Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001
Dr. Barbara Höll
18024
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 10
2) Anlage 11
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18025
(C)
(D)
(A)
(B)
Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 05.07.2001
DIE GRÜNEN
Dr. Blens, Heribert CDU/CSU 05.07.2001
Bleser, Peter CDU/CSU 05.07.2001
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 05.07.2001
Deß, Albert CDU/CSU 05.07.2001
Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 05.07.2001
Freitag, Dagmar SPD 05.07.2001
Friedrich (Altenburg), SPD 05.07.2001
Peter
Glos, Michael CDU/CSU 05.07.2001
Gloser, Günter SPD 05.07.2001
Götz, Peter CDU/CSU 05.07.2001
Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/ 05.07.2001
DIE GRÜNEN
Günther (Plauen), F.D.P. 05.07.2001
Joachim
Hintze, Peter CDU/CSU 05.07.2001
Kampeter, Steffen CDU/CSU 05.07.2001
Kasparick, Ulrich SPD 05.07.2001
Klappert, Marianne SPD 05.07.2001
Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 05.07.2001
Karl A.
Müller (Jena), Bernward CDU/CSU 05.07.2001
Pieper, Cornelia F.D.P. 05.07.2001
Ronsöhr, CDU/CSU 05.07.2001
Heinrich-Wilhelm
Rossmanith, Kurt J. CDU/CSU 05.07.2001
Schindler, Norbert CDU/CSU 05.07.2001
Schlee, Dietmar CDU/CSU 05.07.2001
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 05.07.2001
Hans Peter
Schultz (Everswinkel), SPD 05.07.2001
Reinhard
Sorge, Wieland SPD 05.07.2001
Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 05.07.2001
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 05.07.2001
Wiese (Hannover), SPD 05.07.2001
Heino
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 05.07.2001
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Volker Kröning (SPD) zur Ab-
stimmung über den Änderungsantrag zur Bera-
tung des Entwurfs eines Gesetzes über verfas-
sungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für
die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens,
für den Finanzausgleich unter den Ländern so-
wie für die Gewährung von Bundesergänzungs-
zuweisungen (Maßstäbegesetz MaßstG) in der
Ausschussfassung (Drucksachen 14/6581)
Die Befristung des Maßstäbegesetzes, das die Verfas-
sung konkretisieren und abstrakte, langfristige Vorausset-
zungen für konkrete, auf Sicht änderbare Folgen im Fi-
nanzausgleichsgesetz regeln soll, steht im Widerspruch
zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. No-
vember 1999, das der Gesetzgeber umzusetzen hatte. Der
Befristungsantrag entbehrt jeder Begründung, die den
Vorgaben des Gerichts standhalten könnte; seine Entste-
hung konterkariert die Sorgfalt, mit der der Sonderaus-
schuss beraten hat.
Damit wird im Streit um den bundesstaatlichen Finanz-
ausgleich kein Rechtsfrieden geschaffen und das Gesetz
seiner Ordnungsfunktion für nächste Reformschritte be-
raubt. Dies ist bedauerlich, da das Maßstäbegesetz im-
merhin ein Schritt in Richtung auf mehr Transparenz und
Rationalität der Finanzausgleichsgesetzgebung ist, die
Bemessungsbasis und die Leistungs- und Anreizorientie-
rung des Ausgleichssystems erhöht, eine konsistente Me-
thode der Ermittlung des Finanzbedarfs von Gemeinden
und Ländern einführt, die innerstaatliche Verbindlichkeit
der Stabilitätskriterien der Europäischen Union garantiert
und die in der Finanzverfassung nicht vorgesehene Auf-
gabe der vollen finanzwirtschaftlichen Integration von
Ost- und Westdeutschland löst.
Vor diesem Hintergrund ist sogar der Verzicht auf kon-
kretisierende Regelungen zur vertikalen Umsatzsteuer-
verteilung, die das Bundesverfassungsgericht verlangt
hat, vertretbar, jedenfalls wenn und soweit in Bundestag
und Bundesrat der politische Wille besteht, den Kern des
Konflikts nämlich das Deckungsquotenverfahren und
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
die föderale Lastenverteilung für die Familienförderung
noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich zu regeln.
Dass eine parallele Entschließung nicht von CDU/CSU
mitgetragen wird, ist ein Fanal. Es muss der Zukunft über-
lassen bleiben, ob der Gesetzgeber seiner Aufgabe als
Erstinterpret der Verfassung gerecht geworden ist. Der
Widerspruch, dass die Länder in Kernfragen finanzstaat-
licher Politik nur zulasten des Bundesgesetz- und
-budgetgebers einig sind, aber nicht die Kraft zu einer Än-
derung der Finanzverfassung aufbringen, ist kein Ruh-
mesblatt für Föderalismus und Parlamentarismus.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme
(CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes über verfassungskonkretisierende
allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des
Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzaus-
gleich unter den Ländern sowie für die Gewäh-
rung von Bundesergänzungszuweisungen (Maß-
stäbegesetz MaßstG) in der Ausschussfassung
(Drucksachen 14/5951 und 14/6533)
Ich stimme dem Gesetz zu, weil es kleine Fortschritte
in Richtung auf Anreiz zur eigenen Strukturverbesserung
enthält.
Allerdings wurden bedauerlicherweise ebenso wich-
tige Ziele nicht erreicht. Die 126 erforderlichen Rechen-
schritte wurden nicht etwa im Hinblick auf Vereinfa-
chung und Transparenz weniger, sondern am Ende steht
ein Mehr an Rechenaufwand und damit ein Weniger an
Transparenz.
Die wichtige Frage der Ermittlung der Deckungsquote
wurde überhaupt nicht vorangebracht. Bedauerlicherweise
wurden dem Ausschuss, entgegen seinem Begehren, nicht
die unterschiedlichen Standpunkte zu den Deckungs-
quoten anhand konkreter Beispiele vorgelegt, sodass sich
der Ausschuss ein Urteil über die Richtigkeit des Stand-
punktes von Bund und Ländern hätte bilden können. Ent-
gegen dem eindeutigen Ergebnis der Anhörung erkennen
die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen den
von den SPD-Ländern 1996 gegen den Willen der CDU er-
zwungenen Sonderlastenausgleich bei der Familienförde-
rung nicht an. Im Hinblick auf die langfristige Vertrauens-
zerstörung, die dadurch im Verhältnis zu den Kommunen
stattgefunden hat, halte ich dies nicht für vertretbar. Wer in
Zukunft, wie wohl die Mehrheit des Deutschen Bundes-
tages, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenfügen
will, benötigt dazu das Vertrauen der Kommunen. Wer
aber die geltende Geschäftsgrundlage in einer so wichti-
gen Finanzbeziehung zerstört, der verhält sich im Blick
auf die künftigen Einigungsnotwendigkeiten fahrlässig.
Zu einer grundsätzlich notwendigen Föderalismusreform
gehört auch eine Gemeindefinanzreform. Die Chance
dazu wurde verpasst.
Stark mit Sorge erfüllt mich die Tatsache, dass die an-
geblichen Erfolge, die alle von diesem Kompromiss
profitieren lassen, durch eine Tilgungsstreckung beim
Fonds Deutsche Einheit erreicht wurden. Der Bund
streckt die Tilgung für den Fonds Deutsche Einheit und
kann so den Ländern ihre Tilgungsrate erlassen. Dadurch
gewinnen die einzelnen Bundesländer zusätzlich Liqui-
dität, die möglicherweise zur Ausweitung der Haushalte
benutzt wird und im Ergebnis eine Ausweitung der Staats-
quote darstellt. Dies ist eine falsche Entwicklung.
Da praktisch alle Länder die Kommunen bei der Til-
gung des Fonds Deutsche Einheit im Rahmen des Soli-
darpaktes I im Verhältnis der Quoten der Steuerein-
nahmen von Ländern und Kommunen beteiligt haben,
erwarte ich, dass die Länder dieses nun zurückgeben und
die Liquidität an die Kommunen abtreten.
Dadurch, dass der Bund den Fonds Deutsche Einheit
allein tilgt, hat er auch das alleinige Bestimmungsrecht.
Ich sehe die Gefahr, dass er in Zukunft sich weitere Li-
quidität und damit politischen Finanzspielraum erschließt
und dass er die Tilgung aussetzt, indem der Fonds Deut-
sche Einheit aus dem Sondervermögen in die allgemeine
Bundesschuld, die ja bekanntlich nicht getilgt wird, über-
führt wird.
Die Beratungsunterlagen für die Endphase hatten mir
nicht rechtzeitig vorgelegen, sodass ich Schwierigkeiten
hatte, an einer qualifizierten Diskussion teilzunehmen.
Die Umdrucke gingen mir erst unmittelbar vor Beginn der
abschließenden Sitzung zu. Damit fühle ich mich als
Oppositionsabgeordneter erheblich benachteiligt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung der großen Anfrage:
Verkehrsicherheitslage 2000 für eine nationale
Verkehrssicherheitskampagne
der Beschlussempfehlungen und Berichte:
Frontpartien von Fahrzeugen europaweit
fußgängersicher gestalten
Nationale Verkehrssicherheitskampagne
Sonderprogramm für junge Autofahrerinnen
und Autofahrer zur Verhinderung von alkohol-
und drogenbedingten Verkehrsunfällen
Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach Unfall-
reparaturen
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im
Fahrzeugerlaubniswesen
(Tagesordnungspunkt 11 a bis e)
Dr. Winfried Wolf (PDS): Die hier zur Debatte ste-
henden Anträge und die Beratung der Großen Anfrage ha-
ben alle die Sicherheit im Straßenverkehr im weiteren
Sinn zum Thema. Real geht es um jährlich rund
7 700 Menschen, die im Straßenverkehr getötet werden,
um mehr als 500 000 Verletzte jährlich, darunter um
rund 100 000 Menschen, die in diesem Straßenverkehr
schwer verletzt werden. Seit der deutschen Einheit
und einschließlich dieses Jahres 2001 wurden knapp
100 000 Menschen in diesem Straßenverkehr getötet und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118026
(C)
(D)
(A)
(B)
rund eine Million Menschen schwer verletzt. Von den
Letztgenannten haben viele körperliche und psychische
Schäden bis zum heutigen Tag.
Die Anträge und die Große Anfrage zielen damit auf ei-
nen Bereich, von dem der Wissenschaftler und ehemalige
Hamburger Wissenschaftssenator Klaus Meyer-Abich
sagte: Die mörderischste zivile Technik, die es je gege-
ben hat, ist das Auto.
Anträge wie derjenige der CDU/CSU, wonach die
Frontpartien von Fahrzeugen europaweit fußgängerge-
recht gestaltet werden sollen, wirken vor dem Hinter-
grund dieser Straßenverkehrsrealität eher makaber, erle-
ben wir doch gerade bei der PKW-Modellentwicklung
den entgegengesetzten Trend: In der zunehmenden Zahl
von Geländewagen, oft mit Rammschutz ausgestattet,
steckt ein menschenverachtender Zug. Einige dieser Wa-
gen so das US-Modell Hummer haben inzwischen
eine Bodenfreiheit, bei der kleine Kinder buchstäblich
komplett unter die Räder geraten können; die Person am
Steuer hat einen derart eingeschränkten Blickwinkel und
-horizont, dass direkt vor dem Auto befindliche oder in
den PKW hineinlaufende junge Menschen kaum wahr-
zunehmen sind. Doch all das hat den Zulassungsstempel
des TÜV.
Nun wird zu Recht darauf verwiesen, dass wir Zeugin-
nen und Zeugen eines rückläufigen Trends der Verkehrs-
opfer seien. Richtig ist: Die Zahl der Straßenverkehrstoten
und -verletzten hat in den letzten fünf Jahren erheblich ab-
genommen. Und das ist natürlich erfreulich. Dabei sollten
allerdings die folgenden Momente beachtet werden:
Erstens. Diese Entwicklung erwies sich nur vor dem
Hintergrund der schrecklichen Steigerungen der Ver-
kehrsopferzahlen nach 1990 als rückläufig. Das war aber
eine außergewöhnliche Verzerrung zum Schlechteren.
Zweitens. Im Jahr 1999 ging die Zahl der Getöteten nur
noch um 0,6 Prozent zurück; die Zahl der Unfälle und die
Zahl der Verletzten stieg jedoch (um 4,8 Prozent bei den
Unfällen mit Personenschaden). Von daher könnte es sein,
dass wir im Augenblick eine Trendwende erleben und
dass der erfreulich rückläufige Prozess ausläuft.
Drittens. Wir sollten weiterhin im Auge behalten, dass
die Zahl der Verkehrsopfer weiterhin nach einer spezifi-
schen Definition ermittelt wird, die teilweise die Realität
beschönigt. Danach gilt ein Getöteter nur dann als
Straßenverkehrsopfer, wenn er binnen eines Monats an
den Unfallfolgen stirbt. Die moderne und ständig verbes-
serte Unfallmedizin hat aber dazu geführt, dass eine
größere Zahl von Menschen, die im Straßenverkehr ver-
unglücken, erst nach dieser Frist stirbt und dann nicht
mehr als Straßenverkehrsopfer registriert wird. Andere
Staaten so die USA haben hier weiter greifende Defi-
nitionen vorgenommen und gelangen daher bereits aus
statistischen Gründen zu einem höheren Blutzoll im
Straßenverkehr.
Ein besonderes Augenmerk muss nach Auffassung der
PDS der länderspezifischen Entwicklung gelten. Leider
geht darauf die Große Anfrage nicht ein. Weiterhin gibt es
ein extremes Gefälle zwischen zwei neuen Bundesländern
und den übrigen Bundesländern: In Mecklenburg-Vor-
pommern und Brandenburg lag 1999 die Zahl der Getöte-
ten je 1 Million Einwohner beim Doppelten der Zahl, die
für andere Flächenstaaten gilt. Da der Flächenstaat Sach-
sen im Vergleich zu Mecklenburg-Vorpommern nur halb
so viele Verkehrstote aufweist, handelt es sich nicht oder
nicht primär um ein Phänomen, das mit einem Ost-West-
Vergleich zu beantworten ist. Auch erscheint es mir frag-
lich, dass es allein die Alleebäume sind, die für den hohen
Blutzoll in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg
verantwortlich sein sollen. Hier sollte in Zusammenarbeit
mit den betroffenen Ländern, die bereits spezielle Pro-
gramme zur Verkehrssicherheit durchführen, angesetzt
werden, um die Verkehrsopferzahlen massiv zu senken.
Und ein Fällen der Alleebäume ist hier aus unserer Sicht
keine Lösung.
Ein Blick über die Grenzen zeigt: Die Zahl der im
Straßenverkehr Verletzten und Getöteten kann noch mas-
siv gesenkt werden. In Schweden und Großbritannien
liegt beispielsweise die Zahl der Straßenverkehrstoten bei
60 Prozent dessen, was wir in unserem Land zu beklagen
haben. Die Unfälle mit Personenschäden machen in Dä-
nemark nur ein Drittel des bundesdeutschen Niveaus aus.
Zweifellos gibt es unterschiedliche Gründe für diese
Differenzen. Sicher ist, dass eine allgemeine Verkehrsbe-
ruhigung und eine allgemeine Verlangsamung des Ge-
schehens im Straßenverkehr in jedem Jahr Hunderten
Menschen das Leben retten und Zehntausenden Men-
schen Verletzungen ersparen würde.
Bei der Beantwortung der Großen Anfrage von
CDU/CSU fällt ein Aspekt auf: Die Bundesregierung
meidet das Thema Tempolimit, insoweit es um eine allge-
meine Geschwindigkeitsbegrenzung geht. Selbst bei der
konkreten Frage zur Europäischen Union und deren Vor-
schlägen in Sachen Verkehrssicherheit taucht das Thema
Tempolimit nicht auf. Tatsächlich schlägt die EU vor, die
Tempolimits zu verallgemeinern und weiter zu senken. In
unserem Land stünde hier als erster Schritt an, ein allge-
meines Tempolimit auf Autobahnen durchzusetzen. Dabei
geht es nicht allein um die Autobahnen. Ein solcher
Schritt wäre auch ein Signal für den gesamten Straßen-
verkehr und würde verkehrsberuhigend, also Menschen-
leben schonend, wirken.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
6. Forschungsrahmenprogramm 20022006
(6. FRP) Europäische Forschung stärken
6. Forschungsrahmenprogramm 20022006
(6. FRP) Transparenter und unbürokratischer
gestalten KMU besser einbeziehen Europä-
ische Energieforschung weiter ausbauen
(Tagesordnungspunkt 12, Zusatztagesordnungs-
punkt 10)
Bodo Seidenthal (SPD): Philippe Busquin, For-
schungskommissar der Europäischen Union hat Recht,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18027
(C)
(D)
(A)
(B)
wenn er fordert, dass die Forschungs- und Wissenschafts-
politik in allen EU-Staaten zur politischen Priorität wird.
Er stellt weiter fest: In Deutschland und Großbritannien
ist dies in den letzten beiden Jahren deutlich zu beobach-
ten. Recht hat er, der Forschungskommissar, denn die Bil-
dungs- und Forschungspolitik hat unter Bundeskanzler
Gerhard Schröder und der zuständigen Ministerin
Edelgard Bulmahn wieder den Stellenwert erhalten, der
ihr zusteht.
Damit die Bilanz Europas zu den Vereinigten Staaten
und Japan verbessert wird, bedarf es weiterer Antrengun-
gen der EU-Mitgliedstaaten. Das 6. Forschungsrahmen-
programm sieht deshalb für den Zeitraum 2002 bis 2006
17,5 Milliarden Euro vor. Festzuhalten ist, dass der For-
schungsministerrat am 26. Juni 2001 ein Erfolg für die
Mitgliedstaaten war. Die SPD-Bundestagsfraktion unter-
stützt ausdrücklich die von der Bundesregierung vorge-
nommene Schwerpunktsetzung; die von Staatssekretär
Catenhusen vorgetragenen sieben Punkte sind ein Schritt
in die richtige Richtung.
Wegen der Kürze der Zeit möchte ich zu folgendem
Stellung nehmen: Mobilität und Verkehr; Fusionsfor-
schung; Zusammenführung nuklearer/nichtnuklearer Teil;
Raumfahrt und sozioökonomische Begleitforschung.
Insbesondere den Fragen von Mobilität und Verkehr
wird eine Schlüsselrolle für die zukünftige Entwicklung
der EU zukommen. Vorrangiger Handlungsbedarf für die
Integration des (erweiterten) Europa hat deshalb die
Verknüpfung der Verkehrsträger und nationalen Systeme
zu einem integrierten nachhaltigen Verkehrssystem höchs-
ter Effizienz. Dabei misst die SPD-Fraktion der Nach-
haltigkeit des Verkehrs eine große Bedeutung zu. Deshalb
setzt sie sich ein für: Forschung und Entwicklung zur
Minderung von Energieverbrauch und Schadstoffausstoß
einschließlich der Nutzung alternativer Energien im Sinne
der Erfüllung des Kioto-Protokolls; Reduktion von Lärm
und Erschütterungen; Sicherheit im Verkehr; neue Mate-
rialien, Leichtbau und Ultraleichtbau einschließlich
Strategien für umweltgerechte Entsorgungskonzepte bei
allen Verkehrsmitteln; Nanotechnologien und Mecha-
tronik und Verkehrsnachfrage und Verkehrsbeeinflussung
und sozioökonomische Fragestellungen.
Zur Fusionsforschung möchte ich die Ausführungen
des Staatssekretärs noch einmal bestätigen: Die Budget-
absenkung im jetzigen Kommissionsvorschlag und die
damit verbundene Konzentration auf ITER darf nicht
dazu führen, dass die Finanzierung Erfolg versprechender
Forschungsarbeiten wie des Wendelstein 7-X reduziert
wird. Wir wissen auch, dass der Verhandlungsprozess
noch nicht abgeschlossen ist. Ich bin davon überzeugt,
dass die Kontinuität aller Erfolg versprechender Optionen
der Fusionsforschung gewährleistet bleiben muss.
Der Vorschlag der Kommission zur Verwirklichung
des Europäischen Forschungsraums ist zweigeteilt, weil
nach dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atom-
gemeinschaft nur der Rat über das Forschungsprogramm
zu befinden hat und keine Beteiligung des Europäischen
Parlaments vorgesehen ist, während über den nichtnu-
klearen Teil des Rahmenprogramms sowohl das Europä-
ische Parlament als auch der Rat beschließen müssen.
Nach Art. 7 EAGV gilt Einstimmigkeit, während nach
EG-Vertrag das Mehrheitsprinzip und Mitentscheidungs-
verfahren auf den nichtnuklearen Teil des Programms an-
gewendet werden. Wir fordern die Bundesregierung auf,
bei zukünftigen Verhandlungen darauf hinzuwirken, dass
dieses zusammengeführt wird.
Wir freuen uns, dass im Bereich Raumfahrt die Vernet-
zung mit der ESA weitergeführt und die Umsetzung der
beschlossenen gemeinsamen europäischen Raumfahrt-
strategie auf dem nächsten Ministerrat thematisiert wird.
Auch wir halten, wie die Ministerin, GMES-Initiative für
Global Monitoring for Enviroment and Security für ein
zentrales Element der gemeinsamen europäischen Welt-
raumstrategie. Eine zügige Umsetzung und Fortentwick-
lung ist von großer Bedeutung.
Angesichts der rasanten Fortschritte auf den Gebieten
der Biotechnologie und der Informations- und Kommuni-
kationstechnologien muss der sozioökonomischen Be-
gleitforschung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Für Forschungen im Bereich Ethik und für den öffentli-
chen Diskurs zu den ethischen Fragen vor allem der Bio-
medizin sollten ausreichend Mittel in das Programm ein-
gestellt werden.
Für uns ist die Verwirklichung des Europäischen For-
schungsraumes notwendiger und dringlicher denn je. Er
ist die zentrale Komponente beim unionsweiten Aufbau
der Wissensgesellschaft im Hinblick auf die Förderung
von Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti-
gung, eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums und des
sozialen Zusammenhalts. Dabei geht es nicht allein da-
rum, die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Ko-
ordinierung der Forschung zu fördern, sondern auch den
Austausch und die Zusammenarbeit zwischen sämtlichen
Beteiligten in Politik, Verwaltung, Wirtschaft sowie den
Verbrauchern voranzutreiben. Besonders erfreulich ist es,
dass sich in den letzten Jahren ein breiter Konsens auf den
europäischen Räten herausgebildet hat.
Mit ihrem Antrag möchte die SPD-Bundestagsfraktion
die bislang erfolgreichen Verhandlungen der Bundesre-
gierung unterstützen und unseren Beitrag für einen erfolg-
reichen Abschluss des 6. Forschungsrahmenprogramms
leisten.
Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Vom
Grundsatz ist der 6. Europäische Forschungsrahmenplan
zu begrüßen, stellt er doch eine thematische Konzentra-
tion auf die prioritären Bereiche der Forschung dar. Den-
noch besteht erheblicher Klärungsbedarf hinsichtlich der
unpräzisen und teilweise schwammig formulierten
Absichtserklärungen in diesem 6. Rahmenplan. Dazu ei-
nige Beispiele:
Erstens die Überschneidung der EU-Forschungsför-
derung mit den Strukturfonds. Wie soll zweitens die ge-
meinsame Forschungsstelle aussehen? Drittens das Ver-
hältnis der Beitrittsländer zum europäischen Mehrwert.
Viertens die Frage, wie eine höhere Marktrelevanz er-
reicht werden kann und fünftens, wie der Übergang der
Verwaltungspraxis vom 5. zum 6. Rahmenplan gestaltet
werden soll, also kein abrupter Umstieg von bisherigen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118028
(C)
(D)
(A)
(B)
Förderinstrumenten zu völlig neuen Instrumenten; um
nun einige Beispiele zu nennen.
Die Konzentration im vorliegenden Plan auf wenige
Kernbereiche der Forschung ist ausdrücklich zu be-
grüßen. Das Ziel muss aber sein, nationale Politik besser
als bisher mit der Europäischen Union zu koordinieren.
Beim vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion kommt
einem allerdings der Verdacht, dass es sich um eine
Wunschliste handelt: schnell formuliert und die Frage der
Durchsetzbarkeit wird später behandelt.
Was fehlt, ist vor allem, die schon vorhandenen Über-
lappungen zwischen nationalen und EU-Programmen zu
beseitigen und zusätzliche deutsche Wünsche strategisch
geschickt einzuarbeiten. Eines darf dabei nicht außer Acht
gelassen werden und die SPD scheint dieses hier wieder
zu vergessen : Wir sind nur einer von 16 Mitgliedstaaten.
Ich fordere daher die Bundesregierung auf, den Dis-
kussionsverlauf sowohl im Ministerrat, in der Kommis-
sion als auch im Europäischen Parlament eng mit den Be-
ratungen hier im Deutschen Bundestag zu verzahnen.
Drei grundsätzliche Fragen bedürfen einer Antwort:
Erstens: Will sich Frau Bulmahn wie Frau Künast ver-
halten und starre deutsche Positionen im Ministerrat ver-
treten? Deutsche Alleingänge haben sich bisher nie aus-
gezahlt, zum Beispiel im Bereich der Kernenergie. Die
Bundesregierung schreibt dazu: Im so genannten Grün-
buch kommt die Kommission in diesem Kontext zu dem
Schluss, dass Kernenergie zur Stromerzeugung unerläss-
lich sei. Diese Auffassung teilt die Bundesregierung
nicht! Wie wirkt sich diese starre Haltung der Regierung
auf das europäische Kernfusionsprogramm ITER aus
und wie will man zum Beispiel künftig Freunde für er-
neuerbare Energien finden?
Zweitens: Von der Bundesregierung wird eine inhalts-
arme Darstellung des 6. Forschungsrahmenprogramms
beklagt. Das reicht nicht aus. Wichtig ist, wie die weitere
Vorgehensweise aussieht? Haben wir entsprechende Be-
amte an den richtigen Stellen in der Kommission, die ein-
flussreich sind, die formulieren und auch rückkoppeln,
um die deutschen Positionen dort nachhaltig zu vertreten?
Drittens: Was völlig in der Diskussion fehlt, ist der
Hilfeschrei des Kommissars Philippe Busquin. Demnach
fehlen der EU 500 000 Forscher! Welche Lösungsansätze
haben wir für dieses Problem, können oder wollen wir uns
an die Spitze der Bewegung setzen? Die bisherigen Vor-
schläge wie zum Beispiel Rückkehrprämien für Wissen-
schaftler aus den USA stellen kein adäquates Mittel dar.
Die Green Card ist auch keine Lösung für dieses riesige
Problem. Mobilitätsprämien treffen ebenso wenig den
Kern der Sache, wie die im SPD-Antrag vorgesehene
Frauenquote ganz sicherlich nicht dazu beiträgt, das Pro-
blem auch nur ansatzweise zu lösen.
Viele weitere Beispiele ließen sich anführen und ma-
chen deutlich, dass der Antrag der SPD-Fraktion ein voll-
kommen überhasteter Schnellschuss ist.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
begrüßen den Ansatz der Europäischen Kommission, ei-
nen europäischen Forschungsraum zu schaffen. Daher ist
es nur folgerichtig, dass das 6. Forschungsrahmenpro-
gramm hierzu dienen soll. Obwohl wir die von Busquin
vorgeschlagenen drei neuen Instrumente für richtig hal-
ten, wäre es verkehrt, die bewährten Instrumente des
5. Forschungsrahmenprogramms einfach wegfallen zu
lassen. Wir unterstützen daher den Vorschlag der Ministe-
rin Edelgard Bulmahn, zwei Drittel der Mittel gemäß den
alten und ein Drittel gemäß den neuen Instrumenten zu
verteilen.
Der Vorschlag der EU-Kommission enthält eine
Reihe weiterer Defizite: Themenübergreifend ersetzt
der Entwurf den problemorientierten Ansatz des 5. For-
schungsrahmenprogramms und kehrt zu technokrati-
schen Ansätzen früherer Programme zurück. Sozial- und
geisteswissenschaftliche Forschungsansätze finden nur
am Rande Berücksichtigung.
Auch inhaltlich gibt es einiges zu kritisieren: Vor allem
die Energieforschungspolitik der Europäischen Kommis-
sion steht im Widerspruch zu den Zielsetzungen der
Mehrzahl ihrer Mitgliedstaaten. Die traditionell atom-
freundliche Kommission setzt einen starken Akzent auf
die Renaissance der Kernenergie. So sollen neue Atom-
reaktoren erforscht und die Kernfusion vorangetrieben
werden. Dies kann von uns nicht hingenommen werden!
In den letzten Jahrzehnten wurden etwa zehnmal mehr
Mittel für die Nuklearforschung ausgegeben als für nicht
nukleare Energien. Dennoch ist die Atomenergie global
nicht über einen Anteil von 5 Prozent an der Primärener-
gie hinausgekommen. Die Atomforschung ist damit ein
Forschungsflop.
Diesen Flop will die Kommission bei der Kernfusion
wiederholen. Bei der Fusion wird, wie seit Jahrzehnten,
frühestens in 50 Jahren mit einer Nutzung gerechnet. Der
Primärenergieanteil der Kernfusion soll in 100 Jahren
etwa bei 5 Prozent liegen. Diese Geldverschwendung darf
nicht fortgesetzt werden. Dem Steuerzahler sind weder
Forschungsmittel für neue Atomreaktoren noch für den
Kernforschungsreaktor ITER zuzumuten. Die Sonderbe-
handlung der Atomenergie in Euratom muss beendet
werden. An die Stelle von Euratom muss ein neuer Ener-
gievertrag für erneuerbare Energien, nämlich Eurenew,
treten.
Doch leider scheint die Kommission ihre eigenen Ziele
im Bereich erneuerbarer Energien nicht zu kennen, die
vor allem im Weißbuch niedergeschrieben sind. lm Kom-
missionsentwurf sind offensichtlich weniger Mittel für er-
neuerbare Energien und Energieeffizienztechnologien
vorgesehen, als dies in früheren Programmen der Fall war.
Schlimmer noch: Es wird sogar versucht, gleich mehrere
Technologien der erneuerbaren Energien, wie zum Bei-
spiel die Windenergie und die solarthermische Stromer-
zeugung sowie den gesamten Bereich des Energiesparens,
aus der Förderung zu streichen.
Einem Missverständniss ist offensichtlich die F.D.P.
unterlegen, die nicht nur weiterhin Steuermittel für die
Kernforschung verschwenden will, sondern auch die fos-
silen Energieträger erforscht sehen will. Die F.D.P. über-
sieht, dass dies mit dem Forschungsschwerpunkt der
Brennstoffzelle geschieht. Die Brennstoffzelle hat we-
sentlich bessere Potenziale und einen wesentlich höheren
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18029
(C)
(D)
(A)
(B)
Forschungsbedarf als die Kraftwerkstechnologie. Die
F.D.P. begrüßt in ihrem Antrag die Konzentration auf
wenige prioritäre Bereiche. Warum sie in der konventio-
nellen Kraftwerkstechnologie eine Priorität für staatliche
Forschungsförderung sieht, ist nicht nachvollziehbar.
Aber auch außerhalb der Energieforschung weist der
Kommissionsvorschlag Defizite auf: Bei der Gesund-
heitsforschung wird zu einseitig auf die Gentechnik ge-
setzt. Alle übrigen Forschungsansätze in der Gesundheits-
forschung sollen nur bei wenigen Krankheitsbildern
Berücksichtigung finden. Für die Agrarwende und die Le-
bensmittelsicherheit werden nur unzureichend For-
schungsmittel zur Verfügung gestellt.
Es besteht somit noch in einer Reihe von Punkten Än-
derungsbedarf beim 6. Forschungsrahmenprogramm. Ge-
meinsam mit der SPD fordern wir die Bundesregierung
daher in unserem Antrag auf, im Sinne der rot-grünen For-
schungspolitik dafür einzutreten, dass die Mittel für
Atomforschung gesenkt werden und die Forschung für
neue Reaktorlinien eingestellt wird, dass deutlich mehr
Mittel für erneuerbare Energien und Energieeffizienz als
für die Atomforschung ausgegeben werden und hierzu die
Mittel für den Bereich Nachhaltige Entwicklung aufge-
stockt werden, dass neben den bereits laut Entwurf för-
derfähigen Brennstoffzellen, der Photovoltaik und der
Biomasse auch solarthermische Kraftwerke, geothermi-
sche Kraftwerke, Windenergie, Kleinwasserkraft und
Meeresenergie gefördert werden, dass Universitäten und
kleinere Forschungsinstitute sowie Unternehmen in ange-
messener Form partizipieren können, dass der Ansatz der
Gesundheitsforschung über die Genomforschung hinaus-
geht und unter anderem um die Gesundheitsvorsorgefor-
schung verbreitert wird, dass die Mittel für Lebensmittel-
sicherheit und ökologischen Anbau zu erhöhen sind, dass
die Forschung im Bereich Nachwachsende Rohstoffe
aufgenommen wird, dass die sozioökonomische For-
schung gestärkt und die Forschung auf den Gebieten der
Geistes- und Sozialwissenschaften stärker berücksichtigt
wird und dass der problemorientierte Ansatz des 5. For-
schungsrahmenprogramms beibehalten wird.
Ulrike Flach (F.D.P.): Europa wächst zusammen das
gilt immer mehr auch im Bereich der Forschung. Es entsteht
ein europäischer Forschungsraum mit grenzüberschreiten-
der Kooperation, in dem mit Hochgeschwindigkeit an den
aktuellen Fragen der Zeit gearbeitet werden kann.
Das sechste Europäische Forschungsrahmenpro-
gramm für die Zeit von 2002 bis 2006 ist mit einem Vo-
lumen von 17,5 Milliarden Euro gut ausgestattet. Die
Konzentration auf wenige prioritäre Felder vermeidet die
Fehler des Vorgängerprogramms.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist auf den ersten
drei Seiten eine reine Nacherzählung des Programms.
Den nachfolgenden Kritikpunkten können wir im We-
sentlichen zustimmen und haben selbst in unserem An-
trag folgende Wünsche an die Bundesregierung formu-
liert: stärkere Transparenz und Entbürokratisierung des
Programms, verbesserter Zugang von KMU zu den För-
derinstrumenten, eine klare Definition der Rolle und der
Organisation der gemeinsamen Forschungsstelle die
Kritik findet sich auch bei Ihnen wieder, aber ich be-
zweifle, dass eine Verselbständigung viel zur Problemlö-
sung beiträgt , Vereinfachung und Präzisierung der För-
derinstrumente was sollen die Kleinunternehmen und
kleinen Forschungsinstitute mit der Vorgabe anfangen,
dass eine kritische Masse von Institutionen zusam-
menkommen muss , Definition des Begriffes risikorei-
che Forschung und Beibehaltung auch der alten Förder-
instrumente. Wettbewerb schaffen wir auch durch
unterschiedliche Förderungen.
Dem Koalitionsantrag können wir leider nicht zustim-
men und zwar aus folgenden Gründen: Sie wollen die
Mittel für das Euratom-Programm kürzen und die For-
schung für neue Reaktorlinien einstellen. Bei der Fusi-
onsforschung wollen Sie Szenarien mit und ohne ITER
prüfen lassen. Sie bereiten sich auf einen Ausstieg vor und
Herr Fell würde dies sicher mit großer Freude sehen. Wir
halten an der Kernfusion als einem wichtigen Element im
Energiemix der Zukunft fest. Wir stehen zur europäischen
Bewerbung um ITER und zu den Verpflichtungen bei
Wendelstein 7-X.
Uns fehlt in Ihrem Antrag auch eine Forderung nach
Klärung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Nationalstaa-
ten. In der Stellungnahme der Bundesregierung, die wir
im Ausschuss beraten haben, steht dies explizit drin und
wir unterstützen die Bundesregierung hierbei, denn die
nationale Ebene scheint mir zu wenig in die Förderwege
eingebunden zu sein.
Trotz aller Kritik ist das sechste Forschungsrahmen-
programm auch ein Beispiel für die lernende Region
Europa, denn die zum Teil gravierenden Fehler des fünf-
ten Programmes wurden größtenteils vermieden. Ich
hoffe, dass hier in der Sommerpause noch Gespräche ge-
führt werden können, um offene Fragen zu klären und die
deutschen Interessen im europäischen Forschungsraum
besser zu vertreten.
Maritta Böttcher (PDS): Die Koalitionsfraktionen
haben in großer Eile kurz vor der Sommerpause einen An-
trag zum 6. Forschungsrahmenprogramm der EU einge-
bracht. Über diesen Antrag kann man nur staunen. Nicht
nur aufgrund der großen Dringlichkeit der Stellungnahme
zu einem Dokument, das seit Anfang des Jahres vorliegt.
Auch die Inhalte des Antrages sind bemerkenswert. Der
Antrag stellt eine umfassende Kritik des bisherigen Ent-
wurfs für ein Forschungsrahmenprogramm dar, die in
weiten Teilen auch von der PDS geteilt wird.
Wir sind der Auffassung: Das vorliegende 6. Rahmen-
programm stellt einen Rückschritt gegenüber den im
5. Rahmenprogramm erreichten Fortschritte dar. Das
neue Rahmenprogramm ist wieder fast ausschließlich
technologieorientiert und vernachlässigt sozialökonomi-
sche Forschungsansätze sowie den Gesichtspunkt der
Nachhaltigkeit. Problemorientierte und interdisziplinäre
Ansätze werden zugunsten technologieorientierter Res-
sortforschung aufgegeben. Die neu vorgesehenen for-
schungspolitischen Instrumente benachteiligen struk-
turell sowohl kleine und mittlere Unternehmen,
Hochschulen und außeruniversitäre öffentliche For-
schungseinrichtungen gegenüber der Industrie als auch
kleinere Mitgliedstaaten gegenüber größeren Mitglied-
staaten der Europäischen Union. Mit der Forschung im
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118030
(C)
(D)
(A)
(B)
Rahmen von EURATOM werden weiterhin beträchtliche
öffentliche Mittel im Umfang von über 1,2 Milliarden
Euro für den erklärten Zweck der Förderung der Atom-
energie ausgegeben. Hoffnungsvolle forschungspoliti-
sche Ansätze des 5. Forschungsrahmenprogramms wer-
den aufgegeben ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu
dem in den meisten Mitgliedstaaten der Union sozialisti-
sche und sozialdemokratische Parteien regieren.
Diese Kritik ist leider weder glaubwürdig, noch ver-
sprechen wir uns davon eine große Wirkung, nicht nur
weil sie auch inhaltlich in Ansätzen stecken bleibt und in
mancherlei Hinsicht gegenüber der kritischen Stellung-
nahme des Bundesrats zum Forschungsrahmenprogramm
zurückbleibt, sondern auch, weil SPD und Bündnis 90/
Die Grünen mit ihrer parlamentarischen Initiative offen-
sichtlich davon ablenken wollen, dass sich die von beiden
Parteien getragene Bundesregierung auf europäischer
Ebene in der Europäischen Kommission und im For-
schungsministerrat nicht von entsprechenden inhaltli-
chen Vorstellungen hat leiten lassen. Den ahnungslosen
Bürgerinnen und Bürgern soll suggeriert werden, dass die
Koalition mit der Formulierung von Inhalt, Schwerpunk-
ten und neuer Struktur des 6. Forschungsrahmenpro-
gramms nichts zu tun hatte und nun gewissermaßen erst-
mals mit den Ergebnissen aus Brüssel konfrontiert wird.
Das ist ein leicht durchschaubares Täuschungs-
manöver, dem wir nicht auf den Leim gehen werden. Wer
die politischen Prozesse im Vorfeld der Vorlage des
6. Forschungsrahmenprogramms einigermaßen beobach-
tet hat, dem ist nicht entgangen, dass die deutschen Ver-
treterinnen und Vertreter in der Europäischen Kommis-
sion sehr wohl und mit Nachdruck ihre Vorstellungen zur
Ausgestaltung eines europäischen Forschungsraums ein-
gebracht haben: Sie haben beispielsweise für eine euro-
päische Raumfahrtstrategie Druck gemacht oder darauf
gedrängt, die europäische Forschung zu IuK-Technolo-
gien neu zu strukturieren. Im Ergebnis ist festzustellen,
dass sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Formu-
lierung des 6. Forschungsrahmenprogramms mit ihren In-
teressen recht gut durchgesetzt hat. Denn die technologi-
schen Hauptrichtungen Postgenomics, IuK-Forschung,
Luft- und Weltraumforschung und Nanotechnologien wa-
ren gewiss nicht Hauptgegenstand des Interesses der klei-
neren Mitgliedstaaten.
In diesem Lichte stellt der Antrag von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen nichts anderes als eine offene Kritik
der Koalitionsfraktionen an der europäischen For-
schungspolitik der Bundesregierung dar. Dagegen können
wir nichts haben; dies unterstützen wir im Gegenteil aus-
drücklich auch wenn wir uns eine deutlichere Sprache
gewünscht hätten und diese in den Ausschussberatungen
einfordern werden. Vermutlich handelt es sich bei dem
Antrag der Koalitionsfraktionen auch um ein kleines som-
merliches Wahlkampfgeschenk an die Grünen, die dieses
zur Linderung von infolge politischer Verrenkungen erlit-
tener Muskelschmerzen erhalten. Die Grünen möchten
ihrem Klientel endlich Erfolge in der Wissenschaftspoli-
tik präsentieren können. Mit dem Koalitionsantrag, der
die Handschrift des jüngsten Beschlusses des Länderrats
von Bündnis 90/Die Grünen zum Forschungsrahmenpro-
gramm trägt, haben sie einen Erfolg schwarz auf weiß do-
kumentiert. Und ab damit zu den Akten; denn die zum Teil
richtigen Vorschläge des Koalitionsantrages werden ver-
mutlich aufgrund der bisher noch unklaren finanziellen
Deckung einzelner Schwerpunkte des Forschungsrah-
menprogramms zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr unter-
zubringen sein.
Gleichwohl unterstützen wir es, dass sich der Deutsche
Bundestag mit möglichst klaren Worten für eine sozial-
ökologische Umorientierung der europäischen For-
schungspolitik ausspricht und die Bundesregierung dazu
anhält, den von ihr in den Dreck gefahrenen Karren na-
mens Forschungsrahmenprogramm wieder in fortschritt-
liche Bahnen zu lenken.
Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei
der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Die
Bedeutung der Forschung für die Entwicklung unserer
Gesellschaft und Wirtschaft ist im nationalen Rahmen an-
erkannt. Die Bundesregierung hat entsprechend in den
letzten Jahren ihre Aufwendungen für Forschung sub-
stanziell erhöht. Umso mehr ist zu begrüßen, dass auch
vom Europäischen Rat in Lissabon im Frühjahr 2000 ein
Impuls für die Stärkung der Europäischen Forschung aus-
gegangen ist.
In diesem Sinne ist der Diskussionsprozess zu be-
grüßen, der mit verschiedenen Mitteilungen der Kommis-
sion im letzten Jahr über das Leitbild eines Europäischen
Forschungsraumes geführt worden ist. Dabei ist es be-
sonders erfreulich, dass sich ein breiter Konsens innerhalb
der Europäischen Union für eine starke Forschung auch
auf der europäischen Ebene gezeigt hat.
Wir haben ein ausdrückliches Interesse an einer starken
Forschung in Europa. Denn nur so kann die europäische
Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt gesichert
werden; können globale Probleme wie Aids, Malaria,
Tuberkulose die Geißeln der Menschheit und auch
globale Umweltprobleme wie die Erwärmung der Erde
und die Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen
in Umsetzung des Kioto-Protokolls in einer weltweiten
Zusammenarbeit angegangen werden; erreichen wir eine
gemeinsame europäische Forschungsidentität, die wir
brauchen, um weltweit offen und attraktiv für die besten
Forscher zu sein, damit sie zu uns kommen und hier ar-
beiten.
Wir stehen jetzt am Beginn der Halbzeit des 5. EU-
Rahmenprogramms. Mit einem Gesamtbudget von knapp
15 Milliarden Euro und einer Fördersumme von circa
1 Milliarde DM, die pro Jahr von deutschen Antragstel-
lern eingeworben werden, ist dieses laufende Programm
schon quantitativ betrachtet ein gewichtiger Faktor in der
Forschungsförderung. Aber wichtiger als eine rein quan-
titative Betrachtung ist, dass das Rahmenprogramm in-
zwischen ein fester Bestandteil der Forschungsförderung
in Deutschland und in anderen Ländern geworden ist,
seine Bedeutung deutlich über die bloße Vergabe von
Fördermitteln hinausgeht, in dem es insbesondere der
zentrale Kristallisationspunkt zu einer Vernetzung der
europäischen Forschung und zur Schaffung grenzüber-
schreitender Zusammenarbeit geworden ist, die konkre-
ten Förderaktivitäten in den spezifischen Programmen
insgesamt besser sind als ihr Ruf und insgesamt als
eine europäische Erfolgsgeschichte bezeichnet werden
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18031
(C)
(D)
(A)
(B)
können. Wir wissen natürlich, dass weitere Verbesserun-
gen nötig sind, auch im Hinblick auf die zum Teil ab-
schreckend geringe Erfolgsquote für die Antragsteller.
Wir sind jetzt mitten in der Vorbereitung des nächsten,
des 6. Rahmenprogramms 2002 bis 2006 und führen eine
intensive Diskussion, national und auch auf europäischer
Ebene. Wir haben einen breiten Konsultationsprozess mit
allen Beteiligten aus Wissenschaft, Wirtschaft und den
Ländern begonnen. Auch der Forschungsministerrat am
26. Juni hat sich schwerpunktmäßig mit den vorliegenden
Vorschlägen der Kommission für das 6. Rahmenpro-
gramm beschäftigt.
Wir wollen mit dem sechsten Rahmenprogramm vor
allem an den bisherigen Erfolgen anknüpfen und sicher-
stellen, dass dieses neue Programm einen Beitrag zur
schrittweisen Umsetzung des Leitbildes des Europäischen
Forschungsraumes leistet. Unsere Haltung in den laufen-
den Verhandlungen konkretisiert sich in folgenden sieben
Punkten.
Erstens. Wir stehen zu dem politischen Anspruch, die
EU-Forschungsförderung in ihrer Wirksamkeit und in ih-
rer strukturbildenden Wirkung in Europa zu erhöhen. Es
kommt darauf an, die europäische Position im Wettbe-
werb auf den Weltmärkten zu verbessern, gerade auch auf
innovativen Zukunftsmärkten in der Informations- und
Nanotechnologie sowie der Genomik einschließlich der
Pflanzenwissenschaften.
Zweitens. Die thematischen Prioritäten sind im Großen
und Ganzen richtig gewählt. Allerdings sind wir wie auch
andere Mitgliedstaaten der Auffassung, dass der Bereich
Nachhaltigkeit, insbesondere die erneuerbaren Energien,
die Umsetzung des Prinzips des nachhaltigen Wirtschaf-
tens und die Verkehrsforschung noch stärkere Berück-
sichtigung finden müssen. Es geht in den Verhandlungen
auch um das Euratom-Programm. Die Bundesregierung
wendet sich gegen die Forschung an neuen Reaktorlinien.
Bei der Fusionsforschung ist für uns klar, dass das Fusi-
onsexperiment Wendelstein 7 mit EU-Beiträgen in unver-
änderter Höhe fertig gestellt werden muss.
Drittens. Neuen Instrumenten der Förderung stehen
wir aufgeschlossen gegenüber. Sie sollten nach Erpro-
bung desto stärker eingesetzt werden, je mehr auch die
Forscher sie kennen gelernt und akzeptiert haben. Wir
müssen aber sicherstellen, dass ein nahtloser Übergang
vom 5. zum 6. Rahmenprogramm erfolgt. Hier sehen wir
jedoch in Übereinstimmung mit der Bewertung aus der
Wissenschaft, dem BDI, dem Bundesrat und auch unseren
europäischen Partnern noch erheblich Klärungsbedarf.
Bei der Wahl der Förderinstrumente sollte zudem aus-
schlaggebend sein, welche spezifischen thematischen
Rahmenbedingungen in den jeweiligen prioritären Berei-
chen vorliegen. Eine Vorab-Festlegung auf eine aus-
schließliche Nutzung von Instrumenten wäre aus unserer
Sicht kontraproduktiv. Dieser Auffassung hat sich die
Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten angeschlossen.
Viertens. Die Stärkung der Mobilität unserer Forscher
ist eine wesentliche Zielsetzung. Wir haben vorgeschla-
gen, innerhalb der Mobilitätsaktivitäten eine besondere
Unterstützung für herausragende Nachwuchswissen-
schaftler vorzusehen, damit sie frühzeitig eigene europä-
ische Arbeitsgruppen aufbauen können. Mit einem sol-
chen Instrumentarium, dem Emmy-Noether-Programm,
haben wir national bereits gute Erfahrungen gemacht.
Fünftens. Die Beteiligung der KMU ist uns ein wichti-
ges Anliegen. 15 Prozent der Finanzmittel sollen an KMU
vergeben werden und dies unterstützen wir. Damit dies er-
reicht werden kann, müssen die neuen Instrumente der
Förderung auch so ausgestaltet werden, dass KMU eine
faire Chance zur Beteiligung haben. Darüber hinaus hal-
ten wir die themenunabhängigen Maßnahmen zur Kol-
lektiv- und Kooperationsforschung bei KMU für eine
wichtige Aufgabe. Und hier ist es besonders erfreulich,
dass die Erfahrungen, die wir national mit der KMU-Ge-
meinschaftsforschung gemacht haben, nun auch auf euro-
päischer Ebene übernommen werden.
Sechstens. Die Beitrittsländer sind derzeit bereits alle
dem 5. Rahmenprogramm assoziiert und nehmen auf glei-
cher Basis wie die EU-Mitgliedstaaten an diesen Pro-
grammen teil. Damit ist die Forschung Schrittmacher für
eine Integration der Beitrittsländer in die Europäische
Union. Wir wollen deshalb, dass die Beitrittsländer auch
ihre Erfahrungen aus dem 5. Rahmenprogramm und ihre
Vorstellung über die Gestaltung des 6. Rahmenprogramms
in die laufenden Vorbereitungen einbringen können.
Siebtens. Wir wollen, dass integriert in die jeweiligen
thematischen Prioritäten Aktivitäten unterstützt werden,
die über die Entwicklung gemeinsamer ethischer Stan-
dards zu einem Europäischen Werteraum führen. So-
zial-, Geistes- und Humanwissenschaften einschließlich
der Technikfolgenabschätzung sind dabei eine wesentli-
che Aufgabe.
Das von der Kommission vorgeschlagene Gesamtbud-
get von 17,5 Milliarden Euro ist ein plausibler Ausgangs-
punkt für die Diskussionen. Einvernehmen besteht da-
rüber, dass die Verteilung innerhalb des Gesamtbudgets
auf die einzelnen prioritären Bereiche noch eingehender
Beratung bedarf. Die Aussprache unter den Mitgliedstaa-
ten hat gezeigt, dass bereits ein großes Maß an Überein-
stimmung in grundsätzlichen Fragen zwischen ihnen be-
steht. Ich sehe auch viele Gemeinsamkeiten mit den
Überlegungen, die im Europäischen Parlament diskutiert
werden. Wir werden dies aufmerksam beobachten und die
für Herbst erwartete Stellungnahme des Parlaments in die
Vorbereitungen für unseren Gemeinsamen Standpunkt
einbeziehen. Ich sehe eine gute Grundlage dafür, ihn im
Rat im Herbst dieses Jahres beschließen und die Ent-
scheidung über das 6. Rahmenprogramm zügig im kom-
menden Jahr herbeizuführen zu können.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Feste Fehmarnbelt-
Querung Klarheit und Konkretisierung öko-
nomisch geboten, ökologisch sinnvoll (Tagesord-
nungspunkt 13)
Dr. Christine Lucyga (SPD): Vor wenigen Wochen
haben wir in diesem Hause eine Debatte über die Per-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118032
(C)
(D)
(A)
(B)
spektiven des Ostseeraums als eine der wachstumsstärks-
ten Regionen Europas geführt. Einig waren wir uns par-
teiübergreifend darin, dass der Ostseeraum mit dem Fall
des Eisernen Vorhangs eine einmalige Entwick-
lungschance bekommen hat. Nach 50 Jahren Funkstille
und politischer Blockade finden die Ostseeländer wieder
als Partner zueinander, sei es in den Bereichen Kommu-
nikation und gemeinsame Umweltpolitik, sei es bei der
Planung gemeinsamer Verkehrsnetze, bei Jugendbegeg-
nungen oder bei institutioneller und kultureller Zusam-
menarbeit.
Und bei alledem stehen wir eher am Anfang einer aus-
sichtsreichen Entwicklung; denn die EU-Osterweiterung
wird aller Voraussicht nach weitere Wachstumschancen
für die Ostseeregion bringen. Wichtig wird im vereinten
Europa deshalb auch sein, dass die Ostseeregion in hand-
lungsfähigen Großregionen und mit gemeinsamen, län-
derübergreifenden Projekten erkennbar ist, um so wie es
der Mittelmeerraum erfolgreich vormacht gemeinsame
Interessen auch gemeinsam zu vertreten.
Das alles heißt: Es sind Brücken zu schlagen, Brücken
im Sinne funktionierender Verkehrsverbindungen. Grund-
sätzliche Überlegungen dazu gibt es durch die europä-
ische Verkehrsnetzplanung bereits. Ein wichtiger Ge-
sichtspunkt dabei muss aber immer sein, dass die Regio-
nen gleichberechtigte Chancen erhalten.
Deshalb möchte ich die Aufmerksamkeit auf den ver-
kehrsgeographisch optimalen Weg von Nord nach Süd
oder umgekehrt über die deutschen Ostseehäfen rich-
ten. Dieser Weg ist erst im Ergebnis der deutschen Teilung
de facto abgeschnitten worden. Die Teilung Europas in
zwei einander feindlich gegenüberstehende Blöcke hatte
dazu geführt, dass veränderte verkehrsgeographische
Überlegungen Lenkungswirkung entwickelten; denn es
mussten Grenzen umgangen oder überwunden werden.
Infrastrukturlücken wurden immer größer, Handelsbezie-
hungen immer spärlicher.
Überlegungen zu einer festen Fehmarnbelt-Querung,
mit der die damals bestehenden Infrastrukturengpässe
überwunden werden sollten, rühren aus genau jener Zeit,
mit all ihren politischen und geographischen Beschrän-
kungen. Erst die Änderung der politischen Vorzeichen seit
dem Herbst 1989 ermöglichte eine Rückbesinnung auf die
optimalen natürlichen Verkehrswege von Skandinavien
nach Mittel- und Osteuropa: den Weg über die Ostsee und
die deutschen Ostseehäfen.
Mit leistungsfähigen Hinterlandanbindungen und mit
der gleichberechtigten Einbeziehung der ostdeutschen
Länder in die verkehrsgeographische Landkarte können
die Vorzüge der Regionen tatsächlich genutzt werden;
denn logistische Stärken setzen sich nicht im Selbstlauf
durch, sie müssen beweisfähig gemacht werden. Wenn
also eine Fehmarnbelt-Querung ernsthaft gewollt ist,
dann muss schon aus Gründen der Chancengleichheit
auch eine Stärkung der Nord-Süd-Achse auf direktem
Wege über die Ostseehäfen erfolgen; denn sonst würde
die ganze östliche Region Deutschlands verkehrsseitig
von der europäischen Entwicklung abgekoppelt.
Das bedeutet für uns: Verkehrskorridore über die Ost-
see müssen wieder belebt oder neu erschlossen werden.
Nachdem seit dem Sommer 2000 die Öresund-Querung
Skandinavien ein Stück weit ins künftige Zentrum Euro-
pas bringt, bietet es sich geradezu an, bei der anstehen-
den Neubewertung der transeuropäischen Netze auch im
Interesse des süd- und südosteuropäischen Hinderlands
die Nord-Süd-Achse über die deutschen Seehäfen zu
stärken.
Eine Achse KopenhagenBerlinPrag über den See-
hafen Rostock ist nun einmal die kürzeste und schnellste
Verbindung auf dieser Route, wenn bewährte, traditio-
nelle Verkehrswege über die Ostsee ihren Stellenwert
zurückerhalten. Ebenso wäre es denkbar, von Kopenha-
gen über RostockTrierLuxemburg und weiter eine op-
timierte Verkehrsachse von Nord nach Südwest und um-
gekehrt zu schaffen. Dazu müssen der Seeverkehr und
insbesondere die Fährverkehre auf der Ostsee ihren Stel-
lenwert behalten. Dass die Fährverkehre über die Ostsee
nicht nur Sinn machen, sondern ihre Attraktivität ganz of-
fensichtlich auch gegen die Konkurrenz fester Querun-
gen behaupten können, zeigt übrigens deutlich das Bei-
spiel der Öresund-Querung, deren Gewinnerwartungen
inzwischen deutlich nach unten korrigiert werden muss-
ten. Der Fährverkehr behauptet nach wie vor seinen Stel-
lenwert.
Das zeigt aber auch, dass die finanziellen Risiken für
den Bau einer Fehmarnbelt-Querung nicht unterschätzt
werden dürfen. Schon gar nicht dürfen sie dem Steuer-
zahler überlassen werden, zumal es tragfähige Alternati-
ven durch verbesserte, schnellere Fährangebote gibt.
Fährreedereien ich nenne hier vor allem das deutsch-
dänische Unternehmen Scandlines haben entsprechende
Offerten veröffentlich und sind bereit, das Risiko zu
tragen. Diese Risikobereitschaft muss auch die Voraus-
setzung bei potenziellen Betreibern einer Fehmarnbelt-
Querung sein; denn die öffentliche Hand wäre mit
der Finanzierung sowie den Folgeinvestitionen bei wei-
tem überfordert. Es geht hier um ausschließlich private
Risiken.
Es gilt also, Risiken, Chancen und Alternativen abzu-
wägen. Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es, für
Chancengleichheit der Regionen zu sorgen und das
Gleichgewicht der Infrastrukturplanung zu wahren, für
gleichberechtigte Entwicklungschancen der Regionen zu
sorgen und Möglichkeiten gleichberechtigt abzuwägen.
In diesem Sinne möchte ich den Nord-Süd-Korridor als
wichtige Verkehrsader mit in die Bewertung einbringen.
Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Die SPD-Bundes-
tagsfraktion lehnt den vorliegendenAntrag der CDU/CSU
zu einer festen Fehmarn-Belt-Querung ab.
Die Bundesregierung und die schleswig-holsteinische
Landesregierung haben ein großes Interesse an einer wei-
teren festen Querung zwischen Deutschland und Skandi-
navien und treiben das Projekt deshalb entschieden voran.
Festzuhalten bleibt für mich als Bundestagsabgeordneten
aus Lübeck: Das Land Schleswig-Holstein hat deshalb
bereits im Dezember 1999 eine positive Stellungnahme zu
der von der Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich Dänemark beschlossenen Machbarkeitsstudie abge-
geben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18033
(C)
(D)
(A)
(B)
Nicht zu leugnen ist wegen der von CDU und CSU hin-
terlassenen zerrütteten Staatsfinanzen auch: Das Projekt
kann wegen der bekannten Haushaltsmisere nur dann er-
folgreich umgesetzt werden, wenn privates Kapital im
Rahmen von public private partnership zur Finanzierung
des Projektes aktiviert werden kann. Die Suche nach ei-
ner wirtschaftlich vernünftigen Finanzierung ist auf
gutem Wege. Außer Acht bleiben kann dabei nicht, dass
die zur Grundlage der Kalkulation der Wirtschaftlichkeit
und der Finanzierung geschätzten Verkehrszahlen bei der
Fehmarnsund-Querung bei weitem nicht eingehalten wor-
den sind.
Das deutsch-dänische Verkehrsvorhaben Fehmarnbelt-
Querung ist exakt im verabredeten Zeitplan. Die Ver-
kehrsminister beider Länder haben im Dezember vergan-
genen Jahres ein Memorandum über eine gemeinsame
positive Grundsatzentscheidung über die Fortführung der
Untersuchungen und die zügige Einleitung eines Interes-
senbekundungsverfahrens getroffen. Das durch Veröf-
fentlichung im Bundesanzeiger in Gang gesetzte und
inzwischen abgeschlossene Interessenbekundungsverfah-
ren ist auf großes Interesse gestoßen. Mehr als 50 Kon-
sortien und einzelne Unternehmen haben ihr Interesse an
einer Durchführung des Projekts bekundet.
Wichtiger als die nackte Zahl sind die Unternehmun-
gen, die hinter den Anfragen stehen. Unter den Bewerbern
finden sich führende Banken, große Bau- und Ingenieur-
unternehmungen sowie Infrastrukturbetreiber aus ganz
Europa.
Nach den bisherigen Planungen werden die deutsche
und die dänische Seite voraussichtlich im kommenden
April ein Konzept zur Finanzierung des Baus und zum
Betrieb einer festen Beltquerung erarbeiten. Bisherige
Schätzungen gehen von Baukosten in Höhe von zwischen
2,9 und 4,1 Milliarden Euro aus. Aufgrund der bisherigen
Resonanz bin ich der festen Überzeugung, dass sowohl
genügend privates Geld zur Verfügung steht als auch Be-
reitschaft besteht, dass sich privates Kapital im erforder-
lichen Umfange an der Finanzierung beteiligen wird. Zu
klären bleibt, unter welchen politischen und wirtschaftli-
chen Rahmenbedingungen die private Wirtschaft bereit
ist, sich an der Finanzierung zu beteiligen.
Bis Ende 2002 werden die beiden Regierungen eine
endgültige Entscheidung über die Durchführung des Pro-
jektes treffen. Sie sehen, die feste Belt-Querung ist im
Zeitplan. Der in dem Antrag erhobene Vorwurf, dass das
Projekt von der Bundesregierung und der schleswig-
holsteinischen Landesregierung abwartend und ohne
Mut und Elan vorangetrieben wird, hat nichts mit der
Wirklichkeit zu tun. Deshalb werden wir den Antrag der
Union auf Drucksache 14/6313 ablehnen.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Am
15. August 2001 findet wie jedes Jahr die Fehmarnbelt-
Querung statt; nicht mit Auto oder Bahn, sondern
schwimmend. Den Rekord von Maria Mato können die
Regierungen in Kiel und Berlin nicht mehr brechen.
Maria Mato benötigte 11 Stunden für diese Strecke, die
Politik steht seit 11 Jahren an der Startlinie und kann sich
immer noch nicht entscheiden, ob sie ins Wasser springt
oder nicht. Startangst!
Der Bundesverkehrswegeplan hätte 2001 in diesem
Jahr fortgeschrieben werden müssen. Dazu ist die Bun-
desregierung verpflichtet. Sie weigert sich, weil sie im
Wahlkampf 2002 Konflikte vor Ort befürchtet.
Pro-Entscheidungen für den Ausbau von Verkehrswe-
gen hier würden von den Bündnisgrünen vor Ort vehe-
ment bekämpft, Krach gäbe es in der Koalition. Deshalb
soll der Bundesverkehrswegeplan gegen Recht und Ge-
setz um drei bis vier Jahre verzögert werden. Verheerend
für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Statt Investi-
tionen zu forcieren, wird bundesweit gebremst; zum
Nachteil von Arbeitsmarkt und der Modernisierung un-
seres Landes. Das Beispiel Fehmarnbelt-Querung macht
diese Konfliktvermeidungs-Strategie der Bundesregie-
rung besonders deutlich. Man arbeitet pro forma an der
Planung, schiebt dieses Projekt real jedoch auf die lange
Bank.
Berlin muss sich der Fehmarnbelt-Querung endlich an-
nehmen. In dieser Frage sind Klarheit und Konkretisie-
rung von nöten. Die Bevölkerung auf Fehmarn, die mög-
lichen Betreiber dieser privat zu finanzierenden Strecke
und auch die Fährreedereien müssen endlich wissen,
woran sie sind. Das bereits 1992 in Auftrag gegebene Gut-
achten belegt eindeutig, diese transeuropäische Verbin-
dung ist wirtschaftlich geboten, geologisch machbar und
ökologisch sinnvoll. Aber den Menschen vor Ort Pla-
nungssicherheit für ihre Zukunftsentscheidungen zu ge-
ben ist Aufgabe der Politik, ob es bei den Fährrouten
bleibt oder die Querung kommt.
Mit dem Ende der Ausschreibungsfrist am 22. Juni ist
dieses Ostseeprojekt Nummer eins in eine neue Phase ge-
treten. Jetzt müssen Kiel, Berlin und Kopenhagen ihre
Karten auf den Tisch legen. Für die knapp 20 Kilometer
lange Strecke ist ein Brücken-Tunnel-Bauwerk vorgese-
hen. Es soll je nach Variante zwischen 5,5 und 8,6 Milli-
arden DM kosten. Für Betrieb und Wartung ist eine
Summe von circa 200 Millionen Mark jährlich angesetzt.
Die Realverzinsung des Eigenkapitals soll 7 bis 9 Prozent
pro Jahr betragen. Gut 30 Jahre wird, nach den Plänen von
Rot-Grün Maut erhoben, danach fällt das Projekt an den
Staat zurück.
Da der Bau zum transeuropäischen Verkehrsnetz
TEN gehört, wird er die Schleswig-Holstein-Quote
beim Bundesverkehrswegeplan nicht belasten. Ob Rot-
Grün in Berlin diesen Grundsatz anerkennt ist bis heute
noch nicht geklärt. Keine Aussage von einem der bisher
drei SPD-Verkehrsminister gibt es, ob der Bund bei die-
ser Strecke von nationaler Bedeutung zu einem Sonder-
beitrag bereit ist. Der Kieler Verkehrsminister, Bernd
Rohwer, hat kürzlich eine bis zu 20 Prozent reichende An-
schubfinanzierung des Bundes als möglich bezeichnet,
sein grüner Koalitionspartner an der Förde hat das als un-
möglich kritisiert mit dem Hinweis auf den Koalitions-
vertrag, denn der sehe keine Staatsknete für die Beltque-
rung vor.
Während sich im Norden ein Koalitionskrach anbahnt,
läuft uns die Zeit davon. Der Verkehrsstrom aus Skandi-
navien nach Mitteleuropa, aber auch umgekehrt, nimmt
rasant zu. In den nördlichen Ostseestaaten boomt die
Wirtschaft. Bis zu 40 Prozent mehr Verkehr wird für die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118034
(C)
(D)
(A)
(B)
nächsten zehn Jahre prognostiziert. Da die Belt-Querung
lahmt, muss der Landkorridor zwischen Hamburg und
Kopenhagen ausgebaut werden. Vorrangig und zügig ist
hier zu handeln, will man keine Entwicklungslücke zwi-
schen Skandinavien und der Bundesrepublik riskieren.
Wollen wir die imponierenden Wachstumskräfte in der
Ostseeregion für unser Land nutzen, muss die Verkehrs-
infrastruktur optimal sein.
Engpässe bei der Bahn gibt es noch bei Kopenhagen,
auf der Rendsburger Hochbrücke und vor Hamburg; ab-
gesehen von den eingleisigen Streckenabschnitten im Kö-
nigreich Dänemark. Notwendig ist darüber hinaus ein
sechsstreifiger Ausbau der Autobahn zwischen der Me-
tropole Dänemarks und der Hansestadt.
Dänemark drängt auf eine Entscheidung, Deutschland
verzögert sie.
Die dänische Wirtschaft hat erst vor wenigen Tagen ei-
nen Beginn der Belt-Querung bei ihrer Regierung ange-
mahnt. Seit vielen Monaten wird dieses europäische Pro-
jekt von der Bundesregierung defensiv betrieben,
abwartend ohne Elan und Mut.
Die drei bisher verantwortlichen SPD-Verkehrsminis-
ter, Müntefering, Klimmt und Bodewig, engagierten sich
in West und Ost, für den Norden hat es leider kein wirkli-
ches Interesse gegeben. Dabei verkennt Rot-Grün, dass es
sich hier um eine Maßnahme von gesamtstaatlicher Be-
deutung handelt. Das muss anders werden!
Annähernd zehn Prozent der deutschen Exportwirt-
schaft gehen in Länder der Ostseeregion, über 100 Milli-
arden Dollar. Mit den Anrainern des Mare Balticum wird
mehr Handel betrieben als mit den USA und Japan zu-
sammen. Für jeden dieser zehn Staaten sind wir der wich-
tigste Wirtschaftspartner. Das Wachstum des Ostseehan-
dels kann sich nach Aussage aller Institute, die sich mit
dem Raum befassen, innerhalb der kommenden 10 bis
15 Jahr verdoppeln bis verdreifachen, wenn, ja wenn die
infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sind.
Eine feste Querung des Fehmarn-Belts gehört zu den
Eckpfeilern einer solchen möglichen günstigen Perspek-
tive. Für den Arbeitsmarkt verspricht dieses Handeln
ebenso eine Stärkung und Erweiterung, wie auch der
Ostseetourismus gut davon hat. Eine feste Querung des
Fehmarn-Belts wäre die dritte große Ostsee-Verbindung
neben der 1997 eröffneten Brücke über den Großen Belt
zwischen den dänischen Inseln Fünen und Seeland und
der Öresundquerung von Kopenhagen zum schwedi-
schen Malmö. Diese Querung wurde am 1. Juli 2000 für
den Verkehr freigegeben. Auch wenn deren Benutzung
derzeit noch nicht ausreichend wirtschaftlich ist, weisen
schwedische wie dänische Regierungskreise bereits jetzt
auf die strukturellen Impulse hin, die diese Verbindung
ausgelöst hat. Die von den Zwillingsstädten Kopenhagen
und Malmø repräsentierte Öresundregion kennzeichnet
heute mit das höchste Wachstum in Europa, bedingt
auch durch eine neue Ansiedlungsbereitschaft von Be-
trieben.
Solche Impulse, wenn auch nicht in dem Ausmaße,
sind auch für die Brückenköpfe der Meerenge zwischen
Fehmarn und dem dänischen Lolland denkbar. Als Vo-
raussetzung dafür muss die Hinterlandanbindung opti-
miert werden. Nur 19 Kilometer fehlen, um Kopenhagen
und Hamburg beinahe in Luftlinie zu verbinden. Statt
45 Minuten via Fähre würde das Königreich bei einer
festen Querung in 20 Minuten direkt erreichbar sein. Ge-
genüber dem Landweg lassen sich etwa 160 km Fahrt-
strecke einsparen.
Doch wenn Berlin und Kiel auch das Großprojekt als
ökologisch machbar erklären, folgenlos wird dieser gi-
gantische Eingriff in die Natur nicht bleiben. Experten
erwarten negative Auswirkungen auf die Strömungsver-
hältnisse im Belt, zusätzliche Flughindernisse für die Vo-
gelwelt.
Gegenwärtig wird der Fehmarn-Belt durch eine Fähr-
verbindung für Fahrzeuge und Personen überquert. Be-
treiber ist eine deutsch-dänische Reederei. 1999 wurden
auf den vier eingesetzten Schiffen 5,6 Millionen Passa-
giere, über 990 000 Pkw sowie mehr als 31 000 Busse und
259 000 Lkw transportiert.
Die Prognosen für das Verkehrsaufkommen für das
Jahr 2010 zeigen, dass eine feste Querung zu einem Zu-
wachs zwischen 25 und 46 Prozent im Personenverkehr
gegenüber 1996 führen würde. Bei Beibehaltung des
Fährbetriebes würde der Anteil nur vier Prozent betragen.
Im Frachtgeschäft werden noch größere Raten vorausge-
sagt. Mit fester Fehmarnbelt-Verbindung erhöht sich das
Güterverkehrsaufkommen bis zum Jahr 2010 um etwa
129 Prozent auf circa. 16,3 Millionen Tonnen.
In den Leitlinien für den Ausbau eines transeuropä-
ischen Verkehrsnetzes TEN ist die Eisenbahnstrecke
HamburgKopenhagen als zukünftige Strecke für Hoch-
geschwindigkeitszüge ausgewiesen.
Der Bundesverkehrswegeplan sieht im vierspurigen
Ausbau der Bundesstraße 207 zwischen Oldenburg und
Heiligenhafen vordringlichen Bedarf, für die Fortset-
zung bis Puttgarden weiteren Bedarf.
Weiterhin hat Dänemark im Vertrag mit Schweden von
1991 über die feste Öresundverbindung zugesagt, dass es
sich für eine feste Fehmarnbelt-Querung nachhaltig ein-
setzt. Das blau-gelbe Königreich hat ein erhebliches
ökonomisches wie ökologisches Interesse, über feste Ver-
bindungen den Kontinent zu erreichen. So plant bei-
spielsweise die schwedische Reichsbahn Linien von
Schweden nach Südwest-Europa und insbesondere nach
Berlin. Doch um unsere Chancen zu nutzen, müssen wir
unseren Blick verstärkt auf den Norden richten. Erkenn-
bar ist, dass es sich bei dem Ostseeraum um eine Boom-
region handelt, die durch die Querung Mitteleuropa näher
rückt. Eine Fehmarnbelt-Brücke bedeutet für einen
Lübecker zum Beispiel, dass er von seiner Stadt aus
Kopenhagen und Hannover in der gleichen Zeit erreichen
kann.
Die 1992 in Auftrag gegebenen staatlichen Gutachten
zum Bau einer festen Querung des Fehmarnbelts sind ab-
geschlossen. Danach gibt es für den Bau und Betrieb ei-
ner Brücken- oder Tunnelkonstruktion zwischen Fehmarn
und Lolland keine unüberwindbaren technischen und fi-
nanziellen Probleme. Laut Studie sind Bau und Betrieb
voll über Nutzungsgebühren finanzierbar.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18035
(C)
(D)
(A)
(B)
Die derzeitige Bundesregierung wie auch die Landes-
regierung in Schleswig-Holstein betreiben die Belt-Que-
rung mit angezogener Bremse. Man wird den internatio-
nalen Verpflichtungen nicht gerecht.
Die Aussetzung des Bundesverkehrswegeplans unter-
läuft die Realisierung dieser international gebotenen
Maßnahme um bis zu weitere sieben bis zehn Jahre. Da-
mit genügt die rot-grüne Regierung weder dem Interesse
des Ostseeraumes noch denen der deutschen und speziell
der norddeutschen Wirtschaft und damit der Sicherung
und Schaffung von Arbeitsplätzen.
Dieses Ostsee-Verkehrsprojekt Nummer eins sollte im
Bundesverkehrswegeplan einen eigenen Stellenwert er-
halten. Eine grundsätzliche Entscheidung zum Bau kann
nur der Bund treffen. Doch der weigert sich und zaudert.
Da hat die rot-grüne Landesregierung in Kiel doch mehr
Courage in dieser Frage gezeigt. 1999 neun Monate vor
der Landtagswahl werde Tempo bei dem Großprojekt
gemacht, verkündete man. Der Verkehrsminister führte
bereits Gespräche mit Baufirmen. Eine Entscheidung
noch vor der Jahrhundertwende wurde angekündigt.
Nichts ist aus alledem geworden. Die Beltquerung wurde
als Wahlkampfthema missbraucht, um ein Modernisie-
rungsimage zu erhalten. Nicht nur die Wirtschaft in
Norddeutschland ist tief enttäuscht über eine solche
Ankündigungspleite, sondern besonders auch unsere
skandinavischen Nachbarstaaten zweifeln daran, ob der
Zauderer Deutschland den neuen Weg über die Ostsee
will.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Diskussion um die geplante feste Fehmarnbelt-Querung
bewegt seit einigen Jahren die Menschen in Schleswig-
Holstein.
Gerade im nördlichen Ostholstein mit der Ferieninsel
Fehmarn hegen viele Menschen Existenzängste, da durch
den Bau einer festen Beltquerung und einer Verlängerung
der A 1 quer über die Insel der Tourismus und die Umwelt
zerstört würde.
Ich bin in Ostholstein aufgewachsen und ich weiß, dass
das Kapital dieses Kreises die Landschaft, die Erholungs-
räume sind. Sie, meine Damen und Herren von der Union,
wollen mit Ihrem Antrag dieses Kapital zerstören. Die
Schäden für Flora und Fauna wären beim Bau einer festen
Querung gravierend. Vor allem aber hätte eine Brücke
verheerende Folgen für die 50 bis 60 Millionen Zugvögel,
die den Vogelflugkorridor nutzen.
Wie unbegründet die Erwartungen mit dem Bau einer
festen Beltquerung sind, zeigen uns die Nutzungszahlen
der Öresundbrücke in Dänemark: Die ersten Ergebnisse
der Verkehrsentwicklung auf dieser festen Querung sind
ernüchternd. Gerade mal ein Drittel der erwarteten PKW
und LKW nutzt tatsächlich die Tunnel- und Brückenkom-
bination und die preisgünstigere Fährverbindung verliert
nur 10 Prozent des Aufkommens. Das ist eine wichtige
Lehre für uns auch in Hinblick auf die umstrittene
Fehmarn-Belt-Querung. Es kommt eben nicht auf mög-
lichst viel Euphorie an, sondern auf harte wirtschaftliche
Fakten. Im Gegensatz zum Fehmarnbelt befinden sich
beiderseits des Öresunds tatsächlich dicht besiedelte Ge-
biete mit hoher wirtschaftlicher Verflechtung und trotz-
dem hat die Querung erhebliche Probleme, für die im End-
effekt die Staatshaushalte gerade stehen müssen.
Anstatt blind den angeblichen volkswirtschaftlichen
Nutzen zu bejubeln, sollten Sie die real entstehenden ne-
gativen Auswirkungen für Schleswig-Holstein und Meck-
lenburg-Vorpommern, die negativen Auswirkungen für
die Häfen in Lübeck, Kiel und Rostock, die negativen
Auswirkungen für den Nord-Ostsee-Kanal und die katas-
trophalen Auswirkungen für die Werftindustrie und die
Region Fehmarn/Großenbrode bedenken.
Als verantwortliche Politiker müssen wir immer über-
prüfen, wie wir mit dem Geld der Steuerzahler umgehen.
Anstatt viele Milliarden Mark für ein solches unwirt-
schaftliches Prestigeobjekt zu verschleudern, müssen
wir uns fragen: Was nützen uns Prestigeobjekte, wenn wir
den täglichen Stau in den Städten nicht bewältigen kön-
nen? Das Land, die Wirtschaft, die Bürger, die Umwelt
wir alle haben letztlich ein gemeinsames Interesse: effizi-
ente, bequeme, schnelle, ressourcen- und energiesparende
Verkehrsmittel. Die bekommen wir nur, wenn wir anfan-
gen, unsere verfügbaren Mittel so intelligent und effizient
wie möglich einzusetzen. Für die Kosten der Fehmarn-
belt-Querung können wir sämtliche Straßenbauprojekte
und Schienenprojekte in Schleswig-Holstein für die kom-
menden 30 Jahre finanzieren.
Die Bundesregierung und die Landesregierung von
Schleswig-Holstein sollten auch weiterhin klare Aussa-
gen treffen, dass es keine staatlichen Subventionen für die
feste Fehmarnbelt-Querung geben wird. Die Finanzie-
rung hat durch privates Kapital zu erfolgen und das pri-
vate Kapital ist angemessen am Risiko zu beteiligen. Die-
ser Beschluss ist bei der gemeinsamen Sitzung des
Bundes- und Landeskabinett in Kiel bestätigt worden.
Nur wer bereit ist, eigenes Geld zu investieren, der rech-
net auch. Alles andere ist mafiöses Abkassieren auf Kos-
ten der Steuerzahler. Deswegen bestehen wir Grüne auf
der ausschließlichen privaten Finanzierung einer mögli-
chen festen Querung und dies ohne staatliche Kreditab-
sicherung und einem optimierten Fährschiffkonzept als
wirtschaftliche Vergleichsbasis.
Die Zukunft des Verkehrs liegt auf der Schiene und im
Schiffsverkehr. Die laufende Bewertung des optimierten
Fährkonzeptes, das die Firma Scandlines dem Bundes-
verkehrsministerium vorgelegt hat, und der Vergleich die-
ses Konzeptes mit einer festen Querung machen immer
deutlicher, dass ein optimiertes Fährkonzept noch auf
Jahrzehnte die Verkehrsnachfrage qualitativ gut befriedi-
gen kann, dabei erheblich kostengünstiger ist und völlig
ohne staatliche Mittel getragen wird. Wir begrüßen es,
dass Bundesregierung und Landesregierung solchen Kos-
ten-Nutzen-Rechnungen mehr Wert beimessen als politi-
schen Glaubensbekenntnissen.
Leider ist meine Redezeit zu Ende. Die Menschen in
Schleswig-Holstein wollen die feste Fehmarnbelt-Que-
rung nicht. Sie wollen sie nicht, weil ein solches Projekt
die Arbeitsplätze, den Tourismus und die Umwelt zerstört.
Meine Damen und Herren von der Union, kommen Sie
zur Vernunft und lassen Sie uns gemeinsam dieses Geld-
vernichtungsprojekt beerdigen!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118036
(C)
(D)
(A)
(B)
Jürgen Koppelin (F.D.P.): Um es im Ergebnis vor-
wegzunehmen: Die F.D.P.-Fraktion stimmt dem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zu. Möglicherweise wird auch
von der SPD der Sinn dieses Projektes gesehen, wenn
auch die Antwort auf die Kleine Anfrage von CDU/CSU
von Februar 2000 noch etwas zurückhaltend ausfiel.
Was aber ist Haltung von Bündnis 90/Die Grünen? Die
ehemalige Fraktionsvorsitzende im schleswig-holsteini-
schen Landtag, Irene Fröhlich, hoffte von jeher, dass eine
private Finanzierung nicht zustande kommen würde. Die
Landesregierung gab Gutachten in Auftrag und unter-
suchte. Sie lehnte mit ihrer Mehrheit im Parlament den
F.D.P.-Antrag ab, die Fehmarnbelt-Querung in den vor-
dringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes auf-
zunehmen. Dies war im Juli 1999. Bereits drei Monate
später pustete sie im Landtag vor Begeisterung für das
Projekt die Backen auf. Im Dezember 1999 beschloss der
rot-grüne Koalitionsausschuss in Schleswig-Holstein, die
feste Querung sei technisch machbar, verkehrlich sinn-
voll und habe voraussichtlich einen gemeinschaftlichen
Nutzen.
Intern jedoch macht der grüne Partner von Heide
Simonis Stimmung gegen das Zukunftsprojekt: Im För-
derwind, dem Rundbrief der schleswig-holsteinischen
Landtagsfraktion schreibt der derzeitige Grünen-Frak-
tionsvorsitzende sinngemäß, das Projekt rechne sich
nicht, weder Fern- noch Regionalverkehr seien in der
Lage, die Kosten einzuspielen. Er kommt zu der Schluss-
folgerung, es sei zwar verständlich, dass sich die Schwe-
den eine Fehmarnbeltbrücke wünschten. Aber da sie nicht
bereit seien, etwas dafür zu zahlen, müssten wir das nach
unseren eigenen Notwendigkeiten entscheiden. Die
strukturpolitische Bewertung dieser Äußerungen über-
lasse ich Ihnen.
Ich befürchte jedoch, auch im Bundestag werden wir
diese Spiel erleben: Die SPD wird das Projekt mögli-
cherweise verhalten begrüßen. Die Grünen werden, wie
meistens, nicht offen widersprechen, weil dafür ihre Kraft
nicht mehr reicht. Was sie jedoch sicher tun werden un-
abhängig davon, wie sie sich gegenüber ihrem Koalitions-
partner bekennen ist, den Bau zu verschleppen.
Unter diesen Gesichtspunkten: insgesamt ein Ja der
F.D.P. zur Fehmarnbelt-Querung, aber dennoch im Mo-
ment keine rosigen Aussichten.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Dort, wo sich die Natur der
Globalisierung in den Weg stellt, entdecken einige stets
einen erheblichen Bedarf für milliardenschwere Beton-,
Stahl- und Erdbewegungen.
Als Erstes wurde befunden, England bedürfe einer
festen Anbindung an Kontinental-Europa. Prompt wurde
der Eurotunnel gebaut. Sodann wurde festgestellt, die Py-
renäen hemmten die Handelsfreiheit. Inzwischen wird
dieses Gebirge zwischen Frankreich und Spanien unter-
tunnelt. Sodann wurde der Spruch Nieder mit den Alpen,
freier Blick aufs Mittelmeer modifiziert. Der Sperrriegel,
den diese Erhebungen zwischen Mittel- und Südeuropa
bilden, wird mit gewaltigen Tunnelbohrungen gesprengt.
Die Schweiz wurde zum Ja genötigt, unter dem Lötsch-
berg und dem Gotthardt werden gigantische Alpentunnel
gebaut. Dann taten die Round-Table-Industriellen kund,
dass sich die Ostsee völlig regelwidrig zwischen
Dänemark und Schweden geschoben habe. Ergo wurde
das Projekt Scanlink entwickelt und im Sommer 2000 war
es so weit: Mit großem Tamtam wurde eine gigantische
Brückenverbindung über die Insel Seeland eröffnet.
Doch all dies ist nicht genug. Nun wollen einige
Schweden und Dänemark direkt an Norddeutschland an-
binden, und zwar mittels Tunnel, Brücken oder beidem,
quer über die dänische Insel Falster, den Fehmarn-Belt
direkt zur Insel Fehmarn.
Halten wir uns an das Gutachten, das zur festen
Fehmarn-Querung bereits vorliegt! Die Angaben dort be-
nennen die Probleme klar. Sollte dieses Projekt realisiert
werden, dann könnte es gut ein halbes Jahrhundert dau-
ern, ehe der Nutzen dieses Projekts dessen Kosten über-
steigt. Bis dahin aber würden neue Kosten entstehen,
wenn die Haltbarkeitszeiten der Brücken- und Tunnel-
bauwerke überschritten sind und wenn dann noch einmal
kräftig in Erhaltung und Sanierung zu investieren wäre.
Für eine direkte Querung des Fehmarnbelts sind bereits
acht Varianten angedacht. Je nach Ausführung wird mit
Planungs- und Baukosten zwischen 6 und 9 Milliar-
den DM gerechnet. Interessant dabei ist, dass die billige-
ren Ausführungen später deutlich erhöhte jährliche Be-
triebskosten bedeuten können. Beispielsweise würde eine
ungenügende Schienenlösung der Bahn jährlich zusätzli-
che Betriebskosten von bis zu 150 Millionen DM besche-
ren und ihr dauerhaft Wettbewerbsnachteile verpassen.
Überhaupt würde ein solches Projekt zusätzliche
Strecken- und Trassenausbauten auf deutscher wie däni-
scher Seite notwendig machen, die in den geschätzten
Baukosten noch gar nicht berücksichtigt sind. Das Projekt
ist wirtschaftlich unsicher.
Anders als es uns der Antragstext der Unionsfraktion
weismachen will, läge die jährliche Rendite je nach
Ausführungsvariante nur zwischen minus 0,2 und plus
7,8 Prozent. Deshalb wird es schwierig werden, dieses
neue Milliardending zu finanzieren bzw. das Geld dafür
am Kapitalmarkt zu besorgen.
Bei den Zeitwertanalysen erreicht keine der acht Vari-
anten hinreichende Nutzen-Kosten-Vorteile. Die Protago-
nisten einer festen Belt-Querung helfen sich daher mit
einem Griff in die Trickkiste: Sie unterstellen beson-
dere Zeitwerte für Fehmarnbelt-Passagiere. Dies wäre
eine offenbar besser gestellte Benutzergruppe, mit ho-
hen Zeitkosten, die etwa beim doppelten dessen liegen,
was beim veralteten Bundesverkehrswegeplan zu-
grunde gelegt wird. Unter dieser doppelten Zeitbewertung
hätte übrigens der Absenktunnel mit drei Autospuren
und einem Gleis angeblich die besten Voraussetzungen.
Zum Verkehrswert ist festzustellen: Die Scanlink-Ver-
bindung, die letzten Sommer über Jütland nach Schweden
eröffnet wurde, bedeutet nur rund 160 Kilometer Umweg,
wenn man sie mit der Querung des Fehmarnbelts ver-
gleicht. Auf ausgebauten Schienen- und Straßenwegen
macht das einen zeitlichen Mehraufwand von weniger
als zwei Stunden aus. Dies rechtfertigt keine zusätzlichen
Euro-Milliarden für neue Brücken, neue Tunnel, neue
Autobahnen und neue Hochgeschwindigkeits-Bahn-
strecken quer über die Ostsee.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18037
(C)
(D)
(A)
(B)
Deshalb ist eine zusätzliche, feste Ostseequerung ab-
zulehnen. Sie würde die teure Scanlink über Jütland, die
nur die Hälfte des erwarteten Verkehrs aufweist, allemal
unwirtschaftlich machen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung des Antrags: Kulturföderalismus in
Deutschland erhalten (Tagesordnungspunkt 14)
Eckhardt Barthel (Berlin) (CDU/CSU): Der F.D.P.-
Antrag suggeriert, dass es in dieser Bundesregierung und
der sie tragenden Koalition jemanden gäbe, der den Kul-
turföderalismus infrage stellt. Das ist schlichter Unsinn!
Es ist doch gerade der Föderalismus, der die Vielfalt und
den Reichtum der Kulturen Deutschlands mit befördert
hat. Es gibt eben nicht die Kulturhauptstadt in Deutsch-
land, es gibt falls man diesen Begriff überhaupt be-
mühen will viele Kulturhauptstädte. Heißen sie Ham-
burg oder Dresden, München oder Weimar, Frankfurt
oder Berlin usw., usw. Und auch die häufig abwertend, ja
bösartig mit dem Begriff Provinz abgestempelten Kul-
turräume präsentieren einen hohen Kulturstandard. Eine
kurze Reise, etwa nach Cottbus, belehrt alle metropoli-
tanen Hochnäsigen eines Besseren.
Föderalismus setzt die Einsicht voraus, dass durch in-
haltlich und institutionell abgestimmte Wahrnehmung
von Aufgaben sachgerechter und effizienter gehandelt
werden kann. Niemand bezweifelt dies! Strittig wird es
bei der systematischen Abschichtung der jeweiligen
Kompetenzen von Bund, Länder und Gemeinden. Ziel der
Koalition ist es, bei der Lösung derartiger Abgrenzungs-
problematiken die widerstreitenden Befindlichkeiten zu
einem größtmöglichen Ausgleich zu führen. So ist es
gerade beim Länderfinanzausgleich geschehen. Kultur
entzieht sich vom Begriff her einer abschließenden Defi-
nition. Somit gerät man normativ in das Dilemma, be-
stimmen zu müssen, was staatliches Aufgabenfeld der
Kulturpolitik ist, ohne die Kultur selbst definieren zu kön-
nen. Da dies aber nichts Neues ist, hat die Verfassung in-
haltliche Aufgabenbereiche und institutionelle Grund-
strukturen der Kulturpolitik vorgegeben. Sie weist dem
Bund zum Beispiel explizit das Urheber- und Verlagsrecht
(Art. 73 Nr. 9 GG) oder etwa die auswärtige Kulturpolitik
(Art. 73 Nr. 1 i. V. m. Art. 32 GG) zu. Ich möchte betonen:
originäre Bereiche der Bundeskulturpolitik. Neben die
geschriebenen Kompetenzen tritt das Recht des Bundes,
aus der Natur der Sache heraus kulturpolitisch tätig zu
werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn es sich um ge-
samtstaatliche Repräsentation oder um Kulturgüter von
national überragender Bedeutung dreht.
Die Koalition hat mit der Berufung eines Beauftragten
für Kultur und Medien, aber auch mit der Etablierung des
Kulturausschusses die Bundeskulturpolitik gestärkt. Dies
und zugegebenermaßen auch einige Äußerungen zum
Föderalismus hat teilweise zu einer Verunsicherung bei
einigen in den Ländern geführt. Aber ich sage: Die Bun-
deskulturpolitik ist ein Teil des Kulturföderalismus! Sie
hat ihren Platz nicht neben oder gar über, sondern im fö-
deralen System unseres Landes. Die Föderalismusdiskus-
sion ist verständlicherweise mit dem Regierungs- und
Parlamentsumzug und der ich will es einmal so nennen
Hauptstadtwerdung Berlins verbunden. Dies beinhaltet
auch eine Hauptstadtkulturförderung des Bundes dies
ist nicht originell und bestand zu Recht auch gegenüber
Bonn. Aufgabe ist es, die gesamtstaatliche Repräsenta-
tionsfunktion der Hauptstadt zu erhalten und zu erweitern
und, ebenso, die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer
Hauptstadt zu vertiefen. Wenn dies über die Kultur ge-
schieht was wäre besser dazu geeignet? Das ist mit fi-
nanziellen Aufwendungen verbunden. Aber nur Ignoran-
ten, die die Geschichte und Probleme der Stadt und ihre
heutige Funktion nicht kennen, den kulturellen Reichtum
und seine Bedeutung für die Kulturnation Deutschland
unterschätzen, sehen darin ein Föderalismusproblem. Ich
bin froh, dass der Deutsche Bundestag die Förderung der
Kultur in der Hauptstadt auch als eine nationale Aufgabe
definiert hat.
Bundeskulturpolitik ist vorrangig Ordnungspolitik.
Unsere gesetzgeberische Arbeit in Bereichen wie zum
Beispiel der Künstlersozialkasse, dem Urhebervertrags-
recht und der Buchpreisbindung zeigt dies unmittelbar
auf. Neben der Ordnungspolitik gibt es für den Bund
und zwar aus der Natur der Sache heraus die Mög-
lichkeit zur Durchführung von Projekten mit überragen-
der, nationaler Bedeutung. Dies ist ein kleiner, aber ori-
ginärer Gestaltungsspielraum der Bundeskulturpolitik! Es
sei daran erinnert, dass der Bund lediglich zehn Prozent
der gesamten staatlichen Kulturförderung leistet. Auch
das zeigt die herauszustellende große Bedeutung der Län-
der, vor allem aber der Kommunen in der Kulturpolitik.
Manche Gralshüter eines falsch verstandenen Födera-
lismus fordern locker Finanzierung von Bund, ohne ihm
Gestaltungsmöglichkeiten zu lassen. Dies widerspräche
dem Kulturföderalismus! Denn in ihm wurzelt verfas-
sungsrechtlich nicht nur der Bestand der Kulturhoheit der
Länder, sondern auch die Kompetenz der Bundeskultur-
politik samt Gestaltungsauftrag. Der Bund hat auch die
Aufgabe, ein positives Umfeld für Kunst und Kultur
zu schaffen. Das große Engagement von Staatsminister
Julian Nida-Rümelin und zuvor Michael Naumann hat die
Kulturpolitik ungemein befördert. Über Kultur wird wie-
der gesprochen. Kürzungen im Kultur-Etat sind nirgend-
wo mehr so einfach vorzunehmen. Jüngstes Beispiel ist
die neue rot-grüne Regierung Berlins, die trotz finanziel-
lem Beinahe-Kollaps im Bereich der Kultur nicht sparen
möchte. Die kulturpolitische Entwicklung ist auf allen
Ebenen des föderalen Staates zu merken. Kurz: Die Bun-
deskulturpolitik stärkt die Kultur vor Ort! Sie bewirkt kei-
nen Kompetenzverlust der Länder, sondern einen Kultur-
gewinn!
Um am Ende nochmals auf den vorliegenden Antrag
der F.D.P. zurückzukommen: Er gibt letztlich die Situa-
tion der deutschen Kulturpolitik nach unserer Verfassung
wieder. Die Koalition handelt entsprechend, damit ist der
Antrag im Einklang mit der rot-grünen Kulturpolitik.
Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, zu beschließen, dass
die Sonne im Osten aufgeht aber nur dann, wenn jemand
das Gegenteil behauptet. Statt uns Selbstverständlichkei-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118038
(C)
(D)
(A)
(B)
ten beschließen zu lassen, sollten auch Sie, meine Damen
und Herren von der F.D.P., lieber den kulturpolitischen
Kurs dieser Regierung unterstützen.
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Ob ein förmli-
cher Antrag im Deutschen Bundestag zur Erhaltung des
Kulturföderalismus in Deutschland nötig ist, darüber
kann man streiten. Niemand bestreitet ernsthaft, dass die
Länder und Gemeinden jeweils originäre Verantwortung
zur Förderung von Kunst und Kultur haben, und niemand
will ernsthaft schon gar nicht mit Aussicht auf Erfolg
diese föderale Teilung von Zuständigkeiten im Grundsatz
verändern oder gar aufkündigen. Gelegentliche Versu-
chungen des ersten Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien in dieser Richtung sind spätestens mit
seinem Ausscheiden aus diesem Amt erledigt.
In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik
Deutschland ist Kultur eine Gemeinschaftsaufgabe von
Bund, Ländern und Kommunen. Der Streit zwischen
Bund und Ländern um die vermeintliche Kulturhoheit
ist doppelt absurd: Zum einen finanzieren die Kommunen
fast die Hälfte der öffentlichen Kulturausgaben und damit
fast genau so viel wie Bund und Länder zusammen, zum
anderen ist das Verhältnis der Politik zur Kultur kaum
missverständlicher auszudrücken als durch den Begriff
der Kulturhoheit. Ein Staat, der der Kultur mit hoheitli-
cher Gebärde begegnet, ist sicher kein Kulturstaat.
Unbeschadet der besonderen Verantwortung der Län-
der für Bildung, Kunst und Kultur hat der Bund von
Beginn an und unbestritten Aufgaben der auswärtigen
Kulturpolitik, aber auch der institutionellen oder projek-
torientierten Förderung kultureller Institutionen und Er-
eignisse im Inland wahrgenommen. Seit Beginn der 80er-
Jahre ist die Förderung bis heute im Gesamtvolumen etwa
verdreifacht worden, besonders intensiv und auffällig im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit.
Die unbestrittene Verantwortung der Länder und der
Kommunen insbesondere in der Kulturförderung wird
durch ein stärkeres kulturpolitisches Engagement des
Bundes nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern im Ergeb-
nis gestärkt. Der Bund ist zur Sicherung einer flächen-
deckenden Versorgung mit Kultureinrichtungen Thea-
ter, Orchester, Museen, Volkshochschulen, Bibliotheken,
Musikhochschulen usw. weder verpflichtet noch legiti-
miert; zur Sicherung des Erhalts von Denkmälern und
Kultureinrichtungen von nationaler und internationaler
Bedeutung ist er nicht nur legitimiert, sondern als Kultur-
staat auch verpflichtet.
Die Bundesrepublik Deutschland muss ihr Selbstver-
ständnis als Kulturstaat in besonderer Weise in ihrer
Hauptstadt deutlich machen, darf Kulturförderung des
Bundes aber nicht auf Hauptstadtförderung reduzieren.
Für die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
hat nie im Zweifel gestanden, was die Antragsteller aus-
drücklich vom Bundestag bestätigt haben wollen: die
grundsätzlich festgelegte Kompetenzverteilung zwischen
Bund und Ländern; die in Folge der Wiedervereinigung
Deutschlands gewachsene Verantwortung für die Erhal-
tung herausragender deutscher Kulturgüter und -institu-
tionen; die Verteidigung der Unterschiede nationaler und
regionaler Kulturen gegenüber den europäischen Institu-
tionen. Dabei darf allerdings weder die Pflege gemeinsa-
mer europäischer Kulturtraditionen vernachlässigt noch
deutsche auswärtige Kulturpolitik auf europäische Adres-
saten verengt werden.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
würde den Antrag der geschätzten Kollegen von der
F.D.P.-Fraktion verstehen, wenn er in etwa wie folgt
hieße: Sie wollen die F.D.P. im Föderalismus erhalten.
Das ist ja ein berechtigtes Ziel und damit haben Sie ja
auch Probleme, aber Ihren Antrag verstehe ich nun wirk-
lich nicht. Warum soll der Bundestag etwas bekräftigen,
was allgemeiner Wille der Verfassungsväter war und von
keiner Partei bislang bestritten worden ist? Es ist das be-
liebte Spiel der F.D.P.-Fraktion: Sie bauen sich einen
Pappkameraden und schlagen auf ihn ein, egal ob Inhalt
darin ist oder nicht.
Die rot-grüne Regierung hat den Hauptstadtkulturver-
trag mit Berlin abgeschlossen. Diese Verpflichtung des
Bundes gegenüber der Stadt Berlin sind wir im Bewusst-
sein der rechtlichen Notwendigkeiten und der Verpflich-
tung des Bundes gegenüber einem Land, in diesem Fall
gegenüber dem Land Berlin, eingegangen. Diese Ver-
handlungen haben Zeit gekostet und der desaströse Um-
gang mit den Finanzen in Berlin zeigt deutlich, dass
oberste Sorgfaltspflicht in dieser Frage notwendig war. Zu
keiner Zeit hat die F.D.P. einsehen wollen, dass es mit
Berlin so schwierig ist; zu keiner Zeit haben Sie nur im
Ansatz erkannt, mit welchem Partner wir von Bundesseite
es zu tun hatten. Offensichtlich hat uns die jüngste Berli-
ner Krise weniger überrascht als Sie. Die jüngste politi-
sche Entwicklung in der Bundeshauptstadt hat uns leider
Recht gegeben. Sie wundert es doch noch immer, was hier
in der Stadt geschehen ist. Wenn man aus dieser Sorg-
faltspflicht gegenüber einem Bundesland und in der Ein-
führung eines Kulturstaatsministers eine Gefährdung des
Kulturföderalismus sieht, befindet man sich auf der glei-
chen Stufe wie der bayerische Minister Zehetmair, der uns
als üble Zentralisten und dann als Zerstörer des Kultur-
standortes Deutschland tituliert.
Dabei weiß heute jede und jeder: Wir brauchten unbe-
dingt eine Zuständigkeit auf Bundesebene für die Angele-
genheiten der Kultur und Medien. Wir haben durch die
Einrichtung des Amtes des Staatsministers endlich eine
zentrale Kommunikationsstelle für die Künste, die Kultur
und die Medien. Schon in dieser Zeit ist unglaublich viel
geschehen: Es sind nicht nur die Debatten im Feuilleton,
die uns weiterbringen, es sind die vielen internationalen
Beziehungen, die uns täglich als aktiven Kulturstandort
erscheinen lassen. Wäre es möglich gewesen, in Brüssel
die Buchpreisbindung zu verhandeln, wenn dauernd un-
terschiedliche Vertreter der KMK dort hätten erscheinen
müssen? Wird es möglich sein, dem deutschen Film Glanz
zu verleihen, wenn die Bundesrepublik Deutschland da-
rüber nur in der Gesamtheit der Länderkulturminister de-
battieren kann? Deshalb ist Ihr Antrag weit hinter den Er-
fordernissen der Zeit und entspricht auch nicht den
europäischen Erfordernissen.
Uns geht es um den Erhalt und Aufbau des Weltkultur-
erbes Museumsinsel genauso wie um die Sicherung der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18039
(C)
(D)
(A)
(B)
Gedenkstätten in diesem Lande dazu haben wir übrigens
eine viel beachtete Gedenkstättenkonzeption erarbeitet
und verabschiedet. Wir Bundeskulturpolitiker haben die
Künstlersozialkasse reformiert und setzen uns für eine
Reform der Besteuerung ausländischer Künstler ein. Wir
votieren zusätzlich zu den eingestellten Finanzen für die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die Einrichtung ei-
ner Bundeskulturstiftung, mit dem Ziel, den Künstlern
und Künstlerinnen in der ganzen Republik mehr finanzi-
elle Möglichkeiten zu geben.
Ich kann nicht erkennen, dass die Regierung, die auch
unter Federführung der Staatsminister Naumann und
Nida-Rümelin hervorragende Arbeit leistet, in irgendei-
ner Weise die Interessen der Bundesländer unterschied-
lich bewertet oder gar außen vor gelassen hat. Sie wissen
doch vermutlich selbst, dass circa 60 Prozent der Kultur-
mittel aus den Kommunen, 30 Prozent aus den Ländern
kommen und nur 10 Prozent Bundeskulturmittel sind. Wo
wird da der Kulturföderalismus angegriffen? Ich kann
Ihrem Antrag in keinem Punkte zustimmen. Er ist rea-
litätsfern. Deswegen lehne ich ihn in der gebotenen Höf-
lichkeit ab.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (F.D.P.): Angesichts
der jüngsten Diskussionen um die Errichtung einer Bun-
deskulturstiftung und der kürzlich aus den Reihen der
Koalitionsfraktionen erhobenen Forderung nach einem
Bundesministerium für Kultur hat unser Antrag höchste
Aktualität gewonnen. Die öffentliche Debatte um den
Kulturföderalismus ist geprägt von Ängsten und War-
nungen vor Kompetenzverlusten seitens der Länder,
Ängsten vor einem Berliner Zentralismus und be-
schränkt sich oft auf den lapidaren und abschließenden
Verweis auf die grundgesetzlich verankerte Kulturhoheit
der Länder. Die verschiedenen Äußerungen gleichen eher
der Diskussion um eine Chimäre als einer sachlichen
Auseinandersetzung und sind vergleichbar einem Streit
darüber, ob die Innenpolitik oder die Außenpolitik größe-
res Gewicht verdiene.
Für die F.D.P. ist die Kulturhoheit der Länder alles an-
dere als Verfassungsfolklore, wie sie Michael Naumann in
seiner autokratischen Art genannt hat. Sie ist für uns
Grundlage der Kulturlandschaft in Deutschland und wird
es bleiben. Dennoch müssen wir uns über die Aufgaben-
verteilung und die finanzielle Lastenteilung im Bereich
der Kultur zwischen Bund und Ländern Gedanken ma-
chen, aber nicht in Form eines Grundsatzstreits zwischen
Zentralisten und Föderalisten; denn das Schüren von
Ressentiments schadet nur der Kultur.
Die Kulturpolitik steht im 21. Jahrhundert vor neuen
Aufgaben und es wäre falsch, hierauf nicht zu reagieren.
Insbesondere die Folgen der deutschen Wiederverei-
nigung und der fortschreitende europäische Einigungs-
prozess werfen Fragen und Probleme auf, die nach neuen
Lösungen rufen. Vor diesem Hintergrund sind auch Über-
legungen aus den Reihen der Koalitionsfraktionen zur
Einrichtung eines Bundesministeriums für Kultur kein
Tabuthema für uns, sondern eine Fragestellung, mit der
wir uns sachlich auseinander setzen und uns fragen, ob
eine solche Bündelung der Angelegenheiten der Kultur,
die bisher über zahlreiche Ministerien verstreut sind, sinn-
voll und geboten erscheint, aber vor allem auch verfas-
sungsrechtlich zulässig ist.
Bedauerlicherweise hat die Bundesregierung auf
meine entsprechenden Fragen bisher jede Antwort ver-
weigert. Das halte ich für parteipolitisches Scheuklappen-
denken, zumal wir Liberalen uns wie auch der vorlie-
gende Antrag beweist diesen Überlegungen unbefangen
stellen. Klar ist für uns allerdings, dass es kein isoliertes
Miniministerium mit einem Etat von wenigen Milli-
arden DM geben und dass die Gesamtzahl der Ministerien
nicht noch weiter steigen darf.
Mit unseren Reformüberlegungen wollen wir keines-
falls den Kulturföderalismus, die Grundlage des kultu-
rellen Reichtums und der regionalen Vielfalt, infrage stel-
len. Aber wir müssen auch sehen, dass eine starke
Interessenvertretung und Finanzierung der Kultur durch
den Bund sowie die vielfältige und lebendige Kunst- und
Kulturförderung durch die Länder und Kommunen zwei
Seiten einer Medaille sind. Seit bald drei Jahren gibt es im
Deutschen Bundestag wieder einen eigenständigen Kul-
turausschuss, welchen die F.D.P. schon in der vergange-
nen Legislaturperiode gefordert hatte. Wir sind der Auf-
fassung, dass es über den parteipolitischen Streit
hinausgehend gut ist, dass es auf höchster Ebene wieder
ein Gremium gibt, was sich mit Engagement und Sach-
verstand der Kultur in unserem Lande widmet. Auch die
Einrichtung des Amtes eines Beauftragten der Bundes-
regierung für die Kulturpolitik und die Medien hat un-
abhängig von der Person des Amtsträgers dazu geführt,
dass die Kultur in Parlament und Gesellschaft stärker
wahrgenommen und diskutiert wird.
Auch die Errichtung einer großen Kulturstiftung der
Bundesrepublik Deutschland wird wenn auch nicht
nach dem Konzept des Bundeskabinetts dazu führen,
dass die Kultur neue Impulse erfährt, befördert wird, ohne
dass der Kulturföderalismus dabei Schaden nimmt. Wenn
der Bund Verantwortung übernimmt, bestimmte, heraus-
ragende kulturelle Denkmäler oder Einrichtungen in allen
Regionen Deutschlands finanziell zu fördern und zu un-
terstützen, soweit dies die zuständigen Kommunen oder
Länder nicht können, ist dies doch eine Stärkung des Kul-
turföderalismus, eine Stärkung eben jener Vielfalt, die das
Ziel der Kulturhoheit der Länder ist.
Auch die Zahlen belegen, dass die Gefahr vor einer
Aushöhlung der Kulturhoheit der Länder und die Angst
vor einer sich verselbstständigenden Kulturpolitik des
Bundes unbegründet sind: Von den circa 15,7 Milli-
arden DM, die in Deutschland im Jahr 2000 von staat-
licher Seite für Kultur zur Verfügung gestellt wurde,
machte der Etat des Staatsministers für Kultur und Me-
dien gerade 1,7 Milliarden DM aus. Darin eingeschlossen
sind bereits die Zuschüsse in Höhe von 580 Millionen DM
an die Deutsche Welle und von knapp 300 Milli-
onen DM an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Generell sollte gelten, dass die Kulturpolitik des Bun-
des erst dort einsetzen darf, und dann auch muss, wo es
einem Land oder einer Kommune unmöglich ist, kultur-
politische Interessen bzw. Verpflichtungen wahrzuneh-
men. Dies gilt für die auswärtige Kulturpolitik ebenso wie
für die Bezuschussung von Projekten übergeordneter
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118040
(C)
(D)
(A)
(B)
nationaler Bedeutung wie der Wiederherstellung der
Berliner Museumsinsel oder dem Aufbauprogramm
Kultur in den neuen Ländern. Die letzten beiden Bei-
spiele stehen für die zahlreichen Fälle, in denen der kul-
turelle Reichtum nicht mit der Wirtschaftskraft einer Re-
gion übereinstimmt.
Die F.D.P. bekräftigt also die grundgesetzlich fest-
gelegte Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und
Ländern. Wir möchten mit unserem Antrag klarstellen,
dass der Kulturföderalismus eine unantastbare und erfolg-
reiche Grundlage der deutschen Kulturlandschaft dar-
stellt. Gleichfalls möchten wir aber auch unterstreichen,
dass Bundestag und Bundesregierung nicht nur das Recht,
sondern auch die Verpflichtung haben, kulturpolitische
Verantwortung dort zu übernehmen, wo dies den Ländern
und Kommunen nicht möglich ist. Welche Bereiche dies
im Einzelnen sein können, sollten wir in einer konstruk-
tiven Diskussion sachbezogen und ohne parteipolitische
Scheuklappen gemeinsam bestimmen. Hierzu soll unser
Antrag dienen.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Der vorliegende äußerst all-
gemein und kurz gehaltene Antrag der F.D.P. ist so inter-
pretationsbedürftig, dass sich dazu schwerlich eine be-
stimmte Position beziehen lässt. Allerdings würde ich den
Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. empfehlen, für den
dritten Punkt eine weniger militante Form zu wählen. Es
geht doch nicht in erster Linie um die Verteidigung von
kulturellen Unterschieden, sondern um die Beförderung
des Dialogs zwischen ihnen.
Ich gehe aber ohnehin davon aus, dass es den Einbrin-
gern des Antrags vor allem darauf ankommt, die an ver-
schiedenen Punkten entflammte Debatte zum Kulturfö-
deralismus Stichpunkte: Kulturstaatsklausel im Grund-
gesetz, Aufnahme von Kultur in die Gemeinschaftsaufga-
ben nach Art. 91 b Grundgesetz, Bundeskulturminister,
Bundeskulturstiftung, Hauptstadtkulturförderung nun
endlich auch im Plenum des Bundestages zu führen. Die-
ses Anliegen unterstütze ich.
Meiner Meinung nach kann man sich über den Kul-
turföderalismus aber nur im Zusammenhang mit der
noch breiteren Debatte verständigen, die seit geraumer
Zeit zu Zustand und Perspektiven unseres föderalen Sys-
tems überhaupt geführt wird. Die PDS hat diese Debatte
aufgegriffen und wird im Spätherbst auf einer Konferenz
in Saarbrücken ein erstes Zwischenfazit ziehen.
Eines ist jetzt bereits klar: Wie wir uns zum Kulturfö-
deralismus stellen, hängt doch entscheidend davon ab,
welche Potenzen wir dem föderalen System generell für
die Bewältigung der Aufgaben zubilligen, vor denen un-
sere Gesellschaft steht. Wenn wir zu der Auffassung kom-
men, dass vor dem Hintergrund unserer historischen Er-
fahrungen föderale Strukturen nach wie vor am besten
geeignet sind, um Demokratie und Sozialstaatlichkeit zu
sichern und weiter zu entwickeln, dann ist das zugleich
ein starkes Argument für die Bewahrung und Ausgestal-
tung des Kulturföderalismus. Denn eine wirkliche Ei-
genstaatlichkeit der Länder ist ohne eine eigene Gesetz-
gebungskompetenz nicht zu haben. Diese Gesetz-
gebungskompetenz ist heute weitgehend auf die Bereiche
reduziert, die wir mit dem Kultus-Begriff zusammen-
fassen also Bildung, Wissenschaft und Kultur in einem
engeren Sinne. Nach jetziger Verfassungslage käme die
Aushöhlung des Kulturföderalismus einer Aushöhlung
des föderalen Prinzips an sich gleich. An dieser faktischen
Situation würde dann auch nichts die so genannte Ewig-
keitsklausel in Art. 79 des Grundgesetzes ändern.
Diese gegenwärtige Sachlage darf natürlich nicht da-
ran hindern, darüber nachzudenken, ob das eigenständige
Gewicht der Länder auf eine andere Grundlage gestellt
werden sollte. So könnte ich mir zum Beispiel vorstellen,
dass solche weichen und übergreifenden Innovations-
potenziale wie Bildung und Wissenschaft stärker in eine
rahmengesetzliche Gestaltung durch den Bund einbezo-
gen werden könnten. Das beließe den Ländern immer
noch genügend Spielraum für konkrete gesetzliche Aus-
gestaltung entsprechend ihrer spezifischen Bedingungen
und Entwicklungsperspektiven. Darüber hinaus könnten
im Gegenzug bei den Ländern stärker als bisher die Kom-
petenzen gebündelt werden, die für den Auf- und Ausbau
regionaler Wirtschaftskreisläufe von besonderer Bedeu-
tung sind.
Bei allen denkbaren Veränderungen in unserem fö-
deralen System steht eines allerdings für mich fest: Im en-
geren Bereich von Kunst und Kultur sollten die entschei-
denden Kompetenzen bei den Ländern bleiben. Hier
weisen einfach die Dichte und Vielfalt des kulturellen Le-
bens auch im internationalen Vergleich darauf hin, dass
sich die so genannte Kulturhoheit der Länder bewährt hat.
Zunehmende Schwierigkeiten auch auf diesem Gebiet
sind nicht den föderalen Strukturen, sondern der Unter-
grabung ihres materiellen Unterbaus geschuldet.
Vor diesem Hintergrund betrachte ich die Pläne des
Staatsministers zur Errichtung einer Bundeskulturstif-
tung. An erster Stelle steht für mich die Sicherung des da-
mit verfolgten Anliegens, nämlich vor allem kulturelle In-
novation und zeitgenössische künstlerische Entwick-
lungen besser als bisher zu fördern. Die Realisierung die-
ses Anliegens darf am Ende nicht an Kompetenzstreitig-
keiten zwischen Bund und Ländern scheitern. Es wäre al-
lerdings sehr begrüßenswert, wenn die Länder in die Lage
versetzt würden, ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet in
gleicher Weise auszubauen. Das böte dann auch eher die
Möglichkeit, das Engagement des Bundes mit dem der
Länder in einer solchen Weise zu verbinden, wie das bei
der Bewahrung des kulturellen Erbes im Rahmen der Kul-
turstiftung der Länder bereits geschieht.
Die Erhaltung des Kulturföderalismus in welcher
konkreten Ausprägung auch immer setzt voraus, dass
die Länder und über sie vor allem die Kommunen über die
finanziellen Mittel verfügen, die sie benötigen, um ihn mit
Leben erfüllen zu können. Die Reform der Finanzverfas-
sung, der Länderfinanzausgleich und der Solidarpakt II
sind entscheidende Prüfsteine dafür, wie ernst wir es mit
dem Kulturföderalismus meinen.
Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister beim Bun-
deskanzler: Der Antrag der F.D.P. bekräftigt Selbstver-
ständlichkeiten und adressiert eine Gefahr, die ich nicht
als eine reale erkennen kann. Dennoch sollten wir diesen
Antrag zum Anlass nehmen, um uns über die Perspekti-
ven des Kulturföderalismus in Deutschland auszutau-
schen, zumal die Diskussion um die Zukunft des Födera-
lismus im Zusammenhang der Verhandlungen über den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18041
(C)
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(B)
Bund-Länder-Finanzausgleich in den letzten Wochen und
Monaten wieder intensiver geführt worden ist.
Der Bundeskanzler hat das Ergebnis der Verhandlun-
gen mit den Ministerpräsidenten mit den Worten gewür-
digt, dass der deutsche Föderalismus eine wirkliche Be-
währungsprobe bestanden habe. Der Föderalismus in
Deutschland ist seit über 50 Jahren eine der Säulen unse-
res staatlichen Selbstverständnisses und unserer staat-
lichen Wirklichkeit. Im Bereich der Kultur hat er eine im-
posante Leistungsbilanz, um die wir in vielen Ländern der
Welt beneidet werden. Die Aufforderung an den Deut-
schen Bundestag, Geist und Buchstaben der Verfassung
zum zentralen Gedanken des Föderalismus zu bekräfti-
gen, darf nicht mit der Suggestion verbunden werden,
dass, womöglich vom Bund, eine Gefährdung der födera-
len Tradition unseres Staatswesens ausgehe. Ich bekenne
mich als ein Kulturföderalist aus Überzeugung, und Über-
zeugungen wenn sie ernst gemeint sind und in einem
größeren Begründungszusammenhang stehen kann man
nicht wechseln wie ein Hemd, je nach dem, welches Amt
man bekleidet.
Der Föderalismus in Deutschland hat eine große Tra-
dition. Er ist keine Erfindung des Grundgesetzes.
Föderale Elemente lassen sich über 1919 Weimarer Ver-
fassung, 1871 Reichsverfassung, 1848 Paulskirchenver-
fassung bis 1663 Ewiger Reichstag zurückverfolgen. Dies
ist Ausdruck einer spezifischen Entwicklung des deut-
schen Sprach- und Kulturraums in Mitteleuropa, der in
seiner Konkurrenz der Völkerschaften, Fürstenfamilien,
Regionen und Kommunen von jeher eine Vielfalt und
Multipolarität hervorbrachte, die mit einem zentralistisch
und unitaristisch gestalteten Nationalstaat unvereinbar
sind.
Kernstück des bundesrepublikanischen Föderalismus
ist der Kulturföderalismus. Dabei sind die kulturstaatli-
chen Kompetenzen, die das Grundgesetz ex negativo den
Ländern zuweist, wesentlich für ihre Identität und Legiti-
mation. Deutschland zerfällt allerdings nicht in Regionen.
Deutschland ist keine Union selbstständiger Länder.
Deutschland ist zweifellos bei aller föderalen Charakte-
ristik ein Nationalstaat. Unserer gemeinsamen und für
alle Deutschen geltenden politischen Verfassung korres-
pondiert eine gewachsene, gemeinsame kulturelle Ver-
fasstheit. Der gemeinsame politische Handlungsraum des
Nationalstaates hat zweifellos auch eine kulturell Dimen-
sion. Diese ist ganz wesentlich bestimmt von der gemein-
samen Sprache, die seit dem späten Mittelalter zum kon-
stituierenden Element einer deutschen Nationalkultur
geworden ist. Die deutsche Sprache verbindet kulturell
über staatliche Grenzen hinweg. Der gemeinsame Raum
deutschsprachiger Literatur, deutschsprachiger Opern
und Theatern umfasst mehrere Nationalstaaten in Mittel-
europa. Die personellen und inhaltlichen Verbindungen
sind eng, obwohl dem kein gemeinsamer kulturpolitischer
Gestaltungsanspruch korrespondiert.
Es ist kein Widerspruch, wenn einerseits im herder-
schen Sinne deutsche Kultur über staatliche Grenzen aus-
greift und andererseits innerhalb der gegebenen staat-
lichen Grenzen eine spezifische kulturelle Dimension des
deutschen Nationalstaates anerkannt und in der Praxis der
Kulturpolitik des Bundes, der Länder und der Gemeinden
berücksichtigt wird. Kultur ist in Deutschland seit Jahr-
hunderten immer zugleich national und regional orien-
tiert. Bach ist kein Thüringer Komponist, Goethe kein
hessischer Dichter, Beuys kein rheinischer Künstler,
wenn auch jeweils regionale Bezüge in ihrem Werk wirk-
sam geworden sind. Diese Künstler und das, was sie ge-
schaffen haben, bilden das kulturelle Erbe der ganzen
Nation und nicht nur der Bayern, Sachsen oder Mecklen-
burger. Ernst Gottfried Mahrenholz hat denn auch konsta-
tiert, dass aus dem Begriff der Nation eben logischer-
weise folge, dass die deutsche Nation wie jede andere
eine Kultur habe.
Ich halte es für einen gewaltigen Fortschritt und auch
seit Jahren überfällig, dass der Kulturstaat Deutschland
sich in seinem Selbstverständnis und seiner operativen
Verantwortung nicht hinter den Ländern versteckt. ... Der
Bund hat eine originäre Verantwortung für diesen Kultur-
staat. Dies hat ein profilierter Kulturpolitiker aus den
Reihen der Opposition ein halbes Jahr nach der Bundes-
tagswahl von 1998 gesagt und diese Bemerkung mit ei-
nem Bekenntnis zum Kulturföderalismus verbunden. Ich
kann überhaupt nicht erkennen, sagte damals Herr
Lammert, dass der Bund dem Bedürfnis der Länder, Kul-
turarbeit zu einer ihrer politischen Schwerpunktaufgaben
zu machen ... dabei in irgendeiner Weise im Wege
stünde. Ich möchte Ihnen darin ausdrücklich zustimmen.
Wenn es eine Nationalkultur gibt, dann hat der Bund
eine Mitverantwortung für sie, und zwar wie das Bundes-
verfassungsgericht festgestellt hat aus der Natur der Sa-
che. Es gibt eine gesamtstaatliche Kompetenz und Ver-
antwortung für bestimmte kulturelle Angelegenheiten
auch im Hinblick auf Ziffer 3 des Antrages. Es ist eine der
kulturpolitischen Aufgaben des Bundes, sich gegenüber
den europäischen Institutionen für die Erhaltung der kul-
turellen Vielfalt einzusetzten. Allerdings sehe ich derzeit
keine von Brüssel ausgehende Gefährdung der föderalen
Strukturen und des kulturellen Pluralismus in Deutsch-
land und in Europa. Gerade die Europäische Union unter-
stützt ja regionale kulturelle Strukturen und Traditionen;
ich erinnere nur an die Europäische Charta der Regional-
oder Minderheitensprachen von 1992. Es steht für mich
zweifelsfrei fest, dass sich die weitere Entwicklung der
europäischen Union, die zunehmend die Konturen eines
historischen Europa nach dem Schisma des Ost-West-
Konfliktes abbildet, nicht an den Vereinigten Staaten von
Amerika orientieren darf, da für Europa die sprachliche
und kulturelle Vereinheitlichung der USA kein Vorbild
sein kann. Europa bleibt multilingual, multipolar, multi-
kulturell die Vielfalt macht die historische und kulturelle
Substanz Europas aus. Jeder Versuch, Europa zu verein-
heitlichen, ist in einer Katastrophe geendet, für den letz-
ten Versuch war Nazideutschland verantwortlich. Einen
europäischen Nationalstaat kann es nicht geben, ohne
dass Europa seine Seele verliert.
Eine wesentliche Bedingung für eine weiterhin gute
Entwicklung des Kulturföderalismus ist eine fruchtbare
Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden. Koope-
ration ist im Einzelfall mit klarer Verantwortungsteilung
nicht nur vereinbar, sondern verlangt diese geradezu. Da-
bei liegen die Schwerpunkte der Kulturpolitik des Bundes
nach meiner Auffassung im ordnungspolitischen Bereich.
Qua Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist der Deut-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118042
(C)
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(B)
sche Bundestag ein eminenter kulturpolitischer Akteur.
Niemand kann vernünftigerweise leugnen, dass die Ge-
staltung unseres Steuersystems und dabei denke ich
nicht nur an die Besteuerung ausländischer Künstler ,
das Urheberrecht, die Künstlersozialversicherung, das
Stiftungsrecht, die Buchpreisbindung, die Rahmenbedin-
gungen der kulturellen Entwicklung in Deutschland we-
sentlich prägt. Es gehört zum Amtsverständnis des Be-
auftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der
Kultur und der Medien, dass er unabhängig von der je-
weiligen Federführung seinen kulturpolitischen Sachver-
stand in die Beratungen der Bundesregierung zu all die-
sen Themengebieten einbringt.
Gegenwärtig macht der Etat meiner Behörde etwa
10 Prozent der gesamten staatlichen Kulturförderung aus.
Auch wenn das Gewicht der Kulturpolitik im Bund größer
geworden ist, so bedroht das doch die Gestaltungsmög-
lichkeiten der Kommunen und der Länder in keiner
Weise. Im Gegenteil, auch die Kommunen und die Län-
der haben Interesse daran, dass der Bund die kulturelle Di-
mension seiner Politik so ernst wie nur möglich nimmt.
Die Kulturpolitik der Länder und Gemeinden kann von
günstigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die kul-
turelle Entwicklung in Deutschland nur profitieren. Eine
wesentliche Ausweitung der Kulturförderung des Bundes
ist schon wegen des eingeschlagenen Konsolidierungs-
kurses der Bundesregierung nicht zu erwarten. Wo es zu
zusätzlichen Förderungen gekommen ist, wurden diese in
keinem Fall gegen den Widerstand des jeweiligen Sitz-
landes und der jeweiligen Kommune beschlossen. Dies
soll auch in Zukunft so bleiben.
Allerdings strebe ich an, die Verantwortlichkeiten in
Abstimmung mit den Ländern zu systematisieren. Auch
das historisch Gewachsene muss sich die Überprüfung
seiner Angemessenheit gefallen lassen. Wie gesagt, Ko-
operation und klare Verantwortungsteilung schließen sich
nicht aus.
Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hat
vor kurzem im Bundesrat festgestellt, dass der Föderalis-
mus Vielfalt zulasse, ohne die Einheit zu gefährden. Das
gilt in besonderem Maße auch für den Kulturföderalis-
mus. Auch hier darf es nach über 50 Jahren kein Denk-
verbot im Hinblick auf zeitgemäße Anpassungen und Mo-
difizierungen geben. Ich bin sehr dafür, die Ver-
antwortung zwischen Bund und Ländern präzise aufzu-
teilen. Einen ersten Schritt haben wir in Berlin getan, wo
wir eine diffuse gemeinsame Verantwortung des Landes
und des Bundes im Rahmen des Hauptstadtkulturvertra-
ges einvernehmlich mit dem Land Berlin abgelöst haben
durch eine alleinige Trägerschaft des Bundes bei vier
wichtigen Einrichtungen: bei dem Jüdischen Museum,
den Festspielen, dem Haus der Kulturen der Welt und dem
Gropius-Bau.
Aber es gibt eben auch Bereiche, die in gemeinsamer
Verantwortung wahrgenommen werden sollten, weil, wie
Josef Isensee feststellt, unser Grundgesetz die offene,
kommunikative und kooperative Kompetenzwahrneh-
mung fördert. Dies gilt zum Beispiel für Gedenkstätten
von nationaler Bedeutung. Hier dürfen die Kommunen
und die Länder nicht aus der gemeinsamen nationalen
Verantwortung entlassen werden. Unser Gedenkstätten-
konzept sieht dementsprechend vor, dass der Bund nur bis
zur Hälfte fördern darf. Und so, wie Konsens darüber be-
steht, dass auch in Zukunft wissenschaftliche Großfor-
schungsanlagen in der gemeinsamen Verantwortung von
Bund und Ländern bleiben sollen, plädiere ich dafür, dass
auch kulturelle Einrichtungen und Projekte von nationa-
ler Bedeutung in der gemeinsamen Verantwortung blei-
ben können. So war es der Wunsch der Kultusminister der
Länder, dass die geplante Nationalstiftung keine reine
Bundeseinrichtung wird, sondern von Bund und Ländern
gemeinsam getragen wird. Das von mir vorgelegte Kon-
zept entspricht dieser Idee einer gemeinsamen Träger-
schaft und steht insofern in der Logik eines kooperativen
Kulturföderalismus, der einer Balance zwischen Konkur-
renz und gemeinsamer Verantwortung verpflichtet ist.
Auch das große Projekt, die kulturelle Infrastruktur in
den neuen Ländern zu fördern und die Beschädigungen
aus der Vergangenheit zu beseitigen, ist ein national be-
deutsames Projekt der Kooperation des Bundes mit den
neuen Ländern und den Kommunen in den neuen Län-
dern. Dieses Gemeinschaftsprojekt hat großen Erfolg,
und es ist in den Haushaltsverhandlungen gelungen, eine
Verdoppelung des für 2002 in der mittelfristigen Finanz-
planung vorgesehenen Betrages von 30 auf 60 Millionen
DM zu erreichen. Auch hier plädiere ich für eine Fort-
führung der kulturpolitischen Kooperation.
Wodurch ist Deutschland groß, notiert Eckermann
1828 einen Gedanken Goethes, als durch eine bewunde-
rungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches
gleichmäßig durchdrungen hat ... Gesetzt, wir hätten in
Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenz-
städte Wien und Berlin oder gar nur eine, da möchte ich
doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände?
Es gibt nicht nur Wien und Berlin, sondern auch Mün-
chen und Dresden, Köln und Weimar, Hamburg und Stutt-
gart, Frankfurt und Potsdam, es gibt Gotha, Eutin, Do-
naueschingen und Bückeburg, um auch einige frühere
Residenzen kleiner Duodez-Fürstentümer zu nennen. An
diesen und vielen anderen Orten findet das kulturelle Le-
ben in Deutschland statt. Die Vielfalt ist faszinierend, und
wir sollten gemeinsam alles tun, um diese zu erhalten und
zu fördern. Ohne das kommunale Engagement würde
Deutschland kulturell verarmen. Wenn wir vom Kulturfö-
deralismus reden, dürfen wir seine kommunale Basis
nicht vergessen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
des Antrages: RUGMARK bei geplanter Fu-
sion mit Care&Fair unterstützen und gleich-
zeitig Vorsorge für ein mögliches Scheitern der
Verhandlungen treffen
der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
dem Antrag: Gegen den Missbrauch von Kin-
dern als Soldaten (Tagesordnungspunkt 15)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P):
Nach Angaben der Internationalen Koalition zum Stopp
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18043
(C)
(D)
(A)
(B)
des Einsatzes von Kindersoldaten befinden sich gegen-
wärtig mehr als 300 Kinder und Jugendliche unter 18 Jah-
ren sowohl Mädchen als auch Jungen in mehr als 30
Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. Weitere Hundert-
tausende werden in Regierungsstreitkräfte, Paramilitärs,
Milizen und andere bewaffnete Gruppierungen in 85 Staa-
ten rekrutiert. Täglich werden Kinder zum Militärdienst
entführt, gefangen genommen, verwundet und getötet.
Viele der heute erwachsenen Soldaten wurden als Kinder
rekrutiert. Je länger sich ein bewaffneter Konflikt hin-
zieht, um so wahrscheinlicher ist es, dass Kinder an ihm
teilnehmen. Während viele Kinder direkt an der Front
kämpfen müssen, werden andere als Spione, Boten,
Wächter, Diener oder Sexsklaven missbraucht oder zum
Verlegen oder Räumen von Minen eingesetzt. Oft werden
sie systematisch zur Begehung von Grausamkeiten sogar
gegen die eigene Familie gedrillt. Die meisten Kindersol-
daten werden körperlich missbraucht und erleiden andere
Entbehrungen. In Extremfällen werden sie in den Selbst-
mord getrieben oder werden selbst zu Mördern.
Es gibt aber auch Lichtblicke: Der Einsatz von Kin-
dersoldaten in Lateinamerika, dem Nahen Osten und auf
dem Balkan ist in letzter Zeit merklich zurückgegangen,
nachdem Kriege beendet wurden, in denen eine große
Zahl von Kindern kämpfte.
Erst kürzlich wurden Kindersoldaten in Sierra Leone
und im südlichen Sudan entlassen. Dies ist wohl nicht zu-
letzt auch ein Ergebnis des im Mai letzten Jahres durch die
UNO-Generalversammlung verabschiedeten Zusatzpro-
tokolls zur UN-Kinderrechtskonvention über die Beteili-
gung von Kindern an bewaffneten Konflikten. Deswegen
ist es richtig, dass die Bundesregierung mit dem heute hier
vorliegenden Antrag aufgefordert wird, sich weltweit für
eine Schutzaltersgrenze von mindestens 18 Jahren einzu-
setzen. Besser wäre es jedoch gewesen, wenn die Bun-
desregierung mit dem Antrag darüber hinaus auch aufge-
fordert worden wäre, die längst überfällige Ratifizierung
dieses Zusatzprotokolls zu vollziehen. Der Einsatz von
Kindersoldaten ist nämlich nicht auf Entwicklungsländer
beschränkt, auch in Industrieländern wie Großbritannien
und Amerika, aber auch in Deutschland ist die Rekrutie-
rung Minderjähriger möglich. Die FDP-Bundestagsfrak-
tion fordert die Bundesregierung daher auf, endlich eine
Rechtsgrundlage zu schaffen, mit der der Dienst an der
Waffe, auch auf der Basis der Freiwilligkeit, vor Errei-
chung der Volljährigkeit strikt ausgeschlossen wird.
Solange Deutschland hier nicht mit gutem Beispiel
vorangeht, kann die Bundesregierung sich nicht weltweit
überzeugend für eine schnelle Ratifizierung des Zusatz-
protokolls zur UN-Konvention über die Rechte des Kin-
des einsetzen. Wer von Dritte-Welt-Staaten fordert, keine
Kinder zu Tötungsmaschinen auszubilden, wie Außen-
minister Fischer dies getan hat, macht sich moralisch un-
glaubwürdig, wenn im eigenen Land Minderjährige zur
Bundeswehr rekrutiert werden können. Unsere SPD-Kol-
legin Frau Kortmann hat vollkommen recht, wenn sie die
gescheiterten Bemühungen der Bundesregierung, die Re-
krutierung von Minderjährigen zu verhindern, als De-
bakel bezeichnet und die Bundesregierung in dieser
Frage einen doppelten Menschenrechtsstandard vor-
wirft.
Daher muss jetzt dringend gehandelt werden. Aus die-
sem Grunde und weil aus unserer Sicht die heute hier zur
Debatte stehende Thematik in den weiteren Kontext der
Gewalt gegen Kinder gehört, hat die FDP-Bundestags-
fraktion einen eigenen Antrag Für eine VN-Resolution
zur Ächtung der Gewalt gegen Kinder auf dem Weltkin-
dergipfel in New York vorgelegt, der sich mit den unter-
schiedlichen Formen der Gewalt gegen Kinder wie Folter,
Entführung, Vergewaltigung, Zwangsarbeit, Nahrungs-
entzug, Schläge, Zwangsverheiratung und Zwangsrekru-
tierung zum Kriegsdienst auseinander setzt und den wir in
der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause zeitnah
zur Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen
über die Rechte der Kinder vom 19. bis 21. September
2001 hier im Bundestag debattieren möchten. Eine der
Kernforderungen unseres Antrages ist daher auch die Auf-
forderung an die Bundesregierung, das Zusatzprotokoll
zur Kinderrechtskonvention zügig zu ratifizieren. Mit
welcher moralischen Legitimation will die Bundesregie-
rung beim Kindergipfel in New York eigentlich auftreten,
wenn es ihr nicht gelingt, in dieser wichtigen Frage die ei-
genen Hausaufgaben zu machen? Dies gilt auch für
die dringend nötige Ratifizierung des Zusatzprotokolls
zu Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderporno-
grafie.
Die menschenrechtsverachtende Praxis vieler Staaten
und Bürgerkriegsparteien im Umgang mit Kindern steht
in eklatantem Widerspruch nicht nur zur VN-Konvention
über die Rechte der Kinder, sondern zur Allgemeinen
Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und
zum VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, de-
ren Mitglieder die meisten der betroffenen Staaten sind.
Zwar hat sich auch die diesjährige VN-Menschenrechts-
kommission erneut dem weltweiten Schutz der Rechte
von Kindern angenommen, es ist jedoch bedauerlich, dass
es bei insgesamt 82 Resolutionen nicht gelungen ist, eine
speziell dem gravierenden Menschenrechtsproblem der
Gewalt gegen Kinder gewidmete Resolution zu verab-
schieden. Nun sollten sich alle Kräfte darauf konzentrie-
ren, diesem wichtigen Anliegen auf dem Weltkindergipfel
einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Mit unserem
Antrag wollen wir hierfür werben und ich bitte alle Mit-
glieder dieses Hohen Hauses schon jetzt darum, unsere
Initiative zum Wohle der Kinder zu unterstützen.
Carsten Hübner (PDS): Die Verhandlungen über ei-
nen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen des Deutschen
Bundestages gegen das Kindersoldatenunwesen in vielen
Teilen der Welt gehörten zu den absurdesten Dingen, die
ich in meiner kurzen Zeit als Bundestagsabgeordneter er-
leben musste. Denn obwohl sich wirklich alle Fraktionen
weitgehend einig sind, wie dieses Problem zu bewerten
ist bis hin zur Kleinwaffenproblematik , ist es nicht ge-
lungen, zu einem interfraktionellen Antrag zu kommen.
Erst hat die Regierungskoalition ihren Antrag durchge-
drückt und CDU/CSU mit ihrem Ausschuss verhungern
lassen. Und nun schieben die Christdemokraten, einein-
halb Jahre nach seiner Einbringung, ihren Antrag nach.
Die PDS-Fraktion wurde zu keinem Zeitpunkt in einen
überfraktionellen Erarbeitungsprozess einbezogen. Ein
deutlicher Ausdruck dafür, wie sich selbst in moralisch
schwerwiegenden Fragen das Faktum Fraktions- und Par-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118044
(C)
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(A)
(B)
teiegoismus immer wieder Bahn bricht trotz aller schö-
ner Worte von gemeinsamer Verantwortung und unüber-
sehbarer Signale. Ich frage ernsthaft: Wie kann man bloß
in dieser Frage so kleinlich sein?
Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung jeden-
falls enthalten, weil die Punkte 3 und 9 in einem logischen
Widerspruch zueinander stehen. Denn gerade da, wo Kin-
dersoldaten im Einsatz sind, muss eine verantwortliche
Entwicklungszusammenarbeit ansetzen und nicht etwa,
wie vorgeschlagen, gekürzt oder sogar eingestellt werden.
Es erschreckt mich jedes Mal aufs Neue, wie schnell die
Entwicklungszusammenarbeit zur Verhandlungsmasse
für Sanktionen wird, während etwa Exportverbote für
Waffen, zumal Kleinwaffen, hier nicht mit einem Wort er-
wähnt werden.
Mir stehen leider nur drei Minuten zur Verfügung. Ge-
statten Sie mir deshalb, zum Rugmark-Antrag vor den
Ausschussberatungen nur Folgendes zu sagen: Erstens.
Es muss alles unternommen werden, damit Strukturen des
nachhaltigen und menschenrechtlich inspiriertem Labe-
lings gesichert und ihre Arbeitsmöglichkeiten ausgewei-
tet werden. Zweitens. Es muss zudem alles unternommen
werden, damit es endlich chic wird, solche Produkte zu
kaufen. Ich hatte das BMZ in diesem Zusammenhang be-
reits um die Herstellung eines Konsumentenberaters ge-
beten. Aber auch Modeschöpfer, Medien oder Handels-
ketten müssen in einer konzertierten Aktion mit ins Boot.
Nur so werden wir eine gesellschaftliche Breite erreichen,
die solche Handelsstrukturen stabilisiert und stärkt und
vom sogenannten Teesockenimage befreit. Die Botschaft
ist klar: Nachhaltigkeit ist modern!
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Wiedererhebung der
Vermögenssteuer (Tagesordnungspunkt 16)
Lydia Westrich (SPD): Es wird Sie nicht überra-
schen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der PDS,
dass wir Ihren Antrag auf Wiedererhebung der Vermö-
gensteuer wieder einmal ablehnen müssen, obwohl Sie
sich diesmal sehr viel Mühe mit den Eckpunkten gemacht
haben. Falls Sie es noch nicht gemerkt haben: Die rot-
grüne Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben längst be-
gonnen, auch große Vermögen stärker in die Verantwor-
tung zur Finanzierung der Staatslasten einzubeziehen.
Dazu brauchen wir kein neues kompliziertes Regelwerk.
Wir schärfen die vorhandenen Instrumente.
Wir haben beim Regierungswechsel nach 16 Jahren
kohlscher und waigelscher Steuerpolitik eine große Ge-
rechtigkeitslücke vorgefunden das ist wahr und des-
halb haben wir dann mit dem Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/2001 einen rasanten Kurswechsel eingeleitet.
Grundsätzlich zulässige, aber ungerechtfertigte Steuer-
schlupflöcher wurden geschlossen, die Bemessungs-
grundlage zugunsten der breiten Mehrheit der Steuer-
pflichtigen wurde auf eine breite Grundlage gestellt. Wir
haben verhindert, dass man sich steuerlich arm rechnen
kann durch künstliche oder bewusst herbeigeführteVerlus-
te. Damit ist die eigentliche wirtschaftliche Leistungsfä-
higkeit wieder in den Mittelpunkt gerückt. Das ist sozial
gerechte Steuerpolitik.
Dieses Jahr ist zum ersten Mal das Nettoeinkommen
stärker gestiegen als das Bruttoeinkommen. Zusammen
mit der Senkung der Lohnnebenkosten entlastet die Steu-
erpolitik der Regierungskoalition gerade niedrige und
mittlere Einkommen und bewirkt damit eine gerechtere
Lastenverteilung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern.
Auch die Unternehmenssteuerreform und natürlich das
Steuersenkungsgesetz waren Beiträge zur sozialen Ge-
rechtigkeit. Unternehmen fit und wettbewerbsfähig zu
machen, ist unabdingbar für steigende Produktivität und
den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Sie können die Steuerlasten auf dem Papier noch so fair
verteilen wollen: Es wird nicht gerechter, wenn es immer
weniger Menschen gibt, die Steuern bezahlen können,
weil sie einen guten, dauerhaften Arbeitsplatz haben.
Deshalb werden wir auch die Unternehmenssteuerreform
weiter entwickeln, damit sich unsere Betriebe dem euro-
päischen und globalen Wettbewerb stellen können. Natür-
lich sollen auch große Vermögen ihren Beitrag zur Finan-
zierung der Staatsaufgaben leisten. Und auch dazu hat die
Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zusam-
men mit der Regierung schon einiges auf den Weg ge-
bracht.
Ich erinnere an die Reform des Stiftungsrechtes, um
insbesondere Bildung, Wissenschaft, Kultur, aber auch in-
ternationale Entwicklungsarbeit stärker zu fördern. Wir
haben auf dem Gebiet der Kapitaleinkommensbesteue-
rung große Fortschritte im europäischen Konsens ge-
macht. Daran werden wir weiter arbeiten. Die waigelsche
Berichterstattung aus dem Ecofin bei der alten Bundesre-
gierung hat immer gelautet: Bei der Zinsbesteuerung
wurde auf europäischer Ebene leider nichts erreicht. Da
scheint der nötige Nachdruck gefehlt zu haben. Denn jetzt
haben wir eine Vereinbarung. Auf nationaler Ebene be-
stätigen die Finanzämter, dass der § 30 a Abgabenord-
nung, das fälschlich so genannte Bankgeheimnis, ihre Ar-
beit nicht behindere, sodass auch in diesem Bereich die
Steuern effektiver eingezogen werden können.
Gerade bei der Besteuerung von Kapitalerträgen wol-
len wir Steuerhinterziehung und Steuerflucht nicht länger
hinnehmen. Und Sie können sicher sein, dass diese Re-
gierung das Ziel einer einheitlichen europäischen Kapita-
lertragsbesteuerung nachdrücklich weiter befördert. Wir
haben eine Reihe von verbesserten Maßnahmen gegen
Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug durch inten-
sive Betriebsprüfung und Steuerfahndung eingeleitet. Wir
werden bereits im Herbst wieder einen Gesetzentwurf ha-
ben, der gegen den Umatzsteuerbetrug zu Felde zieht. Das
alles bedeutet, dass wir seit Beginn unserer Regierungs-
zeit zurückgekehrt sind zu einer Besteuerung nach dem
Prinzip der Leistungsfähigkeit. Wir haben kleine und
mittlere Einkommen entlastet, Steuerschlupflöcher ge-
schlossen und sind bei der Bekämpfung von Steuerhinter-
ziehung einen großen Schritt nach vorn gekommen. Be-
reits jetzt tragen auch große Vermögen zur Finanzierung
der Staatslasten bei. Und das ist auch gut so.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18045
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Dass es noch mehr Möglichkeiten gibt, große Vermö-
gen noch stärker in die Pflicht zu nehmen, ist unbestritten.
Erbschaftsteuer und Vermögensteuer sind verfassungs-
gemäße Instrumente dafür. Sie sind Ländersteuern. Falls
die Länder eine Gesetzesinitiative starten würden mit dem
Ziel, eine Neuregelung des Bewertungsgesetzes vorzu-
nehmen, um das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer zu
erhöhen, wird kaum eine Fraktion im Bundestag dagegen
sein können. Aber so weit sind die Länder noch nicht.
Deswegen nützt es auch nichts, wenn Sie Ihren jährlichen
Antrag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer hier stel-
len. Sie können Ihre Vorstellungen durchaus dort, wo Sie
Verantwortung tragen, voranbringen.
Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschafts-
forschung hat errechnet, dass der Anteil von Vermögen-
steuern im weiteren Sinn in Deutschland mit unter 1 Pro-
zent am Sozialprodukt erheblich niedriger ist als in
anderen großen OECD-Staaten. Deshalb war es unser An-
liegen, die alte Steuerpolitik, die großen Vermögen und
Einkommen viele Möglichkeiten des Steuersparens er-
möglichte und damit auch noch immense Staatsschulden
aufgehäuft hat, abzulösen. Wir haben der Steuerpolitik
nach 16 Jahren wieder ein soziales Gesicht gegeben.
In Richtung einer sozial gerechten Steuerpolitik haben
die Koalitionsfraktionen bereits in der kurzen Zeit mit ih-
rer Regierung vieles erreicht. Auf dem Gebiet der Er-
tragsbesteuerung haben wir mit dem Steuerentlastungsge-
setz einen großen Beitrag für mehr Steuergerechtigkeit
geleistet. Mit dem Stiftungsrecht haben wir ein gutes In-
strument geschaffen, viele andere Bereiche unserer Ge-
sellschaft wie Bildung, Wissenschaft, Kultur, Sport und
anderes mit neuen Geldquellen zu versorgen. Bei der
gleichmäßigeren Erfassung aller Zinseinkünfte, die sich
alternativ für die stärkere Heranziehung großer Vermögen
anbietet, sind wir einen guten Schritt vorwärts gekommen.
Andere Instrumente, mit denen wir eine noch stärkere
Beteiligung großer Vermögen an der Finanzierung staat-
licher Zukunftsaufgaben erreichen können, sind im Kon-
sens mit den Ländern durchaus möglich. Warten wir es ab.
Gerhard Schulz (CDU/CSU): Wieder einmal führen
wir in diesem Hohen Hause eine Gespensterdebatte. Ideo-
logische Schlachten der Vergangenheit sollen erneut ge-
schlagen werden. Der Antrag beweist, dass die PDS in ih-
rer ideologischen Verblendung das Wesen von Vermögen
nicht begriffen hat. Vermögen wird gebildet durch Sparen,
durch wirtschaftlichen Erfolg oder durch Ererben bzw.
Geschenktbekommen. Gleichgültig, woher das Vermögen
stammt: Es wird sofern es rechtmäßig erworben wurde
immer nach Steuern gebildet. Es unterlag immer der
Steuer. Wird es ererbt oder einem geschenkt, fallen Schen-
kung- oder Erbschaftsteuer an.
Erträge aus einem bestehenden Vermögen unterliegen
selbstverständlich der Besteuerung. Einkommensteuer,
Körperschaftsteuer oder Zinsertragsteuer müssen gezahlt
werden. Das heißt, bei jedem Zugewinn, bei jedem wirt-
schaftlichen Nutzen aus einem Vermögen, ist der Staat
schon der große Profiteur. Je höher der Ertrag, desto höher
die Besteuerung.
Darum geht es Ihnen aber nicht. Sie kommen mit Ihrer
Forderung aus der Mottenkiste Ihrer gescheiterten Ideo-
logie und wollen die Vermögensteuer wieder einführen.
Sie wollen bestehendes Vermögen ein zweites Mal be-
steuern. Sie wollen aus dem Steuerrecht ein Strafrecht für
Erfolg in der Marktwirtschaft machen. Sie wollen beste-
hendes Vermögen so lange besteuern, bis es auf den je-
weiligen Freibetrag reduziert ist. Sie wollen eine konfis-
katorische Bestandsbesteuerung.
Das ist kalte Enteignung. Vielleicht sind Sie ja allen
Ernstes der Meinung, sie beglückten die Menschheit,
wenn Sie dem Einzelnen nur das zugestehen, was Sie in
Ihrer unendlichen Güte noch für statthaft halten. Nur:
40 Jahre DDR haben gezeigt, dass Gleichmacherei nicht
zu gleich glücklich, sondern zu gleich unglücklich führt.
Dass mit einem solchen verkommenen System im
wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist, zeigt
die Tatsache, dass die Bürger dieses Staates ihn in den Or-
kus geworfen haben.
Nunmehr starten Sie einen erneuten Versuch der
Menschheitsbeglückung ein Verhalten, das Talleyrand
mit den Worten umschrieb: Nichts gelernt und nichts
vergessen! Aber man muss Ihnen ja geradezu dankbar
sein, dass Sie Ihre undemokratischen Ziele auch in der
Steuerpolitik so offen benennen. Sie lassen uns über den
Unrechtscharakter Ihrer Politik wenigstens nicht im Un-
klaren. Und eine solche Partei meldet ihren Anspruch an,
künftig auch in der Bundeshauptstadt mit regieren zu wol-
len.
Ich beglückwünsche die SPD zu ihrem neuen Partner.
Aber ich frage Sie: Ist Ihnen wirklich bewusst, worauf Sie
sich einlassen? Die PDS hat doch noch immer nicht be-
griffen, wie ein freiheitliches Gemeinwesen funktioniert.
Das zeigt der in ihrem Antrag formulierte Vorwurf, die
Steuerreform habe zu größerer sozialer Ungerechtigkeit
beigetragen, weil sie Unternehmen bevorteilt und die
öffentlichen Haushalte belastet habe. Sie haben nicht ka-
piert, dass diese Steuerreform so miserabel sie auch
konstruiert ist das Ziel hat, zur Steigerung des Bruttoso-
zialproduktes beizutragen, Arbeitsplätze zu schaffen und
zu sichern und durch höhere wirtschaftliche Tätigkeit
mehr Steuereinnahmen zu erzielen.
Ich weiß, dass Fakten und Sachargumente keinen Ein-
gang in Ihr hermetisches Weltbild finden. Ich versuche, es
Ihnen trotzdem zu erklären. Der Mensch ist nicht das so-
ziale Wesen, zudem Sie ihn in der Endphase des Kommu-
nismus machen wollten. Selbst durch Genmanipulation
wird das wohl kaum möglich sein, zumindest solange es
sich um freie Menschen handelt. Der reale Mensch in der
realen Welt fragt zuallererst: Was nützt mir? Und er hat
Recht mit dieser Frage. Sie selbst sind doch das beste Bei-
spiel für die Richtigkeit dieses Ansatzes: Ihr Antrag hat
doch nicht das Ziel, die Deutschen zu beglücken, sondern
möglichst viele der Unzufriedenen und nach eigenem Ge-
fühl zu kurz Gekommenen dazu zu bewegen, Sie zu
wählen. Das ist reines Nützlichkeitsdenken, Egoismus in
seiner zynischsten Form. Der Mensch, der sich zuerst
überlegt, wie er für sich selbst am besten sorgen kann, ist
kein unsozialer Mensch. Ganz im Gegenteil: Er zeigt sich
als besonders sozialer Mensch. Indem er für sich selbst
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118046
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sorgt, beansprucht er nicht die Hilfe der Gesellschaft. Und
über die von ihm geleisteten Steuern und Abgaben trägt er
sogar dazu bei, dass sich die Gesellschaft um die sorgen
kann, die selbst dazu nicht in der Lage sind. Unsere Ge-
sellschaft ist so konstruiert, dass der Eigennutz der Men-
schen zur Finanzierung solidarischer Leistungen genutzt
wird. Eine solche blanke Selbstverständlichkeit zu ver-
stehen, scheint Sie allerdings in jeder Hinsicht zu über-
fordern.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Einführung einer
Vermögenssteuer ab.
Christine Scheel (BÜNNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
CDU/CSU-F.D.P.-Koalition hat nach dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichtes vom Juni 1995 keine Neurege-
lung der Vermögensteuer getroffen. Die Vermögensteuer
wird deshalb seit 1997 nicht mehr erhoben.
Die Vermögensteuer ist ausgesetzt, nicht abgeschafft,
und natürlich wäre es rechtlich möglich, sie wieder zu er-
heben. Deshalb will ich gar nicht juristische Haarspalterei
betreiben, sondern gleich am Anfang klarstellen: Die rot-
grüne Koalition beabsichtigt nicht, diese Steuer wieder zu
erheben.
Dafür haben wir gute Gründe: Zum einen sind alle Än-
derungen bei der Vermögensteuer im Bundesrat zustim-
mungspflichtig. Die Länder haben aber erst Ende 1999 ei-
nem Antrag, die Vermögensteuer wieder zu erheben, nicht
zugestimmt. Die Länderkammer würde einem solchen
Antrag auch jetzt nicht zustimmen, denn die Länder ha-
ben den Erhebungsaufwand, und der ist gerade bei der
Vermögensteuer erheblich. Einige Untersuchungen zu
den Erhebungskosten gehen von bis zu 40 Prozent Kosten
aus. Das ist sicherlich ein extremer Wert. Auf jeden Fall
liegen die Kosten definitiv über den Erhebungskosten für
die Körperschaft- und Einkommensteuer. Diese ungün-
stige Relation der Kosten zu den Einnahmen der Länder
verwundert aber eigentlich nicht, wenn man sich allein die
Probleme einer kontinuierlichen Bewertung des Grund-
vermögens vor Augen hält.
Aus einem Grund hätte eigentlich die Mehrheit der
Länder 1999 für eine Wiedererhebung der Vermögen-
steuer stimmen müssen: Das Aufkommen aus der Vermö-
gensteuer fließt allein den Ländern zu. Im letzten Jahr der
Erhebung, 1996, brachte die Vermögensteuer rund 9 Mil-
liarden Mark in die öffentlichen Kassen. Allerdings wur-
den als Kompensation für die Länder ja die Erbschaft- und
die Grunderwerbsteuer erhöht und diese Einnahmen ha-
ben so von 1996 bis 2000 um fast 50 Prozent zugenom-
men. Und das sind ja auch Steuern auf Vermögen, wenn
auch auf den Vermögensübergang.
Zum anderen stünde es völlig im Widerspruch zu den
Zielen unserer Unternehmensteuerreform, eine betriebli-
che Vermögensteuer wieder zu erheben. Die Globalisie-
rung schreitet voran. Wir stehen als Unternehmensstand-
ort im Wettbewerb mit anderen Ländern. Dieser Realität
können wir nicht ausweichen. Wir müssen den Unterneh-
men deshalb attraktive Rahmenbedingungen bieten, wenn
wir wollen, dass sie in Deutschland investieren und hier
Arbeitsplätze sichern und schaffen. Diese Rahmenbedin-
gungen haben wir durch die durchgreifende Senkung der
Steuersätze geschaffen. Es wäre völlig unsinnig, wenn wir
die Effekte dieser Reform jetzt mit neuen Steuererhöhun-
gen wieder gefährden würden.
Bliebe also nur eine Vermögensteuer auf das private
Vermögen. In diesem Fall wäre aber das Kosten-Einnah-
men-Verhältnis noch schlechter. Hinzu kämen noch er-
hebliche Abgrenzungsprobleme zwischen betrieblichem
und privatem Vermögen.
Das sind einige Gründe, warum es politisch und öko-
nomisch wenig Sinn macht, die Vermögensteuer wieder
zu erheben. Ich finde es aber auch unter dem Aspekt einer
gerechten Besteuerung von großen Vermögen viel effek-
tiver, wenn wir die europäische Lösung für die Besteue-
rung von Zinsen weiter voran bringen. Letztendlich spie-
gelt sich in den Kapitalerträgen am besten wider, welchen
finanziellen Nutzen ein Vermögen einbringt.
Zum Abschluss möchte ich noch eine Bemerkung zur
Antragsbegründung machen. Die PDS spricht hier von
dem angeblich fehlenden sozialen Ausgleich bei der Ein-
kommensteuerreform. Dem muss ich widersprechen. Wir
haben die Entlastung bei der Einkommensteuerreform vor
allem auf die unteren und mittleren Einkommen konzen-
triert. So erhalten zu versteuernde Einkommen bis
40 000/80 000 Mark dieses Jahr fast 30 Prozent der Ge-
samtentlastung. Ihr Anteil am Einkommensteueraufkom-
men beträgt aber nur knapp 18 Prozent. Auch 2003 ist die
Entlastung der unteren und mittleren Einkommen über-
proportional. Sie erhalten mehr als 36 Prozent der Entlas-
tung bei einem Anteil am Aufkommen der Einkommen-
steuer von nur rund 14 Prozent. Sogar im Jahr 2005, dem
Jahr, in dem der Spitzensteuersatz um fünf Prozent auf
dann 42 Prozent sinkt, haben die kleinen Einkommen
noch 17,5 Prozent Anteil an der Entlastung bei einem An-
teil am Aufkommen von knapp 12 Prozent. Ich denke,
diese Zahlen sprechen für sich: Die rot-grüne Koalition
hat vor allem kleine und mittlere Einkommen entlastet.
Gisela Frick (F.D.P.): Der Antrag der PDS, der die
Wiedererhebung der Vermögensteuer verlangt, zeigt, dass
es noch immer viel zu wenig Grundverständnis für die so-
ziale Marktwirtschaft gibt. Beklagt werden die Entlastun-
gen bei der Einkommensteuer, gefordert wird staatliche
Umverteilung. Befürchtet wird der Rückgang staatlicher
Leistungen.
Um das zu verhindern, sollen Einkommen- und Ver-
mögensteuer zusammen 60 Prozent der Summe der Ein-
künfte betragen. Diese Forderung widerspricht nicht nur
dem grundgesetzlich gesicherten Schutz des Eigentums;
das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festge-
legt, dass das Grundgesetz dem Staat nur erlaubt, etwa die
Hälfte der Einnahmen wegzusteuern. Die Forderung be-
legt darüber hinaus, dass sich die PDS weigert, einige
Fakten zur Kenntnis zu nehmen: Unser Einkommen-
steuersystem ist von dem Grundsatz der Besteuerung nach
der Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Dem entspricht es,
dass die 10 Prozent der Bürger mit den höchsten Einkom-
men mehr als 50 Prozent des Einkommensteueraufkom-
mens aufbringen. Die 50 Prozent der Bürger mit den ge-
ringeren Einkommen, zu deren Schutzpatron sich die PDS
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machen möchte, tragen weniger als 10 Prozent zum
Steueraufkommen bei. Damit kann unser Einkommen-
steuersystem alles in allem schlicht und einfach nur als
gerecht bezeichnet werden.
Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft ist auch die
Freiheit des Einzelnen. Auch das will die PDS nicht wahr-
haben, wenn sie meint, der Staat könne Geld besser als der
Bürger investieren. Es ist doch aberwitzig zu unterstellen,
wie die PDS es tut, dass erzielte Einkünfte in der privaten
Schatulle bleiben. Tatsache ist vielmehr, dass Kapital
wieder investiert wird, sei es in Unternehmen, sei es in
den Wohnungsbau. Dadurch entsteht Wohnraum und
das sollte die PDS endlich einmal zur Kenntnis neh-
men Arbeitsplätze.
Aufgabe des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft
ist die Absicherung des Existenzminimums und die
Schaffung von Chancengleichheit für alle. Darunter ist al-
lerdings nicht Gleichmacherei zu verstehen. Investitionen
sollen sich rentieren, Risiko wird belohnt. Das geht aller-
dings nur in einer freien Marktwirtschaft, in der der Staat
nicht für alles zuständig ist und umverteilt. Zur Vermö-
gensteuer. Ihre Wiedererhebung ist verfassungswidrig,
weil sie dem so genannten Halbteilungsgrundsatz wider-
spricht. Zudem muss auch die PDS zur Kenntnis nehmen,
dass der Wegfall der Vermögensteuer durch eine Anhe-
bung der Erbschaftsteuern und der Grunderwerbsteuern
seinerzeit mehr als kompensiert wurde. Vermögen tragen
also in erheblichem Umfang zum Steueraufkommen bei.
Die F.D.P. ist aus diesem Grund gegen die Wiedererhe-
bung der Vermögensteuer.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrages: Digitale Spaltung
der Gesellschaft überwinden Eine Informati-
onsgesellschaft für alle schaffen (Tagesordnungs-
punkt 18)
Jörg Tauss (SPD): Die Kernaussage des heute zur
Beratung stehenden Antrages der Koalitionsfraktionen
Digitale Spaltung überwinden eine Informationsge-
sellschaft für alle schaffen kann kurz und prägnant in
einem Satz zusammengefasst werden: Die digitale Spal-
tung vorn heute kann die soziale und kulturelle Spaltung
von morgen bedeuten. Der Antrag befasst sich mit den
Herausforderungen, die zur Sicherung der Teilhabe aller
Bevölkerungskreise an der Wissens- und Informationsge-
sellschaft zu bewältigen sind. Die soziale Teilung (digi-
tal divide) in Teilnehmer und Nichtteilnehmer an neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien in
haves und have-nots ist angesichts des umfassen-
den Strukturwandels in allen modernen Gesellschaften
hin zur Informations- und Wissensgesellschaft ein zentra-
les Zukunftsproblem.
Dabei nimmt der Antrag Bezug auf die wichtige Initia-
tive e-Europe der Europäischen Kommission, das Ak-
tionsprogramm Innovation und Arbeitsplätze in der In-
formationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts und das
Zehn-Punkte-Programm der Bundesregierung Internet
für alle zur Überwindung der digitalen Spaltung der Ge-
sellschaft. All diese Aktivitäten enthalten wichtige Ziele
und Maßnahmen zur Überwindung der digitalen Spaltung
der Gesellschaft. Daher begrüßt der Antrag der Koaliti-
onsfraktionen insbesondere die Zielsetzung dieser Initia-
tiven, die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an diesem
Gesamtprozess sicherzustellen und so den sozialen Zu-
sammenhalt zu stärken.
Dabei greift der Antrag der Koalitionsfraktionen fünf
zentrale Schwerpunktthemen auf: den Zugang zu Infor-
mations- und Kommunikationsmöglichkeiten, den Zu-
gang zu Inhalten, die Sicherheit und den Schutz der Da-
ten und Informationen sowie den Zugang durch Wissen
und Bildung.
Erstens: Zugang zu Informations- und Kommunikati-
onsmöglichkeiten. Der Zugang zu den IuK-Technologien
wird als die entscheidende Voraussetzung für die Ent-
wicklung zur Informations- und Wissensgesellschaft an-
gesehen. Als besonders entscheidend wird der Auf- und
Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und eines
flächendeckenden breitbandigen Zugangs (im Fest- und
Mobilfunknetz) beschrieben. Doch entscheidend ist nicht
nur der technische Zugang, sondern der Abbau von ver-
schiedensten Zugangsbarrieren bis hin zur Überwin-
dung kultureller Barrieren und die Entwicklung einer
umfassenden Medienkompetenz.
Zweitens: Zugang zu Inhalten. Der technische Zugang
allein reicht nicht aus. Den zweiten Schwerpunkt richtet
der Antrag dann auch konsequenterweise auf die Not-
wendigkeit der Verfügbarkeit relevanter und hochwerti-
ger Informationen und Inhalte im Internet. Hierzu wird
mittelfristig auch die Sicherstellung der Archivierung,
also die Sicherstellung des kulturellen Gedächtnisses,
zählen. Wenn in der sich herausbildenden Wissens- und
Informationsgesellschaft Inhalte oft nur noch in digitaler
Form vorliegen, müssen hierfür neue Instrumente ent-
wickelt werden, um auch in dieser Gesellschaftsformation
die Kontinuität des kulturellen und gesellschaftlichen
Gedächtnisses sicherstellen zu können. Neben oft un-
überbrückbaren Hürden wie sich rasch ablösende Soft-
wareversionen fehlen bis heute neue Institutionalisie-
rungsprozesse und der Aufbau neuartiger Routineabläufe,
wie sie heute bei der Archivierung in Bibliotheken selbst-
verständlich sind. In diesem Zusammenhang sei auch
noch einmal auf die Notwendigkeit eines Informations-
freiheitsgesetzes angesprochen, wie dies in der Koaliti-
onsvereinbarung vereinbart ist.
Drittens: Sicherer Zugang. Angesichts der immer
größeren Bedeutung, die die neuen Informations- und
Kommunikationsmöglichkeiten in allen gesellschaftli-
chen Bereichen haben, kommt dem Schutz und der Si-
cherheit von Informationen und Daten eine zentrale Rolle
zu. Sie werden zu den zentralen Akzeptanzvoraussetzun-
gen in der Wissens- und Informationsgesellschaft und
ohne einen derartigen Schutz und vor allem ohne eine der-
artige Akzeptanz werden auch die vielen Geschäftsmo-
delle der Net Economy schneller kollabieren, als der Kurs
am Neuen Markt zu fallen vermag; von den Angeboten
wie e-Demokratie oder e-Verwaltung ganz zu schweigen.
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Angesprochen werden die neuen Gefährdungspoten-
ziale, wobei hier festzuhalten bleibt, dass eine Debatte
über die tatsächlichen Bedrohungen leider noch immer
aussteht und dass wir uns datenmäßig auf sehr unsicherem
Terrain bewegen. Die Novellierung des BDSG in der ers-
ten Stufe, mit der die EG-Datenschutzrichtlinie umgesetzt
und erste neue technikrechtliche Instrumente eingeführt
wurden, ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige
Richtung. Die zweite Stufe, in der eine umfassende Mo-
dernisierung des Informationsrechtes auf der Agenda
steht, ist zugleich eine wichtige Pilotphase in Sachen elek-
tronischer Demokratie.
Viertens: Zugang durch Wissen und Bildung. Dieser
Abschnitt des Antrages der Koalitionsfraktionen stellt
fest, dass Medienkompetenz die Grundvoraussetzung für
die individuelle Teilhabe an der Wissens- und Informati-
onsgesellschaft darstellt. Die Bundesregierung hat hierzu
zahlreiche Projekte und Programme initiiert, die eben ge-
nau diesen Schwerpunkt setzen. Dabei gilt es zunehmend
auch darauf zu achten, dass die Vermittlung von Medien-
kompetenz und informationstechnischer Kompetenz ver-
stärkt auch in der Lehrerausbildung verankert werden
muss.
Fünftens: Zugang als demokratische Teilhabe. Dieses
Kapitel widmet sich abschließend der gesamtgesell-
schaftlichen Dimension eines möglichen digital divide
und stellt die erheblichen Partizipationspotenziale in den
Mittelpunkt der Betrachtung. Es gibt inzwischen auf allen
Ebenen zahlreiche e-Demokratie-, e-Government- und
e-Verwaltung-Projekte, die diese Potenziale fruchtbar
machen wollen. Der Deutsche Bundestag hat auf Initia-
tive des Unterausschusses Neue Medien die umfassende
Modernisierung des Informationsrechtes der Bürgerinnen
und Bürger zum Anlass genommen, ein eigenes e-Demo-
kratie-Pilotprojekt zu starten. Dieses Vorhaben dient vor
allem der Auslotung der Chancen und Möglichkeiten
eben dieser elektronischen Demokratie hinsichtlich einer
verbesserten Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Heute
Früh hat er das Projekt, das über die Homepage des Bun-
destages oder aber www.elektronische-demokratie.de er-
reichbar ist, offiziell gestartet. Zum ersten Mal kann somit
ein Gesetz nicht nur im Parlament, sondern auch im In-
ternet mit entstehen. So sollen im Rahmen der Moderni-
sierung des Datenschutzrechtes und des Informationsfrei-
heitsgesetzes nicht nur die Referentenentwürfe, sondern
auch Ergebnisse der Expertengutachten, die Positionen
der Bundestagsfraktionen und die von den Verbänden vor-
gelegten Stellungnahmen im Internet veröffentlicht und
vor allem zur Diskussion gestellt werden. Denn das ist der
eigentliche Kern des e-Demokratie-Pilotprojektes der
interaktive Austausch: Potenziell jede Bürgerin und jeder
Bürger kann sich an der Diskussion um die Ausgestaltung
eines modernen Informationsrechtes für die Wissens- und
Informationsgesellschaft beteiligen.
Die Koalitionsfraktionen beziehen hier unter den
Stichworten Teilhabe und Partizipation auch im Unter-
schied zu den Leitlinien der inneren Sicherheit der CDU,
wie dies auch die Internet-Beauftragte der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion zu Recht feststellt eine eindeutige
und vor allem eine Internet-taugliche Position: Herausge-
stellt wird, dass eine Zensur, die Verpflichtung zur auto-
matischen Filterung von Inhalten oder eine generelle
Überwachung elektronischer Kommunikation für demo-
kratische Staaten nicht in Betracht kommen kann. Gerade
deshalb ist die Entwicklung eines der neuen Medienwirk-
lichkeit angepassten und effektiven Jugendmedien-
schutzes notwendig.
In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal auf die
Grundfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ver-
wiesen. Die Koalitionsfraktionen fordern den Bund und
die Länder auf, den Strukturwandel im Rundfunk-, Me-
dien- und Telekommunikationsbereich aktiv zu gestalten.
Die Fraktion der SPD und die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen leiten aus dieser Analyse des Ist-Zu-
standes zahlreiche Forderungen ab, wobei die wichtigsten
Forderungen an die Bundesregierung lauten: rasche und
entschlossene Umsetzung des Aktionsprogramms und die
Unterstützung der europäischen e-Europe-Initiative;
Maßnahmen zur Aufhebung der digitalen Spaltung in den
Mittelpunkt einer modernen Informations- und Kommu-
nikationspolitik stellen; Bestand und Weiterentwicklung
(auch im Online-Bereich) des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks sicherstellen; Informationsangebot der Bun-
desregierung und Behörden verbessern und möglichst
rasch das Informationsfreiheitsgesetz umsetzen; Initiati-
ven zur Steigerung der Sicherheit und Stabilität von In-
frastrukturen weiterführen (Kritische Infrastrukturen);
hohes Datenschutzniveau verwirklichen und Daten-
schutzrecht modernisieren; die Integration der Neuen Me-
dien in Bildung; Ausstattung der Bildungseinrichtungen
in Kooperation mit KMU verbessern; in enger Abstim-
mung mit den Bundesländern den Reformbedarf hinsicht-
lich der bestehenden Medien- und Kommunikationsord-
nung prüfen und eine Bund-Länder-Initiative zur besseren
Koordination anstoßen, wie dies im Aktionsprogramm
angekündigt ist; regelmäßig einen Medien- und Kommu-
nikationsbericht vorlegen, der abgestimmt mit den Zwi-
schenbilanzen desAktionsprogramms, dem Zehn-Punkte-
Programm und dem Aktionsplan e-Europe über die
Entwicklungen in diesem Bereich unterrichtet.
Ich bitte um die Zustimmung zu diesem Antrag. Ei-
gentlich müsste es doch ein unumstritten gemeinsames
Anliegen des Deutschen Bundestages sein, eine derartige
digitale Spaltung zu verhindern, um die vielen Hoffnun-
gen und Erwartungen, die mit eben dieser Gesellschafts-
formation verbunden werden, Wirklichkeit werden zu
lassen.
Monika Griefahn (SPD): Es wundert mich manch-
mal, dass die meisten Fragen, die mit den modernen In-
formations- und Kommunikationstechniken zusammen-
hängen, in der Öffentlichkeit, aber auch in der Politik
deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren, als ihnen ei-
gentlich gebührt. Dabei sollte es sich doch inzwischen
herumgesprochen haben, dass der Computer und das In-
ternet die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland,
in Europa, ja weltweit in den nächsten Jahren weit stärker
beeinflussen wird, als manch anderes Thema, das die po-
litischen Debatten bestimmt und Schlagzeilen produziert.
Es ist ja nicht so, als wären Computer und Internet le-
diglich beliebige technische Neuerungen unter einer Viel-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18049
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zahl anderer. Es wird in absehbarer Zukunft keinen Be-
reich des gesellschaftlichen Lebens, des Alltags der Men-
schen mehr geben, in dem der Computer nicht eine her-
ausragende, ja tragende Rolle spielt. Wirtschaft und
Gesellschaft sind bereits heute in hohem Maße informati-
onstechnisch gestützt und werden es in Zukunft erst recht
sein.
Der Eintritt in die das vorletzte und letzte Jahrhundert
so prägende Industriegesellschaft war durchdrungen von
dem harten, viele Menschen existenziell bedrohenden
Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Der lange Zeit an-
haltende Ausschluss der arbeitenden Menschen vom ge-
sellschaftlichen Reichtum, aber auch von der Information
und dadurch von der Macht, war der kapitalistisch verfass-
ten Industriegesellschaft von Anfang an in die Wiege ge-
legt. Es bedurfte vieler und harter Kämpfe der Arbeiter-
bewegung, um die Teilhabe der arbeitenden Menschen an
Staat und Gesellschaft und letztendlich auch am Betriebs-
vermögen durch Anteile oder heute Vorzugsaktien durch-
zusetzen.
Der Übergang von der Industrie- zur Informations- und
Wissensgesellschaft ist ebenfalls von Gefahren sozialer
und kultureller Ausgrenzung bedroht. Die Benachteili-
gungen, von denen zu reden sein wird, sind bei weitem
nicht so weitreichend, nicht so scharf und nicht so exis-
tenziell bedrohend wie die Konflikte, die für die Früh-
phase der Industriegesellschaft prägend gewesen waren.
Ernst nehmen muss man sie doch.
Die Beobachtung des digital divide oder auf
deutsch der digitalen Spaltung der Informationsge-
sellschaft ist nicht neu. Vor gut zehn Jahren, als man all-
mählich eine Vorstellung davon bekam, dass die techni-
sche und kulturelle Beherrschung des Computers
irgendwann die Eintrittskarte in das gesellschaftliche und
berufliche Leben sein würde, ist zugleich deutlich gewor-
den, dass es noch lange eine große Anzahl Menschen ge-
ben würde, die aus vielerlei Gründen von der Teilhabe an
der Informationsgesellschaft ausgeschlossen bleiben
würde. Die Aufgabe der Politik besteht also darin, dafür
Sorge zu tragen, dass die bereits bestehende digitale Spal-
tung nicht noch tiefer, sondern nach und nach überwun-
den wird. Die Bundesregierung hat mit ihrem Zehn-
Punkte-Programm Internet für alle die Richtung und die
Inhalte, um die es gehen wird, und mit dem Aktionspro-
gramm ein Paket mit Zielperspektive vorgegeben.
Die Anschaffung und der Betrieb eines internetfähigen
Computers kosten Geld. Gemessen am Durchschnittsein-
kommen kosten sie sogar viel Geld, besonders da sich die
Technik so schnell weiterentwickelt und ständig Neuan-
schaffungen erfordert. Deswegen ist es wichtig, dass all
diejenigen, die sich gegenwärtig einen Computer noch
nicht leisten können, die Chance erhalten, über öffentliche
Terminals die modernen Informations- und Kommunika-
tionstechniken zu nutzen. Neben der vom Bundesbil-
dungsministerium geförderten Einrichtung von Me-
dienecken in öffentlichen Bibliotheken wird es verstärkt
darauf ankommen, darüber hinaus öffentliche Einrichtun-
gen zu Kommunikationszentren auszubauen und auch
mobile Internetcafes zu fördern und voranzubringen.
Ein besonderes Augenmerk müssen wir auf jene Grup-
pen in der Gesellschaft richten, die zumindest gegenwär-
tig noch internetfern sind. Dazu gehören Arbeitslose,
Behinderte und auch ältere Menschen und auch immer
noch Frauen. Die Bundesregierung hat auch hier die Wei-
chen richtig gestellt. Das im Zehn-Punkte-Programm der
Bundesregierung vorgesehene Internetzertifikat für Ar-
beitslose ist ein wichtiger Schritt und hilft bei der Wie-
dereingliederung in das Berufsleben. Diese Maßnahme ist
ein Beitrag zur Wiedereingliederung in das Berufsleben.
Weitere Anstrengungen bleiben nötig.
Um mehr behinderte Menschen an den Computer he-
ranzuführen, müssen sich vor allem Hard- und Soft-
wareanbieter um technische Vereinfachungen und Hilfen
bemühen. Dazu gehört insbesondere die benutzerfreund-
liche und behindertengerechte Handhabung des Gerätes.
Das Nutzungsverhalten zeigt deutlich: Der Computer
und das Internet spalten immer noch die Generationen.
Aber auch ältere Menschen dürfen vom gesellschaftlichen
Leben in der Wissens- und Informationsgesellschaft nicht
ausgeschlossen werden. Was wir brauchen, sind gezielte
Fördermaßnahmen, die Entwicklung spezieller Seminar-
konzepte und -angebote für Senioren und mit Blick auf
den Arbeitsmarkt gezielte Qualifikationsmaßnahmen für
ältere Arbeitnehmer und Arbeitslose. Das vom Bundes-
wirtschaftsministerium geförderte Senior-Mobil ist
eine richtige Maßnahme, reicht aber auf Dauer natürlich
nicht aus.
Exemplarisch kann man die Generationenkluft immer
noch in der täglichen Schulpraxis erleben. Noch immer ist
der Satz, wonach die Schüler ihre Lehrer in die Geheim-
nisse des PC einweihen, keineswegs falsch. Ich habe es
eingangs erwähnt und wiederhole: Beherrschung des
Computers ist die Eintrittskarte in das Berufsleben. Und
nicht nur das: Sie ist inzwischen zu einer unverzichtbaren
Kulturtechnik geworden. Deshalb ist die Nutzung von PC
und Internet ein Handwerk, dass Kinder neben den jetzi-
gen Grundlagen wie die deutsche Sprache lernen müssen.
Sie müssen aber auch sehr früh ein zweite Sprache Eng-
lisch, Französisch, Russisch lernen müssen. Zu fragen
ist dabei, ob Jugendliche die Lust am Surfen dann verlie-
ren, wenn es vorgegebener Lernstoff ist und nicht nur frei-
willig ist.
Aber vom Grad der Bildung und Ausbildung der Men-
schen in Deutschland hängt die Zukunftsfähigkeit unserer
Gesellschaft und die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft
ab, allerdings wenn man die OECD-Zahlen betrachtet
nicht ausschließlich der Umgang mit dem PC und dem In-
ternet. Die Bundesregierung befindet sich diesbezüglich
in einer schwierigen, aber nicht aussichtslosen Lage: Sie
muss einerseits die schweren Versäumnisse ihrer Vorgän-
ger überwinden und zugleich noch an Tempo zulegen, um
international in allen Bereichen gleichzuziehen.
Für die Bundesregierung ist das Internet Bestandteil
der Allgemeinbildung. Gemeinsam mit den Ländern und
der Wirtschaft setzt sie sich für die Anwendung moderner
Informations- und Kommunikationstechniken in unserem
Bildungssystem ein. Die beschleunigte Ausstattung der
Berufsschulen wurde vom Bundesbildungsministerium in
Angriff genommen.
Die Initiative e-europe in der Europäischen Union,
der eigentliche Anlass der heutigen Debatte, will eine ver-
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besserte und modernisierte Internet-Infrastruktur der
Hochschulen sowie den Zugang zu relevanten Informa-
tionen und Multimedia-Vorlesungen für Studierende. Sie
will den Internetzugang für alle Schulen auch in benach-
teiligten Gebieten. Und sie will Unterstützungsdienste für
Lehrer und Schüler.
Diese Ziele sind auch die Ziele der Bundesregierung.
In Zusammenarbeit mit der IuK-Branche sollen alle deut-
schen Schulen so schnell wie möglich mit Internetzugän-
gen versehen werden. Eine anhaltende, kontinuierliche
Kooperation mit IT-Fachleuten und Sponsoren soll durch
Patenschaften für Schulen gewährleistet werden, die be-
sonders für die Fortbildung von Lehrkräften genutzt wer-
den soll.
Unverzichtbar ist die informationstechnische Aus- und
Weiterbildung für alle Bevölkerungsgruppen. Die Bun-
desregierung verfolgt das Ziel, Abgängern aus IuK-Beru-
fen, Quereinsteigern und Berufsanfängern eine systema-
tische, hoch qualifizierte Weiterbildung im IuK-Bereich
zu ermöglichen. Sozialpartner, Branchen- und Unterneh-
mensvertreter sowie Experten aus der Herstellerbranche
und verschiedenen Anwenderbereichen wirken daran mit.
Es wird darauf ankommen, den jetzt eingeschlagenen
Weg des Aufbaus eines modernen Weiterbildungs- und
Qualifizierungssystems unbeirrt weiter zu verfolgen. Eine
informationstechnische Grundausbildung sollte aber auch
zum Standard in anderen als informationstechnischen
Ausbildungsberufen werden. Die Ausbildungsordnungen
müssen weiter modernisiert werden.
Ich wünsche mir, dass dem Megatrend zur Informati-
ons- und Wissensgesellschaft in der Öffentlichkeit mehr
Aufmerksamkeit gewidmet wird. Es ist höchst unbefrie-
digend, wenn das Internet vorwiegend in Zusammenhang
mit Nazis und Kinderpornographie Erwähnung findet.
Wie jedes Medium hat auch das Internet seine in diesen
beiden Fällen besonders widerliche Schattenseiten. Das
Internet ist aber vor allem und hauptsächlich ein Medium,
ein Handwerkszeug, das uns allen nutzen kann und nut-
zen wird.
Das mit 670 Millionen DM ausgestattete Programm
Neue Medien fördert die Entwicklung hochwertiger
Lehr- und Lernsoftware. Mit der Förderung virtueller
Hochschulen sollen die Voraussetzungen für überregio-
nales, multimediales Lernen und Arbeiten an den Hoch-
schulen verbessert bzw. erst geschaffen werden.
Die zeit- und ortsunabhängige Nutzung wissenschaft-
licher Publikationen wird für Wissenschaftler und Studie-
rende immer wichtiger. Deshalb ist der Aufbau einer di-
gitalen Bibliothek, die den Zugang zu den global
vorhandenen wissenschaftlich-technischen Informatio-
nen ermöglichen soll, so wichtig.
Und zum Schluss: Ich wünsche mir von Herstellern
und Providern auch eine Bedienergrundeinheit, die Spaß
macht. Denn manchmal ist auch heute noch die Suche
nach Informationen zeitaufwändig und nervig.
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Das Internet ist
viel mehr als nur ein Informationsmedium. Das Internet
ist eine neue Basistechnologie. Es ist Datenautobahn,
Marktplatz, öffentliches Forum und privates Kommuni-
kationsmittel zugleich. Dies bedeutet: Der Zugang zum
Internet und die Fähigkeit zur Nutzung des Internet wer-
den für jeden Menschen zu einer wesentlichen Vorausset-
zung, um am wirtschaftlichen, politischen und sozialen
Leben überhaupt teilnehmen zu können. Die Möglich-
keit und die persönliche Fähigkeit, die neuen Medien zu
nutzen, entscheiden in Zukunft immer stärker über Teil-
habe am gesellschaftlichen Leben und persönliche Chan-
cen auf dem Arbeitsmarkt. Eine breite Internetnutzung ist
auch für unsere Wirtschaft, unsere Wettbewerbsfähigkeit
und damit für neue Arbeitsplätze entscheidend. Je mehr
Menschen schnellen Zugang zu Informationen haben und
diese anwenden, desto mehr kann die Wirtschaft wachsen
und können neue Arbeitsplätze entstehen. Schließlich hat
eine breite Internetnutzung eine demokratiepolitische Di-
mension, da auch der Meinungsbildungsprozess zuneh-
mend im Internet stattfinden wird. Wer keine Internet-
kompetenz hat, wird auf Dauer vom demokratischen
Prozess immer stärker ausgeschlossen sein.
Deshalb ist es eine der zentralen Aufgaben für die Po-
litik, jedem Einzelnen den Zugang zum Internet zu er-
möglichen. Der Zugang zum Internet ist entscheidend für
die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Internet für alle ist
das Ziel, um die digitale Spaltung der Gesellschaft zu ver-
hindern. Internet für alle ist die Voraussetzung für unsere
Gesellschaft, den Wandel von der Industrie- zur Wissens-
gesellschaft zu vollziehen und die großen Chancen für die
Zukunft zu nutzen.
Leider belegen aktuelle Untersuchungen, dass die Ge-
fahr der digitalen Spaltung in user und loser, in so ge-
nannte ,,onnies und offies, in Deutschland wächst. Die
Kluft zwischen denjenigen, die im Umgang mit PC und
Internet fit sind und denjenigen, die weder Zugang zur di-
gitalen Welt noch Kenntnisse der Informationsverarbei-
tung haben, wird größer. Aktuelle Studien prognosti-
zieren, dass auch im Jahr 2004 in Deutschland noch
30 Millionen Menschen vom Internet ausgeschlossen
bleiben. Die Trennlinien verlaufen anhand von drei Krite-
rien: Altersstruktur, Ausbildungsstand und Wohngebiet.
Es besteht bereits jetzt die Gefahr, dass in einigen Bevöl-
kerungsgruppen bestimmte Bildungsgänge, Frauen, Se-
nioren, Arbeitslose, Bewohner ländlicher Gebiete die
Abweichung der Internetnutzerverteilung von der Zusam-
mensetzung der Gesamtbevölkerung noch weiter zuneh-
men wird.
Eine wesentliche Ursache ist die falsche Politik der
Bundesregierung. Die Aktion Internet für alle kommt
viel zu spät. Bereits im September 1999 wurde unter
großem öffentlichen Getöse das Aktionsprogramm Inno-
vation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft
des 21. Jahrhunderts vorgestellt aber erst jetzt, fast
zwei Jahre später, soll die Aktion anlaufen. Zwei Jahre hat
die Bundesregierung untätig verstreichen lassen. Zwei
Jahre sind im immer schneller werdenden Internetzeital-
ter eine Zeitspanne, die im globalen Wettbewerb über
Sein oder Nichtsein entscheidet. Die Bundesregierung hat
die Entwicklung verschlafen und ist deshalb entscheidend
dafür verantwortlich, dass sich die digitale Spaltung in
Deutschland verschärft hat mit allen negativen sozialen
und wirtschaftlichen Folgewirkungen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18051
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Aber die Politik befindet sich nicht nur auf der
Kriechspur. Sie schlägt in vielen Bereichen auch noch die
vollkommen falsche Richtung ein. Im internationalen
Vergleich gibt es in Deutschland einfach viel zu viele Zu-
gangshürden zum Internet. Zugangshürde Nummer eins
sind die Kosten. Auch Bezieher niedriger Einkommen
müssen Zugang zur Infrastruktur Internet haben. Der Zu-
gang zum Internet muss so günstig wie möglich sein.
Wahr ist aber, dass die Zugangskosten in Deutschland,
insbesondere bei zeittaktunabhängigen Tarifen, so ge-
nannte Flatrate, in Deutschland im internationalen Ver-
gleich nach wie vor zu hoch sind. Auch der Wettbewerb
im Ortsnetz ist in Deutschland vollkommen unzurei-
chend. Bei der flächendeckenden Umstellung auf die
DSL-Technologie hinkt Deutschland hinterher. Schlimm
ist, dass die Bundesregierung durch falsche Politik bei den
Kosten noch draufsattelt: Urheberrechtsabgaben auf
Hardware und drohende Belastungen in Milliardenhöhe
durch die TKÜV würden die Zugangskosten in Deutsch-
land einseitig weiter in die Höhe treiben und gerade für
Menschen mit geringem Einkommen den Einstieg ins In-
ternet zusätzlich erschweren.
Eine weitere Hürde ist die mangelnde Medienkompe-
tenz. Die wachsende digitale Spaltung ist immer mehr ein
Bildungsproblem. Bildung im Internet-Zeitalter muss die
Menschen vor allem dazu befähigen, Informationsange-
bote zu verstehen, analysieren und bewerten zu können.
Das fängt in der Schule an. Eine Studie vom Mai 2001 be-
legt: Noch nie war die Kluft bei der Internetnutzung zwi-
schen Hauptschülern und Gymnasiasten so groß wie
heute. Selbst wenn eines Tages alle ,,Schulen ans Netz
angeschlossen sind, bleibt die digitale Spaltung weitge-
hend erhalten, solange nicht gleichzeitig die Allgemein-
bildung in Deutschland von elementaren Kulturtechni-
ken bis zu Englischkenntnissen verbessert wird und
allgemeine Lebenskompetenzen wie zum Beispiel Selbst-
ständigkeit, Vorstellungsvermögen, Auswahlfähigkeit
und schnelle Auffassungsgabe eingeübt und stärker ge-
fördert werden. Deshalb muss es richtigerweise heißen:
Nicht das Internet spaltet die Gesellschaft, sondern die
vorhandene Bildungskluft innerhalb der Bevölkerung.
Von immer größerer Bedeutung für eine zukunftsorien-
tierte Bildungspolitik sind deshalb tragfähige Konzepte
für lebenslanges Lernen, Weiterbildung, Umschulung am
PC. Auch hier fehlt eine Gesamtstrategie: Nur die Green-
card und der Internetführerschein für Arbeitslose reichen
nicht aus und gehen am eigentlichen Problem vorbei.
Viele Menschen sehen im Internet noch nicht den zu-
sätzlichen Mehrwert für die Alltagsbewältigung. Umfra-
gen zufolge gibt jeder vierte so genannte Nichtnutzer
als Grund an, er habe generell kein Interesse am Internet,
weil für ihn persönlich zu wenig attraktive Angebote im
Netz seien. Gerade deshalb ist die Vorreiterrolle des Staa-
tes entscheidend. Der Bund selbst ist aber in Deutschland
auch eine Akzeptanzhürde für die Nutzung des Internets.
Bei Onlinedienstleistungen des Bundes, Steuererklärung,
Ausschreibung und Vergabe öffentlicher Aufträge liegt
Deutschland im internationalen Vergleich zurück. Dabei
liegen gerade im Bereich des E-Government enorme Po-
tenziale sowohl für den Abbau der Bürokratie, für einen
schlanken, effizienten Staat als auch für einen erkennba-
ren Nutzen für die Bürger und Unternehmen, staatliche
Dienstleistungen per Mausklick von zu Hause erledigen
zu können.
Vollends in die falsche Richtung geht schließlich die
Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Gerade für
kleine und mittlere Unternehmen ist das Internet die Ein-
trittskarte für die globalen Märkte. Doch gerade diese Un-
ternehmen erleiden in Deutschland durch die unzurei-
chende Steuerreform, die zunehmende Reregulierung der
Arbeitsmärkte und die drohende Rechtsunsicherheit im
E-Commerce durch das EGG enorme Wettbewerbsver-
zerrungen. So verwundert es nicht, dass deutsche Unter-
nehmen im internationalen Vergleich bei Internet- und
E-Commerce-Nutzungsraten gegenüber den USA und
den skandinavischen Ländern zurückliegen. Damit ist der
Teufelskreis in Gang gesetzt. Ein großer Teil der deut-
schen Bevölkerung sieht noch keinen ausreichenden Nut-
zen im E-Commerce. Für die Unternehmen erscheinen
E-Commerce-Angebote aber erst ab einer kritischen
Masse wirtschaftlich sinnvoll. Der Mehrwert des Ange-
bots gegenüber alternativen Optionen steigt aber mit den
Anwendern. Gleichzeitig fällt es leichter, weitere Nutzer
zu gewinnen. Die falsche Wirtschaftspolitik sorgt also zu-
sätzlich dafür, dass sich die digitale Spaltung in Deutsch-
land verfestigt. Wir brauchen nicht immer mehr neue
halbherzige Programme und unabgestimmte Aktions-
pläne aus diversen Ministerien, sondern eine netzwerk-
orientierte Gesamtstrategie. Nur dann schaffen wir es,
dass alle drin sind und möglichst keiner draußen.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Wissensgesellschaft lebt vom Zugang zu Informationen.
Auch in unserer Verfassung genießt das Grundrecht auf
Meinungs- und Informationsfreiheit einen hohen Rang.
Gerade die neuen Medien bieten bislang ungeahnte Mög-
lichkeiten zur Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an
der Gestaltung einer modernen Gesellschaft, und diese
moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Infor-
mationen das entscheidende Gut zur Beteiligung an ge-
sellschaftlichen Prozessen sind.
Bündnis 90/Die Grünen wollen die Teilhabe aller ge-
sellschaftlichen Schichten an dieser Gesellschaft sichern.
Wir nehmen die Gefahr einer digitalen Spaltung sehr
ernst. Es darf nicht so weit kommen, dass sich die Gesell-
schaft in diejenigen aufspaltet, die über Informationen
verfügen, und in diejenigen, denen der Zugang zu den In-
formationsangeboten fehlt.
Der Zugang zum Internet und zu den elektronischen
Diensten muss allen offen stehen. Die gleichberechtigte
Zugangsmöglichkeit zu den Netzen ist eine unabdingbare
Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft.
Doch Technik allein führt nicht zu mehr Demokratie.
Der offene Zugang ist nur eine Voraussetzung zur Über-
windung einer digitalen Kluft. Die Vermittlung von Me-
dienkompetenz ist ein weiterer, entscheidender Faktor.
Soziale Ungerechtigkeiten mit Hilfe der neuen Medien
zu überwinden mag eine Utopie sein, und wir wollen auch
keine unerfüllbaren Erwartungen wecken, doch die Wis-
sensgesellschaft muss sich auch und insbesondere der so-
zialen Frage stellen:
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Die gesellschaftliche Teilhabe von Randgruppen oder
die Verteilung von ökonomischer und politischer Macht
darf kein Tabu, sondern muss ein Diskussionsthema sein!
Machen wir uns nichts vor: Zwar ermöglichen offene
Netze auf den unterschiedlichsten Ebenen Impulse für
neue Formen von politischer Partizipation und Bildung.
Doch bislang verläuft die Nutzung der neuen Medien im
Wesentlichen noch entlang der alten Scheidelinie: jung,
gut ausgebildet und männlich. Doch Frauen kommen jetzt
mehr gewaltig als langsam: Sie haben in den vergangenen
Monaten deutlich aufgeholt und stellen mittlerweile
knapp 40 Prozent der Nutzer in Deutschland.
Doch noch immer haben viele vor allem ältere und
sozial schwache Personen zu wenig Verständnis vom In-
ternet. Da es sich bei der Beherrschung der neuen Infor-
mationstechnologien aber um Schlüsselqualifikationen
handelt, sind solche Entwicklungen für uns mehr als be-
sorgniserregend. Aufgabe einer sozialverträglichen Tech-
nikgestaltung ist es daher, Menschen gezielt an die neuen
Medien heranzuführen, Ängste abzubauen und die Me-
dienkompetenz größerer Bevölkerungsschichten deutlich
zu erhöhen. Ein ganzes Bündel von Maßnahmen ist also
notwendig, um diese neue Bildungsoffensive mit Hilfe
der neuen Medien durchzuführen.
Bündnis 90/Die Grünen befürworten die Einrichtung
von sogenannten Kompetenzzentren, in denen gezielt
Medienkenntnisse vermittelt werden. Außerdem wollen
wir Initiativen zur Medienweiterbildung gezielt fördern.
Als Beispiel sei hier die Initiative Frauen ans Netz er-
wähnt: Sie kann Erfolge vorweisen und sollte unbedingt
fortgeführt werden.
In unserer immer älter werdenden Gesellschaft ist es
zunehmend wichtig, auch den nicht mehr im Beruf ste-
henden Personen Medienkenntnisse zu vermitteln. Um
Berührungsängste abzubauen, sollten gerade auch für
diese Zielgruppe verstärkt Programme entwickelt wer-
den. Das Gleiche gilt natürlich für gezielte Programme für
Minderheiten, aber auch für Frauen, Senioren oder Kin-
der und Jugendliche.
Wir müssen die Chancen nutzen, die uns die neuen Me-
dien in Sachen direkter Kommunikation bieten: Wir wol-
len neue Formen der Beteiligung von Bürgern und Bür-
gerinnen am politischen Prozess auf den Weg bringen.
Die Frage eines möglichst breiten Zugangs zum Netz
kann nur die Grundlage für weitere Projekte und Maß-
nahmen sein. Die Schaffung eines allgemeinen Zugangs-
rechtes zu öffentlichen erhobenen und gesammelten Da-
ten sei hier als ein Beispiel erwähnt.
Weiterhin werden sich Bündnis 90/Die Grünen auf na-
tionaler und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass
das mit öffentlichen Mitteln an Universitäten und For-
schungseinrichtungen generierte Wissen auch zukünftig
allen frei zur Verfügung steht.
Ich möchte es abschließend noch einmal betonen:Die
Informationsgesellschaft ist für alle da und das ist auch
gut so!
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (F.D.P): Der vorlie-
gende Antrag belegt: In Sachen Internet gibt es zwischen
den Kollegen, die sich mit dem Thema intensiv befassen,
oft fraktionsübergreifende Übereinstimmung. So findet
der Koalitionsantrag zur Überwindung der Digitalen
Spaltung in den meisten Punkten auch die Zustimmung
der F.D.P.-Fraktion obwohl Ihrem Antrag sprachlich oft
die Prägnanz und die Präzision fehlt. Halb so lang wäre
doppelt so gut!
Ich begrüße es aber insbesondere, dass sich anschei-
nend auch bei SPD und Grünen langsam die Erkenntnis
durchsetzt: Deutschland braucht die Flatrate! Ich fordere
die Koalitionsfraktionen und die von ihnen getragene
Bundesregierung nach diesen wohltuenden Worten auf,
zugunsten einer Flatrate nun auch Taten folgen zu lassen.
Warum ergreift Bundeskanzler Schröder bei diesem wich-
tigen Thema keine Initiative, wo er sich doch sonst immer
so gern als Impulsgeber feiern lässt? Er könnte sich dabei
an Staatspräsident Chirac ein Beispiel nehmen, der sich
erfolgreich für eine Flatrate in Frankreich einsetzte.
Aber auch auf Parlamentsebene können wir gemein-
sam etwas tun. Leider ist meine fraktionsübergreifende
Initiative www.politiker-pro-flatrate.de noch nicht aus
den Startlöchern gekommen, da sich bisher nur Kollegin
Bettin bereit erklärt hat, mitzumachen. Ziel ist es, Be-
kenntnisse für die Flatrate von Politikern aus allen Par-
teien und Fraktionen auf dieser Seite zu sammeln, um zu
verdeutlichen, dass bei diesem Thema in der deutschen
Politik Konsens herrscht.
Die Flatrate ist und bleibt ein Megathema, da der In-
ternetnutzer nicht mit der tickenden Uhr am PC sitzen
möchte. Nur mit der Flatrate hat E-Commerce in Deutsch-
land eine echte Chance. Die F.D.P. ist daher die erste Par-
tei, die sich auf ihrem letzten Bundesparteitag im Mai klar
für die Voraussetzungen von Pauschaltarifen im Netz aus-
gesprochen hat.
Lassen Sie mich aber noch auf das Thema eingehen, in
dem wir uns diametral von Ihnen unterscheiden. Meine
Kritik bezieht sich auf die von Ihnen geforderten zusätz-
lichen Online-Aktivitäten von ARD und ZDF. Angeblich
zur Überwindung der digitalen Spaltung wird in Ihrem
Antrag eine Ausdehnung des Grundversorgungsauftrags
der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gefordert.
Dies lehnt die F.D.P. strikt ab. Wohin Ihre Forderung
führt, hat die Ministerpräsidentin von Schleswig-Hol-
stein, Heide Simonis, vor wenigen Tagen in einem Inter-
view offenbart. Sie fordert eine Zusatzgebühr für die Fi-
nanzierung weiterer Internetangebote von ARD und ZDF.
Es geht also nicht nur um die Ausdehnung der Rundfunk-
gebührenpflicht auf internetfähige PC. Unabhängig hier-
von, sozusagen on top, sollen also zu den 13 Milliarden
DM an Rundfunkgebühren jetzt weitere Gebührengelder
für rechtlich und ordnungspolitisch höchst fragwürdige
Online-Aktivitäten von ARD und ZDF eingesammelt
werden. Ich halte das schlicht für finanzielle Wegelagerei!
Nicht nur das: öffentlich-rechtliche, gebührenfinanzierte
Internetauftritte tragen keineswegs zur Überwindung der
digitalen Spaltung bei; ganz im Gegenteil: Sie treiben ei-
nen Keil in die Netzwirtschaft. Sie sind wettbewerbsver-
zerrend, sie benachteiligen nicht nur die privaten Rund-
funkveranstalter, sondern vor allem auch Serviceprovider
und viele mittelständische Netzanbieter, die zur Finanzie-
rung ihrer Online-Auftritte keine Subventionen aus dem
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Gebührentopf erhalten und auch keinen Zugriff auf einen
milliardenschweren Programmschatz und auch nicht auf
ein weltweites Korrespondentennetz haben.
Heide Simonis ist mit ihrer Forderung in ein vorzeiti-
ges Sommerloch geplumpst. Zusätzliche Gebührengelder
für die Onlineaktivitäten von ARD und ZDF sind rund-
weg abzulehnen. ARD und ZDF sollen Rundfunk machen
und nicht Internet. E-Commerce hat bei den Öffentlich-
Rechtlichen erst recht nichts verloren. So ist es verfehlt,
wenn allein die ARD 22 Millionen DM für Internetakti-
vitäten in ihrem Budget für dieses Jahr veranschlagt. In
den nächsten vier Jahren sollen weitere 88 Millionen da-
zukommen. Ein programmbegleitendes Informations-
angebot im Internet ist das, was ARD und ZDF im Netz
anbieten sollten und rechtlich dürfen. Alles weitere kön-
nen andere besser tun.
Da wir den ordnungspolitischen und wirtschaftlichen
Schaden des wachsenden Eindringens von ARD und ZDF
in das Internet für schwerwiegend halten, werden wir bei
den anstehenden Beratungen in den Ausschüssen sehr
nachdrücklich auf eine dahin gehende Änderung Ihres
Antrages drängen. Denn wir erachten es für die weitere
Entwicklung der Informationsgesellschaft als wichtig,
dass es hierzu weitgehenden Konsens in diesem Hause
gibt. Daher mein abschließender Appell an die Kollegen
aus den Koalitionsfraktionen: Beweisen Sie bei dem ge-
nannten Streitpunkt inhaltliche Flexibilität und ermögli-
chen dadurch eine fraktionsübergreifende, möglicher-
weise sogar einstimmige Verabschiedung Ihres Antrages.
Danke.
Angela Marquardt (PDS): Zugang für alle ist die Vo-
raussetzung dafür, dass vor allem das Internet seine de-
mokratischen Potenziale entwickeln und die Partizipation
der Bürgerinnen und Bürger an der Gesellschaft verbes-
sern kann. Die Frage des Zugangs wird über die Zukunft
des Internet entscheiden. Unabhängig von sozialer Lage,
Geschlecht und Bildung muss ein freier und unkontrol-
lierter Zugang möglich sein.
Ich könnte viel Lobendes zu Ihrem Antrag sagen, aber
das haben Sie ja bereits selbst absolviert, weshalb ich
mich auf die Kritikpunkte konzentrieren will.
Eine soziale Ausgrenzung von den Neuen Medien auf-
grund zu hoher Kosten darf es nicht geben. Es ist außer-
ordentlich begrüßenswert, dass die Bundesregierung öf-
fentliche Terminals in Hochschulen, Berufsschulen und
Bibliotheken unterstützen will. Die Gesellschaft zerfällt
in zwei Teile, wenn jene Schülerinnen und Schüler, in de-
ren Elternhaus kein Onlinezugang besteht, automatisch
die Verlierer sind. Sie haben ein paar Förderprogramme
angesprochen. In Ihrem Antrag vermisse ich jedoch ein
kritisches Wort zur Abhängigkeit all dieser Programme
von Wirtschaftssponsoring. Die Ausstattung der Bil-
dungseinrichtungen, das Senior-Mobil, die Förderung der
Medienkompetenz von Behinderten, das alles gäbe es
ohne die massive Unterstützung der Privatwirtschaft gar
nicht.
Nun ist nichts dagegen zu sagen, wenn die Wirtschaft
ein paar Groschen springen lässt; schließlich kommt ihr
die Qualifizierung am Ende auch wieder zugute. Wir be-
finden uns bereits jetzt in einem Zustand, in dem wir von
der Spendierfreudigkeit der Wirtschaft komplett abhängig
sind. Es gibt aber kein interessenfreies Sponsoring. Es
geht um Werbung und um Einfluss auf den Lehrplan.
Wenn die Unternehmer die Spendierhosen ausziehen,
steht die Bundesregierung nackt dar. Sie feiern dies auch
noch in Form der D-21-Initiative, als wäre das ein gran-
dioser Erfolg. Das ist mir unverständlich.
Sie haben auch den Zugang zu den Inhalten angespro-
chen. Richtig ist, dass es keine Zensur und damit keine
Verpflichtung zur automatischen inhaltlichen Filterung
geben darf. Doch das reicht nicht! Die PDS fordert ein
Verbot von Filtern an öffentlichen Internetzugängen. In
einer Hochschule, in einer Bibliothek, überall dort, wo
Menschen ohne eigenen Onlinezugang ins Internet wol-
len, darf es keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit
im Netz geben, sonst haben wir wieder eine Spaltung der
Gesellschaft, und zwar in jene, die am eigenen PC selbst
entscheiden können, was sie sehen, und in jene, die im
Hinblick auf öffentliche Zugänge bevormundet werden.
Es kann schon gar nicht sein, dass so ist es heutzutage
Realität ein Hochschuldirektor oder eine Bibliothekarin
nach eigenem Gutdünken entscheidet, welche Seiten für
den Benutzer zu sperren sind.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
Datensicherheit. Sie schreiben in Ihrem Antrag, Haupt-
hindernis für die Akzeptanz neuer IuK-Technologien sei
das mangelnde Vertrauen in die Sicherheit der Daten.
Doch das Haupthindernis ist nicht das mangelnde Ver-
trauen, sondern der mangelnde Schutz der Daten. Das
Misstrauen, das in der Gesellschaft vorherrscht, ist mehr
als angemessen.
Die Datenunsicherheit ist übrigens nicht nur ein tech-
nisches Problem, sondern sie ist politisch gewollt. Die
Cybercrime-Konvention des Europarates zum Beispiel
sieht vor, dass Internet- und Mailprovider die Verkehrs-
daten, also alle Daten über Herkunft, Bestimmung, Pfad,
Zeit, Größe, Dauer und Art einer Kommunikation, in
Echtzeit erfassen und für die Überwachungsbehörden zur
Verfügung stellen müssen. Beim Verdacht auf eine
Straftat ist auch der Inhalt freigegeben. Wie wollen Sie
mit dieser Perspektive Vertrauen schaffen bei der Bevöl-
kerung? Wie soll das etwa mit der Telekommunikations-
überwachungsverordnung des Bundeswirtschaftsministe-
riums geschehen, welche die Überwachungsmaßnahmen
auf das Internet erweitert? Das Recht auf anonyme Kom-
munikation gehört zu einem freien, unkontrollierten In-
formations- und Meinungsaustausch im Netz.
Ihr Antrag klingt gut; aber wie so oft klingt manches
besser als es ist. Ich hoffe jedoch, dass wir alle gemein-
sam an der Erreichung des Ziels weiterarbeiten, die Spal-
tung der Gesellschaft in Loser und User zu verhindern.
Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister beim Bun-
deskanzler: Ich beginne mit einigen Bemerkungen zum
Rollenverständnis. Dass die Frage der digitalen Spaltung
unserer Gesellschaft die Zuständigkeiten des Beauftrag-
ten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Medien
betrifft, ist ebenso offenkundig wie der Umstand, dass der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118054
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vorliegende Antrag Bereiche betrifft, die in die Zustän-
digkeiten vor allem der Bundesministerien für Bildung
und Forschung sowie für Wirtschaft und Technologie fal-
len. Die mit dem Begriff Digital Divide benannte Pro-
blematik ist aber auch eine eminent kulturelle.
Eine humane Gesellschaft bedarf der Öffentlichkeit.
Daraus ergibt sich insbesondere für die komplexe und
ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne eine Heraus-
forderung. Die Fähigkeit zur Orientierung, gerade auch
zur Orientierung am Humanum, dem menschlichem Maß,
setzt die Existenz öffentlicher Foren voraus. Je umfas-
sender die Netze der Interaktion nicht zuletzt durch das
Internet sind sie teilweise weltumspannend , umso wich-
tiger wird die Verständigung. Es wäre gar nicht möglich,
in einer Gesellschaft, die so vielfältig, so hochmobil ist
wie eine moderne Gesellschaft, stabile Strukturen der Ko-
operation über lange Zeiträume aufrechtzuerhalten, wenn
wir uns nicht coram publico verständigen könnten, zum
Beispiel über grundlegende Normen und Werte, die un-
sere Kooperationen leiten. Wir müssen daher darauf ach-
ten, dass die Foren der öffentlichen Verständigung nicht
parzelliert werden. Ich sage dies auch mit Blick auf den
europäischen Einigungsprozess. Ein demokratisch ver-
fasstes Europa ist auf eine europäische Öffentlichkeit an-
gewiesen. Diese europäische Öffentlichkeit existiert bis-
lang allenfalls in Ansätzen.
Der Bezug zum Thema Digital Divide liegt auf der
Hand: Eine digitale Spaltung würde eine tiefgreifende so-
ziale Spaltung nach sich ziehen, aber auch eine kulturelle
Spaltung in dem Sinne, dass Öffentlichkeit strukturell ge-
fährdet wäre, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen kei-
nen Zugang zu den mit dem Internet verbundenen Formen
der Interaktion und der Verständigung hätten.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich alle
im Antrag der Koalitionsfraktionen genannten Maßnah-
men und Projekte. Sie sind wichtig, denn sie leisten
unverzichtbare Beiträge zur Erreichung des Ziels einer
Stärkung demokratischer Öffentlichkeit. Die im Antrag
aufgeführten Programme sind auch im Hinblick auf die-
ses Ziel von der Bundesregierung konsequent angegan-
gen worden. Ich kann diese Maßnahmen und Programme
hier nicht im Einzelnen erläutern, sondern beschränke
mich auf zwei Aspekte. Dies ist zum einen die Qualität der
im Internet verfügbaren Inhalte, zum anderen die Frage
nach den Herausforderungen für das Bildungswesen.
Zum ersten Aspekt: Rein technisch betrachtet, bietet
das Internet eine neuartige Grundlage für die Errichtung
öffentlicher Foren mit großem Potenzial. Seine Bedeu-
tung wird weiter zunehmen Stichwort Konvergenz der
Medien. Insofern ist es unabdingbar, möglichst vielen
Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Informations-
und Kommunikationsnetzen zu ermöglichen. Alle
Bemühungen mit diesem Ziel werden allerdings entwer-
tet, wenn der technische nicht mit einem inhaltlichen Zu-
gang einhergeht. Ein genuiner inhaltlicher Zugang setzt
aber strukturierte Angebote voraus. Bisher hat das Ange-
bot im Internet einen eher zufälligen Charakter. Das sorgt
für einen gewissen Charme, der jedoch schnell in Un-
übersichtlichkeit verfliegt. Dies erhöht nicht zuletzt die
Barrieren für die diejenigen, die potenziell auf der inter-
netabgewandten Seite des Digital Divide stehen.
Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aus meiner Sicht
in erster Linie aus der Übertragung des Public-Service-
Gedankens auf den Online-Bereich. Ein fester Anteil
strukturierter gemeinwohlorientierter Angebote ist ein
probates Antidot zur drohenden Parzellierung und Ver-
karstung der Internet-Öffentlichkeit. Er wäre ein wichti-
ges Element kooperativer zivilgesellschaftlicher Struk-
turen. Das Spektrum reicht dabei von ganz praktischen
Effizienz- und Transparenzgewinnen in der Interaktion
zwischen Bürgern und Administration bis zu anspruchs-
vollen kulturellen Inhalten.
In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend da-
rauf an, die Erfahrungen und die hohe Kompetenz der öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verstärkt für das
Internet nutzbar zu machen. Sie können maßgeblich dazu
beitragen, ein breites, gleichwohl inhaltlich strukturiertes
Angebot in den neuen Medien für alle Bürgerinnen und
Bürger zugänglich zu machen. Meiner Einschätzung nach
hätte dies übrigens auch Auswirkungen auf die Qualität
der von privater Seite angebotenen Inhalte, die sich am öf-
fentlichen Sektor orientieren würden. Die den Rundfunk-
anstalten zugestandene Entwicklungsgarantie muss ge-
währleisten, dass sie Öffentlichkeit auch auf dem Weg
herstellen können, den immer mehr Bürger beschreiten
werden. Der Name dieses Wegs lautet Internet. Das gel-
tende Recht der Bundesländer erlaubt den Öffentlich-
Rechtlichen nur Online-Dienste mit vorwiegendem Pro-
grammbezug. Wie immer dieser Begriff genau ausgelegt
wird: Er ist zu eng. Daher mein Appell, über Erweite-
rungsmöglichkeiten nachzudenken.
Zum zweiten Aspekt, den ich herausgreifen möchte:
der Frage nach den Herausforderungen an das Bildungs-
wesen. Das, was man digitale Spaltung nennt, lässt sich
am ehesten dadurch verhindern, dass Menschen in die
Lage versetzt werden, mit digitalen Medien umzugehen.
Dabei geht es zum einen um das Erlernen basaler techni-
scher Fertigkeiten im Umgang mit Hard- und Software,
zum anderen um den Erwerb von Kompetenz, die es den
Nutzern ermöglicht, Informationen in einen Sinnzusam-
menhang einzuordnen. Diese Feststellung scheint zu-
nächst banal. Aus ihr ergeben sich aber durchaus nicht
triviale Konsequenzen. Ich nenne drei Punkte:
Erstens. Die Vermittlung der technischen Fertigkeiten
müsste Bestandteil des elementaren schulischen Kanons
werden, so wie das Lernen von grundlegenden Kultur-
techniken wie Lesen, Schreiben oder das Rechnen in den
Grundrechenarten.
Zweitens. Die Vermittlung der kognitiven Kompetenz
im Umgang mit neuen Medien ist zu einem guten Teil die
Vermittlung von Orientierungswissen, der Fähigkeit, sich
selbst in einen bestimmten Bezug zur Welt, zu anderen
Menschen, zu anderen Dingen zu stellen. Dazu gehört un-
ter anderem ich kann das hier nur andeuten das Ver-
mögen, mit Sprachen, der eigenen und fremden, sorgsam
und klar umzugehen. Es wäre jedenfalls ein großer Feh-
ler, zu meinen, dass technische Fähigkeiten im Umgang
mit dem Internet Teile dessen substituieren können, was
wir unter Allgemeinbildung verstehen. Im Gegenteil: Das
Niveau der Allgemeinbildung wird eher steigen müssen,
auch unter dem Gesichtspunkt Herstellen von Öffent-
lichkeit. Vor dem Hintergrund der Gefahr einer digitalen
Spaltung ist dies keine leichte Herausforderung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18055
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Drittens. Unser Bildungswesen muss sich verstärkt da-
rauf einstellen, dass die digitalen Medien kulturelle Ver-
änderungen nach sich ziehen. Diese Veränderungen be-
treffen gerade den Bereich der Pop- und Jugendkultur.
Wir sollten darauf achten, dass die Schulen nicht den
Kontakt zu jugendlichen Lebenswelten verlieren Stich-
wort auch hier wieder Öffentlichkeit. Wir sollten einbe-
ziehen, dass sich die Entwicklung von Intelligenz nicht
allein an kognitiven Faktoren festmachen lässt. Wir brau-
chen im Bildungswesen eine Balance zwischen Sinnlich-
keit und der Fähigkeit, distanziert Gründe abzuwägen und
Urteile zu fällen.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Anpassung bestimmter Bedingungen in
der Seeschifffahrt an den internationalen Stan-
dard (Zweites Seeschifffahrtsanpassungsgesetz
SchAnpG2 ) (Tagesordnungspunkt 19)
Annette Faße (SPD): Die Erhöhung der Schiffs-
sicherheit ist ein ständiger Prozess: national, bilateral und
international. Auf jeder Ebene gibt es Handlungsbedarf.
Dies wurde insbesondere nach den Schiffsunglücken der
letzten Jahre deutlich. Prävention steht bei allen Sicher-
heitsmaßnahmen an erster Stelle. Es ist somit nur folge-
richtig, dass Unfälle auf See nicht einfach zur Kenntnis
genommen werden, sondern dass aus Seeunfällen kurz-
und mittelfristig, aber auch langfristig Konsequenzen ge-
zogen werden müssen. Lernen und Vorbeugen heißt die
Devise.
Mit der Einrichtung der unabhängigen Expertenkom-
mission Havarie Pallas unter der Leitung von Senator
a.D. Claus Grobecker ist ein wichtiger Schritt zu mehr Si-
cherheit getan worden. Die 30 Empfehlungen sind bereits
umgesetzt oder befinden sich gerade in der Umsetzung.
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass Bundesverkehrs-
minister Bodewig Anfang Juni eine umfassende Neukon-
zeption des maritimen Notfallkonzepts in Nord- und Ost-
see angekündigt hat. Im Zentrum steht die Errichtung
eines Havariekommandos, das heißt einer einheitlichen
Leitung aller Einsatzkräfte des Bundes und der Küsten-
länder. Bund und Länder haben sich im Grundsatz auf die
Konzeption geeinigt. Kern ist ein in 24-Stunden-Bereit-
schaft gehaltenes maritimes Lagezentrum. Dort laufen
künftig alle relevanten Informationen zusammen.
Ein weiteres wichtiges Element der neu konzipierten
maritimen Notfallvorsorge ist die Bereitstellung ausrei-
chender Notschleppkapazität sowohl für die Nordsee als
auch für die Ostsee. Zusätzlich zu den Mehrzweckschif-
fen des Bundes Neuwerk und Mellum wird künftig
ein mit mindestens 160 Tonnen Pfahlzug ausgerüsteter
Hochseeschlepper gechartert werden. Die Stationierung
dieser drei Fahrzeuge soll eine Eingreifzeit von höchstens
zwei Stunden garantieren. Die bisher vom Hochsee-
schlepper Oceanic wahrgenommenen Aufgaben wer-
den neu bestimmt und längerfristig ausgeschrieben. Für
die Ostsee wird es erstmalig eine staatliche Notschlepp-
kapazität geben. Angestrebt wird das gleiche Sicherheits-
niveau mit zwei Stunden Eingreifzeit wie in der Nordsee,
insbesondere für das Gefahrenpotenzial Kadetrinne.
Sicher, es kann auch auf See keine hundertprozentige
Sicherheit geben. Aber gerade deshalb ist es dringend not-
wendig, ein optimales Notfallkonzept zu haben. Dazu
gehört, dass wir die Untersuchung von Schiffsunglücken
noch stärker als bisher an der Prävention von Unfällen
und Gefährdungen ausrichten. Dies geschieht mit dem
von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf für
eine Reform der Seeunfalluntersuchung.
Sie folgt damit einer Empfehlung der unabhängigen
Expertenkommission Havarie Pallas, die 1999 den Un-
fall des Holzfrachters von der Insel Amrum untersucht
hat. In ihrem Abschlussbericht empfiehlt die Kommission
der Bundesregierung mit der Empfehlung Nr. 24, unver-
züglich den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des
Seeunfalluntersuchungsgesetzes an den internationalen
Standard vorzulegen. Der internationale Standard ist der
1997 eingeführte IMO-Code für die Seeunfalluntersu-
chung. Auch gemeinschaftsrechtlich ist die Bundesregie-
rung qua Richtlinie 1999/35/EG zur sofortigen Umset-
zung des Codes verpflichtet. Wenn man bedenkt, dass sich
mehr als die Hälfte der deutschen Schiffsunfälle nicht in
deutschen Gewässern ereignet, sind wir darauf angewie-
sen, uns nach dem internationalen Standard zu richten und
eine gute internationale Zusammenarbeit zu pflegen.
Kern des vorgelegten Gesetzentwurfs ist die erstmalige
Trennung der objektiven Ursachenfeststellung eines Un-
falls von der Untersuchung individueller Fehler und dem
Patententzug. Ausführen wird die Ursachenfeststellung in
Zukunft eine unabhängige Bundesstelle für Seeunfall-
untersuchung in Hamburg, die aus dem Bundesobersee-
amt hervorgehen wird. Die Untersuchungsergebnisse
werden dann unmittelbar zur Unfallverhütung eingesetzt.
Dieses Muster der Unfalluntersuchung richtet sich
nach dem Vorbild der Flugunfalluntersuchung, die der
Bundestag vor drei Jahren einstimmig verabschiedet hat.
Infolge dieser Regelung ist es den zuständigen Behörden
möglich gewesen, bereits kurz nach dem tragischen Un-
fall der Concorde an der Unglücksstelle nahe Paris bei
der Ermittlung des Unfallhergangs mitzuwirken. Insbe-
sondere war es für die Angehörigen der Opfer wichtig,
schnellstmöglich informiert zu werden und die Sicherheit
zu haben, dass auch deutsche Behörden daran mitwirken.
Ich weiß, dass an dieser Stelle seitens der Verbände und
Interessenvertreter die Kritik geäußert wurde, dass sich
die Regelungen zur Flugunfalluntersuchung nicht eins zu
eins auf die Seeunfalluntersuchung übertragen lassen. Es
mag sein, dass eine konsequente Anwendung auf die See-
schifffahrt in einigen Bereichen bisweilen hölzern klingt.
Im Kern ist die Anlehnung an ein System, dass sich in den
vergangenen drei Jahren bewährt hat, jedoch sinnvoll.
Die Reform der Seeunfalluntersuchung ist uns als ein
Baustein im Rahmen der Umsetzung der Grobecker-Emp-
fehlungen sehr wichtig. Dies zeigt sich auch darin, dass
wir uns auf Arbeitsgruppenebene schon frühzeitig inten-
siv mit der Reform auseinander gesetzt haben. Bereits im
Mai haben wir in Cuxhaven auf der Grundlage des Kabi-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118056
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nettentwurfs eine Anhörung durchgeführt, bei der sowohl
Befürworter als auch Kritiker Gelegenheit hatten, sich zu
den Plänen zu äußern.
Im Ergebnis konnten wir feststellen, dass der Kern der
Reform unstrittig ist: Zweifel an der Trennung der objek-
tiven Ursachenfeststellung von der Untersuchung indivi-
dueller Fehler gibt es nicht. Im Zentrum der Kritik dort
und auch in den schriftlichen Stellungnahmen, die wir alle
erhalten haben, stehen die Öffentlichkeit der Unfallunter-
suchung und weitere Aspekte, die das Verfahren der Un-
tersuchung betreffen.
Mit dieser Kritik haben wir uns nun in den anstehen-
den parlamentarischen Beratungen auseinander zu setzen.
Dazu halten wir eine Ausschussanhörung, die wir im
Herbst beantragen werden, für dienlich. Dadurch lassen
sich Unklarheiten am besten beseitigen und die vorge-
brachte Kritik sorgfältig prüfen. Wir haben dann zu ent-
scheiden, ob sie berechtigt ist oder nicht. Ich versichere
Ihnen, dass wir dies sehr sorgfältig tun werden.
Ich zitiere an dieser Stelle gerne unseren Fraktionsvor-
sitzenden: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es
eingebracht wird.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
Bundesregierung treibt das alte Sprichwort: Erst, wenn
das Kind in den Brunnen gefallen ist ... stehen die
Bemühungen, das Kind zu bergen, im Vordergrund, auf
die Spitze. Sie präsentiert heute einen Gesetzentwurf, das
die Untersuchung regelt, warum das Kind in den Brunnen
gefallen ist; statt endlich etwas zu unternehmen, damit das
Kind gar nicht erst hineinfällt.
Mag die Seeunfalluntersuchung auch notwendig sein,
dringlicher ist ein umfassendes Konzept zur Vorbeugung
vor Seeunfällen. Wir stellen fest: Die Bundesregierung
hat die nationale Bedeutung der Seesicherheit noch im-
mer nicht erkannt. Es gibt nur kleinteiliges Flickwerk, ein
Konzept aus einem Stück fehlt. Seit der Pallas-Kata-
strophe 1998 hat es bis heute keine entscheidenen Ände-
rungen im Sicherheitskonzept gegeben. Lieber lässt sich
die Bundesregierung von den Mehrheitsfraktionen im
Parlament für die Nachrüstung der Notfallschiffe mit
hochfesten Schleppleinen und die Bereitstellung von all-
wettertauglichen Hubschraubern loben Dinge, die
selbstverständlich sind. Auch die Überarbeitung beste-
hender Alarmpläne und eine neue Dienstvorschrift lösen
nicht das Kompetenzwirrwarr von Bundes- und Landes-
behörden.
Übrigens ist die jetzt ins Parlament eingebrachte Lobes-
hymne der Regierungsfraktion über fast eine DIN-A4-
Seite die wortwörtliche Übernahme einer Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion vom letzten Jahr. Nur: Vor acht Mo-
naten waren es erste Schritte von kurzfristig umsetzba-
ren Verbesserungen, jetzt die Realisierung von
konkreten Verbesserungen am Notfallkonzept für Nord-
und Ostsee. So erledigen sich Probleme von selbst und
die Parlamentsmehrheit macht sich zum Jubelorgan der
Bundesregierung.
Allein für den Bund fahren vier verschiedene Behör-
den mit eigenen Booten auf der See nebeneinander her:
BGS-Boote des Innenministers, Zollboote des Finanzmi-
nisters, Fischereischutzboote der Ministerin für Verbrau-
cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie die
Boote unter Obhut des Verkehrsministers und der Wasser-
schifffahrtsdirektion. Im Katastrophenfall sind zusätzlich
die Wasserschutzpolizeiboote der Länder und die auch
dort auf mehrere Ministerien verteilten Kompetenzen für
Küstenaufgaben zu berücksichtigen. Nimmt man von den
Schleppern bis hin zu den Ölbekämpfungsschiffen allein
die Boote des Bundes zusammen, kommt man auf eine
Armada von fast 100 Schiffen. Sowohl der Bundesrech-
nungshof als auch der Haushaltsausschuss des Bundesta-
ges haben diese Zersplitterung der Einsatzkräfte als Geld-
verschwendung kritisiert.
In dieser Situation legt die Bundesregierung jetzt einen
Gesetzentwurf vor, der eine grundlegende Änderung des
Seeunfall-Untersuchungs-Verfahrens beinhaltet, eine Än-
derung, die in der vorgelegten Form niemand wollte, nie-
mand braucht und bei der Unfallverhütung niemandem
hilft. Sie ist aber in der Logik der Bundesregierung kon-
sequent: Wenn sie schon keine Unfallprävention betreibt,
muss sie wenigstens die Unfalluntersuchung so organisie-
ren, dass diese Schwächen niemand merkt.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben
frühzeitig die Schaffung einer deutschen Küstenwache
gefordert. Unsere Große Anfrage dazu fand viel Unter-
stützung von den Experten vor Ort. Auch mit der Europä-
ischen Kommission weiß sich die Union dabei einig.
Brüssel will eine europäische Küstenwache. Vorausset-
zung dafür ist eine nationale See- und Küstenwache, auf
deren Strukturen die europäische Behörde aufsetzen kann.
Wir von der Union haben eine Kleine Anfrage zum
Thema Sicherheits- und Notfallkonzept für Nord- und
Ostsee eingebracht. In der Antwort wurde deutlich: Die
Bundesregierung hat nicht einmal ein Konzept für die
Seesicherheit. Nach ihrer eigenen Aussage wartete sie
25 Monate nach der Pallas-Katastrophe noch immer auf
die Ergebnisse ihrer interministeriellen Projektorgani-
sation.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben des-
halb die Bildung einer Leitstelle für Seesicherheit ge-
fordert. Der entsprechende Antrag enthielt drei klare Kern-
aussagen:
Erstens. Die Bundesregierung wird aufgefordert, alle
rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die
Bildung einer Leitstelle für Seesicherheit zu schaffen und
dem Bundestag einen entsprechenden Gesetzesentwurf
schnellstmöglich zuzuleiten.
Zweitens. In der neu zu schaffenden Leitstelle für See-
sicherheit sind alle Aufgaben zusammenzuführen, die in
dem Aufgabenkatalog des § 1 Seeaufgabengesetz aufge-
listet sind. Diese Aufgaben sind darüber hinaus auf das
Küstenmeer auszudehnen.
Drittens. Im Katastrophenfall sind innerhalb der Leit-
stelle für Seesicherheit alle Kompetenzen in einem Hand-
lungszentrum mit einer einheitlichen Führung von Bun-
des- und Landeskräften zusammenzufassen.
Die Voraussetzungen für die Umsetzung des Antrags
wurden der Bundesregierung von uns gleich mitgeliefert:
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18057
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erstens die Änderung des Grundgesetzes, um die bisher
getrennte Aufgabenzuordnung an Bund und Ländern im
See-Katastrophenfall zusammenzufassen, zweitens die
Vorlage eines Gesetzesentwurfs durch die Bundesregie-
rung mit dem Ziel, alle bisher verteilten Zuständigkeiten
Zoll, Fischereiaufsicht, Bundesgrenzschutz, einschließ-
lich SAR-Hubschrauber, Ölaufklärungsflugzeuge auf
eine Leitstelle in einem Bundesministerium mit der Ent-
scheidungszuständigkeit einer Person, entsprechend der
Institution des Duty Commander bei der Bundesmarine,
zu konzentrieren und drittens die Schaffung von Rechts-
klarheit, um gegebenenfalls mit der Bundesmarine im
See-Katastrophenfall einen gemeinsamen Einsatz sicher-
zustellen.
Handeln bei der Bundesregierung? Fehlanzeige! Die
nächsten Unfälle ließen auch nicht lange auf sich warten.
Die Baltic Carrier und der Zementfrachter Nicolas P.
verunglückten in der Kadetrinne, einer der meistbefahre-
nen Schifffahrtswege in der Ostsee. 20 Unfälle gab es hier
allein seit 1992. Täglich passieren drei bis vier Tanker,
dazu circa fünf Massengutfrachter diese Strecke, jährlich
etwa 50 000 Schiffe. Die Kadetrinne hat teilweise nur eine
Tiefe von 18 Metern, was sie extrem risikoreich für tief-
liegende 100 000-Tonnen-Tanker macht. Hier gibt es we-
der eine Lotsannahmepflicht, noch eine Radarüberwa-
chung, noch ist es ein Verkehrstrennungsgebiet. Die
Gefahr einer Ölpest ist täglich gegeben. Auf unsere
Anfrage vom 27. Februar dieses Jahres antwortete die
Bundesregierung: Für die Kadetrinne besteht aufgrund
geltender internationaler Regeln derzeit keine Lotsannah-
mepflicht, allerdings ist die Möglichkeit einer freiwilligen
Lotsannahme gegeben. Und weiter: Man habe in dieser
Frage die Einrichtung einer Arbeitsgruppe geschlossen.
Wir von der Union haben darauf einen Antrag zur Op-
timierung der Ostseesicherheit im Bereich der Kadet-
rinne ins Parlament eingebracht. Darin wird die Bundes-
regierung aufgefordert, mit konkreten Sofortmaßnahmen
und international abgestimmten mittelfristigen Maßnah-
men dafür zu sorgen, dass eines der risikoreichsten Ver-
kehrsgebiete in der Ostsee, die Kadetrinne, umgehend
eine optimierte Sicherheitsstruktur erhält.
Die rot-grüne Bundesregierung hat immer erst auf
Druck und nach Aufforderung reagiert. Prävention wird
vernachlässigt. Nach der Pallas-Katastrophe wurde
16 Monate auf das Ergebnis der Grobecker-Kommis-
sion gewartet, danach weitere 16 Monate auf das Ergeb-
nis der interministeriellen Projektorganisation Maritime
Notfallvorsorge. Herausgekommen ist ein Havarie-
kommando, eine Einrichtung, die nicht einmal diesen
Namen verdient. Was wir dringend brauchen, ist eine na-
tionale Leitstelle für Seesicherheit mit allen Kompeten-
zen aus einer Hand, möglichst unter Einschluss der Bun-
desmarine. Statt dessen wurde jetzt von Minister Bodewig
das Havariekommando angekündigt. Bundes- und Län-
derbehörden fahren weiter getrennt auf der See, die letzte
Verantwortlichkeit bleibt weiter bei den verschiedenen
Behörden, so die Verbände vor Ort. Mit einer nationalen
Küstenwache, wie von den Experten an der Küste, der EU
und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefordert, hat die-
ses Kommando nichts zu tun. Damit werden noch nicht
einmal die Empfehlungen der von der Regierung selbst
eingesetzten Expertenkommission, der Grobecker-Kom-
mission, umgesetzt.
Der jetzt vorgelegte Entwurf eines Zweiten Seeschiff-
fahrtsanpassungsgesetzes schafft einen radikalen System-
bruch bei der Seeunfalluntersuchung. Zukünftig soll eine
neu zu schaffende Bundesstelle für Seeunfalluntersu-
chung zuständig sein, obwohl die Effizienz des bisherigen
Verfahrens weder angezweifelt wurde noch die nationalen
Verpflichtungen aus dem laufenden europäischen Gesetz-
gebungsverfahren absehbar sind. Eine weitere Änderung
ist also vorprogrammiert, verbunden mit weiteren unver-
meidbaren Anlaufschwierigkeiten. Nach Aussage von
Verbänden bedeutet die Neugründung der Seeunfallunter-
suchungsstelle das Aus für die bisher zuständigen Seeäm-
ter. Die Seeämter werden abgeschafft, die Transparenz der
Seeunfalluntersuchung und die Rechtsmittel einge-
schränkt.
Die CDU/CSU ist sich mit Verbänden und Initiativen
an der Küste einig: Dieser Entwurf darf nicht Gesetz wer-
den. Ein geschlossenes Behördensystem ohne Transpa-
renz durch Beteiligung der Experten vor Ort dient nur der
Vertuschung von Versäumnissen bei der Unfallpräven-
tion. Bemerkenswert ist, dass auch der Bundesrat das Ge-
setz ablehnt und auf die Notwendigkeit seiner Zustim-
mung hinwies, weil sich der Geltungsbereich des
Regierungsentwurfs auch auf das Aufsuchen, Benutzen
und Verlassen der dazugehörigen Lade-, Lösch-, Liege-
und Werftplätze erstrecke.
Der Bundesrat forderte die Bundesregierung auf, den
Gesetzentwurf so zu ändern, dass erstens ein Untersu-
chungsverfahren auch auf Antrag des örtlich zuständigen
Seeamtes oder eines am Seeunfall oder einem anderen
Vorkommnis auf See Beteiligten durchgeführt werde,
zweitens die Aufnahme von Sachverständigen mit revier-
spezifischen Kenntnissen in die Untersuchungskommis-
sion durch eine Ergänzung des Seeunfall-Untersuchungs-
Gesetzes sichergestellt werden müsse und drittens der
Abschlussbericht der Untersuchungskommission zum
Gegenstand eines öffentlichen Seeamtsverfahrens nach
den derzeitigen Verfahrensregelungen das die Untersu-
chung zum Normvollzug einschließe gemacht werde;
die Möglichkeit des Widerspruchs gegen den Spruch des
Seeamtes müsse erhalten bleiben.
Zur Begründung wird angeführt, dass durch die vor-
stehend genannten Änderungen die bisher in der Praxis
bewährten Elemente des Seeunfalluntersuchungsverfah-
rens in die beabsichtigte Neuregelung, insbesondere die
berechtigten Interessen der Beteiligten, integriert würden.
Auf dem Wege des rechtsstaatlichen Verfahrens der Ver-
handlung vor dem Seeamt werde der unter Berücksichti-
gung der Besonderheiten des Seeverkehrs geeignete Weg
zur Unfallursachenermittlung beschritten. Dieses Verfah-
ren schließe sowohl die Normenkontrolle im Hinblick auf
ein festzustellendes Fehlverhalten als auch die zur Ver-
meidung weiterer Unfälle wichtigen Lerneffekte ein. Wir
begrüßen diesen Beschluss und erwarten, dass die Bun-
desregierung sich ihn zu Eigen macht.
Wir begrüßen auch die zahlreichen Initiativen von Per-
sonen und Verbänden an der Küste, so besonders von
Rechtsanwalt Jens Paulsen aus Harsefeld, der in mühe-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 200118058
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voller Arbeit einen eigenen vollständigen Gegenentwurf
zu dem Vorschlag der Bundesregierung erarbeitet hat;
nachzulesen im Internet. Aber auch von Hans von Wecheln
von der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste,
von Olaf Hellwinkel vom Nautischen Verein, von
Rechtsanwalt Dr. Julius Drumm, vom Personalratsvor-
sitzenden der WSD Nord Jochen Hinz sowie von
Prof. Hansheinrich Meier-Peter von der Fachhochschule
Flensburg, und auch Greenpeace ist in diesem Zusam-
menhang zu nennen sowie die hilfreichen Initiativen aus
den CDU-Landtagsfraktionen von Schleswig-Holstein,
Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen sowie aus
Bremen und Hamburg.
Von solch fachkundigen Beiträgen ist Verkehrsminister
Bodewig weit entfernt. Auf unser Schreiben mit 13 kriti-
schen Fragen zum Gesetzentwurf hat er bis heute nicht ge-
antwortet. Die Fragen fassen die Kritikpunkte der Exper-
ten vor Ort zusammen. Ihre Beantwortung sollte Klarheit
bringen und zur Versachlichung der Debatte beitragen.
Bis heute leider Fehlanzeige, kein fairer parlamentari-
scher Stil!
Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In schöner Regelmäßigkeit diskutieren wir in die-
sem Hohen Haus über die Verbesserung der Schiffssi-
cherheit. Das ist gut und notwendig, denn die Havarien
der letzten Jahre wie Pallas, Erica, Yessica und so weiter,
haben mit ihren Ölteppichen das Ökosystem Meer und die
Küsten auf lange Jahre katastrophal geschädigt mit den
entsprechenden Konsequenzen für die Menschen, die an
und von der Küste leben. Neben solchen spektakulären
Havarien auf See gibt es eine Reihe von Unfällen oder
Beinahe-Unfällen, von denen nur wenige Fachleute er-
fahren, die aber massiv zum Schadstoffeintrag in unsere
Gewässer beitragen und die Umwelt bedrohen. Dazu
gehört auch die illegale Tankreinigung auf hoher See.
Die rot-grüne Bundesregierung hat seit Amtsantritt
eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit
auf unseren Meeren und Küstengewässern zu erhöhen.
Sie handelt dabei nach den Grundsätzen: Schadensver-
meidung vor Schadensbegrenzung, Vorsorge statt Repa-
ratur die Rettung von Menschen und Ökosystemen hat
Vorrang vor der Rettung von Sachwerten.
Nach dem Unfall der Pallas hat die unabhängige Gro-
becker-Kommission eine Reihe von Empfehlungen zur
Erhöhung der Schiffssicherheit erarbeitet, die seit gut ei-
nem Jahr abgearbeitet werden. Die Empfehlung 24 be-
sagt, dass eine unverzügliche Anpassung des Seeunfall-
gesetzes an den internationalen Standard nach dem
Vorbild des Flugunfall-Untersuchungsgesetzes erfolgen
sollte. Dies wird durch den hier vorliegenden Gesetzent-
wurf realisiert, in dem die deutsche Rechtssetzung in ei-
ner Vielzahl von Punkten an die internationalen Standards
von EU und IMO angepasst wird.
Kernstück des zweiten Seeschifffahrtsanpassungsge-
setzes ist die Seeunfalluntersuchung, eine gute und wich-
tige Sache, die jetzt auf den Weg gebracht wurde. Wie von
der unabhängigen Untersuchungskommission gefordert,
orientiert sich diese Anpassung an dem vor drei Jahren im
Bundestag einstimmig beschlossenen Verfahren für den
Luftverkehr.
Ziel der neuen Regelungen ist, in Zukunft die Untersu-
chung von Unfällen effizienter zu gestalten, um daraus zu
lernen, wie man Unfälle in Zukunft noch besser verhin-
dern kann. Denn Prävention darin sind wir uns alle ei-
nig muss bei der Schiffssicherheit das A und O unseres
Handelns sein.
Die entscheidende Erweiterung des vorliegenden Ge-
setzesvorhabens besteht darin, dass es nicht mehr nur um
die Untersuchung von Unfällen geht, sondern um die Un-
tersuchung aller schaden- oder gefahrverursachenden
Vorkommnisse in der Seefahrt. Denn auch Beinahe-Un-
fälle können wichtige Aufschlüsse über Möglichkeiten
zur Unfallvermeidung geben.
Ein wichtiger, teilweise umstrittener Punkt sind die
Umstände, unter denen solche Seeunfalluntersuchungen
stattfinden sollen. Die Diskussion bewegt sich im Span-
nungsfeld zwischen Transparenz und Datenschutz. Wir
sollten diese Frage ernst nehmen. Wir sollten uns aber
auch nicht vor den Karren von Partialinteressen spannen
lassen. Die Praxis muss zeigen, ob sich der gewählte An-
satz bewährt. Der vorliegende Entwurf in § 29 Abs. 5 sieht
vor, dass die mündliche Verhandlung nur dann öffentlich
ist, wenn kein Beteiligter dem widerspricht.
Durch das geänderte Untersuchungsverfahren wird
nicht mehr nur menschliches Versagen Gegenstand der
Untersuchung sein, sondern auch zum Beispiel ein Ver-
schulden oder mitverschulden durch den Schiffseigner.
Auch dies ist eine wichtige weitere Informationsquelle für
mögliche zukünftige Verbesserungen und dient damit der
Vorsorge.
Bei der bisherigen Seeamtsverhandlung wurde nur das
persönliche Verschulden also menschliches Versagen -
untersucht. Daran hatten insbesondere die Reeder ein
großes Interesse, bedeutet doch menschliches Verschul-
den für die Reeder, dass sie für den Unfall nicht haften
müssen. Durch den jetzt vorgeschlagenen Verfahrensab-
lauf wird dies geändert, auch ein mögliches Verschulden
des Reeders wird untersucht.
Bedenkenswert finde ich allerdings die Kritik, dass
Kapitäne in Zukunft nicht mehr automatisch zu den Ver-
handlungen hinzugezogen werden sollen. Im Bereich der
Flugunfalluntersuchung ist das verständlich, bei der See-
unfalluntersuchung sollte man solange es keine Schiffs-
datenschreiber, die so genannte Black Box, gibt das
Fachwissen der Kapitäne aber angemessen berücksich-
tigen.
Dieser Gesetzesentwurf ist ein weiterer Schritt, die
Seeschifffahrt sicherer zu machen. Ein Anfang dafür ist
gemacht.
Michael Goldmann (F.D.P.): Unter dem wenig klaren
Titel Zweites Seeschifffahrtsanpassungsgesetz hat die
Bundesregierung einen Reformentwurf zum Seeunfallun-
tersuchungsgesetz vorgelegt. Die bisher gültige Fassung
aus dem Jahr 1985, die seinerzeit mit den Stimmen des
ganzen Hauses verabschiedet worden war, soll radikal
geändert werden. Im bisherigen Verfahren zeigte sich das
BMVBW äußerst beratungsresistent. Zwar wurde der Re-
ferentenentwurf des letzten Jahres in diesem Frühjahr
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 182. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juli 2001 18059
(C)
(D)
(A)
(B)
ersetzt, doch aus der Kritik fast aller Verbände und Be-
troffener wurden so gut wie keine Konsequenzen gezo-
gen. Auch die Einwendungen des Bundesrates vom 1.
Juni diesen Jahres veranlassten das BMVBW nicht dazu,
seinen Gesetzentwurf noch einmal zu überdenken.
Dabei gibt es genug Gründe, den Entwurf der Bundes-
regierung einer gründlichen Revision zu unterziehen. Das
alte Verfahren hat sich in den letzten 16 Jahren nicht nur
bewährt, sondern es ist von allen Beteiligten hundertpro-
zentig akzeptiert. Ganz bewusst hat man damals die Re-
geln des Verwaltungsverfahrensgesetzes auf die Seeun-
falluntersuchung angewandt und die Zahl der nicht
angefochtenen Entscheidungen der Seeämter und des
Bundesoberseeamtes spiegelt dies beeindruckend wider.
Die Seeämter haben in rund 650 Fällen einen Seeunfall
mit einem Spruch abgeschlossen. Daraus erwuchsen
180 Entscheidungen des Oberseeamtes in Widerspruchs-
verfahren. Nur in 14 Fällen wurde gegen Entscheidungen
des Oberseeamtes vor dem Verwaltungsgericht Klage ein-
gereicht, die alle abgewiesen wurden. Das spricht für die
hohe Qualität der Untersuchungen der Seeämter und die
hohe Akzeptanz bei allen Betroffenen.
Dieses bewährte Verfahren soll nun abgeschafft wer-
den. Die Regeln des Verwaltungsverfahrensrechts sollen
keine Anwendung mehr finden, die Seeämter sollen nur
noch in Patententzugsfällen tätig werden und das Ober-
seeamt soll abgeschafft werden. Die neu zu schaffende
Bundesstelle zur Seeunfalluntersuchung soll nicht mehr
jeden Seeunfall untersuchen und auf die Öffentlichkeit
des Verfahrens, auf die Hinzuziehung von Experten wie
beim bisherigen Verfahren soll verzichtet werden.
Die Bundesregierung orientiert sich bei ihrer Reform
am Flugunfalluntersuchungsgesetz, weil sie damit angeb-
lich die Empfehlung Nummer 24 der Pallas-Kommission
umsetze. Dabei unterschlägt das BMVBW aber, dass
diese Empfehlung der Kommission erst auf Initiative des
BMVBW Aufnahme in den Empfehlungskatalog fand.
Man soll also jetzt nicht so tun, als ob dies eine notwen-
dige Konsequenz aus dem Pallas-Unglück sei. Im Gegen-
teil: eine Anlehnung an das Flugunfalluntersuchungs-
gesetz ist nicht sachgerecht, weil im Gegensatz zu Flug-
unfällen die Masse der Seeunfälle, circa 80 Prozent, nicht
auf technisches, sondern auf menschliches Versagen
zurückzuführen ist. Das von der Bundesregierung ge-
wünschte neue Verfahren ist nicht dazu angetan, Seeun-
fälle so sachgerecht zu untersuchen, dass aus der Unter-
suchung Lehren für die Fortentwicklung der Sicherheit
des Schiffsverkehrs gezogen werden können.
Nahezu alle Betroffenen äußern massive Kritik gegen
diesen Regierungsentwurf. Der Bundesrat hat beschlos-
sen, dass die Seeämter auch weiterhin ein eigenständiges
Untersuchungsrecht haben sollen und ihre Verfahren mit
einem Spruch abschließen sollen, gegen den ein Wider-
spruch beim Bundesoberseeamt möglich sein muss. Es ist
nicht nachvollziehbar, warum BMVBW mit dem Kopf
durch die Wand will und sich weigert, die nötigen Nach-
besserungen aufzunehmen.
Die Kleine Anfrage, die meine Fraktion zu diesem
Thema am 19. Juni auf den Weg gebracht hat, wird auch
aufzeigen, dass die Bundesregierung es bei der Begrün-
dung der besonderen Eilbedürftigkeit dieses Gesetzent-
wurfes mit der Wahrheit nicht so ganz eng gesehen hat.
Seit einem Jahr wird vom BMVBW behauptet, Deutsch-
land sei wegen der EU-Richtlinie 1999/35/EG unter Zug-
zwang und im Innenausschuss des Bundesrates hat der
Vertreter des BMVBW gar behauptet, dass Deutschland
von der EU ultimativ zur Umsetzung der Richtlinie auf-
gefordert worden sei. Nichts davon ist wahr.
Richtig ist vielmehr, dass die Bundesregierung selbst
bei der EU-Kommission den Eindruck erweckt hat, die
Richtlinie bereits umgesetzt zu haben. Erst eine Anfrage
aus der EVP-Fraktion im EP an die Kommission im Fe-
bruar diesen Jahres hat den Sachverhalt aufgeklärt. Es gibt
keinen Grund in übertriebene Hektik zu verfallen, solange
der EU dargelegt wird, dass man an der Umsetzung ar-
beitet.
Immer wieder wird auch auf den geänderten interna-
tionalen Standard verwiesen. Doch ob der IMO-Code
A.849(20) von 1997, den es umzusetzen gilt, tatsächlich
von der Bundesregierung in ihrem Entwurf umgesetzt
wurde, bleibt zu prüfen. Ich habe hier erhebliche Zweifel.
Wegen der vielen Mängel des Regierungsentwurfes und
wegen der vielen offenen Fragen wird meine Fraktion
nächste Woche in Hamburg eine Anhörung mit Experten
durchführen und dazu einen eigenen Gesetzentwurf zum
Seeunfalluntersuchungsgesetz vorlegen.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie-
rungskoalition, dass Sie nicht einfach dem BMVBW fol-
gen, sondern bei den weiteren Beratungen ernsthaft ver-
suchen, sich mit der Kritik an dem Regierungsentwurf
auseinanderzusetzen. Vielleicht gelingt es uns dann im
Ausschuss eine Lösung zu finden, die sicherstellt, dass
das neue SUG nicht nur internationale Standards erfüllt,
sondern auch eine ähnliche Akzeptanz bei den Betroffe-
nen von Seeunfällen erfährt, wie es das bisherige Gesetz
hat.
Angelika Mertens, Parlamentarische Staatssekre-
tärin beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen: Vor wenigen Monaten erst hat der Deutsche
Bundestag mit Blick auf den Seeunfall des Holzfrachters
Pallas eine Entschließung über die Sicherung der deut-
schen Nordund Ostseeküste vor Schiffsunfällen gefasst.
Gestern wurde in fünf Ausschüssen unter anderem der
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Verbesserung der Schiffssicherheit auf der Ostsee
beraten, nachdem sich am 29. März vor der Küste Meck-
lenburg-Vorpommerns eine bedrohliche Tanker-Havarie
ereignet hatte.
Vor wenigen Tagen geriet ein deutsches Fährschiff in
der Ostsee mit vielen Menschen an Bord durch einen
Brand in Seenot. Der Unfall der Pallas, die Tanker-Ha-
varie in der Ostsee und der Brand des Fährschiffes zeigen
beispielhaft, dass alle Verantwortlichen gefordert sind, die
sich bietenden Möglichkeiten zur Verbesserung der Si-
cherheit des Seeverkehrs wirksam auszuschöpfen.
Die Initiative der Bundesregierung für ein Zweites
Seeschifffahrtsanpassungsgesetz zielt genau auf diese
dringliche Aufgabe. Der Schwerpunkt eines praxis-
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gerechten maritimen Sicherheitskonzepts muss in der
Verhinderung von Havarien und daraus folgenden Schä-
digungen liegen. Hierfür sind insbesondere die entspre-
chenden internationalen Sicherheitsanforderungen umzu-
setzen. Zur Anpassung an den aktuellen Stand des
internationalen Seesicherheitssystems sollen vor allem
das Seeaufgabengesetz und das Gesetz über das Seelots-
wesen geändert, ein neues Seesicherheits-Untersuchungs-
Gesetz geschaffen und das aufgrund des Gemeinschafts-
rechts überholte Gesetz über die Küstenschifffahrt durch
eine Verordnungsermächtigung ersetzt werden.
Der Bundesrat hat am. 1. Juni zu dem Gesetzentwurf
Stellung genommen. Die Bundesregierung hat hierzu am
27. Juni eine Gegenäußerung beschlossen. Nach ihrer An-
sicht bedarf das Gesetz nicht der Zustimmung des Bun-
desrates.
Die Gesetzesvorlage baut auf den soliden Grundlagen
auf, die der Deutsche Bundestag in der Vergangenheit
durch eine Reihe einstimmig gefasster Beschlüsse ge-
schaffen hat: Der Gesetzentwurf schließt unmittelbar an
das Erste Seeschifffahrtsanpassungsgesetz von 1998 an,
das in Deutschland die wirksame Anwendung von rund
80 Regelwerken des internationalen schiffsbezogenen
Sicherheitsstandards ermöglicht hat. Jetzt geht es um wei-
tere Regelwerke zu Themen wie den Qualifizierungsan-
forderungen an Seeleute im Borddienst und der See-
unfalluntersuchung nach dem internationalen Standard.
Die Seeunfalluntersuchung spielt heute in der interna-
tionalen Staatenwelt wie beispielsweise im jüngsten
Mehrjahresprogramm der Internationalen Seeschiff-
fahrts-Organisation (IMO) ablesbar eine überragende
Rolle als Erkenntnisgrundlage für jegliche gesetzgeberi-
sche Tätigkeit und internationale Zusammenarbeit zur
Verbesserung der Schiffssicherheit und des maritimen
Umweltschutzes.
Dabei geht es in der Unfallanalyse vor allem um be-
ständiges Lernen, damit die Seeleute, die Fahrgäste auf
See sowie die Meeresumwelt und die Küstenbewohner in
Zukunft vor den Folgen von Seeunfällen durch bessere
Unfallverhütungsmaßnahmen wirksam geschützt werden.
Für dieses maritime Lernen und Vorbeugen besitzt die
Bundesregierung bisher nicht das im internationalen
Maßstab notwendige Instrumentarium. Daher muss die
hierfür im Ausführungsgesetz von 1995 zum UN-See-
rechtsübereinkommen vorgesehene zentrale Bundesstelle
sowohl rechtlich wie organisatorisch im gebotenen Um-
fang ausgebaut werden.
Hierbei erweist es sich als großer Vorteil, dass die IMO
bei der Erarbeitung der Regeln ihres Codes über die See-
unfalluntersuchung, an der auch die Internationale Ar-
beitsorganisation (ILO) beteiligt war, sehr weitgehend auf
das bereits im internationalen Luftverkehr entwickelte
und bewährte Unfalluntersuchungsverfahren zurückge-
griffen hat.
Der Gesetzentwurf nimmt daher analog im Wesent-
lichen auf die Vorschriften Bezug, die der Deutsche Bun-
destag erst vor drei Jahren einstimmig mit dem Flug-
unfall-Untersuchungs-Gesetz beschlossen hat. Für jede
dieser Bestimmungen ist sorgfältig ermittelt worden, ob
und gegebenenfalls in welcher Weise etwaigen vom Luft-
verkehr abweichenden Besonderheiten des Seeverkehrs
durch geeignete Maßgaben Rechnung getragen werden
muss.
Hinsichtlich der Tätigkeit der fünf Seeämter, die nach
dem Gesetzentwurf beibehalten werden sollen, sind im
Rahmen des Möglichen die Verfahrensvorschriften des
bisherigen Seeunfalluntersuchungsgesetzes von 1985
übernommen worden.
Im Gegensatz zu dieser Anlehnung der Gesetzesvor-
lage an die bereits getroffenen Vorentscheidungen des
Bundesgesetzgebers wurde in der öffentlichen Diskussion
zum Teil die Einführung von Verfahrenselementen gefor-
dert, die im Bereich der nicht normvollziehenden Unfall-
untersuchung eine weitgehende Abkehr von dem in
Deutschland geltenden Verfahrensrecht bedeutet hätten.
Der Regierungsentwurf hält sich dagegen gerade auch
in wichtigen Einzelpunkten wie der Nichtöffentlichkeit
des Verfahrens der Bundesstelle oder der Entbehrlichkeit
einer Widerspruchsinstanz im Seeamtsverfahren in-
sofern an die Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgeset-
zes. Dies ermöglicht im Hinblick auf die gebotene Dring-
lichkeit eine zügige Beschlussfassung.
Die Seeunfalluntersuchung wird zukünftig noch stär-
ker der Prävention von Unfällen und Gefährdungen die-
nen. Damit ist unser Entwurf eines Zweiten Seeschiff-
fahrtsanpassungsgesetzes für Deutschland ein wichtiger
Schritt zur Verbesserung der Sicherheit der Schifffahrt
und der Meere.
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