts-
sphäre des Einzelnen, so das Bundesverfassungsgericht
weiter, erhält seine Rechtfertigung auch und gerade aus
der Gleichheit dieser Lastenteilung. Wolle der Gesetzge-
ber gleichwohl eine Ungleichbehandlung vornehmen, so
sei dies nur aus Gründen des Gemeinwohls möglich und
setze weiterhin eine erkennbare Entscheidung des Ge-
setzgebers voraus. Allein die höhere Sozialbindung des
Grundbesitzes oder der Schutz von Mietern genüge noch
nicht, um eine niedrigere Besteuerung bei Grundbesitz zu
rechtfertigen, so das Bundesverfassungsgericht sinn-
gemäß.
Angesichts dieser Vorgaben des Bundesverfassungsge-
richts hat der Deutsche Bundestag im Jahre 1996 die nun
vorliegende Fassung des Bewertungsgesetzes beschlos-
sen. Für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer
wurde das Einheitswertverfahren durch die so genannte
Bedarfsbewertung nach dem Ertragswertverfahren ab-
gelöst, um dem Gleichheitsgebot zu entsprechen. Erst-
mals seit 1964 fand damit eine Neubewertung des Grund-
besitzes und damit eine Anpassung an die seither enorme
Wertentwicklung bei Grundstücken und Immobilien statt.
Grundbesitz wird seit 1996 realitätsnäher bewertet, seit-
her eingetretene Veränderungen des Marktes blieben je-
doch außen vor.
Die heute infrage stehende Verfallklausel sollte dazu
dienen, eine Überprüfung des 1996 noch nicht in der prak-
tischen Umsetzung erprobten Bewertungsverfahrens zu
ermöglichen und anhand der zwischenzeitlich gewonnen
Erkenntnisse zu einer Neuregelung ab dem Jahr 2002
führen. Dies hatte offensichtlich auch die damalige Mehr-
heit aus CDU/CSU und FDP im Bundestag gewollt, auch
wenn diese heute die ursprüngliche Intention der Fristen-
klausel nicht mehr hinterfragen. Dieser Aufgabe müssen
wir nun hier und heute nachkommen. Wie also kann eine
Neuregelung des § 138 des Bewertungsgesetzes ausse-
hen? Zunächst bietet sich angesichts des Fristendes die
Möglichkeit, tatsächlich Neues zu schaffen und die Er-
fahrungen der vergangenen sechs Jahre ebenso wie die
momentanen Entwicklungen und die Prognosen für die
Zukunft mit einfließen zu lassen.
Neues meint dabei nicht die bloße Fortschreibung von
bereits Bestehendem. Vorstellbar wäre an dieser Stelle,
eine Neubewertung des Grundbesitzes vorzunehmen. Der
dem § 138 Abs. 4 des Bewertungsgesetzes wegen der Be-
fristung anhaftende Übergangscharakter bringt die Über-
legung mit sich, ob nicht eine dauerhafte Regelung ge-
funden werden sollte. Denn gerade bei dem so
beständigen Wert Grundbesitz scheint ein Gesetz, dass
von Befristung zu Befristung jeweils wieder in seiner Be-
wertung offen ist, nicht der optimale Ansatz zu sein, um
Rechtssicherheit langfristig zu garantieren.
Eine Aktualisierung des Bewertungsgesetzes könnte
zu einer Annäherung der bislang auseinander klaffenden
Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken
führen. Dadurch würde die derzeit beim Ertragswertver-
fahren gegebene Spanne von durchschnittlich 51 Prozent
des Verkehrswertes bei bebauten Grundstücken gegen-
über etwa 72 Prozent bei unbebauten Grundstücken ver-
kürzt.
Gleichzeitig steht für uns an erster Stelle natürlich das
von der Bundesregierung schon in vielen Schritten umge-
setzte Ziel, Steuern zu senken und Familien zu fördern.
Die Vererbung von Omas viel zitiertem Häuschen darf
nicht zu einer höheren Steuerlast der Erben führen. Ob
dieser Schutz in gleichem Maße auch für Omas Häuser-
zeile gelten muss, lasse ich dahingestellt. Um Familien zu
fördern, halten wir auch im Rahmen des Bewertungsge-
setzes daran fest, dass das Familiengebrauchsvermögen
stets so zu stellen ist, dass normale Einfamilienhäuser
durch entsprechende Gestaltung der Freibeträge steuerfrei
an die Kinder und Ehepartner vererbt werden kann. Nur
unter dieser Prämisse ist eine Weiterentwicklung des aus-
laufenden § 138 Bewertungsgesetz gangbar.
Dass im Hinblick auf die Erbschaftsteuer auch der Mit-
telstand als Rückgrat unserer Wirtschaft weiterhin geför-
dert wird, versteht sich aufgrund unserer mittelstandsför-
dernden Politik von selbst und muss an dieser Stelle nicht
weiter erläutert werden. Als Alternative zu dem gerade
dargestellten Weg bietet sich die nicht wirklich als Neure-
gelung zu bezeichnende Möglichkeit, die Befristung
durch eine weitere Befristung zu verlängern. Diese Lö-
sung des aus zeitlichen Gründen drängenden Problems
hat Vor- und Nachteile, die es abzuwägen gilt: Zunächst
besitzt die Fortgeltung des § 138 durch eine neue Befris-
tung insoweit einen gewissen Charme, als dadurch bereits
Bestehendes bleibt: Die Fortgeltung der Bewertung führt
zu einer Beständigkeit innerhalb der Immobilienwirt-
schaft und stärkt das Vertrauen der Grundbesitzer und der
künftigen Erben in die zu erwartende und einschätzbare
Steuerlast.
Dies allein genügt jedoch nicht, um eine Ungleichbe-
handlung der Bewertung von Grundbesitz und Vermögen
in Kauf zu nehmen. Allenfalls die mit der Fristverlänge-
rung einhergehende Rechtssicherheit kann eine Ungleich-
behandlung auf absehbare Zeit rechtfertigen. In der kur-
zen Zeitspanne, die uns noch bis zum Auslaufen des § 138
am 31. Dezember verbleibt, kann eine abschließende und
auf lange Sicht gesicherte Regelung der Bewertungsmo-
dalitäten kaum durchgeführt werden.
Um also ein Stückwerk, wie es die Regelung aus der
Zeit der damaligen Bundesregierung aus dem Jahre 1996
leider ist, zu vermeiden, muss ein Gesamtkonzept ent-
worfen werden: Eine dauerhafte und gerechte Lösung
muss, wie es auch in der Stellungnahme der Bundesregie-
rung heißt, eine Angleichung der unterschiedlichen
Maßstäbe und Verfahren für die Bewertung von Grund-
besitz einerseits sowie von sonstigem Vermögen anderer-
seits enthalten, um den verfassungsrechtlichen Anforde-
rungen weiterhin zu entsprechen. Deshalb ist für uns
klar, dass wir dem Antrag des Bundesrats, die Frist des
§ 138 Bewertungsgesetz zu verlängern, zustimmen wer-
den, damit auch nach dem 31. Dezember dieses Jahres die
Bewertung von Grundbesitz sichergestellt ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118850
(C)
(D)
(A)
(B)
Hans Michelbach (CDU/CSU): Die Regelung zur
Bewertung des Grundbesitzes für Zwecke der Erb-
schaftsteuer und Grunderwerbsteuer wurde auf öffentli-
chen Druck der Opposition jetzt zeitlich verlängert. Die
Verlängerung der bisherigen Bewertungsregelungen bis
zum Jahr 2006 ist ein Erfolg. Jedoch ist die Gefahr weite-
rer Belastungen der Generationenbrücke nicht gebannt.
Der Steuerbürger hat kein Vertrauen mehr in die rot-grüne
Koalition; denn die rot-grüne Bundesregierung betreibt
eine Politik der Abkassiererei und Preistreiberei.
Insgeheim wird im Hause Eichel in enger Abstimmung
mit den SPD-geführten Bundesländern schon länger an
einem neuen Bewertungsverfahren gearbeitet. Vom so ge-
nannten Ertragswertverfahren soll auf ein Sachwertver-
fahren umgestellt werden, wodurch sich die Bemessungs-
grundlage für die Erbschaft- und Schenkungsteuer sehr
viel stärker an den Verkehrswert annähern soll.
Wenn das Machtwort des Kanzlers gilt, muss er nun der
Verschiebung auch grundsätzliche Taten folgen lassen
und seine Parteifreunde auf ihrem Steuerirrweg stoppen.
Eine bloße Anhebung der Bewertung in Richtung Ver-
kehrswertbesteuerung kann keine Zustimmung finden.
Sie führt zu regionalen Verzerrungen im Bundesgebiet,
verschärft die Stadt-Land-Problematik und gefährdet die
Existenz von Mittelständlern in den Innenstädten. Eine
Zusicherung von Aufkommensneutralität ist unzurei-
chend, solange nicht gesichert ist, dass höhere Belastun-
gen für mittelständische Betriebe vermieden werden.
Eine pauschale Anhebung der Bewertungsgrundlage für
Grund und Boden bei Betrieben ist ökonomisch und sach-
lich nicht gerechtfertigt. Im Vordergrund muss die Förde-
rung steigender Beschäftigung und höherer Investitionen
stehen.
Wenn Bund und Länder tatsächlich an der Bemes-
sungsgrundlage drehen wollen, so müssen auch die Frei-
beträge deutlich erhöht und die Steuersätze gesenkt wer-
den. Neben den persönlichen Freibeträgen muss auch der
Freibetrag für Betriebsvermögen von heute 500 000 DM
mindestens verdreifacht werden. Unverzichtbar für einen
Konsens ist die steuerlich angemessene Berücksichtigung
von Grund und Boden als Grundlage für hohe Beschäfti-
gung. Wer die Erbschaftsteuerschraube über den Umweg
der Anhebung der Bewertungsgrundsätze auf über 70 Pro-
zent der Verkehrswerte anziehen will, gefährdet damit die
Existenz von einigen Tausend Arbeitsplätzen.
Das Bewertungsprivileg ist ein wichtiger Baustein bei
der schenkungsteuerschonenden Übertragung von unter-
nehmerischen Vermögen auf die nächste Generation. Die
Fortführung von mittelständischen Betrieben durch den
Übergang auf einen Unternehmensnachfolger darf durch
Änderungen an der Bewertungsgrundlage steuerlich nicht
verhindert werden, die Generationsbrücke nicht zerstört
werden.
Die Bundesregierung spricht in der Steuerpolitik oh-
nehin mit gespaltener Zunge. Da soll einerseits der Steu-
erzahler entlastet werden, andererseits bereitet sie gerade
mit den geplanten Erhöhungen der Tabak- und Versiche-
rungsteuer ihren neuesten Coup vor. Eichels Mythos vom
Steuersenkungsminister erweist sich einmal mehr als
Farce.
Steuererhöhungen führen zur Erhöhung des Inflations-
impulses. Die Erhöhung der Versicherungsteuer auf Sach-
versicherungen von 15 Prozent auf 16 Prozent bewirkt
einen Inflationsimpuls von 0,1 Prozentpunkten, die Er-
höhung der Tabaksteuer pro Zigarette von 5,1 Cent auf
7,1 Cent einen von 0,2 Prozentpunkten und die nächste
Stufe der Ökosteuer inklusive Mehrwertsteuer, verursacht
einen Inflationsimpuls von 0,2 Prozentpunkten. Ein Fi-
nanzminister, dem nur Steuererhöhungen einfallen und
der sich zum Umschichten von Mitteln nicht in der Lage
sieht, leistet einen Offenbarungseid.
Durch den schamlosen Griff in die Taschen der Bürger
lässt sich trefflich sparen, wie die Pläne des Finanzminis-
teriums zeigen. Einmal mehr zockt Eichel die Steuerzah-
ler gnadenlos ab. Die angeblichen Reformen sind bei ge-
nauerer Betrachtung bunte Seifenblasen, die sich die
Bürger selbst finanzieren, sei es in der Steuerpolitik, bei
der Ökosteuer oder in der Familienpolitik. Die viel ge-
priesene Steuerreform ist mittlerweile als bunte Seifen-
blase zerplatzt.
Was wir brauchen, sind Entlastungen und keine zu-
sätzlichen Belastungen der Steuerzahler. Die Leute im
Land warten darauf. Keine neuen Steuererhöhungen, son-
dern die konsequente und verlässliche Fortführung der
Steuersenkungspolitik muss zur Förderung von Beschäf-
tigung und Kaufkraft auf die Tagesordnung gesetzt
werden. Notwendig ist die Weiterentwicklung des Steuer-
senkungsgesetzes insbesondere beim Unternehmensüber-
gang sowie zu Erleichterungen von Umstrukturierungen.
Die kleine Reinvestitionsrücklage ist Mittelstandsfän-
gerei und Etikettenschwindel.
Im Regierungsentwurf einen Gesetzes zur Fortent-
wicklung des Unternehmensteuerrechts verbirgt sich
durch die beabsichtigte Änderung des § 8 Nr. 7 GewStG
die Einführung einer Leasing-Steuer. Durch das zur
Diskussion stehende Vorhaben würde den gewerblichen
Miet- und Leasingkunden eine gewaltige steuerliche
Mehrbelastung aufgebürdet. Durch die Zusatzlasten
würde die Leasing-Branche, die mit einem voraussichtli-
chen Investitionsvolumen im Mobilienbereich für 2001
von nunmehr 75 Milliarden DM Deutschlands größter In-
vestor ist, massiv beeinträchtigt, sodass ein dramatischer
Einbruch des Investitionsvolumens zu erwarten ist.
Die Schröder-Regierung steht entgegen aller anders
lautenden Beteuerungen für den Marsch in den Steuer-
staat. Die Neue Mitte wird aus Ideologie nun zu Rei-
chen umdefiniert. Statt Verführung der Neuen Mitte
kommt nun die alte Linke wieder zum Vorschein: Geld
muss in die Kassen, damit die von Rot-Grün aufgerisse-
nen Haushaltslöcher gestopft werden können.
Für die Union ist klar, Deutschland braucht kein
Steuer-Wirrwarr, sondern eine klare und verlässliche
Steuerpolitik. Nur so können Leistung und Beschäftigung
gefördert und das komplizierte Steuerrecht einfacher und
gerechter werden: Abkassieren zur reinen Umverteilung
bringt niemanden weiter und vertreibt Kapital für not-
wendige Investitionen aus Deutschland. Die Steuerlast
darf nicht die Existenz von Betrieben gefährden, da diese
als Garant von Arbeitsplätzen der Gemeinwohlverpflich-
tung unterworfen sind: Die Steuerpolitik von Rot-Grün
erweist sich einmal mehr als kontraproduktiv.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2001 18851
(C)
(D)
(A)
(B)
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Auf Initiative des Bundesrates werden mit diesem Ge-
setzentwurf die Regelungen zur Bewertung des Grund-
besitzes für Zwecke der Erbschaftsteuer und der Grund-
erwerbsteuer für weitere fünf Jahre verlängert. Die
Initiative der Länder kommt gerade noch rechtzeitig, da
die vorhandene Befristung im Bewertungsgesetz Ende
2001 abläuft.
Es ist politisch selbstverständlich, dass die Länder sich
um die Sicherung ihrer Steuereinnahmequellen aus der
Erbschaftsteuer und Grunderwerbsteuer kümmern. Mit
der Begründung des Bundesrates für einer Verlängerung
des so genannten Bedarfsbewertungsverfahrens im Rah-
men des Bewertungsgesetzes um fünf Jahre, mit dem ein
Bewertungsniveau von 50 bis 70 Prozent der Verkehrs-
werte für Immobilienvermögen erreicht wird, bin ich
nicht einverstanden. Im vorliegenden Gesetzentwurf
heißt es: Die Grundsätze der Beschlüsse des Bundesver-
fassungsgerichtes rechtfertigen eine Festschreibung der
Wertverhältnisse vom 1. Januar 1996 für fünf weitere
Jahre. Dies ist eine gewagte Interpretation des Bundes-
verfassungsgerichtsurteils vom 22. Juni 1995. Immerhin
wird damit behauptet, dass für zehn Jahre eine realitäts-
nahe Bewertung von Immobilienvermögen annäherungs-
weise zu Verkehrswerten nicht herbeigeführt werden
muss.
Die Bundesregierung geht mit dem gleichen Sachver-
halt in Bezug auf das vorliegende Bundesverfassungsge-
richtsurteil erheblich vorsichtiger um. Sie verweist in ih-
rer Stellungnahme auf die Tatsache, dass eine dauerhafte
Lösung eine Angleichung der unterschiedlichen Maß-
stäbe und Verfahren für die Bewertung von Grundbesitz
einerseits sowie von sonstigem Vermögen andererseits
enthalten muss, um den verfassungsrechtlichen Anforde-
rungen weiterhin zu entsprechen. Ich verweise auf
Drucksache 14/6718, Anlage 2.
Dieser Position kann ich mich nur anschließen. Es ist
eine Illusion, zu meinen, ein verfassungswidriger Zustand
könne einfach so beibehalten werden: Ziel der verfas-
sungsgerichtlichen Vorgabe ist die Einlösung des Grund-
satzes der gleichmäßigen Besteuerung aller Vermögens-
arten, die vererbt oder verschenkt werden. Bislang
werden auch mit dem so genannten Bedarfsverfahren im
Rahmen des Bewertungsgesetzes Geld- und Grundver-
mögen nicht gleichmäßig besteuert. Vielmehr ist es so,
dass das Grundvermögen in der Regel nur mit 50 bis
70 Prozent seines Verkehrswertes in die Bemessungs-
grundlage für die Berechnung der Erbschaftsteuer ein-
geht.
Dieser Zustand ist auf Dauer unhaltbar. Ich gehe des-
halb davon aus, dass in der nächsten Legislaturperiode
dieser verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Zustand
aufgehoben wird. Ziel einer Reform der Erbschaftsteuer
soll ihre verfassungsrechtlich gerichtsfeste Ausgestaltung
sein. Die Bewertungsgrundsätze für Immobilienvermö-
gen sind zu ändern, ohne dass es zu einer Belastung von
selbst genutztem Immobilieneigentum, also Gebrauchs-
vermögen, kommt.
Omas Häuschen soll auch weiterhin steuerfrei die
nächste Generation erreichen! Auch eine Betriebsüber-
gabe an Erben darf den Betrieb nicht gefährden. Der Wo-
chenbericht des DIW vom 31. Mai 2001 Nr. 22/2001
zeigt den Reformbedarf bei der Erbschaftsteuer. Ich kann
empfehlen, diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Die
Notwendigkeit, sich für die Gleichbehandlung unter-
schiedlicher Vermögensarten einzusetzen, wird noch of-
fensichtlicher, wenn bekannt ist, wie sich das Bruttover-
mögen der privaten Haushalte zusammensetzt.
Es hatte 1997 einen Bestand von 14 Billionen DM. Da-
von entfielen auf den Immobilienbestand im In- und Aus-
land sowie das Gebrauchsvermögen 9 Billionen DM oder
62 Prozent. Etwa 38 Prozent, also der geringere Anteil,
machte das private Geldvermögen aus. So ist dem Mo-
natsbericht der Deutschen Bundesbank vom Januar 1999
zu entnehmen.
Wieso soll eigentlich das Steuersparen mit der Geldan-
lage in Grundvermögen kultiviert werden? Dies muss die
Opposition den Bürgern erklären. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat die Antwort bereits dem Gesetzgeber,
also uns, vorgegeben. Auf Dauer ist der Zustand unhalt-
bar.
Rainer Funke (FDP): Die Bewertungsregeln für Im-
mobilien laufen Ende dieses Jahres aus. Ohne Tätigkeit
des Gesetzgebers könnte im nächsten Jahr keine Erb-
schaftsteuer mehr erhoben werden. Der Gesetzentwurf
der FDP datiert vom 13. Februar 2001. Wir wollen das
geltende Bewertungsrecht verlängern und damit frühzei-
tig Klarheit und Planungssicherheit für die Bürger schaf-
fen. Ich begrüße es für die FDP ausdrücklich, dass der
Bundesrat unserem Entwurf wortgleich gefolgt ist. Ich
hoffe, dass das Gesetzgebungsverfahren damit reibungs-
los über die Bühne geht.
Ich darf aber auch daran erinnern, dass es im Frühjahr
Pläne gab und wohl auch noch gibt , die Erb-
schaftsteuer massiv zu erhöhen. Einige sozialdemokrati-
sche Ministerpräsidenten und auch SPD-Politiker im
Bund waren noch im Frühjahr dafür, durch Änderungen
des Bewertungsrechts zum 1. Januar 2002 den Bürgern
abermals tief in die Tasche zu greifen. Das zeigt, dass
weite Teile der SPD in keiner Weise daran interessiert
sind, die viel zu hohe Steuerbelastung zu senken. Staats-
gläubigkeit und Dirigismus herrschen weiterhin vor. Wo
Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit zu Erfolgen
führen, muss der Staat zugreifen und den Erfolg abschöp-
fen.
Die mit Hängen und Würgen durchgebrachte halbher-
zige Steuerreform, deren viele Fehler in diesen Tagen in
Ansätzen korrigiert werden sollen, war wohl das Äußers-
te, was mit ideologisch geprägtem Gedankengut in der
SPD zu vereinbaren war.
In dieses Bild passen die bereits beschlossenen Er-
höhungen der Mineralölsteuer und der Stromsteuer zum
1. Januar. Auch die anstehende Erhöhung der Tabaksteuer
sowie der Versicherungsteuer belegen, dass die SPD und
auch die Grünen weder den Willen noch die Kraft haben,
wirkliche Steuersenkungen durchzusetzen. Die viel ge-
rühmten Sparmaßnahmen gingen zulasten der Investitio-
nen, was sich gerade in diesen Tagen rächt. Die Senkung
von Steuer- und Abgabenquote wird vollmundig be-
schworen, aber nichts geschieht. Für die FDP steht fest:
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 192. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 200118852
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Die Politik dieser Regierung ist schädlich für Deutsch-
land. Daran ändert nichts der Verzicht auf die Erhöhung
der Erbschaftsteuer. Der Grund hierfür liegt einzig darin,
dass 2002 ein Wahljahr ist.
Dr. Barbara Höll (PDS): Durch den Gesetzentwurf
der Bundesländer soll die Anwendung des derzeit gelten-
den Bewertungsverfahrens für Grundbesitz im Rahmen
der Erbschaftsteuer bis zum Jahr 2006 verlängert werden.
Die PDS unterstützt diese Länderinitiative zur Sicherung
der Erbschaftsteuer, da ohne diesen Gesetzentwurf die
Erbschaftsteuer ab Januar 2002 nicht mehr erhoben wer-
den könnten und dies, weil sich auch die rot-grüne Bun-
desregierung als reformunwillig erwies und bisher keinen
eigenen Gesetzentwurf zur Reform der Erbschaftsteuer
vorgelegt hat. Gleichzeitig soll aber für weitere fünf Jahre
ein verfassungswidriger Zustand hingenommen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
von 1995 gefordert, zur Durchsetzung der Gleichbesteu-
erung alle Vermögensarten realitäts- und zeitnah zu be-
werten. Diese geforderte Realitätsnähe ist jedoch durch
das derzeit geltende Ertragswertverfahren bei der Bewer-
tung der Grundstücke auch nicht annähernd gegeben.
Dies dürfte dem Bundesfinanzministerium und somit der
Bundesregierung sehr wohl bekannt sein.
Nach bundesweiten Untersuchungen der Finanzver-
waltungen erreichen die durch das Ertragswertverfahren
ermittelten Werte für bebaute Grundstücke derzeit gerade
51 Prozent der Verkehrswerte. Die festgelegten Werte für
unbebaute Grundstücke liegen bei 72 Prozent des Ver-
kehrswertes. Dies ist eine erhebliche steuerliche Un-
gleichbehandlung innerhalb des Grundvermögens. Aber
es bedeutet darüber hinaus auch eine steuerliche Privile-
gierung des Grundvermögens gegenüber allen anderen
Vermögensarten im Rahmen der Erbschaftsbesteuerung.
Wider besseres Wissen ist die rot-grüne Regierung nicht
gewillt, etwas an diesem verfassungswidrigen Zustand zu
ändern. Sie nehmen in Kauf, dass der Gleichbesteuerung
über Jahre hinweg Rechnung getragen wird.
Wenn Sie in Ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf
des Bundesrates betonen, dass eine dauerhafte Lösung des
Problems die Angleichung der unterschiedlichen Verfah-
ren für die Bewertung von Grundbesitz einerseits und von
sonstigen Vermögen andererseits enthalten muss, dann
mutet dies schon zynisch an. Denn erinnern wir uns: Im
Mai dieses Jahres legte ein Teil der Länder den Entwurf
eines Gesetzes für eine verfassungskonforme Bewertung
des Grundbesitzes vor. Statt diese Initiative aufzunehmen
und den betreffenden Ländern im Bundesrat politisch den
Rücken zu stärken, wurden diese aber mit Blick auf das
Wahljahr 2002 gerade von Herrn Schröder und Herrn
Eichel blockiert.
Doch die verfassungsrechtliche Problematik ist das
eine. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass nach
Schätzungen der Bundesbank zwar jährlich 100 bis
200 Milliarden DM an privatem Vermögen vererbt wer-
den, durch die Erbschaftsteuer aber im vergangenen Jahr
gerade 5,8 Milliarden DM an Einnahmen erzielt wurden.
Durch eine Änderung von Freibeträgen und Steuersätzen
könnte sich dies schnell ändern. Dadurch wären Mehrein-
nahmen möglich, die für Investitionen in Bildung und
Ausbildung sowie für Kinderbetreuung und Armuts-
bekämpfung eingesetzt werden können.
Gerade Letzteres ist von besonderer Bedeutung: In die-
ser Woche hat die Europäische Kommission der Bundes-
regierung eine mangelnde Armutspolitik bescheinigt.
Laut dem jüngsten Bericht über die soziale Eingliede-
rung der Kommission liegt die Bundesrepublik in punkto
Armutsbekämpfung und Armutspolitik im unteren Drittel
der EU-Staaten.
Einerseits verzichtet Rot-Grün also darauf, Vermö-
gende adäquat zur Finanzierung des Gemeinwesens in die
Verantwortung zu nehmen, andererseits lassen sie die Ein-
kommensschwachen im Regen stehen. Diese unsoziale
Politik akzeptieren die demokratischen Sozialisten und
Sozialistinnen nicht. Wir akzeptieren auch nicht, dass sich
die Regierung weiterhin einer strukturellen Reform der
Erbschaftsbesteuerung verweigert. Noch immer hängt die
Höhe der Erbschaftsteuer davon ab, in welcher verwandt-
schaftlichen Beziehung Erblasser und Erben zueinander
standen. Eine überlebende Ehefrau erhält einen Freibetrag
von insgesamt 1,1 Millionen DM, die unverheiratete Le-
benspartnerin gerade einmal 10 000 DM. Dies ist ange-
sichts der sich rapide ändernden Lebensweisen wirklich
nicht mehr nachvollziehbar! Inzwischen sollen homo-
sexuelle Lebenspartnerschaften zwar weitgehend den
Ehen gleichgestellt werden. Dies hebt aber die Diskrimi-
nierung zum Beispiel unverheirateter heterosexueller
Paare oder aber kinderloser Menschen, die sich im Alter
unterstützen, nicht auf.
Der Reformbedarf ist immens. Wir fordern deshalb,
dass die Bundesregierung schnellstens eine Reform vor-
legt, die eine verfassungsfeste und sozial gerechte Erb-
schaftsbesteuerung beinhaltet und dies nicht erst nach
dem nächsten Urteil des Verfassungsgerichts.
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