Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir werden das World Trade
Center wieder aufbauen der New Yorker Bürgermeister
Rudolph Giuliani hat diesen Satz vor ein paar Tagen ge-
sagt. Inmitten der größten Katastrophe, die Amerika je
heimgesucht hat, inmitten all der Zerstörung, inmitten all
des Leids, der Toten und der Verletzten sagt er ein wenig
trotzig, vor allem aber entschlossen und mutig: Wir wer-
den das World Trade Center wieder aufbauen.
Wie wir die Amerikaner kennen, werden sie es wahr-
scheinlich größer und schöner bauen als je zuvor. Das im-
poniert mir, das imponiert vielen Menschen.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Es kann nie-
mand sagen, dass die Menschen in den Vereinigten Staa-
ten bei dem, was sie erlebt haben, und bei dem, was
geschehen ist, nicht mindestens so viel Verzweiflung
empfinden wie wir. Es kann niemand sagen, dass die Müt-
ter und Väter in den USA oder in Großbritannien nicht die
gleichen Ängste haben wie die Mütter und Väter in
Deutschland vor dem, was geschehen ist, aber auch vor
dem, was jetzt kommen mag. Ich will hinzufügen: Ich
finde diese Angst verständlich. Sie drückt die Fassungs-
losigkeit aus. Sie ist ein Maß für die Ungewissheit über
das, was kommt. Sie lässt bei vielen Erinnerungen wieder
aufkommen oder aber Gelesenes fast real erscheinen.
Ich bin aber fest davon überzeugt: Angst darf nicht un-
ser Ratgeber sein. Deshalb hat Giuliani etwas ganz Be-
sonderes geschafft. Er hat ausgedrückt, was es bedeutet,
den Sieg der Freiheit gegenüber dem Terror durchzuset-
zen. Diese Worte von Giuliani fassen für mich die Ent-
schlossenheit zum Sieg der Menschenwürde gegenüber
der Barbarei in Worte. Sie stehen auch in der Stunde der
größten Not dafür, dass wir nicht kapitulieren vor Feigheit
und Zerstörungswut.
Das ist der Geist, der die Menschen nicht im Gesche-
henen gefangen nimmt, sondern der sie aus Trauer und
Verzweiflung wieder ausbrechen lässt. Das ist der Geist
einer Debatte, die der Zukunft zugewandt ist. Das ist der
Geist, den ich mir auch für die kommenden Debatten in
Deutschland wünsche und der auch von der heutigen De-
batte ausgehen muss; denn verantwortungsbewusste Poli-
tik ob in der Regierung oder in der Opposition war und
bleibt immer eines: die Gestaltung der Zukunft. Es ist
vielleicht ein oft dahingesagtes Wort, aber es sollte gerade
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Bundesminister Rudolf Scharping
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auch in den kommenden Wochen der Kern unseres Han-
delns bei allen Entscheidungen ob im Nordatlantischen
Bündnis oder in der Europäischen Union, ob in der Re-
gierung oder in der Opposition sein: jeder in seiner
Rolle, jeder an seinem Platz. Genau deshalb nehmen wir
als Union unsere Aufgabe als kritischer Wächter, aber
auch als zuverlässiger Begleiter der Bundesregierung sehr
energisch und konsequent wahr.
Es ist richtig, dass das, was am 11. September stattge-
funden hat, eine Kriegserklärung an die zivilisierte Welt
ist. Der 11. September war eine Zäsur. Heute sind wir
dabei, zum ersten Mal auch über die Konsequenzen und
Folgerungen zu beraten. Es geht dabei um sehr konkrete
Konsequenzen in wirtschaftlicher Hinsicht, in politischer
Hinsicht, in diplomatischer Hinsicht und um das ganz
ausdrücklich hinzuzufügen auch in militärischer Hin-
sicht. Es geht darum, dass wir einer vollkommen neuen
Lage gegenüberstehen.
Es ist in den letzten Tagen viel von Dankbarkeit, ja
sogar von Schuld die Rede gewesen, in der gerade wir
Deutschen nach 50 Jahren Beistand durch die Amerikaner
gegenüber den USA stünden. Das ist ohne Zweifel rich-
tig. Aber wäre es das allein, es würde auf Dauer nicht tra-
gen. Eine wahre Freundschaft lebt auch, aber nicht allein
von Dankbarkeit. Wahre Freundschaft lebt von ihrer Trag-
fähigkeit für die Zukunft.
Der Bundeskanzler hat deshalb Recht, wenn er von un-
eingeschränkter Solidarität mit den NATO-Partnern
und den USA spricht. Er hat Recht, wenn er sagt: Es darf
nicht heißen Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass. Deshalb füge ich hinzu: Eine tragfähige Partner-
schaft zwischen den Staats- und Regierungschefs inner-
halb des Bündnisses der NATO, der Europäischen Union
und darüber hinaus gründet diese uneingeschränkte Soli-
darität auf Selbstbewusstsein zwischen den Partnern. Eine
tragfähige Partnerschaft gründet diese Solidarität auf ak-
tives Engagement für den anderen. Eine tragfähige Part-
nerschaft gründet diese Solidarität auf Taten und nicht
alleine auf Worte.
Meine Damen und Herren, wenn dieser 11. September
eine Zäsur markiert, wenn dieser 11. September ein Tag
war, der für die Geschichte des 21. Jahrhunderts eine aus-
schlaggebende Bedeutung hat ich glaube das , dann geht
es darum, den Gegner genau zu erkennen, und dann geht es
darum, die Ordnung für das 21. Jahrhundert zu finden.
Nach der Beendigung des Kalten Krieges, Ende der
80er-, Anfang der 90er-Jahre, gab es Aufsätze und Bücher,
in denen wichtige Autoren vom Ende der Geschichte ge-
schrieben haben. Wir wissen heute: Die Bedrohungen des
21. Jahrhunderts haben spätestens am 11. September ein
klares Gesicht bekommen. Wir haben keine Illusionen
mehr über die Gefahren unseres Jahrhunderts. Niemand
kann mehr sagen, er habe es nicht gesehen. Alle Warnun-
gen vor solchen Gefahren sind durch die Realität über-
troffen worden.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir versuchen, aus die-
ser großen Krise auch eine Chance zu machen. Es geht um
nicht mehr und nicht weniger als um den Aufbau einer Ar-
chitektur des 21. Jahrhunderts. Mit Sicherheit
keine Frage ist dies eine globale Architektur. Für mich
ist in den letzten Tagen noch einmal ganz deutlich gewor-
den, wie sehr die zwei Seiten einer Medaille zusammen-
hängen: die politische Demokratie und die wirtschaftliche
Ordnung einer globalen Welt. Wir haben dies in Deutsch-
land immer wieder erlebt. Freiheitliche Demokratie und
soziale Marktwirtschaft waren zwei Seiten einer Erfolgs-
geschichte. Genauso wird es in einer globalen Welt sein.
Von den Gegnern der Globalisierung haben wir so viel
Kritisches über die Globalisierung gehört. Ich kann nur
sagen: In der letzten Woche hat die Wirtschaftsordnung
eine schwere Bewährungsprobe bestanden. Das gemein-
same besonnene Vorgehen von amerikanischer Noten-
bank und Europäischer Zentralbank hat dazu geführt, dass
diese Wirtschaftsordnung im Rahmen des Möglichen ei-
nigermaßen stabil blieb. Das war ein Riesenerfolg. Wenn
der Euro seine erste Bewährungsprobe bestanden hat,
dann war dies in der letzten Woche. Wir können dankbar
sein, dass wir ihn haben.
Jetzt geht es um eine neue politische Ordnung.
Kerstin Müller hat gesagt: Es wird nichts mehr so sein,
wie es war. Ich halte das für falsch. Die Werte, auf die wir
diese Ordnung gründen, werden die gleichen Werte blei-
ben wie vor dem 11. September. Es sind die Werte der
Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität.
Aber wir werden die Linien neu ziehen müssen. Wir wer-
den sehr klar sagen müssen, wo die Unterschiede liegen.
Sie werden gezogen werden zwischen Demokratie und
Diktatur, zwischen Achtung der Menschenwürde und ih-
rer Missachtung, zwischen Freiheit und Unfreiheit.
Jeder im internationalen Rahmen und jeder bei uns zu
Hause wird gefragt werden, wie er sich zu diesen Linien
stellt. Da wird es keine Halbheiten geben, da wird es keine
Ausflüchte geben. Deshalb wird sich die Staatengemein-
schaft in dieser Krisensituation auch neu ordnen. Es geht
nicht nur um eine neue Architektur der NATO, es geht ge-
nauso um eine neue Architektur von Allianzen, die in den
nächsten Tagen und Wochen ihre Bewährungsproben zu
bestehen haben. Ich halte die Resolution des UN-Sicher-
heitsrates für einen ersten Vorboten dieser neuen Archi-
tektur. Aber sie muss sich bewähren und das wird in der
Praxis erfolgen.
Meine Damen und Herren, national heißt das für uns
auch vieles. Es heißt auf der einen Seite, dass sich jeder in
diesem Lande, in jeder Vereinigung, in jeder Partei, ent-
scheiden muss, wie er sich zu den Grundwerten unserer
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Dr. Angela Merkel
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Ordnung stellt. Ich wünsche mir, dass gerade auch die
Vertretungen der ausländischen Bürgerinnen und Bürger
in unserem Lande diese Trennlinie sehr klar ziehen. Das
würde unserer Gemeinsamkeit im Lande und der Integra-
tion sehr helfen.
Es wird für uns heißen, dass wir nicht werden warten
können, bis jemand auf uns zukommt und uns um etwas
bittet. Vor allen Dingen werden wir nicht die Attitüde ein-
nehmen können, dass der Kelch an uns vielleicht vorüber-
gehe. Es geht in dieser Stunde um die Fragen: Welche
Rolle wird Deutschland in der Welt des 21. Jahrhunderts
spielen? Werden wir in der Lage sein, entsprechend un-
serer ökonomischen Kraft auch eine politische Kraft in
dieser Weltordnung zu sein?
Es ist unser ureigenes Interesse, zu klären, inwieweit
wir in diesen Wochen und Monaten zu dem bereit sind,
was nach Art. 5 des NATO-Vertrages von uns mit großer
Wahrscheinlichkeit verlangt werden wird, nämlich die
Ausübung und Auslebung des Bündnisfalles. Es ist das
erste Mal, dass wir nach dem Ende des Kalten Krieges
unserem ureigenen Interesse als wiedervereinigtes Land
folgend für Freiheitlichkeit einstehen können.
Ich sage dies so betont, weil ich weiß, dass in den
neuen Bundesländern viele Menschen keine Dankbarkeit
für 50 Jahre NATO fühlen, wie das in den alten Bundes-
ländern der Fall ist. Aber auch mit diesen Menschen wer-
den wir darüber sprechen, dass es keine freiheitliche Ord-
nung in der Bundesrepublik Deutschland geben wird,
wenn wir jetzt die Zeichen der Zeit verschlafen. Es ist für
mich keine Petitesse, wenn der Regierende Bürgermeister
von Berlin in dieser Auseinandersetzung von Stellvertre-
terkriegen spricht. Es sind keine Stellvertreterkriege,
sondern es waren Angriffe auf unsere ureigenen Werte;
deshalb dürfen wir uns nicht anders verhalten als andere.
Herr Staatsminister Volmer als solcher scheinen Sie
gesprochen zu haben , wenn Sie hier, abweichend von
dem, was der Bundeskanzler gesagt hat, und sogar ab-
weichend von Ihrem eigenen heute abwesenden Minister,
darum bitten, dass die militärischen Aktionen kurz
seien, dann kann das nicht der Maßstab sein. Der Maßstab
muss die Frage sein, ob wir unsere Werte wie die Freiheit
erfolgreich verteidigen und mit welchen Mitteln dies am
besten gelingt. Deutschland hat dabei nicht darüber zu
entscheiden, ob ihm die Vorgehensweise der USA passt
oder nicht.
Wir dürfen weder Wut noch Angst haben; das dürfen
nicht unsere Ratgeber sein. Sicherlich ist es auch richtig,
dass Besonnenheit gefragt ist. Die Diskussionen der
nächsten Wochen deuten sich aber schon an. Wenn in die-
sen Tagen von Besonnenheit gesprochen wird, dann spüre
ich durch viele Ritzen, dass dahinter ein ganz unter-
schiedliches Verständnis steht. Besonnenheit kann Ent-
schlossenheit, Mut und richtiges Handeln mit kühlem
Kopf bedeuten. Wenn Besonnenheit jedoch Wankel-
mütigkeit bedeutet, dann ist dies nicht unser Verständnis.
Es muss eine Besonnenheit sein, bei der klar wird, dass
wir nicht nur wissen, was wir nicht wollen oder wovor wir
uns fürchten, sondern auch wissen, was wir anstreben und
wozu wir uns entschließen. Das ist das Allerwichtigste.
In den nächsten Wochen wird es um diese Fragen gehen.
Ich sage auch: So wie wir den Schulterschluss mit der
Regierung in dem Kampf gegen die Bedrohung einge-
gangen sind und auch weiterhin eingehen werden, so wer-
den wir die Tatsache, dass dies in der innenpolitischen De-
batte eine Zäsur war, nicht einfach wegschieben können.
Verantwortung einer Opposition heißt immer auch Ver-
antwortung für diejenigen Dinge, die in unserem Lande
geleistet werden. Wenn angeblich, wie Frau Müller gesagt
hat, nichts mehr so ist, wie es war eine Auffassung, die
ich noch nicht einmal teile , dann darf der Bundeshaus-
halt mit Sicherheit nicht das Einzige sein, was so bleibt,
wie es war.
Herr Bundeskanzler, wir sehen uns hier nächste Woche
zu einer anderen Debatte wieder. Diese Debatte wird et-
was mit den Fragen zu tun haben, wie unsere Bundes-
wehr ausgerüstet ist und wie unsere innere Sicherheit
ausgestattet ist. Genau diese Fragen werden dann zu be-
antworten sein. Da wir uns einig sind, dass es sich um
neue Schwerpunkte, um neue Aufgaben handelt, erwarten
wir auch einen neuen Bundeshaushalt.
Herzlichen Dank.