Rede von
Rezzo
Schlauch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, letzte Woche haben Sie hier den Staatsmann
dargestellt. Heute hat es offensichtlich zu nicht mehr ge-
reicht als zu dem kleinkarierten Redner, der die nationa-
len Dimensionen aus dem Papierkorb recycelt.
Zwischen diesen beiden Rollen liegt eine erhebliche Dis-
krepanz.
Ich glaube, dass wir nicht so weiterdiskutieren können
wie vor dem 11. September.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ein Zitat des Schrift-
stellers Durs Grünbein vortragen. Er hat geschrieben, dass
die Druckwelle nach den Terroranschlägen so stark
war,
dass sie jeden einzelnen Körper in Europa getroffen
hat. Zum ersten Mal hat ein Drehbuch die wichtigen
Schauplätze der Welt kurzgeschlossen. Es ist der
Moment der Sichtbarwerdung einer globalen Regie.
Diese globale Regie der Terroristen hat zur Überra-
schung vieler und sicher zur größten Überraschung der
Terroristen selbst durch die Bildung einer bisher nie da
gewesenen weltweiten Antiterrorkoalition zu einer globa-
len Antwort geführt. Das ist ein Riesenschritt nach vorne,
hin zu einer zivileren Welt. In diese Richtung sollten wir
in der Staatengemeinschaft weitergehen.
Herr Westerwelle, da haben Ihre Ideen vom Rückzug
des Staates aus der Gesellschaft und auch aus der Ökono-
mie, da haben Ihre Ideen vom minimal state heutzutage
überhaupt keine Konjunktur. Das sollten Sie mit auf den
Weg nehmen.
Wir versuchen uns heute beim Haushalt 2002 darüber
zu verständigen, welche Veränderungen dies sind, und vor
allem, in welche Richtung und von welchen Grundsätzen
her wir diese Veränderungen politisch begleiten wollen.
Damit können wir heute nur beginnen, wir müssen aber
beginnen.
Veränderung bedeutet auch, sich selbst und sein Han-
deln im Lichte dieser Veränderung kritisch zu überprüfen
und neu zu überdenken. Ein zentraler Fokus unserer Poli-
tik muss dabei das berechtigte Interesse der Bevölkerung
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Dr. Guido Westerwelle
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sein, in einem Land zu leben, das die Sicherheit der Men-
schen gewährleisten kann.
Um die Sicherheitsvorkehrungen der neuen Lage an-
zupassen, haben wir erste Schritte unternommen, Herr
Westerwelle. Vielleicht ist Ihnen dies entgangen. Die Ver-
breitung von Hass und Gewalt unter dem Deckmantel des
Religionsprivilegs ist kein schutzwürdiges Gut.
Deshalb wird dieses Privileg fallen. Es ist ebenso richtig,
dafür zu sorgen, dass die Polizei und auch die Nachrich-
tendienste ihren Aufgaben besser, effizienter nachkom-
men können und dass die Sicherheit auf den Flughäfen er-
höht wird. Aber statt des von Ihnen, meine Damen und
Herren Kollegen von der Opposition, lange hochgehalte-
nen Bank- und Steuergeheimnisses müssen wir effiziente
Kontroll-, Überwachungs- und Beschlagnahmungsinstru-
mente für internationale und nationale Finanztransfers
ermöglichen, um die finanziellen Lebensadern des Terro-
rismus auszutrocknen.
Dass damit auch sonstige illegale Finanztransfers auf den
Schirm der Fahnder geholt werden können, ist von uns
ausdrücklich gewünscht.
Es gibt aber auch falsche Freunde der Freiheit: Wer wie
der Herr Scholz von der CDU generell den Einsatz der
Bundeswehr im Innern des Landes fordert, dem geht es
nicht um Sicherheit, sondern derjenige will, dass diese
Republik ein anderes Gesicht bekommt. Er will aus einer
offenen eine autoritäre Gesellschaft machen. Wir, Herr
Glos, wollen diese offene Gesellschaft und ihre Werte ver-
teidigen.
Bei allen Maßnahmen zur Verbesserung der inneren
Sicherheit werden wir Grünen Herr Glos, das ist die
Antwort auf Ihre Frage die Messlatte des liberalen
Rechtsstaats anlegen. Angesichts der wenigen Differen-
zen, Herr Innenminister, bin ich mir sicher, dass uns die-
ses Rechtsstaatsprinzip eint, und zwar nicht nur in seiner
formalen, sondern auch in seiner materiellen Substanz. So
jedenfalls kenne ich Sie aus alten Zeiten.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger
Volmer, hat angesichts der Anschläge in New York und
Washington und ihrer Folgen zu Recht davon gesprochen,
dass wir an einer sicherheitspolitischen Stunde Null an-
gekommen sind. Wir sind in diesem Lichte aufgefordert,
die Strukturreform der Bundeswehr noch einmal genau
unter die Lupe zu nehmen. Es lohnt sich, die Ergebnisse
der Weizsäcker-Kommission noch einmal zu studieren.
Die Bundeswehr steht das wissen wir spätestens seit der
gestrigen Rede von Putin im Bundestag nicht mehr vor
der Aufgabe, das Land gegen anstürmende Panzerdivisio-
nen aus dem Osten zu verteidigen, die durch das Fulda-
Gap brechen. Vielleicht muss die Strukturreform radika-
ler ausfallen und schneller umgesetzt werden. Eines aber
darf und wird mit unserer Stimme nicht geschehen: Wir
werden kein neues Geld in alte Strukturen stecken.
Ich vermute, dass es auch bei unseren Partnern, bei-
spielsweise den USA bezüglich der Raketenabwehrkon-
zepte, ein Überdenken der überkommenen Sicherheits-
konzepte geben wird, nachdem die schreckliche Ver-
wundbarkeit unserer Gesellschaften so offen zutage ge-
treten ist. Eine Lehre hieraus muss sein: Sicherheitspoli-
tik kann nur multilaterale Politik sein.
Der Finanzminister hat Herr Westerwelle, Sie haben
es selbst gesagt durch geringfügige Steuererhöhungen
auf Zigaretten und Versicherungen 3 Milliarden DM mo-
bilisiert.
Damit werden die Maßnahmen zur Verbesserung der in-
neren und äußeren Sicherheit finanziert. Gleichzeitig
führen wir den Konsolidierungskurs fort. Für unsere
Volkswirtschaft ist dies der richtige Kurs. Er ist für die Er-
weiterung der zukünftigen Gestaltungsräume und die
Handlungsfähigkeit der Politik, gerade auch auf interna-
tionaler Ebene, von grundsätzlicher Bedeutung. Was
nötig ist, wird finanziert, aber das wirtschaftliche und fi-
nanzpolitische Rückgrat unserer Reformpolitik wird die-
ser notwendigen Reaktion nicht geopfert. Das ist verant-
wortliche Politik unter außergewöhnlichen Umständen.
Herr Westerwelle, das ist der wohltuende Unterschied
zu Ihnen: Sie polemisieren gegen eine vergleichsweise
geringfügige Steuererhöhung, wohl wissend, dass Sie
1991 den Scheck für den Golfkrieg in Höhe von 17 Mil-
liarden DM genau mit den gleichen Steuererhöhungen
plus einer schlagartigen Erhöhung der Mineralölsteuer
um 22 Pfennig finanziert haben.
Darüber hinaus hört man aus der Opposition, dass die
nächsten Stufen der Steuerreform mit 45 Milliarden DM
Belastung auf der Sollseite vorgezogen werden sollen.
Das ist der Weg zurück in den Schuldenturm. Der ist mit
uns nicht zu machen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Rezzo Schlauch
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Ein sehr ernstes Problem bleibt aus unserer Sicht; das
wissen wir. Das Problem wird durch eine große Unsi-
cherheit darüber, wie sich die weltkonjunkturelle Lage
unter dem Eindruck der Ereignisse in diesen Wochen ent-
wickelt, noch ernster. Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch.
Für uns Grüne heißt das: Wir müssen etwas für die Re-
form des Arbeitsmarktes tun und wir werden etwas tun.
Die grüne Fraktion hat schon vor der Sommerpause Eck-
punkte verabschiedet Herr Kollege Struck, ich glaube,
jetzt geht es an unsere gemeinsame Adresse , in denen
aufgezeigt wird, dass wir mehr Brücken in den ersten Ar-
beitsmarkt bauen müssen. Es geht darum, Menschen weg
von Transferleistungen in richtige Beschäftigungsverhält-
nisse zu bringen. Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist eine
Frage der Gerechtigkeit. Es geht nicht nur um die Höhe
und Ausstattung von Transferleistungen.
Deshalb begrüßen wir das Job-Aqtiv-Gesetz. Darüber
hinaus wollen wir aber über ein Einstiegsgeld diskutieren,
das heißt, dass Transferleistungsempfänger bis zu 50 Pro-
zent des eigenen Verdienstes ohne Anrechnung behalten
dürfen. Das wollen wir auch umsetzen.
Die Überwindung der Teilzeitmauer durch staatlichen
Zuschuss zu den Lohnnebenkosten bei Geringverdienern
ist eine weitere Idee, die wir ernsthaft prüfen wollen. Die
Instrumente müssen breit angelegt sein, beworben und er-
klärt werden. Ich bin sicher, wenn wir das tun, können wir
noch mehr Menschen was wir alle wollen in Arbeit
bringen.
Wir haben bisher, Herr Westerwelle, noch viel zu oft
auch in Haushaltsberatungen und auch wenn dies ein na-
tionaler Haushalt ist mit der nationalen Brille auf der
Nase, und zwar mit einem zu engen Blick aus den Zeiten
relativ geschlossener Nationalwirtschaften und -gesell-
schaften, über Politik diskutiert. Diese Zeiten sind darüber
sind wir uns doch hoffentlich einig vorbei. Sowenig uns
heute die Sehnsucht nach ruhigeren und überschaubareren
Zeiten hilft, die notwendigen sicherheitspolitischen Ent-
scheidungen zu treffen, sowenig können wir uns in ande-
ren Politikfeldern von dieser Sehnsucht leiten lassen. Der
Blick nach innen, Abschottung, der Gang zurück oder der
Gang alleine sind heute keine möglichen politischen Stra-
tegien mehr; schon gar nicht ein wie auch immer ausse-
hender deutscher Sonderweg.
Das gilt auch Herr Kollege Westerwelle in diesem
Punkt sind Sie irgendwie auf dem völlig falschen Damp-
fer für die Einwanderungsdebatte.
Es ist richtig: Wir halten an unserem Vorhaben fest, auch
wenn es jetzt Stimmen gibt die kommen woanders her ,
die aus der Unsicherheit der Bevölkerung wieder einmal
politische Münze schlagen wollen. Wir werden es nicht
zulassen, dass angesichts der Katastrophe aus parteipoli-
tischen Gründen zu einer gesellschaftlichen Vogel-
Strauß-Politik zurückgekehrt wird, nach dem Motto,
Deutschland sei kein Einwanderungsland und solle auch
keines werden. Eine solche Vorstellung gleicht einer Rea-
litätsverweigerung, die in der Vergangenheit nicht zuletzt
aufgrund des langjährigen Engagements der Grünen auf
diesem Politikfeld überwunden werden konnte.
Wir werden uns in der Koalition über den vorliegenden
Gesetzentwurf verständigen; da bin ich sicher. Wir müs-
sen uns nur über eines im Klaren sein: Wir brauchen die
Einwanderung. Wenn das aber so ist das ist unser An-
satz , dann darf es nicht sein, dass der politische Preis
für diejenigen, die wir brauchen, von denjenigen bezahlt
wird, die uns brauchen. Diese Aussage stammt vom
Kollegen Hirsch und ihr ist nichts hinzuzufügen.
Nach den Ereignissen in New York und Washington ist
es endgültig zu einem Imperativ der Politik geworden:
Wir müssen unsere Vorstellungen von sozialer Sicherheit
und gesellschaftlicher Gerechtigkeit unter den Bedingun-
gen der Globalisierung neu buchstabieren. Der Entwick-
lungshilfeetat und alle jene Bereiche, die heute zu einer
auswärtigen Politik gehören, sind in vieler Hinsicht noch
nicht so ausgestattet, wie wir es uns wünschen. Deshalb
werden sich beide Fraktionen in den Beratungen be-
mühen, schon im Haushalt 2002 die Etats aufzustocken
und mehr zu tun.
Der Kampf gegen den globalen Terrorismus ist jen-
seits der notwendigen Repression zuallererst ein Ringen
um politische Lösungen und damit um eine kooperative
Weltordnung in allen relevanten politischen Bereichen.
Das ist die bitter notwendige Voraussetzung für Frieden
und Wohlstand auch bei uns zu Hause, hier in Europa. Wir
alle wollen, dass sich solche Angriffe auf das Leben Tau-
sender unschuldiger Menschen nicht wiederholen; nicht
in den USA, nicht in Europa. Aber wer das erreichen will,
der muss auch politisch dazu beitragen, dass Terror nir-
gendwo stattfindet: nicht in New York, nicht hier, aber
auch nicht in Ruanda, in Sierra Leone, in Afghanistan
oder in Israel.
Wir haben erlebt, wie das Primat der Politik auf ganz
fürchterliche Weise wieder in das Bewusstsein der Men-
schen, auch in unser eigenes Bewusstsein, zurückgekehrt
ist. Das muss eine Handlungsanleitung sein. Wir leben
heute in der einen Welt, ob es uns gefällt oder nicht. In die-
ser einen Welt müssen wir zu einer Neubewertung der in-
ternationalen Interessenspolitik kommen. Hier haben
früher die Dritte-Welt-, heute die Eine-Welt-Aktivisten
wertvollste Pionierarbeit geleistet. Es wird hohe Zeit, dass
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 189. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 26. September 2001
Rezzo Schlauch
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wir die Erfahrungen nehmen und sie zur Lösung der stra-
tegischen Überlebensfragen für die ganze Welt einsetzen.
Hilfe für die ärmeren Länder beim Zugang zum und bei
der Integration in den Weltmarkt, fairer Handel, klassi-
sche Projekthilfe, weitere Entschuldungsinitiativen, Hilfe
zum technologischen Anschluss an die führenden
Industrienationen oder beim Aufbau von Zivilgesell-
schaften in Krisengebieten: Das sind die dringenden Auf-
gaben von heute.
In diesem Kontext ist der Stabilitätspakt, aber auch das
Handeln der NATO in Mazedonien, ein gelungenes Bei-
spiel dafür, wie sich unsere Politik entwickelt. Der Stabi-
litätspakt ist maßgeblich von der Bundesregierung mit auf
den Weg gebracht worden. Von hier aus müssen wir wei-
tergehen; auf dem Balkan, aber nicht nur dort.
Durch Spekulation laufen die Finanzmärkte immer
wieder Gefahr, das Funktionieren ganzer Volkswirtschaf-
ten zu untergraben, wie die Finanzkrisen in Mexiko, in
Südostasien oder in Russland gezeigt haben. Das hat ganz
unmittelbare Folgen auch für uns in Europa. Die Finanz-
märkte müssen durch ein internationales Insolvenzrecht
kontrollierbar werden. Die Frage der Entschuldung der
ärmsten Länder muss weiter auf der Agenda bleiben.
Dabei sollten wir uns auch nicht scheuen, Lösungs-
ansätze zu diskutieren, die im Moment dem realpoliti-
schen Auge noch nicht reif genug erscheinen mögen.
Dazu gehört auch die Tobin-Steuer, die ernsthaft erörtert
werden muss.
Meine Damen und Herren Kollegen von der PDS, ich
empfehle Ihnen, unser Wahlprogramm durchzulesen. Da
werden Sie das finden. Das ist überhaupt keine Überra-
schung.
Wenn wir die internationalen Finanzströme des Terro-
rismus trockenlegen wollen und müssen, können wir dann
nicht auch Steuerschlupflöcher stopfen, durch die sich
Teilnehmer und insbesondere Spekulanten der Weltwirt-
schaft ihrer Verantwortung entziehen? Ich glaube, diese
Frage muss wirklich ernsthaft gestellt werden.
Dies alles sind Schritte zu einer gerechteren Weltwirt-
schaftsordnung und zur Hilfe für Länder, die historisch ei-
nen hohen Preis gerade für unseren Wohlstand bezahlt ha-
ben und immer noch bezahlen.
Meine Damen und Herren, wir werden diese Woche
den Haushalt weiter beraten, die einzelnen Politikfelder
durchgehen und über die richtigen Konzepte streiten.
Aber wir wissen auch: Mit der Entscheidung zu Mazedo-
nien, aber viel mehr noch mit den weiteren Auseinander-
setzungen um die Folgen des Anschlages vom 11. Sep-
tember kommen große Aufgaben auf Regierung und
Parlament zu. Wir sollten diese Aufgaben im Geiste einer
Politik angehen, wie ich sie zu skizzieren versucht habe.
An dieser Stelle möchte ich dem Außenminister für
seine Bemühungen um einen Waffenstillstand in Nahost
ausdrücklich danken.
Heute treffen sich Peres und Arafat, denen wir von hier
aus ein erfolgreiches Gespräch wünschen.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie aus grüner Sicht Grundli-
nien einer Politik aussehen müssen, die Deutschland im
Zeitalter der Globalisierung und neuer Bedrohungen ent-
wickeln kann und muss und nach außen vertreten sollte.
Ich danke Ihnen.