Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
15569
(C)
(D)
(A)
(B)
1) Eine Erklärung der Abg. Petra Pau (PDS) wird als Anlage zum Pro-
tokoll der nächsten Sitzung abgedruckt.
2) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15571
(C)
(D)
(A)
(B)
Balt, Monika PDS 16.03.2001
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 16.03.2001
Binding (Heidelberg), SPD 16.03.2001*
Lothar
Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 16.03.2001
Bodewig, Kurt SPD 16.03.2001
Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 16.03.2001
Brüderle, Rainer F.D.P. 16.03.2001
Burgbacher, Ernst F.D.P. 16.03.2001
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 16.03.2001
Herta
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 16.03.2001
Joseph DIE GRÜNEN
Freitag, Dagmar SPD 16.03.2001
Friedrich (Altenburg), SPD 16.03.2001
Peter
Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 16.03.2001
Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 16.03.2001
Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 16.03.2001
Heinrich, Ulrich F.D.P. 16.03.2001
Dr. Hendricks, Barbara SPD 16.03.2001
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 16.03.2001
DIE GRÜNEN
Hirche, Walter F.D.P. 16.03.2001
Hoffmann (Darmstadt), SPD 16.03.2001
Walter
Homburger, Birgit F.D.P. 16.03.2001
Irber, Brunhilde SPD 16.03.2001
Jäger, Renate SPD 16.03.2001
Klappert, Marianne SPD 16.03.2001
Lehn, Waltraud SPD 16.03.2001
Dr. Leonhard, Elke SPD 16.03.2001
Lietz, Ursula CDU/CSU 16.03.2001
Müller (Berlin), PDS 16.03.2001
Manfred
Neumann (Bramsche), SPD 16.03.2001
Volker
Nolte, Claudia CDU/CSU 16.03.2001
Ohl, Eckhard SPD 16.03.2001
Otto (Frankfurt), F.D.P. 16.03.2001
Hans-Joachim
Pieper, Cornelia F.D.P. 16.03.2001
Rauen, Peter CDU/CSU 16.03.2001
Reiche, Katherina CDU/CSU 16.03.2001
Schmidbauer (Nürnberg), SPD 16.03.2001
Horst
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 16.03.2001
Hans Peter
Schröder, Gerhard SPD 16.03.2001
Schröter, Gisela SPD 16.03.2001
Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 16.03.2001
Schulz (Leipzig), BÜNDNIS 90/ 16.03.2001
Werner DIE GRÜNEN
Dr. Seifert, Ilja PDS 16.03.2001
Dr. Stadler, Max F.D.P. 16.03.2001
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 16.03.2001
Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 16.03.2001
Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 16.03.2001
Vogt (Pforzheim), Ute SPD 16.03.2001
Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 16.03.2001
DIE GRÜNEN
Wieczorek (Duisburg), SPD 16.03.2001
Helmut
Wistuba, Engelbert SPD 16.03.2001
Wohlleben, Verena SPD 16.03.2001
Wolf, Aribert CDU/CSU 16.03.2001
Zierer, Benno CDU/CSU 16.03.2001
* für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 2
Erklärung
des Abgeordneten Jürgen Koppelin (F.D.P.) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Krankenhausfinanzierungs-
gesetzes und der Bundespflegesatzverordnung
(DRG-Systemzuschlags-Gesetz) (Tagesordnungs-
punkt 20)
Ich erkläre, dass das Votum meiner Fraktion „Zustim-
mung“ lautet.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Abschreibungsbedingungen
(Tagesordnungspunkt 19)
Klaus Lennartz (SPD): Die deutsche Wirtschaft hat
allen Grund zur Freude. Freuen Sie sich doch einfach ein-
mal mit, wenn unsere Steuerpolitik die Menschen entlas-
tet und nicht belastet! Freuen Sie sich doch, dass der
Standort Deutschland für in- und ausländische Investoren
wieder attraktiv geworden ist! Freuen Sie sich, dass die
Arbeitslosigkeit zurückgeht! Freuen Sie sich doch einfach
darüber, statt ständig den Standort Deutschland schlecht
zu reden!
Unsere Steuerpolitik hat umfangreiche Steuersenkun-
gen insbesondere für den Mittelstand auf den Weg ge-
bracht. Die Unternehmensteuerreform 2000 und die Ent-
lastung des Mittelstandes beim Einkommensteuertarif
– Wiedereinführung des halben Steuersatzes für Betriebs-
veräußerungen – entlasten die Wirtschaft von 2001 bis
2005 um rund 104 Milliarden DM. Das sind echte Entlas-
tungen und keine vorübergehenden Finanzspritzen auf
Pump.
Dem gewaltigen Entlastungsvolumen von 104 Milliar-
den DM steht ein Finanzierungsbeitrag der AfA-Tabellen
von maximal 3,5 Milliarden DM gegenüber, keine müde
Mark mehr. Das hat die Bundesregierung mehrfach zuge-
sagt, und das ist auch allgemeiner Konsens. Das müssen
die Unternehmer wissen, wenn am heutigen Tag über die
AfA-Tabellen gesprochen wird.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
wissen es schon längst. Sie wissen auch, dass die Überar-
beitung der AfA-Tabellen auf einen einstimmigen Be-
schluss der obersten Finanzbehörden des Bundes und der
Länder vom April 1998 zurückgeht, zu einer Zeit also, in
der Theo Waigel Finanzminister war. Sie wissen auch,
dass Sie in Ihrem Steuerprogramm ebenfalls die 3,5 Mil-
liarden DM als Mehrertrag aus den AfA-Tabellen ange-
setzt haben.
Ich erinnere mich nicht, Herr Thiele, von Ihnen oder
von anderen Kollegen der Kohl-Regierung je einen Auf-
schrei des Entsetzens vernommen zu haben. Vielleicht
setzen Sie zur Abwechslung einmal die parteipolitische
Brille ab und schauen durch die Gläser der Realität. Das
erhöht die Tiefenschärfe beträchtlich.
Ihre Aufgeregtheit ist allenfalls ein schlecht inszenier-
tes Polit-Theater. Aber Sie unterhalten nicht, Sie verunsi-
chern. Aber das ist ja Ihr Ziel; das ist Absicht. Die von
Ihnen im letzten Jahr öffentlich behaupteten Mehrbelas-
tungen durch die AfA-Tabellen von erst 27, dann 17, dann
10Milliarden DM haben doch erst zu einer massiven Ver-
wirrung der deutschen Wirtschaft geführt. Das war unnö-
tig und zudem völlig unbegründet. Sie wussten doch sehr
genau, dass die von Ihnen nach außen getragenen Zahlen
nur das Ergebnis eines ersten Arbeitsentwurfes waren,
ohne Gültigkeit, ohne Bindungskraft. Es gab eine Verein-
barung zwischen Regierung und Wirtschaft: Die Ober-
grenze liegt bei 3,5 Milliarden DM. Daran halten wir uns.
Sehen wir uns doch einmal Ihren Gesetzentwurf an! Er
sieht vor, dass „bei der Bemessung der Nutzungsdauer
technische und betriebswirtschaftliche Aspekte“ berück-
sichtigt werden sollen. Das macht keinen Sinn; denn dann
haben Sie das Problem, dass Sie nicht wissen, mit welcher
Gewichtung bewertet werden soll. Wir brauchen eine
klare Regelung nach betriebswirtschaftlichen Gesichts-
punkten, in der selbstverständlich auch die technische
Nutzungsdauer einfließt. Die Bundesregierung wird
hierzu ein Gutachten in Auftrag geben, in dem die Ab-
schreibungsbedingungen insbesondere unter Berücksich-
tigung der betriebswirtschaftlichen Aspekte untersucht
werden.
Im Übrigen ist schon jetzt klargestellt, dass im Einzel-
fall durchaus die tatsächliche, also eine kürzere Nut-
zungsdauer angesetzt werden kann, wenn der Steuer-
pflichtige dies glaubhaft nachweist. Eine klare Absage
erteilen wir auch Ihrer Forderung nach einer Anhebung
der Betragsgrenze für geringwertige Güter auf 1 600 DM.
Gegen eine Verdoppelung der derzeit geltenden Wert-
grenze von 800 DM sprechen gewichtige Gründe:
Erstens. Die geforderte Anhebung der Wertgrenze
führt zu erheblichen Steuerausfällen von 4 bis 5 Milliar-
den DM im Entstehungsjahr.
Zweitens. Die gesamtwirtschaftliche Anstoßwirkung
ist gering.
Drittens. Eine Anhebung der Wertgrenze würde zudem
den Preis vieler geringwertiger Wirtschaftsgüter in die
Höhe treiben. Die Forderung der Opposition ist daher un-
sinnig.
Die neue AfA-Tabelle „AV“ ist eine gemeinsame Lö-
sung zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Damit haben
Wirtschaft und Verwaltung Rechtsklarheit. Die Höhe der
Belastung durch die veröffentlichte AV-Tabelle setzt das
Finanzministerium mit einem Mehraufkommen von
2,6 Milliarden DM an. Hier gibt es Dissens. Die Wirt-
schaft nennt 3 Milliarden DM.
Wir sind mit der Wirtschaft zu einer einvernehmlichen
Lösung gekommen: Wir reduzieren die Belastungen
durch die AV-Tabelle um 400 Millionen DM, und zwar
durch eine verkürzte Nutzungsdauer für LKWs, PKWs
und Kombis um ein Jahr – dies macht 200 Millionen DM
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115572
(C)
(D)
(A)
(B)
aus und trägt insbesondere dem Anliegen des Handwerks
Rechnung – und durch neue Branchentabellen für Ma-
schinenbau und Seehafenbetriebe. Die Herausnahme die-
ser Branche aus der AV-Tabelle verringert das Mehrauf-
kommen der AV-Tabelle um weitere rund 200 Millionen
DM. Dadurch verringert sich das Mehraufkommen der
AV-Tabellen von 2,6 Milliarden DM auf 2,2 Milliarden
DM, sodass der von den Änderungen der Branchentabel-
len zu erbringende Finanzierungsbeitrag 1,3 Milliarden
DM beträgt. Insgesamt überschreiten wir aber damit nicht
die mit der Wirtschaft vereinbarten Mehreinnahmen von
3,5 Milliarden DM.
Bevor die Opposition weitere Märchen verbreitet: Die
Nutzungsdauerabschläge bei Mehrschichtnutzung sind
bereits vom Finanzminister gestrichen worden. Die ver-
längerte Nutzungsdauer bei den AV-Tabellen ändert nichts
daran, dass alle Investitionen weiterhin zu 100 Prozent
abgeschrieben werden können.
Die Bundesregierung wird bis Mai 2001 die wesentli-
chen Änderungen der Branchentabellen mit der Wirt-
schaft abstimmen, damit die neuen Branchentabellen
rechtzeitig im Laufe des zweiten Halbjahres 2001 erfol-
gen können. Die teilweise Finanzierung der Steuerreform
durch geänderte Abschreibungstabellen war fester Be-
standteil der Unternehmensteuerreform und grundsätzlich
Konsens zwischen allen Bundestagsfraktionen. Eine
voreilige Negativbewertung der neuen AV-Tabelle vor
Abschluss der Überarbeitung der Branchentabellen ist un-
begründet. Ein fundiertes Urteil ist nur im Gesamtzusam-
menhang der neuen AV-Tabellen und Branchentabellen
möglich.
AfA steht für „Absetzung durch Abnutzung“. An die
Opposition gerichtet, sage ich: Sie sind bereits abge-
schrieben. Ihre Nutzungsdauer ist schon längst über-
schritten.
Elke Wülfing (CDU/CSU): Ehe ich zum Gesetzent-
wurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Verbesse-
rung der Abschreibungsbedingungen komme, möchte ich
auf die Finanzausschusssitzung vom 7. März dieses Jah-
res in Anwesenheit des Bundesfinanzministers eingehen.
Bundesfinanzminister Eichel hat in dieser Finanzaus-
schusssitzung bestritten, dass das Finanzministerium be-
reit war, die Abschreibungstabellen erst nach der öffentli-
chen Anhörung in Kraft zu setzen. Das Studium der Akten
dient meistens der Wahrheitsfindung. Das Protokoll der
Finanzausschusssitzung vom 6. Dezember 2000 ist hier
eindeutig. Der SPD-Kollege Spiller macht die Bemer-
kung, außerdem könne die Anhörung nur etwas bewirken,
wenn sie vor In-Kraft-Treten der neuen Tabellen durch-
geführt werde. Richtig! Daraufhin bemerkt Steuerabtei-
lungsleiter Juchum, er gehe davon aus, dass es unschäd-
lich sei, wenn die Abschreibungstabellen erst Ende Januar
2001 im Bundessteuerblatt veröffentlicht würden. Die
Vorsitzende Frau Scheel ergänzt, dass die Tabellen dann
rückwirkend zum 1. Januar 2001 in Kraft gesetzt werden
müssten. Die Wahrheit ist also, dass der Finanzausschuss
davon ausgehen musste, dass die Abschreibungstabellen
nicht vor der Anhörung in Kraft gesetzt würden. Sonst
hätte man nämlich der Verlegung des Termins der öffent-
lichen Anhörung zu den Abschreibungstabellen auf
den 15. Januar 2001 gar nicht zustimmt. Das war die Mei-
nung aller Fraktionen im Finanzausschuss. Nun will ich
zugunsten von Bundesfinanzminister Eichel annehmen,
dass er nicht richtig informiert war, denn sonst müsste ich
sagen, er hat gelogen!
Zurück zum Gesetzentwurf: Mit Urteil vom 19. No-
vember 1997 hat der Bundesfinanzhof in einem Einzelfall
entschieden, dass bei der Bemessung der Abschreibung
im Regelfall von der technischen Nutzungsdauer auszu-
gehen sei. Eine hiervon abweichende kürzere wirtschaft-
liche Nutzungsdauer komme nur in Betracht, wenn das
Wirtschaftsgut erfahrungsgemäß vor Ablauf der techni-
schen Nutzungsdauer objektiv wirtschaftlich wertlos
werde. Die Finanzverwaltung hatte daraus gefolgert, dass
deswegen grundsätzlich die technische Nutzungsdauer
maßgeblich sei, und hatte für die Abschreibungstabellen
Nutzungsdauern ermittelt, die zum Teil doppelt so hoch
waren wie bisher. Die Präsidentin des Bundesfinanzhofes,
Frau Dr. Ebling, hat aber in der öffentlichen Anhörung
sehr deutlich gemacht, dass man dem Urteil des Bundes-
finanzhofes nichts entnehmen kann, worauf die Finanz-
verwaltung diese Auffassung stützen könnte. Damit war
eigentlich die Basis für die neue AfA-Tabelle obsolet und
der Finanzminister hätte sie nicht zurückziehen müssen,
wenn er denn nicht so nötig Geld bräuchte.
Nun müssen wir die Frage der Verlängerung der Ab-
schreibungszeiträume vor allem vor dem Hintergrund ei-
ner Konjunkturentwicklung sehen, bei der die Wolken am
Horizont zunehmen. Gewitter ziehen auf. Notwendig
wäre deshalb jetzt eine Verkürzung der Abschreibungs-
dauern, nicht eine Verlängerung. Das Gegenteil ist der
Fall. Die Steuerreform hat durch die Senkung der degres-
siven AfA von 30 auf 20 Prozent eine massive Behinde-
rung von Investitionen gebracht. Nun hat die Regierung
uns die neue AfA-Tabelle beschert, und das vor dem Hin-
tergrund der Erhöhung des Spitzensteuersatzes für ge-
werbliche Einkommen von 43 auf 48,5 Prozent in diesem
Jahr. Ich kann dazu nur sagen, die Jahrhundertsteuerre-
form dieses Bundesfinanzministers fördert keine Investi-
tionen, sondern sie behindert sie.
Es wird ja immer wieder behauptet, bei der Verlänge-
rung der Abschreibungsdauern handele es sich im Grunde
nur um einen Zinseffekt. Dies ist mitnichten so. Ein Un-
ternehmen, das immer gleich bleibend reinvestiert,
schiebt den Geldbetrag, der einmal an Mehrsteuern ge-
zahlt worden ist, wie eine Bugwelle vor sich her – bis zur
Liquidation des Unternehmens. Es geht also nicht um ei-
nen Zinseffekt, sondern es geht um effektive Mehrsteu-
ern, die gezahlt werden müssen.
Nun war es bisher so, dass die AfA-Tabellen und auch
die Branchentabellen in ganz hohem Maße in Überein-
stimmung zwischen Finanzverwaltung, Verbänden und
Unternehmen gestaltet worden sind. Das heißt, jedermann
hat sich darauf geeinigt, und deshalb hat es auch wenig
Veranlassung gegeben, Prozesse zu führen. Diese befrie-
dende Wirkung der Abschreibungstabellen hat das Bun-
desfinanzministerium mit seiner Vorgehensweise leicht-
fertig aufs Spiel gesetzt. Es kann durchaus sein, dass es in
Zukunft vermehrt zu Prozessen kommt. Die Betriebsprüfer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15573
(C)
(D)
(A)
(B)
haben eine neue Spielwiese. Nach all den Erfahrungen,
die nun der Finanzausschuss wie auch die Verbände mit
der Finanzverwaltung gemacht haben, müssen wir eigent-
lich darüber nachdenken, ob die Frage der Dauer der Ab-
schreibung von Wirtschaftsgütern der Verwaltung nicht
aus der Hand genommen und dem Gesetzgeber anheim
gegeben werden muss. Es kann ja wohl nicht angehen,
dass völlig unabhängig von betriebswirtschaftlichen Ge-
setzmäßigkeiten Abschreibungsdauern je nach Geldbe-
darf verlängert werden, sozusagen als Reservekasse für
den Finanzminister.
Um aber im ersten Schritt wenigstens eine eindeutige
Grundlage für die Erarbeitung von Abschreibungstabellen
zu bekommen, schlägt die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion eine Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG vor. Ziel
des Gesetzes ist es, bei der Bemessung der Abschrei-
bungsdauer nicht allein auf die technische Abnutzbarkeit
eines Wirtschaftsgutes abzustellen, was in der Regel zu ei-
ner erheblich längeren Abschreibungsfrist führt, sondern
auch betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte zu berück-
sichtigen. Wenn § 7 entsprechend geändert wird, kann
die am 1. Januar 2001 in Kraft gesetzte AfA-Tabelle
nachträglich geändert werden. Denn diese AfA-Tabelle
wirkt innovations- und investitionshemmend.
Wie schon gesagt, der Konjunkturhimmel trübt sich.
Deshalb brauchen wir unbedingt ein positives Investiti-
onsklima und die Förderung von technischen Innovatio-
nen. Dazu brauchen wir eine Verkürzung und nicht eine
Verlängerung der bisherigen Abschreibungsfristen. Diese
Möglichkeit ergäbe sich, wenn das ganze Haus unserem
Gesetzentwurf zustimmen würde. Betriebswirtschaftliche
Gesichtspunkte könnten dann auch bei der begonnenen
Überarbeitung der 100 Branchen-Tabellen berücksichtigt
werden.
Zur Begründung der Sinnhaftigkeit unserer beantrag-
ten Gesetzesänderung möchte ich doch noch einmal den
Sachverständigen Schwenker von DIHT aus der öffentli-
chen Anhörung zitieren. Er sagt dort bezüglich der Ände-
rung des § 7 Einkommensteuergesetz, „wie schon ver-
schiedentlich angesprochen wurde, fordern wir, dass sich
die Abschreibung vor allen Dingen nach dem betriebs-
wirtschaftlichen Wertverzehr richtet. Wir appellieren an
alle Parteien im Bundestag und Bundesrat, diesen Geset-
zesantrag zu unterstützen. Was schließlich die Branchen-
tabellen angeht, so fordern wir praktikable Regelungen,
an deren Gestaltung die Wirtschaft, anders als bei der all-
gemeinen Tabelle, beteiligt wird“. Daraufhin äußert
die Vorsitzende des Finanzausschusses, Frau Christine
Scheel – ich zitiere –: „Es gibt auch vonseiten der Länder
ein Interesse daran, den § 7 EStG zu ändern. Das ergibt
sich aus einem Vermerk in einem Protokoll. Ich bin der
Meinung, dass wir das BMF beauftragen sollten, schrift-
lich darzulegen, was unter der betriebswirtschaftlichen
Nutzungsdauer zu verstehen ist und welche Bedeutung ih-
rer Aufnahme in das EStG zukommt. Im Interesse der
Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen denke ich,
dass wir dies möglichst schnell auf den Weg bringen soll-
ten. Das ist zumindest meine Position“. – Bravo, Frau
Scheel! Das war vor zwei Monaten! Also seien Sie mutig!
Empfehlen Sie Ihrer Fraktion, unserem Antrag zuzustim-
men, und handeln Sie endlich mal so, wie Sie es der Wirt-
schaft in der Öffentlichkeit immer versprechen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn man der CDU/CSU so zuhört, könnte man glauben,
sie hätte mit der Neuregelung der Abschreibungsfristen
nie etwas zu tun gehabt. Fakt ist aber, das unter der Re-
gierung von CDU/CSU und F.D.P. genau diese Verlänge-
rung der Abschreibungsfristen – orientiert an der techni-
schen Nutzungsdauer der Wirtschaftgüter – in Gang
gesetzt worden ist. Denn die Finanzverwaltung des Bun-
des und wohlgemerkt auch der Länder hat sich schon im
April 1998 entschlossen, die Abschreibungstabellen zu
überarbeiten.
Hansgeorg Hauser war zu diesem Zeitpunkt als Parla-
mentarischer Staatssekretär im BMF zuständig für Steu-
ern, Carl-Ludwig Thiele war Vorsitzender des Finanzaus-
schusses. Sie hätten also alle Möglichkeiten gehabt, der
Verlängerung der Abschreibungsfristen entgegenzuwir-
ken. Sie hätten auch die Möglichkeit gehabt, § 7 EStG neu
zu formulieren und stärker auf betriebswirtschaftliche
Kriterien auszurichten. Aber, dem war nicht so. Ganz im
Gegenteil: Noch im letzten Jahr hat die CDU/CSU die
Mehreinnahmen von 3,5 Milliarden DM aus der Verlän-
gerung der Abschreibungsfristen in ihrem eigenen Ge-
setzentwurf zur Steuerreform mit eingeplant.
Nach den Vorgaben aus der Regierungszeit von
CDU/CSU und F.D.P. hätte die Verlängerung der Ab-
schreibungsfristen 60 Prozent betragen. Das hätte zwei-
fellos die Investitions- und Innovationstätigkeit der Wirt-
schaft schwer beschädigt. Wir haben diese Verlängerung,
die ja eigentlich eine reine Verwaltungsangelegenheit ist,
in einem aufwendigen und zeitraubenden Abstimmungs-
prozess zurückfahren können. Die durchschnittliche Ver-
längerung der Nutzungsdauer in der Allgemeinen Tabelle
beträgt jetzt 20 Prozent.
Mit den Wirtschaftsverbänden hat das Ministerium
eine deutliche Annäherung bei der Einschätzung der fi-
nanziellen Auswirkungen der Allgemeinen Tabelle erzielt.
Das Ministerium geht von 2,6, die Wirtschaft von 3 Milli-
arden DM aus. Das betrifft 47 Prozent der gesamten Anla-
gegüter.
Auch zur Allgemeinen Tabelle hat uns das Ministerium
aber noch weitere Verbesserungen fest zugesagt: Die alte
Regelung für Schichtbetriebe gilt weiter. Das ist wichtig
für den Rechtsfrieden zwischen Unternehmen und Fi-
nanzverwaltung. Außerdem wird in den Allgemeinen Vor-
bemerkungen jetzt ganz unmissverständlich klargestellt,
dass auch kürzere Nutzungsdauern möglich sind. Bedin-
gung ist: Die Steuerpflichtigen müssen dies glaubhaft dar-
stellen. So ist auch im Einzelfall ausgeschlossen, dass
eine überhöhte Nutzungsdauer zugrunde gelegt wird.
Die Nutzungsdauer von besonders intensiv genutzten
Lastkraftwagen, PKWs und Kombis kann um ein Jahr
verkürzt werden. Gerade für kleine Unternehmen und das
Handwerk ist das wichtig. Ansonsten wären diese Unter-
nehmen durch die Allgemeinen Tabellen besonders stark
belastet worden. Durch diese Option sinkt ihre Belastung
durch die Allgemeine Tabelle um 200 Millionen DM.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115574
(C)
(D)
(A)
(B)
Außerdem werden noch Änderungen bei den Bran-
chentabellen vorgenommen, die sich günstig für die be-
troffenen Branchen auswirken: Für den Maschinenbau,
der von der Verlängerung in der Allgemeinen Tabelle be-
sonders stark betroffen wäre, wird eine neue Branchenta-
belle erarbeitet. Die Seehäfenbetriebe haben das gleiche
Problem. Sie werden deshalb in die bestehende Bran-
chentabelle für die Schifffahrt aufgenommen. Damit sinkt
die Belastung in der Allgemeinen Tabelle nochmals um
200 Millionen DM.
Bleibt eine Gesamtbelastung aus der Allgemeinen Ta-
belle von 2,2 Milliarden DM. Für die Überarbeitung der
Branchentabellen stehen somit noch 1,3 Milliarden DM
zur Verfügung. Diese Mehrbelastung muss jetzt möglichst
breit und gleichmäßig verteilt werden, sodass es zu einem
ausgewogenen und fairen Belastungsausgleich zwischen
den Wirtschaftszweigen kommt. Die Überarbeitung wird
in enger Abstimmung mit den Wirtschaftsverbänden noch
vor der Sommerpause erfolgen. Das Ministerium hat uns
auch zugesagt, dass im Zusammenhang mit der Abstim-
mung der Branchentabellen die noch bestehenden Mei-
nungsverschiedenheiten über die finanziellen Auswirkun-
gen in der Allgemeinen Tabelle ausgeräumt werden.
Wie gesagt, die Abschreibungstabellen sind endlich
auf einem guten Weg. Die zugesagten 3,5 Milliarden DM
werden eingehalten. Dies steht im Steuersenkungsgesetz
als Gegenfinanzierung und da ist auch der Kanzler im
Wort. Und wir werden mit Argusaugen darüber wachen.
Nun zum konkreten Vorschlag von CDU/CSU. Die
CDU/CSU schlägt jetzt vor, die Abschreibungsgrenze für
geringwertige Wirtschaftsgüter auf 800 Euro nahezu
zu verdoppeln. Allerdings, die jetzt gültige Grenze von
800 DM gilt bereits für alle nach dem 31. Dezember 1964
angeschafften Wirtschaftsgüter. Allein die Kohl-Regie-
rung hatte 16 Jahre Zeit, diese Grenze zu verändern.
Warum haben sie es nicht getan?
Der Grund dürften wohl die zu erwartenden Steueraus-
fälle sein. Kostenpunkt der Verdopplung, wie die CDU/
CSU selbst angibt: gut 3 Milliarden DM; das BMF schätzt
sogar 4,5 bis 5 Milliarden DM. Zusammen mit dem Ausfall
der 3,5 Milliarden DM durch die Beibehaltung der alten
Abschreibungstabellen, wie von der CDU/CSU ebenfalls
gefordert, wären das dann mindestens 8 Milliarden DM
Steuerausfälle, die von den öffentlichen Haushalten zusätz-
lich verkraftet werden müssten. Ich bitte die CDU/CSU und
auch die F.D.P., doch wenigstens einmal zur Kenntnis zu
nehmen, dass unsere Steuerreform allein dem Mittelstand
von 2001 bis 2005 insgesamt über 104 Milliarden DM
Steuerentlastung bringt.
Die CDU/CSU fordert außerdem, die Nutzungsdauer
mehr an betriebswirtschaftlichen Kriterien zu orientieren.
Wenn jetzt in § 7 Abs. 1 Satz 2 aber einfach betriebswirt-
schaftlich neben betriebsgewöhnlich geschrieben wird,
ist damit niemandem gedient. Uns geht es um eine um-
fassende Modernisierung der Vorschriften zu Abschrei-
bungen.
Wir werden noch in diesem Jahr ein Gutachten in Auf-
trag geben, das untersucht, wie unsere Abschreibungsbe-
dingungen auch international gesehen wettbewerbsfähig
gestaltet werden können. Auf dieser fundierten Grundlage
werden wir die Vorschriften umfassend modernisieren.
Damit gehen wir weit über die Vorstellungen der CDU/
CSU-Fraktion hinaus.
Zum Antrag der F.D.P. „Steuerpolitik mittelstands-
freundlich gestalten“: Es ist mittlerweile ziemlich lästig,
wie die F.D.P. jede sich bietende Gelegenheit für billige
Wahlkampfrhetorik benutzt. Selbstredend ohne auch nur
im Entferntesten an eine Finanzierung ihrer Forderungen
zu denken. Ein Wunschzettel ist noch keine Politik.
Steuererleichterungen zu verteilen ohne Gegenfinanzie-
rung bedeutet Politikunfähigkeit. Das bescheinigt sich die
F.D.P. mit diesem Antrag nur ein weiteres Mal.
Wir werden noch in diesem Jahr die Unternehmen-
steuerreform fortsetzen. Das hatten die Koalitionsfrak-
tionen ja auch schon im Steuersenkungsgesetz ange-
kündigt. Dabei wird es ganz wesentlich darum gehen,
Umstrukturierungen von Unternehmen weiter steuerlich
zu erleichtern.
Gerhard Schüßler (F.D.P.): Um es gleich zu sagen:
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf
der CDU/CSU zustimmen. – Die neuen AfA-Tabellen be-
schäftigen uns nun seit September 1999, als das Kabinett
eine Verschlechterung der Abschreibungsfristen – Steuer-
mehreinnahmen in Höhe von 2,2 Millionen DM – für das
Jahr 2000 beschlossen hat.
Nach dem Kabinettsbeschluss begann eine unendliche
Geschichte: Beim Nachrechnen der Wirtschaft stellte sich
heraus, dass die tatsächliche Belastung nicht 2,2 Milliar-
den DM, sondern 16 bis 20 Milliarden DM betragen
würde. Dann wurden die neuen AfA-Tabellen zurückge-
zogen. Statt eines vernünftigen Abstimmungsprozesses
mit der Wirtschaft entstand dann eine lang andauernde
Sendepause, verbunden mit ständigen Ankündigungen
überarbeiteter Tabellen, die nicht eingehalten wurden.
Das lässt vermuten, dass im Finanzministerium Kopf-
rechnen ohne richtiges Ergebnis geübt wurde.
Die Zusage des Finanzministeriums, die AfA-Tabellen
nicht vor Abschluss des parlamentarischen Verfahrens in
Kraft zu setzen, wurde nicht eingehalten. Sie wurden
stattdessen noch im Dezember 2000 veröffentlicht und am
Parlament vorbei in Kraft gesetzt. Das Handeln des Fi-
nanzministers im Umgang mit dem Parlament erreichte
mit dieser Missachtung seinen Höhepunkt.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieser
unglaubliche Vorgang von Abgeordneten aller Fraktionen
im Finanzausschuss des Bundestages gerügt worden ist.
Zur Sache selber: Die durch die Steuerreform be-
schlossene Schieflage des Mittelstandes wird weiter
ausgebaut. Der Mittelstand wird schon jetzt durch die Ver-
schlechterungen der degressiven Abschreibung überpro-
portional belastet. Das setzt sich bei den AfA-Tabellen
fort. Die Absicht der Bundesregierung ist klar: Sie will
heimlich Steuern erhöhen, und zwar in Millionenhöhe.
Sie will zusätzlich Betriebe abkassieren, klammheimlich
als Verwaltungsanweisung am Parlament vorbei. Die
neuen AfA-Tabellen stellen weder eine ausgewogene
Belastung der Steuerpflichtigen noch eine realistische
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15575
(C)
(D)
(A)
(B)
Festsetzung von Nutzungsdauern dar. Die Koalition weiß
das auch ganz genau.
Alle Argumente, die nachvollziehbar dargelegt worden
sind, hat Rot-Grün in beispielloser Weiser ignoriert. Das
Etikett stimmt: Das ist die mittelstandsfeindlichste Bun-
desregierung, die es je gegeben hat. Die Bundestagsfrak-
tion der F.D.P. fordert die Bundesregierung erneut auf, die
AfA-Tabellen zurückzunehmen und zu überarbeiten.
Heidemarie Ehlert (PDS): Langsam könnten relativ
außenstehende Beobachter der Diskussionen im Finanz-
ausschuss den Eindruck gewinnen, Dreh- und Angelpunkt
der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland seien
die Abschreibungstabellen.
Ich bin nun relativ neu im politischen Geschäft, aber
dass die amtliche „AfA-Tabelle für die allgemein ver-
wendbaren Anlagegüter“ nichts mit der tatsächlichen
Gebrauchswert-Abnutzung zu tun hat, war mir eigentlich
leider sehr bewusst. Ein Hauch von ökologischem Ver-
antwortungsbewusstsein hätte uns hier schon ganz gut zu
Gesicht gestanden. Aber nein, Mann und leider auch Frau
definiert sich über das Auto, und deshalb muss jedes Jahr
ein neues her, egal ob das alte noch seinen Zweck erfüllt –
mich von einem Ort zum anderen zu fahren, und das mög-
lichst noch auf Kosten der anderen Steuerzahler. Ab-
schreibungen sind, gerade so wie sie von der F.D.P. und
von der CDU/CSU thematisiert wurden, inzwischen zu
Subventionen in Reinkultur verkommen.
Nun finden wir die Lösung der Regierungskoalition
auch nicht gerade glücklich. Noch ein bisschen zielge-
nauer hätten die Abschreibungen schon sein können. Aber
die Regierung hat nur das gemacht, was auch in der ver-
gangenen Legislaturperiode, 1997, gemacht wurde; sie
hat die Abschreibungstabellen genutzt, um unter Umge-
hung von Steuererhöhungen mehr Geld in die Staatskas-
sen zu bekommen. Aber auch über die notwendige Ge-
genfinanzierung der Steuerreform haben wir ja schon
mehr als einmal diskutiert.
Auf ein Problem im Gesetzentwurf der CDU/CSU
möchte ich aber nachdrücklich verweisen, weil hier wie-
der einmal letztlich auf dem Rücken der Kommunen den
Unternehmen Geld zufließen soll: Die Anhebung der Ab-
schreibungsgrenze für geringfügige Wirtschaftsgüter von
bisher 800 DM auf 800 Euro. Dies würde eine Belastung
der Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen von
rund 3 Milliarden DM bedeuten. Für die Kommunen ergibt
sich zusätzlich ein Problem. Entsprechend den jetzigen
Regelungen im kommunalen Haushalt sind geringfügige
Wirtschaftsgüter über 800 DM im Vermögenshaushalt, ge-
ringfügige Wirtschaftsgüter unter 800 DM aber im Ver-
waltungshaushalt eingestellt. Wenn die Summe verdoppelt
wird, werden die Spielräume im Verwaltungshaushalt sehr
eng, zumal hier keine Rücklagen gebildet werden können.
Zwei Bemerkungen noch zum Entschließungsantrag
der F.D.P.:
Erstens. Eine grundlegende Vereinfachung des Steuer-
rechts hätten Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungskoali-
tion durchsetzen können und Sie hätten sicher Partner ge-
funden. Wenn Sie allein die Zeit nach dem Beitritt der
DDR dazu effektiv genutzt hätten, hätten sie sicher viele
Wählerinnen und Wähler gewinnen können. Die Lobby
der Steuerberater, die Sie aber gleichzeitig bedienen müs-
sen, ist so groß nicht.
Zweitens. Die Forderung nach Abschaffung der Ge-
werbesteuer unter Wahrung der finanziellen Belange der
Gemeinden zeugt meines Erachtens von einer äußerst ge-
ringen Verankerung Ihrer Partei in den Kommunen. Die
Gewerbesteuer ist nach wie vor eine der wichtigsten Ein-
nahmequellen der Kommunen. Ohne sie würden wichtige
Mittel zum Beispiel für den Erhalt und den Ausbau der In-
frastruktur sowohl für die Wirtschaft wie auch für die Le-
bensqualität fehlen. Oder sollen diese Mittel künftig nur
noch von den Bürgerinnen und Bürgern gezahlt werden?
Über eine Neugestaltung der Gewerbesteuer muss drin-
gend nachgedacht werden, aber nicht über ihre Abschaf-
fung.
Wir lehnen beide Anträge ab.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Krankenhausfinanzierungsge-
setzes und der Bundespflegesatzverordnung
(DRG-Systemzuschlags-Gesetz) (Tagesord-
nungspunkt 20)
Dr. Martin Pfaff (SPD):Mit der heutigen zweiten und
dritten Lesung des DRG-Systemzuschlags-Gesetzes
schaffen wir die finanziellen Grundlagen zum Aufbau der
nötigen Strukturen, um die Entwicklung, Einführung und
laufende Pflege des DRG-Fallpauschalensystems in
Deutschland sicherzustellen.
Die damit finanzierte Gründung eines DRG-Instituts
der Selbstverwaltungspartner sowie die zu vergebenden
Fremdaufträge sind meines Erachtens notwendige, jedoch
noch nicht ausreichende Bedingungen für die erfolgreiche
Anpassung der australischen Klassifikation von Krank-
heiten an die besonderen Strukturen in der Bundesrepu-
blik Deutschland. Mit dem DRG-Institut und seinen Ko-
operationspartnern werden jedoch nur die technischen,
nicht aber die politischen Voraussetzungen für die erfolg-
reiche Realisierung eine durchgängig leistungsbezogenen
Entgeltsystems geschaffen. Für die politischen Vorausset-
zungen sind natürlich nicht die Selbstverwaltungspartner,
sondern die Regierungskoalition, ich meine aber auch, die
Opposition im Deutschen Bundestag verantwortlich.
Denn wir haben nicht erst seit der GKV-Gesundheits-
reform 2000, sondern bereits in Lahnstein die politischen
Voraussetzungen zwischen CDU/CSU, F.D.P. und SPD
gemeinsam geschaffen, um anstelle des kostendeckenden,
tagesgleichen Pflegesatzes mit seinen fehlsteuernden An-
reizen in Richtung ungebührlicher Verlängerung der Ver-
weildauer ein echt leistungsbezogenes Entgeltsystem zu
schaffen: Das Geld sollte dorthin und in einem Umfang
fließen, dass Leistungen bedarfsgerecht im Krankenhaus
finanziert werden – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115576
(C)
(D)
(A)
(B)
Nun wäre es ein Leichtes, auf die Fehler und Versäum-
nisse bei der Umsetzung der Lahnstein-Beschlüsse und
des GSG 1993 hinzuweisen. Ich will dies aber heute nicht
tun, weil die Zukunft wohl für uns alle interessanter ist als
die Vergangenheit. Denn die Zukunft hat die durchaus be-
grüßenswerte Eigenschaft – im Gegensatz zur Vergan-
genheit –, dass man sie zumindest teilweise mitgestalten
kann. Dies ist jedenfalls unsere Aufgabe, unsere Verant-
wortung.
Wo liegt die Verantwortung der Politik für die weitere
Umsetzung eines leistungsbezogenen Entgeltsystems?
Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, sind da-
bei insbesondere die folgenden Fragen zu beantworten:
Erstens. Wie soll der ordnungspolitische Rahmen kon-
kret aussehen, der ab 1. Januar 2003 für den stationären
Bereich gelten soll? Soll es beispielsweise ein Preissys-
tem ohne oder mit Mengenbegrenzungen, beispielsweise
mit zusätzlichen An- und Abreizen – wie Preisdegression
bei Überschreitung des Budgets – geben? In der Über-
gangsphase sind Mengenbegrenzungen wohl erforder-
lich, um Budgetüberschreitungen in Grenzen zu halten.
Zweitens. Soll es krankenhausindividuelle Verhand-
lungen über Budgets geben oder nicht? Wahrscheinlich
werden auch diese in der Übergangsphase notwendig
sein, um auf der Ebene der Einzelakteure das Ziel der Bei-
tragssatzstabilität praktisch ansteuern zu können.
Drittens. Wie soll der Prozess der notwendigen struk-
turellen Veränderung politisch gesteuert werden? Welche
Rolle kommt der Krankenhausplanung der Länder zu?
Viertens. Wie soll der Zeitplan zur Realisierung und
Umsetzung des DRG-Systems gestaltet werden? Ist bei-
spielsweise eine Verlängerung der Umsetzungsphase, der
Konversionsphase, von der Sache her geboten? Von den
konkreten Antworten wird abhängen, ob und in welchem
Umfang die mit der Einführung des DRG-Systems ver-
bundenen Erwartungen realisiert werden können.
Fünftens. Wie sind Krankenhaus-Wahlleistungen bei
der Berechnung der DRGs zu berücksichtigen?
Sechstens. Soll es ein Festpreissystem oder ein Höchst-
preissystem mit Abschlägen geben?
Siebtens. Soll das Preissystem zunächst länderspezi-
fisch und erst später bundesweit einheitlich angewendet
werden?
Achtens. Wie sollen Universitätskliniken im Rahmen
der DRG-Systematik – im selben oder in einem separaten
System – behandelt werden?
Worin liegt die technische Hauptarbeit des DRG-Insti-
tuts, das wir heute mit dem DRG-Systemzuschlags-Gesetz
finanziell ermöglichen wollen? Wir alle wissen: Die Deut-
sche Krankenhausgesellschaft, DKG, und die Kranken-
kassen haben sich fristgerecht zum 30. Juni 2000 für eine
Variante eines Fallpauschalen-Systems auf der Basis der
Diagnosis Related Groups, DRGs, geeinigt: die Austra-
lian-Refined Diagnosis Related Groups, AR-DRG. Diese
einvernehmliche Lösung ist nachhaltig zu begrüßen; denn
sie schafft – nach den vorhergehenden gesetzgeberischen
Schritten des Gesundheitsstrukturgesetzes 1993 und des
GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 – wichtige Vo-
raussetzungen für die Realisierung eines durchgängig leis-
tungsorientierten Vergütungssystems und damit eine große
Planungssicherheit für die Krankenhäuser in Deutschland.
Allerdings ist damit die Hauptarbeit noch nicht getan: In
den kommenden Jahren muss das australische Dokumen-
tationssystem auf die in Deutschland üblichen Prozeduren
hin adaptiert werden. Es müssen Relativgewichte auf der
Grundlage deutscher Daten ermittelt und fortgeschrieben
werden. Dabei sind die Eigenheiten – die Vor- und Nach-
teile, aber auch die in Australien gemachten Erfahrungen
mit den Auswirkungen dieses Systems – für unseren Lern-
und Entwicklungsprozess von großer Bedeutung.
Wie ist das australische System im Vergleich zu ande-
ren Systemen der Fallklassifikation zu bewerten? Dieses
System kann wie folgt bewertet werden: Die Entschei-
dung für ein gemeinfreies System bietet sich vor allem für
eine soziale Krankenversicherung an. Damit ist die Ab-
hängigkeit von Geschäftsinteressen eventueller Leitfor-
men nicht gegeben: Dauerhafte Lizenzgebühren sollten
– nach einer einmaligen Kostenbeteiligung für die Ent-
wicklung des Systems – nicht anfallen. Das AR-DRG-
System stellt ein sehr viel feineres Instrument zur Diffe-
renzierung des Schweregrades einer Krankheit dar als die
„Konkurrenten“: das US-amerikanische AP-DRG-Sys-
tem und das französische „Groupes homogènes de mala-
des“, GHM. Es weist auch eine erweiterte Altersdifferen-
zierung auf: Diese „Alterssplits“ werden bei 114 von 661
Behandlungsfallgruppen angewandt. Besonderheiten –
wie „Ein-Tages-Fälle“, neue Therapieformen und anderes
mehr können relativ einfach Berücksichtigung finden.
Weil dieses System feiner differenziert als andere, spielen
allerdings Fehler bei der Dokumentation und Verschlüs-
selung der Diagnosen für die Finanzierung des Kranken-
hauses eine größere Rolle.
Welche praktischen Erfahrungen wurden in Australien
mit diesem System gemacht? Das AR-DRG System hat
sich in mehreren Regionen Australiens – insbesondere im
Staate Victoria – bewährt. Nach sechs- bis siebenjährigen
Implementationsprozessen ist das System ausgereift und
kommt – nach Meinung einschlägiger Beobachter – den
Bedürfnissen eines sozialen Gesundheitswesens eher ent-
gegen als die für die privaten Versicherungen mit ihrer
großen Finanzierungsvielfalt entwickelten US-amerika-
nischen Systeme. Die Behandlungsintensität und die Ko-
Morbidität wird bei der Fallbestimmung angemessen
berücksichtigt. Mit dem australischen System sind zudem
jüngere Erfahrungen als mit dem der USAverbunden. Die
stringentere Logik des revidierten AR-DRG-Systems, die
einfachere Handhabung und die leichtere Nutzung für
Kostenzuordnung empfehlen dieses System zusätzlich.
Die Zahl der Fälle ist ausreichend, wenngleich geringer
als bei anderen Klassifikationssystemen wie dem AP-
DRG-System.
Die folgenden Wirkungen sind vor allem für unsere ei-
gene Entwicklung von besonderem Interesse:
Erstens. Als Konsequenz der Einführung ist in Austra-
lien die Verweildauer im Krankenhaus erheblich gesun-
ken: um 20 bis 25 Prozent. Es erfolgt eine Verlagerung des
Fokus – weg von den Betten, hin zum Fallmanagement.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15577
(C)
(D)
(A)
(B)
Zweitens. Es fand auch eine teilweise Verlagerung der
Verantwortlichen und Risiken statt – weg vom Kranken-
haus, hin zu benachbarten Sektoren, die mit den Folgen
verbunden waren, auf die diese nicht vorbereitet waren.
Dies gilt insbesondere für den Bereich der Dienstleistun-
gen der Familie selbst: Home Care wuchs um rund 30 Pro-
zent zum Beispiel für postoperative Dienstleistungen wie
Wechsel von Bandagen.
Drittens. Als Folge dieser Risikoverlagerungen stieg
der Koordinationsbedarf zwischen den einzelnen Sekto-
ren, Coordinated Care.
Viertens. In der Anfangsphase wurden Tendenzen zur
Fehleinstufung von Fällen festgestellt mit dem Ziel, eine
attraktive Fallpauschale zu erzielen, Case-Upgrading.
Dies führte zur Forderung nach unabhängiger Überprü-
fung des Kodierungsprozesses.
Fünftens. Problematisch war anfangs die Behandlung
von Lehre und Forschung in einem DRG-System.
Sechstens. Angeregt durch das DRG-System erfolgte
eine stärkere Orientierung an einer Evidence-based-Pra-
xis: Mehr Qualitätsindikatoren und geplante Behand-
lungsabläufe, Clinical Pathways, fanden Anwendung.
Dies führte zur Entwicklung von vergleichenden Daten-
basen.
Siebtens. Damit einhergehend stieg der Bedarf an in-
formationstechnologiebasierten Infrastrukturen für Kodie-
rungssysteme, Softwareentwicklung und anderes mehr.
Achtens. Dies erforderte eine erweiterte Kompetenz
beim Patienten- und Bettenmanagement.
Neuntens. Es fand eine Leistungsverdichtung insbe-
sondere bei pflegerischen Leistungen – später bei ärztli-
chen Leistungen – statt. Die Versuche, Kostenrechnungs-
systeme kompatibel mit den AR-DRG-Systemen zu
gestalten, stießen vielfach an die Grenzen der Komple-
xität, sodass einer Konzentration auf Schlüsselindikato-
ren der Vorzug gegeben wurde.
Diese Erfahrungen zeigen, dass die Hauptarbeit mit
den DRGs noch vor uns liegt. Für Deutschland spielt vor
allem das Jahr 2001 eine strategische Rolle; denn dann
müssen die wichtigsten technischen Weichenstellungen
erfolgen. Auch hierfür bleibt zu hoffen, dass sowohl für
die Entwicklung des DRG-Systems als auch für deren er-
folgreiche Anwendung in den einzelnen Krankenhäusern
die erforderlichen qualifizierten Kräfte geschult und ein-
gesetzt werden können.
Welche gesundheitspolitischen Risiken sind mit der
Einführung eines Preissystems im Krankenhaus zu be-
achten? Auch nach Erarbeitung der DRGs für das deut-
sche Gesundheitswesen ist Wachsamkeit im Umsetzungs-
prozess geboten. Denn die Einführung der DRGs birgt
auch Risiken für die Versorgung: ungebührliche Verkür-
zung der Verweildauer, quicker – sicker; fehlerhafte Ein-
stufung der Fälle, um höhere Pauschalen zu erhalten,
Case-Upgrading; ungenügende Vorhaltung von Kapazitä-
ten im ländlichen Raum, dort nämlich, wo wegen gerin-
gerer Fallzahlen dies unwirtschaftlich ist.
Hier zeigt sich, dass ein leistungsbezogenes Entgeltsys-
tem die Politik nicht von ihrer Gesamtverantwortung für
die Ziele der Gesundheitsversorgung, die tatsächlichen
Ergebnisse in der Quantität und Qualität, aber auch der
Verteilung von Gesundheitsleistungen entlasten kann. Die
Einführung der DRGs ist somit sowohl technisch als auch
politisch eine anspruchsvolle Aufgabe – voller Erwartun-
gen, aber auch begleitet von Risiken. Packen wir es ge-
meinsam an.
Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Zum Ende die-
ser Plenarwoche beschäftigen wir uns eine halbe Stunde
lang mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes und der Bundespfle-
gesatzverordnung, dem so genannten DRG-Systemzu-
schlags-Gesetz; und das in einem kleinen, sach- und fach-
kundigen Kreis.
Der Umfang dieser Gesetzänderungen hält sich im Rah-
men. Die Kosten, die infolge dieses Gesetzes entstehen
werden, belaufen sich auf geschätzte 5 Millionen DM im
Jahr. Dieser Betrag ist, gemessen an dem, was sonst im
Gesundheitswesen an Milliardenbeträgen bewegt wird,
eine erfreulich geringe Ausgabe. Und was darüber hinaus
noch erstaunlicher ist: Im Prinzip haben sich die Deutsche
Krankenhausgesellschaft, der Bundesverband Privater
Krankenanstalten, die gesetzlichen und die privaten Kran-
kenkassen mit dem Gesetzestext in der Anhörung einver-
standen erklärt. Eine geringgradige Verbesserung hat der
Bundesrat noch beigesteuert und diese Verbesserung ist in
einen Antrag der Regierungsfraktionen aufgenommen
worden.
Benötigt werden dieses Gesetz und die notwendige fi-
nanzielle Ausstattung zum Aufbau des Konstruktions-
büros für das DRG-System, für dessen Ausstattung und
Personal und die anschließend notwendigen Pflegeleis-
tungen an das System, wobei die in den nächsten Jahren
anfallenden Kosten naturgemäß, weil kaum kalkulierbar,
nicht beziffert werden können. Immerhin ist es tröstlich
zu erfahren, dass die Regierung in der Begründung beteu-
ert, dass im Hinblick auf das Umsatzvolumen der Kran-
kenhäuser in Höhe von rund 100 Milliarden DM und die
durch das neue Entgeltsystem bewirkte Verbesserung der
Wirtschaftlichkeit im Krankenhausbereich eine Erhöhung
der Preis aufgrund des Gesetzes nicht zu erwarten sei.
Dem Gesetzentwurf ist weiterhin zu entnehmen, dass
zukünftig pro Krankheitsfall 30 Pfennige als System-
zuschlag berechnet werden sollen. Bleibt es bei diesen
30 Pfennigen pro Krankheitsfall, dann ist das kostenmäßig
in der Tat nur eine Marginalie. Viel gravierender ist die
Frage, ob das neu eingeführte DRG-System tatsächlich
eine Verbesserung der Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus
bringt und, wenn ja, zu welchem Preis. Ich meine hiermit
nicht nur die materiellen Kosten der Einführung eines
DRG-Systems, sondern auch die immateriellen Folgen für
die bundesdeutsche Krankenhauslandschaft.
Um nicht missverstanden zu werden: Auch die CDU/
CSU-Fraktion ist für die Einführung eines einheitlichen
Entgeltsystems im Krankenhaus und wir werden aus die-
sem Grund auch dem DRG-Systemzuschlags-Gesetz zu-
stimmen. Den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion ist es
aber ungleich wichtiger, sich darüber Klarheit zu verschaf-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115578
(C)
(D)
(A)
(B)
fen, was mit der Einführung des DRG-Systems insgesamt
auf die Patienten, die Beschäftigten und Träger der noch
2 249 deutschen Krankenhäuser zukommt.
In der Debatte über die Gesundheitsreform 2000 ist
von der ehemaligen Gesundheitsministerin, Frau Fischer,
über zwei Jahre lang der Eindruck erweckt worden, dass die
sich durch demographische Entwicklung und medizinisch-
technischen Fortschritt abzeichnenden Kostensteigerungen
im Gesundheitswesen durch Rationalisierungsmaßnahmen
aufgefangen werden könnten. Das Hauptreservoir für mo-
bilisierbares Geld wurde von ihr in den bundesdeutschen
Krankenhäusern gesehen. Meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, Sie haben versucht, das Pro-
blem im Gesundheitsreformgesetz über eine monistische
Krankenhausfinanzierung ohne Gegenfinanzierung und
durch eine veränderte Krankenhausplanung weitgehend in
Kassenhand zu lösen. Dieser Versuch ist am Widerstand der
Bundesländer, auch Ihrer Freunde in den SPD-geführten
Ländern, im Bundesrat gescheitert.
Die Ablehnung durch den Bundesrat war richtig, denn
Ihre Vorschläge waren vollkommen unausgegoren und
hätten zu einer unkontrollierten Veränderung der bundes-
deutschen Krankenhauslandschaft geführt. Und wenn
man die Ausgabensteigerungen für die Krankenhäuser be-
trachtet, muss man sagen: Diese Maßnahmen wären auch
nicht einmal notwendig gewesen. Denn die Steigerung
der Leistungsausgaben für die Krankenhäuser lag im letz-
ten Jahr mit 1,4 Prozent bundesweit unter dem Anstieg der
beitragspflichtigen Einnahmen von 1,8 Prozent. Dies bei
einem Überschuss der gesetzlichen Krankenkassen von
614 Millionen DM.
Das einheitliche Entgeltsystem wollen wir alle. Sie
wollen es überstürzt und in der Ausprägung als schnei-
dend scharfes Instrument. Sie nehmen dafür wissend Un-
genauigkeiten, Unvollständigkeiten und Unklarheiten bei
Codierungen und Kalkulationsgrundlagen, bei Vorstel-
lungen über Mengen und Preise für unsere Krankenhäu-
ser in Kauf. So kann das nicht laufen, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition. Im Namen der
CDU/CSU-Fraktion und wohl auch im Einklang mit
Fachleuten aus Ihrem Gesundheitsministerium fordere
ich Sie daher eindringlich auf, Ihre Zeitvorstellungen zur
budgetneutralen Einführung und zur Konvergenzphase
noch einmal zu überdenken und vertretbare Zeitspannen
vorzusehen.
Lassen Sie mich unabhängig von den Zeitvorgaben
skizzieren, was in dem Krankenhausschauspiel zu sehen
sein wird. Erster Akt: Mit Einführung der DRGs im Jahr
2003 stehen die Krankenhäuser in Leistung, Wirtschaft-
lichkeit und Qualität völlig vergleichbar, also nackt da.
Die Ausrede „Meine Patienten sind kränker als in den
Nachbarkrankenhäusern, deshalb habe ich höhere Fallkos-
ten.“ zählt nicht mehr, da der Schweregrad von Erkra-
nkungen ebenso berücksichtigt wird wie die unterschied-
liche Patientenstruktur.
Zweiter Akt: Die Krankenhäuser wissen mit Ein-
führung des DRG-Systems, wo sie mit ihren Kosten im
Betriebsvergleich stehen. Krankenhäuser mit niedrigen
Produktionskosten werden mit den Preisen der DRGs gut
leben können. Krankenhäuser mit höheren Kosten haben
ein Riesenproblem und müssen Strategien entwickeln,
wie sie der schrittweisen Unterdeckung ihrer Kosten be-
gegnen. Entweder gelingt es, die Kosten von Behandlun-
gen zu senken, oder diese Behandlungen müssen einge-
schränkt oder eingestellt werden.
Dritter Akt: Die Krankenhäuser werden versuchen, de-
fizitäre Leistungen an andere Häuser abzugeben und Leis-
tungsmengen in profitablen DRGs zuzukaufen. Wer von
Mengenvereinbarungen mit festen Preisen träumt, wird
erkennen müssen, dass sich viele Krankenhäuser nicht
scheuen werden, unterhalb der vorgesehenen Preise anzu-
bieten. Die Lenkung von Patientenströmen beginnt.
Vierter Akt: Durch den Wegfall der Leistungsproduk-
tion in Häusern, die diese Leistungen nur überdurch-
schnittlich teuer erbringen können, senkt sich das Kosten-
niveau insgesamt ab.
Fünfter und letzter Akt: Die Absenkung des Kosten-
niveaus schlägt voll auf die Preise durch. Die weitere Ver-
kürzung der Verweildauer, die mit den DRGs zwangsläu-
fig einhergeht, sowie die erwartete Bettenreduzierung und
die an sich gewünschte Verschiebung stationärer Fälle in
den ambulanten und Rehabilitationsbereich wird dort zu
vermehrten Kosten und erhöhtem Finanzbedarf führen.
Bleibt nur die Frage aller am Schauspiel Beteiligten, ob
denn die dortigen Strukturen für den Zustrom der Patien-
ten aufnahmebereit sind.
Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel er-
klären. Ein Patient, der an einem Außenknöchelbruch
operiert wird und nach der Operation noch mehrere Tage
im Bett liegen muss, kann sicher aus medizinischen Ge-
sichtspunkten und unter dem Druck der DRGs nach
kurzem stationären Aufenthalt nach Hause entlassen wer-
den. Im Krankenhaus wären die lebensnotwendigen Anti-
thrombosespritzen Bestandteil der Krankenhausbehand-
lung und des Behandlungspreises gewesen. Bei früheren
Entlassungen wird der Hausarzt begeistert sein von der
Aussicht, sich die teuren Heparinspritzen in sein Arz-
neimittelbudget rechnen lassen zu müssen. Die betroffe-
nen Hausärzte werden alles versuchen, mit den Kranken-
häusern Arrangements zu treffen, damit das nicht passiert.
Aber, Frau Ministerin Schmidt, wir hoffen ja auf ihren
Gesamtreformansatz, der sektorenübergreifend diese Pro-
bleme lösen wird. Denn mit Richtgrößen allein und dem
Hinweis auf Praxisbesonderheiten sind solche System-
fehler in Massen nicht zu beseitigen. Das weiß jeder, der
die aufwendigen Verfahren bei den Krankenversicherun-
gen kennt.
Kostet das DRG-Zuschlagssystem auch nur 30 Pfennig
pro Fall, so erzeugt schon die Codierung eines Falls bei
Zugrundelegung von 30 Minuten Arbeitszeit 35 DM und
in einem 400-Betten-Haus ungefähr eine halbe Milli-
on DM im Jahr an tatsächlichem Mehraufwand. Dazu
kommen Einführungskosten inklusive Hard- und Soft-
ware, sodass initial zwischen 3 bis 5 Prozent des Kran-
kenhausbudgets aufzubringen sind. Damit ist die Frage
nach der verbesserten Wirtschaftlichkeit, die ich eingangs
gestellt habe, kurzfristig beantwortet.
Die erhoffte Verbesserung der Wirtschaftlichkeit im
Krankenhaus wird nicht unmittelbar einsetzen, sondern
eine Folge von Jahren sein. Im Gesamtsystem wird
erst dann eine Verbesserung eintreten, wenn eine
Gesundheitsreform sektorenübergreifend kommt, die Sie,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15579
(C)
(D)
(A)
(B)
Frau Ministerin Schmidt, vor der Bundestagswahl 2002
wohl aber nicht mehr in Angriff nehmen wollen.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf zum DRG-Sys-
temzuschlags-Gesetz ist ein erster Schritt auf einem Weg
voller Tücken. An Ihnen, Frau Ministerin, liegt es, diesen
Weg für die Patienten, die Beschäftigten und für die bun-
desdeutschen Krankenhäuser zu gestalten.
Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
diesem Hause besteht seit Jahren Übereinstimmung darin,
dass wir bei der Bezahlung der Krankenhausleistungen
die Erfordernisse von Qualität, Transparenz und Preis zu
einem stimmigen Ganzen bringen müssen. Mittlerweile
ist DRG zu einem stehenden Begriff für eine umfassende
neue Gestaltung der Finanzierung stationärer Leistungen
geworden. Manche sprechen gar von einer „Revolution“,
die damit dem gesamten stationären Sicherungs- und Ver-
sorgungssystem ins Haus steht.
Ich will dem nicht widersprechen. In der Tat ist das Un-
ternehmen, neue Preise zu finden, eine Klassifikation zu
entwickeln und sie fortzuschreiben, um neue Untersu-
chungs- und Behandlungsmethoden in Qualitätsstandards
zu binden, die für alle Häuser gelten und damit allen
Kranken angeboten werden, ein unvergleichlich großes
Unterfangen, das – und da will ich allen kritischen An-
merkungen, die auf das Politische hinweisen, zustimmen –,
mit technokratischen Mitteln oder rein technischen In-
strumenten nicht erschöpfend behandelt werden kann.
Im Jahr 2000 wurde mit GKV-Gesundheitsreform-
gesetz der § 17 b Krankenhausfinanzierungsgesetz modi-
fiziert. Seit dieser Zeit stehen wir vor der Frage, die mit
diesem heutigen Gesetz gelöst werden soll: Wie kann be-
reits vor der Einführung eines solchen durchgängigen, leis-
tungsorientierten, pauschalierenden Gesetzes das Klassi-
fikationsverfahren bewerkstelligt werden bzw. wie kann
ein gänzlich neues Vergütungsmodell quasi institutionali-
siert werden?
Wie dem Gesetzentwurf zu entnehmen ist, soll ein
neues Institut entstehen. Der Selbstverwaltung wird hier
praktisch freie Hand für die Ausgestaltung gegeben. Es
sind keine Vorgaben gemacht, wo zwischen Selbstver-
waltung und Staat das Institut angesiedelt sein soll. Auch
legt der Gesetzgeber hier nicht fest, was bzw. wie in dem
fortlaufenden Prozess der Veränderung von Diagnose-
und Therapieverfahren oder die Zugewinne an medizi-
nisch-pflegerischer Qualität in das Klassifizierungssys-
tem Eingang finden.
Positiv ausgedrückt heißt das, hier wird der Selbstver-
waltung eine hohes Maß an Kompetenz und Verantwor-
tung zugeordnet. Beispiele dafür gibt es in Europa kaum.
In gewisser Weise importieren wir hier etwas Extraordi-
näres aus Übersee. Jedoch: Auch in dem ehrgeizigen
DRG-Projekt, das die Australier etabliert haben, verzich-
tet man nicht auf fachliche Aufsicht und letztstaatliche
Gesamtverantwortung.
Allein vor diesem Hintergrund, glaube ich sagen zu
können, wird das, was zu Beginn der rot-grünen Legisla-
tur ins Werk gesetzt wurde, in seiner gesamten ordnungs-
politischen Dimension noch weiterhin unterschätzt. Mei-
nes Erachtens machen sich die Kritiker und Kritikerinnen,
die sich allein auf den Zeitplan beziehen und ihn infrage
stellen, die Sache viel zu einfach. Vor allen Dingen sagen
sie nicht, dass die DRGs lediglich ein Instrument sind,
dessen Einsetzung und Wirkungsweise im System mit ei-
ner ausdrücklichen politischen, konzeptionell substanti-
vierten Systemwirkungsabschätzung unterlegt sein muss.
Wer sich darauf kapriziert, den Zeithorizont zur Disposi-
tion zu stellen, kann damit selbst im Oppositionsgeschäft
dennoch keine Glaubwürdigkeit gewinnen. Denn die Ent-
scheidung, um die es mit der tatsächlichen Einführung der
DRGs geht, ist mit dem Verweis auf den Vorrang für die
Selbstverwaltung noch nicht getätigt. Ohne Vorentschei-
dung allerdings weist das DRG-System eher auf den Ein-
stieg in Einkaufsmodelle, in Vertragswettbewerb und da-
mit auf den Ausstieg aus einer politisch verantworteten
zukunftsweisenden Koordination und Kooperation in ei-
ner Versorgungsregion – ich will das als Grüne erklärter-
maßen nicht.
Darüber, meine sehr geehrten Herren und Damen von
der Opposition, die Sie sich nicht nur im Bundestag, son-
dern gerade auch in den Ländern für Ihre tatsächlichen
operationalisierbaren gesundheitsstrukturpolitischen Vor-
schläge und ihre Systemtreue zu verantworten haben, da-
rüber müssen Sie, wenn Sie das DRG-System als solches
aufrufen, schon Rede und Antwort stehen. Wozu wollen
nun Sie, meine Herren von der F.D.P./CDU, die DRGs
nutzen?
Ich will mit dieser neuen Klassifizierung erreichen,
dass Qualität, Transparenz, leistungsgerechte Bezahlung
des Klinikpersonals, Verbesserung der Prozessqualität
usw. zu realen Vergleichsgrößen für die Bezahlung von
Krankenhauskosten werden können. Diese Aufgabe zu lö-
sen ist wichtig: In den letzten Jahren hat sich heraus-
konsensualisiert, dass das DRG-System nach Stand der-
zeitiger politischer Übereinkünfte das einzig mögliche
Instrument ist. Es ist aber auch nicht mehr als lediglich ein
Instrument: Wie es eingesetzt werden soll, wie es die Ver-
sorgungsstruktur verändern soll, bedarf zwingend der
ordnungspolitischen Debatte. Da würde mich schon inte-
ressieren, wie Sie ihr erkennbares politisches Wollen,
nämlich klammheimlich ein Vertragswettbewerbsmodell
zu etablieren, mit der politischen Zuständigkeit Ihrer
Ministerkollegen und -kolleginnen in den eigenen Län-
dern in Einklang bringen wollen.
Wer will bestreiten, dass es sich hier um eine große
ordnungspolitische Diskussion handelt. Denn alle, die wir
uns damit befassen, wissen: Man kann DRGs nicht los-
gelöst von der dualen Finanzierung, von der Rolle der
Länder in der Krankenhausplanung, vom RSA, vom Si-
cherstellungsauftrag oder unabhängig von der integrierten
Versorgung diskutieren.
Ich weiß wohl, wie F.D.P./CDU sich einen subkutanen
Strukturwechsel am liebsten vorstellen mag. Wer das
politische Parkett aufmerksam beobachtet, hat längst be-
merkt, wie sie schon kräftig Ausschau halten nach Mit-
gängern im Bund der Verschweigenden. Indem sie näm-
lich nicht thematisieren und darüber hinaus auch mit dem
Mittel der Nichtentscheidung Sachzwänge sich aufbauen
lassen, sich elegant in Pirouetten drehen, nicht sagen, wo-
hin sie wirklich wollen und sich den politischen Debatten
um das Eigentliche und Wesentliche entziehen, um sich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115580
(C)
(D)
(A)
(B)
dann gemeinsam – mit wem? – auf dem festen Boden der
unabweisbaren Sachzwänge wieder einig zu sein.
Meine Herren und Damen, aus der hohen Verantwor-
tung für die Versorgungsgerechtigkeit, das zeigt die Wirk-
lichkeit, werden auch Sie sich nicht wegtänzeln können,
insbesondere weil Sie ja die politische Zuständigkeit ge-
rade dafür in den Ländern haben, was durchaus bedauert
werden kann.
Detlef Parr (F.D.P.): Nomen non semper est omen
– der Name hält nicht immer das, was er verspricht. Wir
beraten das DRG-System-Zuschlagsgesetz. Nur, von Sys-
tem ist bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs wenig
zu erkennen.
Bis heute sind weder Aufgaben noch Kompetenzen und
Verantwortungen des noch zu gründenden DRG-Instituts
zu erkennen. Auch nicht festgelegt sind die Schnittstellen
zu der notwendigen Datenerfassungs- und -auswertungs-
stelle. Ebenso wenig ist klar, wie die Zusammenarbeit zwi-
schen der Softwarezertifizierungsstelle sowie dem DIMDI
organisiert werden soll. Außerdem gibt es zurzeit keinerlei
Überlegungen, ob und inwieweit private Dienstleister pro-
jektbezogen beauftragt werden können.
Es ist fraglich, ob ein einziges DRG-Institut zum Ziel
führt. Denn in Australien gibt es auf der Bundesebene vier
verschiedene Organisationen, die an den Fallpauschalen
arbeiten. Nach aktuellem Kenntnisstand sind hier auch
private Dienstleister eingebunden.
Bevor die Diskussion zum Aufbau geeigneter institu-
tioneller Strukturen nicht abgeschlossen ist, kann gar
nicht verlässlich gesagt werden, mit welchen Kosten wir
rechnen müssen. Der administrative Aufwand für die Um-
stellung der Krankenhausabrechnungsprogramme, für die
Mittelverwaltung sowie die Weiterleitung an Vertrags-
partner dürfte höher liegen als die geplanten 30 Pfennige
je Fall. Uns erscheint es sinnvoller, wenn die Kranken-
kassen direkt und fallbezogen Zahlungen an den beab-
sichtigten Fonds leisten würden. Aber dieser Zug ist be-
reits abgefahren.
Wir wollen die Entwicklung der im Grundsatz auch
von uns befürworteten diagnosebezogenen Fallpauscha-
len nicht aufhalten. Deshalb werden wir diesem Gesetz-
entwurf zähneknirschend zustimmen.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Wer sich für die Vergütung
von Krankenhausleistungen mittels DRGs entscheidet,
braucht eine entsprechende wissenschaftliche Infrastruk-
tur für die Einführung und Pflege der Klassifikationssys-
teme, für die Kalkulation der Kostengewichte und vieles
andere mehr. Das vorliegende Gesetz soll dafür die finan-
ziellen Voraussetzungen schaffen. Diesem Ziel wird es
zweifellos gerecht. Allerdings kommt es – vor dem Hin-
tergrund eines unrealistisch knappen Zeitplanes – schon
zu spät. In vielen Krankenhäusern, die bereits jetzt ver-
schlüsseln und dokumentieren sollen, ohne über verbind-
liche Kodierregeln und andere Vorgaben zu verfügen, ist
schon Chaos eingetreten. Dieses Gesetz hätte gleich mit
der Gesundheitsreform 2000 beschlossen werden müssen.
Hier zeigt sich erneut, wie wenig vorbereitet und durch-
dacht diese aus unserer Sicht verfehlte Grundentschei-
dung damals getroffen wurde.
Nach allen Erfahrungen wird das neue Vergütungssys-
tem gravierende Auswirkungen auf die Situation und das
medizinische Handeln der Ärzte und Schwestern haben.
Ärztliche Ethik und wissenschaftlicher Erkenntnisstand
werden sich ständig im offenen Konflikt mit den ökono-
mischen Anforderungen an die Krankenhäuser befinden.
Wer prospektive Finanzierungssysteme einrichtet, verla-
gert das finanzielle Risiko auf die Leistungserbringer, was
diese tendenziell dazu bringt, es an die Patienten weiter-
zugeben. Mit anderen Worten: Wenn der wirtschaftliche
Erfolg eines Krankenhauses davon abhängt, inwieweit es
gelingt, Kosten und Leistungen zu minimieren, dann
werden die Patienten im Unterschied zur bisherigen Si-
tuation permanent einem Unterversorgungsrisiko ausge-
setzt. Diese Finanzierungsformen bringen neben er-
wünschten Wirkungen eben auch massiv nicht gewollte,
unerwünschte Folgen hervor. Das ist seit langem bekannt.
Alle bisher bei uns bestehenden bzw. vorgesehenen Maß-
nahmen der Qualitätssicherung werden dieser völlig ver-
änderten Grundsituation in keiner Weise gerecht.
Wer zu solchen Vergütungsformen übergeht, ist nicht
nur verantwortlich für ihre richtige technisch-organisato-
rische Einführung, so wichtig das natürlich ist. Er hat
ebenso die Verantwortung für eine möglichst weitgehende
Verminderung der Risiken für die Patienten und die Be-
völkerung. Alles andere ist nach unserer Auffassung un-
vertretbar gegenüber den Millionen Menschen, die künf-
tig in den Krankenhäusern behandelt werden.
Deshalb sagen wir: Die Einrichtung des Instituts ist
richtig, aber nur eine Hälfte des Notwendigen. Mit glei-
cher Intensität und Aufmerksamkeit müssen jetzt auch die
institutionellen und finanziellen Voraussetzungen für eine
weitere Vorlauf- und Begleitforschung geschaffen wer-
den. Sie muss darauf zielen, die neuen Gefahren für die
Versorgungsqualität vorausschauend zu minimieren,
wenn sie schon nicht völlig ausgeschlossen werden kön-
nen. Ein solches Ziel ist erreichbar, allerdings nur dann,
wenn genau dafür das Notwendige mit gleichem Ernst ge-
tan wird.
Da das vorliegende Gesetz nur für einen Teil der mit
der DRG-Einführung anstehenden Aufgaben die Voraus-
setzungen schafft, werden wir uns der Stimme enthalten.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Berichts zu den Anträgen:
– Unterglasgartenbau in Deutschland sichern
– Anpassungsbeihilfen für Unterglasbetriebe
im Gartenbau
– Schaffung eines Nothilfefonds für Existenzbe-
drohte Unterglasbaubetriebe
(Tagesordnungspunkt 21)
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Die vorliegen-
den Anträge von CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15581
(C)
(D)
(A)
(B)
zeigen das Engagement der Opposition für den – sich im
harten Konkurrenzkampf befindenden – Unterglasgarten-
bau. Wir als Regierungskoalitionen haben in den letzten
Monaten nicht nur Gespräche mit dem Berufsstand ge-
führt und leere Versprechungen gemacht, sondern gerade
wegen der Brisanz der Wettbewerbsnachteile innerhalb
Europas und der Verteuerung der Heizölkosten alle An-
strengungen unternommen, um auch kurzfristig Hilfe zu
gewähren. Wollen wir doch bitte nicht vergessen, dass die
Verteuerung des Heizöles nicht originär auf die Ökosteuer
zurückzuführen ist, sondern wir in dieser Frage abhängig
sind von den OPEC-Staaten und Mineralölgesellschaften!
Das müssen wir ändern; die Kollegin Heidi Wright hat
auf die alternativen Energien hingewiesen. In den Aus-
schusssitzungen haben wir mehrfach über Probleme und
Lösungsansätze diskutiert. In vielen Punkten waren wir
uns über die Inhalte einig. Das will ich hier betonen. Des-
halb sind die doch zum Teil stark überzogenen Vorstel-
lungen in den Oppositionsanträgen aus meiner Sicht rea-
litätslos. Die CDU/CSU-Fraktion fordert zum Beispiel
den Ausgleich des Kostensprunges, also knapp über den
Daumen gepeilt ca. 400 Millionen DM, ganz nach dem
Motto: Wer bietet mehr? Wir sind doch nicht bei „Wünsch
dir was“! Seit die Regierungsverantwortung gewechselt
hat, hat die Opposition Anträge im Agrarbereich in Höhe
von mehreren Milliarden Mark gestellt. Das zeigt einmal
deutlicher die fehlende Solidität ihrer Arbeit.
Die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen auf
europäischer Ebene hingegen ist ein langfristiges Ziel, das
wir gemeinsam verfolgen sollten.
Anpassungsbeihilfen in Höhe von 300 Millionen DM
für Unterglasbetriebe – mit eigenem Titel im Haushalt des
EZP 10 –, wie sie die F.D.P. will, sind absolut abwegig.
Wollen Sie etwa so Subventionsabbau betreiben? Die No-
tifizierung für Betriebskostenzuschüsse durch Brüssel
würde Deutschland nie bekommen. Das weiß die F.D.P
ganz genau. Was ist denn hierbei der Hintergedanke? Die
F.D.P. geht mit wissentlich falschen Hilfsangeboten ins
Land, erweckt falsche Hoffnungen und stellt uns als To-
tengräber hin. Ich nenne das Wahlkampfpolemik auf Kos-
ten der Gartenbauer.
Wir haben den Weg freigemacht für das Investitions-
und Liquitätsprogramm für den Gartenbau; denn wir se-
hen die Notwendigkeit, den Unterglasgartenbau weiter
zu entlasten. Neben vielen Fördermöglichkeiten hat die
Bundesregierung für 2001 und 2002 die Mittel der Ge-
meinschaftsaufgabe um jeweils 15 Millionen DM aufge-
stockt – und das, obwohl die Preisdifferenz im Energie-
bereich zur Konkurrenz in den Niederlanden schwächer
geworden ist. Wir sind uns an dieser Stelle unserer Ver-
antwortung sehr bewusst.
Auch Vertreter des Gartenbaues sagen, dass sich die Si-
tuation entspannt hat. Aber Hilfe ist dennoch nötig. Zur-
zeit liegt das Preisverhältnis im Energiebereich nicht
mehr bei 3:1, sondern nur noch etwa bei 2:1. Aber uns
reicht das immer noch nicht aus. Die Energiepreise der
niederländischen Gärtner liegen jetzt etwa bei 35 Pfen-
nig/Liter Heizöläquivalent, die Kosten für deutsche Gar-
tenbauer etwa bei 65 Pfennig je Liter. Deshalb setzen sich
SPD und Bündnis 90/Die Grünen dafür ein, dass es weitere
Hilfen gibt. Wir haben ganz deutlich gemacht, dass wir im
Zuge der Hilfen für die Landwirte über das Agrardiesel-
gesetz auch die Unterglasgartenbauer entlasten wollen.
Hier finde ich die ablehnende Haltung einiger Länder
nicht nachvollziehbar. Die Landwirte jedenfalls sind mit
ihren Berufskollegen des Gartenbaues solidarisch. Des-
halb von dieser Stelle aus ein herzliches „Dankeschön“!
Wir wissen doch aber alle, dass durch die BSE-Krise
die Landwirtschaft schwere Verluste hinnehmen muss,
und Länder, Bund und EU Milliardenbeträge für die Be-
wältigung zur Verfügung stellen werden. Hilfsmaßnah-
men für Gartenbau finden dennoch statt. Das eine hat mit
dem anderen nämlich wenig zu tun.
Es wäre an dieser Stelle produktiver, den Bund tatkräf-
tig zu unterstützen, statt mit immer neuen Forderungen
Geldquellen anzapfen zu vollen, die es gar nicht gibt. Ich
fordere an dieser Stelle konstruktive Unterstützung aus
der Opposition; denn es geht um Existenzen und nicht um
Medienwirksamkeit. Außerdem bin ich der Meinung,
dass die Wettbewerbskommission der EU gefordert ist,
dem Preisdumping einiger EU-Mitgliedstaaten im Be-
reich Energiepolitik entschieden die rote Karte zu zeigen.
Heidemarie Wright (SPD): Erstens kommt es anders
und zweitens als man denkt – dieser Verballhornungssatz
passt wohl auf die Anträge der Opposition, allesamt von
Anfang Oktober 2000.
Der Heizölpreis war so hoch wie nie, der Winter stand
vor der Tür und die Glashäuser waren voller Weihnachts-
sterne, die auf dem adventlichen Verbrauchermarkt abge-
setzt werden sollten. Aber: In der Folge sank der Heizöl-
preis, der Winter wurde nicht kalt und die Gärtner haben
gerade mal so ihre Weihnachtssterne über die Theke ge-
bracht, ohne dass das Schlimmste eingetreten wäre.
Die sich verschärfenden Wettbewerbsbedingungen
deutscher Gärtner – im Gegensatz zu den holländischen
Mitbewerbern – waren seit Jahren offensichtlich und hat-
ten die Regierungskoalitionen bereits im Herbst 2001 auf
den Plan gerufen.
Zäh waren die Verhandlungen, aber es wurde erreicht:
Die Bundesregierung hat im Oktober 2000 ein Programm
zur Förderung einsparender Investitionen, speziell für die
Gärtner, aufgelegt. Im Rahmen der Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes“ werden in den Jahren 2001 und 2002 je 15 Mil-
lionen DM zusätzlich zur Verfügung gestellt, aufgestockt
durch Länderhaushaltsmittel in Höhe von zusätzlich
20 Millionen DM stehen den deutschen Gärtnern somit
50 Millionen DM zur Verfügung. Dies ist eine stattliche
Summe, ein stattliches Programm, das es gilt, jetzt mit Le-
ben zu erfüllen. Der Einfallsreichtum der deutschen Gärt-
ner und die Innovationsbereitschaft der oft über Genera-
tionen geführten Betriebe ist enorm. Ich konnte mich
hiervon mehrfach und in ständigem Dialog überzeugen.
Gärtner sind nicht nur ideenreich, sondern auch flexibel,
und haben es immer wieder geschafft, sich den Gegeben-
heiten der Zeit, den Notwendigkeiten der Energieein-
sparung und optimalen Energienutzung sowie den verän-
derten Wünschen der Verbraucher anzupassen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115582
(C)
(D)
(A)
(B)
Anfang des Winters schien jedoch das Maß der Anpas-
sungsfähigkeit zunächst erschöpft. Ich konnte das haut-
nah in einer großen Versammlung im November in
Aschaffenburg miterleben, wo meine Ausführungen zu
den Fakten des Energiemarktes, des Weltmarktpreises
und der Notwendigkeit einer Politik „weg vom Öl“ mit
lautstarkem Protest belegt wurde. Meine Empfehlungen,
auf andere Energieträger, wie zum Beispiel Holzhack-
schnitzel zu setzen, kamen, gelinde gesagt, nicht gut an.
Aber wir haben uns zusammengerauft. Inzwischen
sind sich die Gärtner bewusst, dass ihnen mit der Krise auf
dem Rohölmarkt die nächste Herausforderung und auch
eine Chance bevorsteht. Bei einem Preisäquivalent von
Holzhackschnitzeln zu einem Liter Heizöl in Höhe von
30 Pfennig lohnt sich eine Holzhackschnitzel-Heizan-
lage, möglichst im Verbund mit dem Nachbarbetrieb, al-
lemal. Hier gilt es seitens der Politik, über das Förderpro-
gramm und über die Fachagentur nachwachsende
Rohstoffe den Gärtnern Schützenhilfe zu leisten, damit
sie sich mittelfristig freimachen von der Abhängigkeit
vom Öl. Die Aufgabe heißt also, mittel- und langfristig
den deutschen Gartenbau energietechnisch noch fitter und
moderner zu machen.
Aber noch einmal zu der sehr aktuellen Situation und
der Wettbewerbsverzerrung durch die sehr unterschied-
lichen Energiepreise für deutsche und holländische Gärt-
ner: Zwar ist Petrus wohl ein Gärtner und hat zur rele-
vanten Zeit die Temperaturen milde gehalten; das darf
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die nächs-
ten zwei Jahre – so lange läuft der holländische Deal für
niedrige Gaspreise noch – Hilfe notwendig ist. Wir von
der Regierungskoalition haben das längst erkannt und den
Gartenbaubetrieben und dem Zentralverband unsere
Schützenhilfe zugesagt.
Ganz in die Vollen greifen die Helfer der F.D.P.: Sie
will gleich 300 Millionen DM für die Unterglasbetriebe in
Deutschland in den Haushalt einstellen. Woher das Geld
kommen soll, sagen sie natürlich nicht. Mehr Schulden
machen oder wo anders wegnehmen?
Recht hat sie ja, die F.D.P., wenn sie feststellt, dass ge-
rade im Gartenbau in Europa Wettbewerbsverzerrungen
bestehen und sich verschärfen. Dass sie bestehen, und
zwar schon über viele Jahre, stimmt – daran hätte die
F.D.P. aber in der Vergangenheit etwas ändern können.
Jetzt aus der Opposition heraus wohlfeile und unrealisti-
sche Anträge einzufüttern, ohne zu sagen, woher das Fut-
ter kommen soll, hilft niemandem, insbesondere nicht den
Gärtnern.
Dass sich die Wettbewerbsverzerrungen verschärfen,
stimmt auch, denn gerade die holländische Gärtnerlobby
versteht es hervorragend, mit immer neuen Tricks den so
wachsamen Wettbewerbskommissar der EU auszutrick-
sen und sich Sonderkonditionen notifizieren zu lassen.
Das ist europafeindlich, wettbewerbsverzerrend und zu-
tiefst ärgerlich.
Wir sind mit unserer Politik für die Gärtner auf der
Zielgeraden und das Aufwärmen der alten Anträge der
Opposition ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Fakt ist:
Die Gärtner können sicher sein, dass sie trotz hoher
Staatsverschuldung, trotz des Ziels der Regierung, die
Schuldenschraube zurückzudrehen, trotz Verbraucher-,
Landwirtschafts- und BSE-Krise nicht vergessen sind.
Schon kurz vor Weihnachten hätte eine Lösung zu-
sammen mit der Regelung um den Agrardiesel erreicht
werden können. Jetzt möchte die Opposition mit der Auf-
setzung ihrer Anträge nochmals Verunsicherung bei den
Gärtnern schüren und die Regierung unter Druck setzen.
Beides gelingt nicht. Wir haben die weitere Wettbewerbs-
stärkung des Gartenbaus auf der Zielgraden.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Die dras-
tisch gestiegenen Energiepreise treffen einen Bereich der
deutschen Landwirtschaft ganz besonders, nämlich den
Unterglasgartenbau. Diese Betriebe müssen bekanntlich
im Winterhalbjahr ihre Gewächshäuser heizen. Bei den
meisten Betrieben geschieht dies mit Heizöl und Erdgas.
Von Februar 1999 bis heute sind die Kosten für diese
Energieträger um über 200 Prozent gestiegen. Ein durch-
schnittlicher Betrieb benötigt in einer Heizperiode circa
400 000 Liter Heizöl bzw. 100 000 Kubikmeter Erdgas;
die Mehrkosten gehen in die Hunderttausende. Mit einem
Heizölpreis von 92 Pfennigen pro Liter sind die Unter-
glasbetriebe im Marktwettbewerb mit den Niederlanden
hoffnungslos unterlegen. Dort zahlen die Gärtner für die
Heizung ihrer Gewächshäuser nur ein Drittel des Preises
in Deutschland. Die Verdreifachung der Energiekosten-
differenz ist für den deutschen Gartenbau unerträglich.
Davon sind die 14 000 Gartenbaubetriebe mit über
5 000 Hektar beheizter Anbaufläche in Deutschland hart
betroffen. Es ist für einen Betrieb unmöglich, Energie-
mehrkosten, die in die Größenordnung von 100 000 DM
gehen, durch höhere Preise am Markt wettzumachen.
Dies bedeutet: Ohne Hilfe muss eine große Zahl der Be-
triebe den Anbau einstellen, dies führt aber letztlich
zwangsläufig zur Betriebsaufgabe.
Diese Betriebe brauchen direkte Hilfe. In einer Krisen-
situation muss auch das möglich sein, was bei den Ener-
giekrisen 1974 und 78/79 möglich war. Das von der Bun-
desregierung beschlossene Liquiditätshilfeprogramm in
Höhe von jeweils 10 Millionen DM im Jahre 2001 und
2002 ist keine Antwort auf die brennenden Sorgen der Un-
terglasgartenbaubetriebe. Nach den Berechnungen des
Zentralverbandes Gartenbau hätten die Unterglasgarten-
baubetriebe als Überbrückungshilfe für den nun fast
schon überstandenen Winter zur Bewältigung der abnorm
gestiegenen Energiekosten 300 Millionen DM benötigt.
Dies war noch knapp gerechnet, denn nach den eigenen
Berechnungen der Bundesregierung ergaben sich für die
Betriebe Energiemehrkosten in Höhe von 634 Millionen
DM. Was hat aber Rot-Grün getan? In Ihrem Änderungs-
antrag zum Haushalt 2001 hatten sie sich schöngerechnet,
dass jeweils 10 Millionen DM Bundesanteil zur Zinsver-
billigung im Jahre 2001 und 2002 – wie es dort heißt –
„angemessen“ sei. Das ist keine Antwort auf die kritische
Lage der Unterglasgartenbaubetriebe.
Zu begrüßen ist, dass die Bundesregierung unserer For-
derung nach Einführung eines Energieeffizienzprogram-
mes von jeweils 15 Millionen DM in den nächsten beiden
Jahren entsprochen hat. Vom Umfang und Zeitraum ist
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15583
(C)
(D)
(A)
(B)
dies jedoch zu kurz gesprungen. Der Vorschlag von CDU/
CSU, über fünf Jahre jeweils 25Millionen DM für ein En-
ergieeffizienzprogramm zur Verfügung zu stellen, wäre
eine bessere Basis für die Gartenbaubetriebe gewesen, In-
vestitionen für eine bessere Energieeffizienz ihrer Pro-
duktion zu tätigen. Die Bundesregierung zieht herum und
verkündet ihre Hilfe in der Öffentlichkeit als Großtat und
bauscht sie aufgrund der Beteiligung der Länder auf
50 Millionen DM auf. In Wirklichkeit bleibt sie aber
ihrem alten Prinzip treu, wenn es um Hilfsmaßnahmen der
Landwirtschaft geht. Sie stellt nicht, was notwendig wäre,
zusätzliches Geld zur Verfügung, sondern plündert den
Agrarhaushalt und hier vornehmlich den Etat der Ge-
meinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes“. Daher kommen nämlich jeweils die
15 Millionen DM für 2001 und 2002.
Die derzeitigen Überlegungen, den Unterglasgarten-
bau wegen der hohen Energiekosten von der Heizölsteuer
in Höhe von 0,08 DM je Liter zu befreien, sind ein Schritt
in die richtige Richtung. Der Reifungsprozess zu dieser
Einsicht hat aber bei Ihnen lange gedauert. Ich will Ihnen
einmal zitieren, was mir die Parlamentarische Staats-
sekretärin beim Bundesministerium der Finanzen,
Dr. Barbara Hendricks, am 6. Dezember 2000 auf meine
Forderung, die Gartenbaubetriebe von der Steuer auf Hei-
zöl von 8 Pfennig pro Liter zu befreien, geantwortet hat:
Wenn Sie die Forderung ernst meinen sollten, Herr
Ronsöhr, dann scheinen Sie als Abgeordneter der Bun-
desrepublik Deutschland in der Tat einen Mangel an Ver-
antwortungsbewusstsein zu pflegen.
Wenn ich die Agrarpolitik von Rot-Grün Revue pas-
sieren lasse, die zu erheblichen Verschlechterungen der
Rahmenbedingungen geführt und die Wettbewerbsnach-
teile gegenüber den Konkurrenten in anderen EU-Mit-
gliedstaaten noch vergrößert hat, dann ist dieser Vorwurf
richtigerweise wohl für diese Politik angebracht. Deshalb
sollten Sie die angedachte Befreiung von der Heizölsteuer
nicht als Gnadenakt, sondern als Bringschuld der Bun-
desregierung verstehen.
Fasst man die beschlossenen und die angekündigten
Maßnahmen zusammen, so bringen Sie den derzeit exis-
tenzbedrohten Betrieben nicht die notwendige Hilfe. Hier
muss dringend nachgebessert werden. Dies sollte aber
nicht als Gnadenakt, sondern als Bringschuld der Bun-
desregierung verstanden werden, da sie zum einen erheb-
lich zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen
beigetragen hat und zum anderen die großen Wettbe-
werbsnachteile gegenüber den Konkurrenten in den ande-
ren EU-Mitgliedstaaten – insbesondere in den Niederlan-
den – bestehen bleiben. Die angekündigte Maßnahme
alleine bringt aber den Betrieben, die derzeit existenzbe-
droht sind, nicht die notwendige Hilfe. So ist die Liqui-
ditätshilfe völlig unzureichend. Hier muss dringend nach-
gebessert werden.
Ich appelliere an die Bundesregierung, die Maßnah-
men für den Unterglasgartenbau nicht mit der Absenkung
des Steuersatzes für Agrardiesel gegenzurechnen. Der Be-
schluss der Agrarminister der Länder muss durchgesetzt
werden, den Steuersatz für Agrardiesel auf wenigstens
0,47 DM je Liter festzusetzen. Dies wäre dann immer
noch mehr als eine Verdoppelung gegenüber dem unter
der CDU/CSU-Regierung gültigen Steuersatz in Höhe
von 0,21 DM je Liter.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Gartenbau hat in Deutschland eine hohe Bedeutung für
die Versorgung der Bevölkerung mit gesunden Lebens-
mitteln und für das Angebot umweltgerecht erzeugter
Zierpflanzen. Er bietet zudem eine Vielzahl von Arbeits-
und Ausbildungsplätzen.
Wir begrüßen das von der Bundesregierung geschnürte
erfolgsorientierte Maßnahmepaket für die Unterglasgar-
tenbaubetriebe, mit dem längst umgesetzt wurde, was die
Opposition fordert. Damit werden die Betriebe, die vor al-
lem aufgrund ungleicher Wettbewerbsbedingungen auf
europäischer Ebene in eine schwierige wirtschaftliche
Lage gekommen sind, mit einem zukunftsorientierten
Programm unterstützt: Innovation im Bereich erneuerba-
rer Energien, das Investitionsprogramm, Verbesserung
der Liquiditätslage finanziell bedrohter Betriebe, Entlas-
tung bei den Heizölkosten, rückwirkend zum Januar
2001, Unterstützung des Qualitäts-Gemüse- und Zier-
pflanzenanbaus in Deutschland im Rahmen der Neu-
orientierung der Agrarpolitik.
Die alte CDU/CSU- und F.D.P.-Regierung hat die
Wettbewerbsnachteile des deutschen Gartenbaus gegen-
über den Niederlanden geduldet, statt energisch gegen die
überzogene Subventionspraxis in Brüssel anzugehen.
Angesichts der im letzten Jahr hohen Energiepreise vor
allem im Unterglasgartenbau, die hauptsächlich aus der
Verteuerung der Rohölpreise resultierten, steht die Ener-
gieeffizienz als zentrale Aufgabe im Mittelpunkt der För-
derung. Die Situation bei den Energiekosten hat sich
heute wieder deutlich entspannt, doch die Abhängigkeit
von der endlichen Ressource Erdöl und ihren unbere-
chenbaren Preisschwankungen macht uns mehr als deut-
lich, das die Zukunft in der innovativen Energieein-
sparung liegt. Für 2001 und 2002 werden daher die Mittel
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruk-
tur und des Küstenschutzes“ um jeweils 15 Millionen DM
aufgestockt und gezielt für Investitionen zur Energieein-
sparung verwendet. Ebenso steht das Förderprogramm
Erneuerbare Energien mit 300 Millionen DM auch für den
Gartenbau zur Verfügung. Die Kombination von Innova-
tion und Umweltschutz wird dem Gartenbau eine ökono-
misch und ökologisch bessere Grundlage schaffen.
Weitere 10 Millionen DM werden für den gleichen
Zeitraum anteilig von Bund und Ländern für finanziell
bedrohte Betriebe bereitgestellt und sollen zu einer spür-
baren Verbesserung der Liquiditätslage beitragen. Wir
warten allerdings noch auf grünes Licht von der EU-
Kommission für dieses Programm.
Als Soforthilfe für den Unterglasgartenbau in Deutsch-
land ist ein für Januar 2001 rückwirkendes Entlas-
tungsprogramm in Höhe von 60 Millionen DM im Rahmen
der Senkung der Agrardieselbesteuerung beschlossen.
Mit diesem soliden Maßnahmenpaket, welches vom
Zentralverband Gartenbau als sehr positiv und zukunfts-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115584
(C)
(D)
(A)
(B)
weisend bezeichnet wird, helfen wir den Unterglasgarten-
baubetrieben und der Umwelt.
Die Unterstützung des Qualitätsanbaus im Rahmen der
Neuausrichtung der Agarpolitik durch Ministerin Künast
soll den Gartenbau zukunftsfähig machen und die Nach-
frage nach Obst und Gemüse weiter stärken.
Marita Sehn (F.D.P.): Lange hat es gedauert, aber
schließlich ist auch die Regierung zur Vernunft gekom-
men und hat endlich den Weg frei gemacht für die Anpas-
sungsbeihilfen im Unterglasanbau. Dieser Schritt war
eine längst überfällige Notwendigkeit. Die F.D.P. begrüßt
die Genehmigung des Förderprogrammes für den deut-
schen Unterglasgartenbau durch die Europäische Union.
Damit ist immerhin ein erster Schritt auf dem weiten Weg
zu einer Wettbewerbsgleichheit der Gartenbaubetriebe in
der Europäischen Union erreicht. Dass dieser Weg sehr
weit geworden ist, daran ist die Bundesregierung maß-
geblich beteiligt. Sie nimmt die Schlechterstellung der
deutschen Betriebe nicht nur bei den Energiepreisen, son-
dern auch bei den Pflanzenschutzmitteln bereitwillig in
Kauf. Die Wettbewerbssituation der deutschen Betriebe
entspricht einem 100-Meter-Lauf, nur dass die einen auf
freier Bahn starten, während die deutschen Teilnehmer ei-
nen Hürdenlauf machen müssen. Die F.D.P. bekennt sich
zwar klar zum Wettbewerb. Aber es muss eine Chancen-
gleichheit gegeben sein.
Die Politik der Bundesregierung ist ein aktives Förder-
programm für die ausländischen Konkurrenten. Und diese
Politik zeigt auch erste Konsequenzen: Immer mehr Blu-
men, Obst und Gemüse werden mit dem Flugzeug nach
Deutschland importiert. Und was sagt unsere Verbrau-
cherschutzministerin dazu? Regional ist erste Wahl! Aber
sollten Sie dann nicht die deutschen Gartenbaubetriebe
stärken, anstatt ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber aus-
ländischen Konkurrenten zunehmend einzuschränken?
Die Debatte, ob der Agrardiesel subventioniert werden
soll oder nicht und, wenn ja, wie hoch, das war doch eine
Peinlichkeit ersten Grades. Eine Regierung, welche die
Interessen gerade der kleinen Betriebe im Auge hat, hätte
gehandelt und weniger verhandelt. Aber bei Ihnen ging es
zu wie auf einem Basar. Mal sagte die SPD Hü und die
Grünen Hott. Jetzt haben Sie uns damit schon seit De-
zember unterhalten und so langsam wird es langweilig.
Wann, bitte schön, gedenken Sie jetzt endlich etwas für
unsere Landwirte zu tun? Finden Sie nicht, dass unsere
Landwirte von BSE und MKS schon genug gebeutelt
sind? Wenn Sie es nicht einmal schaffen, innerhalb der
Regierung einen Konsens über die Agrardieselbesteue-
rung herbeizuführen, dann bin ich einmal auf Ihre groß
angekündigte Agrarwende gespannt.
So viel zu der Glaubwürdigkeit der Bundesregierung
in Bezug auf ihre umwelt- und agrarpolitischen Zielset-
zungen.
Dass es bei der Ökosteuer nicht um ökologische Ziele,
sondern um Geldbeschaffung geht, dass hat die Debatte
innerhalb der Regierungskoalition in den letzten Wochen
gezeigt. Kaum zeichnet sich ab, dass das Einkommen
durch die Ökosteuer geringer ausfällt als erwartet, schon
wird der Ruf nach einer Erhöhung laut. Dies ist ein poli-
tischer Offenbarungseid.
Warum sind die Einnahmen aus der Ökosteuer denn
geringer als erwartet? Vielleicht weil die Bürger das getan
haben, was Sie angeblich von ihnen erwartet haben, näm-
lich Energie sparen. Und jetzt jammern Sie, dass das Geld
nicht reicht, und rufen nach einer weiteren Anhebung. Sie
müssen sich fragen lassen: Was wollen Sie eigentlich er-
reichen? Wollen Sie unsere Bürgerinnen und Bürger zum
Energiesparen animieren oder einfach abkassieren? Die
Antwort ist eindeutig: Sie brauchen schlicht und ergrei-
fend das Geld. Prompt war wieder eines der berühmten
Machtworte Ihres Basta-Kanzlers fällig. Diese Ökosteuer
ist weder öko noch logisch und schon gar nicht ökono-
misch. Deshalb wird sich die F.D.P. auch weiterhin für
ihre Abschaffung einsetzen.
Ein echter Wettbewerb kann nur im Einklang mit der
Europäischen Union erfolgen. Frau Künasts Auftritte vor
den Gremien der Europäischen Union lassen da allerdings
keine großen Hoffnungen aufkommen. Sie hat noch nicht
einmal in Deutschland mit ihrer viel beschworenen Agrar-
wende begonnen, da will sie schon die ganze Europäische
Union wenden. Sehr geehrte Frau Künast, Ihre Auftritte
nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt ge-
nesen“ waren peinlich und kontraproduktiv. Bevor Sie un-
sere europäischen Partner belehren, sollten Sie vielleicht
erst einmal die Praxistauglichkeit ihrer agrarpolitischen
Ideologien unter Beweis stellen.
Ein Reinheitsgebot für Kühe mag sich zwar ganz
schick anhören, nur geht es an der Realität vorbei. Es wäre
schön, wenn die Regierung einmal ein Reinheitsgebot für
ihre Politik einführen würde. Wie wäre es mit dem Motto
„Unsere Politik braucht nur Wissen, Information, Auf-
klärung und Verantwortung und sonst nichts“? Aber da
müssten Sie ja auf die Ideologie verzichten.
Die Agrarwende ist in sich unschlüssig. Da wird ein
Anteil für den ökologischen Landbau von 20 Prozent ge-
fordert. Warum, sehr geehrte Frau Künast, fordern Sie
keinen Anteil von 20 Prozent Ökolebensmitteln an den
gesamten Lebensmitteln? Sie blähen die Angebotsseite
künstlich auf und diesem Angebot steht dann keine ent-
sprechende Nachfrage gegenüber. Das ist eine Planwirt-
schaft, die an den Realitäten des Marktes vorbeigeht.
Ökonomie und Ideologie sind nicht immer die besten
Partner.
Das größte Wettbewerbshindernis ist aber nicht die un-
terschiedliche Zulassungspraxis bei Pflanzenschutzmit-
teln. Es sind vielleicht nicht einmal die unterschiedlichen
Energiepreise. Es ist eine konzeptionslose Agrarpolitik,
die langsam, aber sicher die Bodenhaftung verliert.
18 000 Betriebe mit 85 000 Arbeitnehmern und 6 000
Auszubildenden erwarten von uns eine faire Chance, im
Wettbewerb zu stehen. Die Gartenbaubetriebe haben in
der Vergangenheit immer wieder auf beeindruckende
Weise belegt, dass sie dazu in der Lage sind. Wir sollten
sie dabei unterstützen und ihnen nicht im Wege stehen.
Kersten Naumann (PDS): Offen gesagt weiß ich
nicht so richtig, was dieser Tagesordnungspunkt zum
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15585
(C)
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(B)
Unterglasgartenbau soll. Die Abstimmung ohne Ausspra-
che hätte genügt, um das parlamentarische Verfahren ab-
zuschließen. Tatsache ist doch, dass mit der vor Monaten
erfolgten Beschlussfassung zum Haushalt 2001 bereits al-
les entschieden wurde. Die Debatte ist daher eher eine
Scheindebatte, in der die Opposition Frust ablassen darf.
Die zur Debatte stehenden Anträge der drei Oppositi-
onsfraktionen, über die heute abschließend befunden wer-
den soll, stammen vom Oktober des Vorjahres. Auslöser
war damals der dramatische Anstieg der Preise bei leich-
tem Heizöl. Für die über 14 000 Gartenbaubetriebe mit
mehr als 85 000 Arbeitskräften, die auf beheizten An-
bauflächen Unterglaskulturen produzieren, war das eine
wirtschaftliche und teils existenzielle Bedrohung. Es
wurde befürchtet, dass nicht alle Betriebe in der Lage sein
werden, die höheren Heizenergiepreise zu finanzieren
und über den Winter zu kommen.
Deshalb beantragte die PDS-Fraktion die Einrichtung
eines Bund-Länder-Nothilfefonds zur Unterstützung akut
gefährdeter Unterglasgartenbaubetriebe. Unser Antrag
enthielt keine Aussage zum Finanzvolumen des Nothilfe-
fonds. Uns ging es um die politische Grundsatzentschei-
dung, die dann im damals noch laufenden Haushaltsver-
fahren konkretisiert werden sollte. Deshalb auch unser
Vorschlag, den Fonds aus Mehreinnahmen der Umsatz-
steuer auf Heizöl zu finanzieren.
Die Koalitionsfraktionen ignorierten unseren Antrag
genauso wie die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU
und F.D.P., sondern schufen – ich möchte behaupten, un-
ter dem Druck der Opposition – mit dem Haushalt 2001
Tatsachen. Das betrifft zum einen das mit einem Bundes-
anteil von je 10 Millionen DM in diesem Jahr und im Jahr
2002 ausgestattete Hilfsprogramm Unterglasgartenbau
– also Liquiditätshilfen im Sinne unseres Antrages – und
zum anderen das inzwischen von der EU-Kommission ge-
nehmigte Programm zur Förderung energiesparender In-
vestitionen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, das in
diesem und nächsten Jahr mit je 15 Millionen DM Bun-
desmitteln ausgestattet ist, sodass mit der Kofinanzierung
der Länder immerhin beachtliche 50 Millionen zur Verfü-
gung stehen. Auch wenn damit sicher nicht alle Wünsche
abgedeckt wurden, ist das doch recht akzeptabel.
Auch deshalb habe ich nie ein Hehl daraus gemacht,
dass ich die Forderung im CDU/CSU-Antrag nach einem
vollen Ausgleich der erhöhten Energiekosten durch ein
Überbrückungsprogramm von Anfang an nicht ernst ge-
nommen, sondern unter der Rubrik Populismus abgehakt
habe. Am wichtigsten scheint mir, von der Bundesregie-
rung zu hören, wie sie heute die Situation im Unterglas-
gartenbau einschätzt und was die eingeleiteten Maßnah-
men konkret bewirkt haben.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Einstufung des irakischen Giftgasan-
griffs am 16. März 1988 auf Halabja als Völker-
mord – Humanitäre Hilfe für die Opfer des An-
griffs (Tagesordnungspunkt 22)
Christoph Moosbauer (SPD): Heute genau vor
13 Jahren, am 16. März 1988, schickte der irakische Dik-
tator Saddam Hussein Kampfflugzeuge in den Norden
seines Landes. Sie bombardierten die ausschließlich von
Kurden bewohnte Stadt Halabja mit Giftgas. Dabei ka-
men mehr als 5 000 Menschen zu Tode, für Tausende an-
dere war das Leben aufgrund ihrer schweren Verletzungen
nur mehr eine Qual. Dieses Verbrechen reiht sich ein in
die lange Liste der schweren Vergehen Saddam Husseins
gegen seine eigene Bevölkerung. Niemand wird das be-
streiten können und niemand will dies auch bestreiten.
Daher ist es nicht leicht, gegen den Antrag zu sprechen,
den uns die PDS heute, am Jahrestag dieses Verbrechens,
vorgelegt hat.
Dennoch, bei allem Verständnis für das Anliegen: Der
Bundestag ist nicht der Ort, an dem per Antrag historische
Wahrheiten beschlossen werden können. Daher tun wir
uns so schwer mit Ihrem Antrag. Wir sind uns einig, dass
mit dem Giftgasangriff ein schweres Verbrechen gegen
die Menschlichkeit vorliegt – unbegreifbares Grauen und
erschreckende Niedertracht. Es schein zynisch zu sein,
hier die Messlatte des internationalen Rechts anzulegen.
Doch erlegt uns die Konvention über die Verhütung und
Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 auf,
derartige Verbrechen an genau dieser Messlatte zu prüfen.
Damit hängt die Einstufung als Völkermord maßgeblich
davon ab, ob der Giftgasangriff von Halabja in der Ab-
sicht begangen wurde, eine nationale, eine ethnische oder
religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Die
Absicht hinter dem Angriff der irakischen Regierung kön-
nen wir zwar vermuten, wir kennen sie aber eben nicht.
Auch die einschlägige Resolution des Sicherheitsrates
vom 5. April 1991, die die Unterdrückung der Zivilbevöl-
kerung nicht nur im Norden, sondern in vielen Teilen des
Iraks verurteilt, spricht nicht von einem Völkermord. Und
so mag die politische – aber eben nur die politische – Ein-
schätzung richtig sein, dass es sich hier um ein gezieltes
Vorgehen der irakischen Regierung handelt. Aber noch
einmal: Es obliegt nicht uns, eine völkerrechtliche Wer-
tung vorzunehmen oder gar eine historische Wahrheit zu
beschließen.
Unweigerlich setzt man sich in dieser Diskussion der
Gefahr aus, darüber urteilen zu müssen – und im Zuge
dessen falsch verstanden zu werden –, ob denn nun bei
5 000 Toten ein Völkermord vorliegt oder erst bei 100 000
oder ob eine ethnische Säuberung erst dann stattfindet,
wenn die Bevölkerung eines ganzen Landstriches vertrie-
ben wird, oder schon, wenn eine Stadt ausgelöscht wird.
Im Grunde sind dies perverse Fragestellungen. Und darin
erklärt sich auch das Unbehagen dabei, sich damit be-
schäftigen zu müssen. Aber wir müssen uns auch überle-
gen, aus welcher historischen Erfahrung heraus die Völ-
kermord-Konvention 1948 verabschiedet wurde, und
bedenken, dass es sich auch darum beim völkerrechtli-
chen Tatbestand des Völkermordes um eine bestimmte
Dimension des politischen Verbrechens handelt, die eben
nun einmal nicht auf die Schnelle im deutschen Parlament
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115586
(C)
(D)
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mit Mehrheitsbeschluss beurteilt werden kann. Wir kön-
nen daher bei allem Unbehagen, das bleibt, hier dem An-
trag nicht zustimmen.
Der Antrag hebt zu Recht hervor, dass deutsche Firmen
maßgeblich daran beteiligt waren, dass Saddam Hussein
chemische Waffen herstellen konnte und – nach allem,
was wir wissen – immer noch kann. Es muss absolut klar
sein, dass die Firmen, die dieses mit zu verantworten ha-
ben, hart bestraft werden müssen. Jeder, der aus Gewinn-
streben – oder aus welchem Grund auch immer – den Dik-
tatoren dieser Welt die Instrumente an die Hand liefert,
mit denen diese ihre brutalen Machenschaften durchset-
zen können, ist kein Geschäftsmann, sondern ein schäbi-
ger Verbrecher. Hier muss das Strafrecht hart zuschlagen.
Daraus aber eine politische Verantwortung der Bundesre-
gierung zu konstruieren halte ich für unzutreffend, wenn
auch in gewissen politischen Kreisen für wohlfeil.
Es ist ja nicht so, dass die Bundesrepublik die Kurden
im Nordirak ohne Hilfe gelassen hätte. Allein zwischen
1990 und 1992 wurden für die nordirakische Bevölkerung
Bundesmittel in einer Gesamthöhe von fast 230 Millionen
DM zur Verfügung gestellt. Auch heute unterstützt die
Bundesregierung die humanitäre Hilfe für die kurdische
Bevölkerung des Nordiraks. Hier also noch einmal zu be-
schließen, dass das getan werden soll, was ohnehin ge-
schieht, mutet ja etwas seltsam an. Einen Bezug – und sei
er nur moralisch – mit dem Giftgasangriff herzustellen,
für den allein Saddam Hussein verantwortlich ist, ist doch
auch nicht zielführend. Humanitäre Hilfe wird dort ge-
leistet, wo sie notwendig ist und wo sie gebraucht wird.
Und moralisch sind wir doch immer dann zur Hilfe ver-
pflichtet, wenn Menschen in Not sind, ungeachtet der
konkreten Ursache.
Ich muss hier noch etwas anfügen, was mir schon beim
Antrag der PDS zur Aufhebung der Sanktionen gegen den
Irak aufgefallen ist. In beiden Anträgen wird die Verant-
wortung Saddam Husseins sowohl für die Entstehung des
Sanktionsregimes als auch für den Giftgasangriff besten-
falls am Rande erwähnt. Das halte ich für unerträglich!
Saddam Hussein hat die Angriffe auf Halabja und die
Auslöschung der dortigen kurdischen Bevölkerung be-
fohlen, nach alledem, was wir nur vermuten können, gar
nicht mal in der Absicht, die Kurden insgesamt auszulö-
schen oder zu vertreiben. Vielmehr – diese zynische und
für uns ganz und gar unerträgliche Vermutung drängt sich
auf – ging es wohl ausschließlich darum, hier einmal,
quasi im Feldversuch, den Einsatz von Chemiewaffen zu
erproben. Menschenverachtender geht es kaum.
Dies muss hier im Deutschen Bundestag einmal klar
benannt werden: Saddam Hussein verfolgt seine eigene
Bevölkerung. Saddam Hussein ist für die humanitäre
Lage der Menschen im Irak verantwortlich, nicht nur im
Norden, sondern im ganzen Land. Ich teile auch Ihre Mei-
nung, dass das bisherige Sanktionsregime ihm hierbei in
die Hände spielt. Daher bin auch ich für eine Entkoppe-
lung der wirtschaftlichen Sanktionen vom notwendigen
militärischen Embargo – eben weil wir nicht das irakische
Volk treffen wollen, sondern die menschenverachtende,
skrupellose und zynische Politik Saddam Husseins und
seiner Satrapen. Aber ich darf an dieser Stelle noch ein-
mal ausdrücklich darauf hinweisen, dass humanitäre Hilfe
von den Sanktionen der Weltgemeinschaft ausgenommen
ist. Dass Medikamente und Lebensmittel aber trotzdem
die notleidende Bevölkerung nicht erreichen, liegt in der
Verantwortung des Regimes in Bagdad. Wir sollten hier
Verantwortlichkeiten auch klar benennen. Und diese klare
Sprache fehlt in Ihrem Antrag.
Daher und aus den vorher genannten Gründen werden
wir dem Antrag nicht zustimmen, auch wenn – das gebe
ich Ihnen zu – ein Unbehagen zurückbleibt.
Joachim Hörster (CDU/CSU): Es besteht kein Zwei-
fel daran, dass der irakische Giftgasangriff auf Halabja
eine krasse Verletzung der Menschenrechte darstellt und
alle internationalen Vereinbarungen zur Ächtung des Ein-
satzes von Massenvernichtungswaffen zynisch und rück-
sichtslos verletzt.
Soweit der Antrag der PDS eine Mitverantwortung der
Bundesrepublik Deutschland für diesen schändlichen
Giftgasangriff konstruiert, ist der Antrag gänzlich unbe-
gründet und sachlich abwegig. Die Bundesrepublik
Deutschland hat zu keinem Zeitpunkt das irakische Rüs-
tungsprogramm zur Herstellung von Massenvernich-
tungswaffen stillschweigend geduldet oder gar gefördert.
Vielmehr ist die Beteiligung an solchen Programmen
nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz verboten und mit
Strafe bedroht. Demzufolge sind auch die Verantwortli-
chen deutschen Unternehmen, die sich unter Verletzung
eindeutiger deutscher Vorschriften illegal an dem Rüs-
tungsprogramm der irakischen Regierung beteiligt haben,
strafrechtlich verfolgt und zur Rechenschaft gezogen
worden. Die Bundesrepublik Deutschland ist allen ihren
Kontrollverpflichtungen nachgekommen und sie kann
nicht dafür in Haftung genommen werden, dass Einzelne
unter Verletzung gesetzlicher Vorschriften die verbreche-
rischen Methoden eines fremden Regimes unterstützen.
Die Verantwortung für den verbrecherischen Giftgas-
angriff auf Halabja liegt ausschließlich beim irakischen
Regime, dessen menschenverachtende Methoden hinrei-
chend bekannt sind. Alleine der Umstand, dass im PDS-
Antrag nicht mit einer einzigen Silbe auf diese Verant-
wortlichkeit hingewiesen wird, macht deutlich, dass sich
die PDS einer objektiven Darstellung der Ursachen dieses
mörderischen Giftgasangriffes verweigert. Ebenso wenig
setzt sich die PDS mit dem herrschenden System im Irak
auseinander, obwohl die für den Giftgasangriff Verant-
wortlichen noch immer den Irak beherrschen, das Volk
unterdrücken und den Menschen im Irak in erheblichem
Umfange die zum täglichen Leben notwendigen Güter,
Lebensmittel und Medikamente vorenthalten.
Im Zusammenhang auch mit einem früheren von der
PDS zur Irakproblematik gestellten Antrag muss man den
Eindruck gewinnen, dass die PDS die Verantwortlichen
für die Menschenrechtsverletzungen im Irak, für den
Überfall auf Kuwait und die Bedrohung der arabischen
Nachbarn nicht bei der im Irak herrschenden Diktatur,
sondern überall sonst wo sucht. Eine solche Haltung, die
sich an den wahren Ursachen für die Leiden der Men-
schen vorbeimogelt, kann nicht hingenommen werden.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15587
(C)
(D)
(A)
(B)
Im Übrigen bleibt festzuhalten, dass sich die Bundes-
republik Deutschland unabhängig von jeweiligen Regie-
rungsmehrheiten entschieden gegen jede Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen eingesetzt hat und durch
Exportkontrollen das ihr Mögliche tut, um die Lieferung
von zur Waffenproduktion geeignetem Material zu unter-
binden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird den Antrag
der PDS ablehnen.
Gudrun Kopp (F.D.P.):Der Rachefeldzug des Saddam
Hussein gegen die kurdische Bevölkerung von Halabja,
die systematische Ermordung von über 5 000 Kurden und
die Verschleppung von Frauen und Kindern aus der Re-
gion, wird sicherlich als eines der schlimmsten Verbre-
chen in die Geschichte der Schreckensherrschaft des Dik-
tators von Bagdad eingehen. Hierauf und auf andere
massive Verletzungen des Völkerrechts durch den Irak
hat die Staatengemeinschaft mit militärischen Interven-
tionen und mit politischen und wirtschaftlichen Sanktio-
nen reagiert.
Doch alle Strafmaßnahmen haben bislang leider nicht
verhindern können, dass Saddam Hussein seine Lands-
leute nach wie vor unterdrückt und sein Land weiter in die
internationale Isolation treibt. Dass die Sanktionen bis-
lang nicht die gewünschte Wirkung gehabt haben, liegt
vor allem daran, dass die Saddam-Clique es versteht, sich
durch illegale Ölverkäufe Milliardenbeträge zur Erhal-
tung ihrer eigenen Machtstruktur zu verschaffen, während
die Bevölkerung darbt. Die Konsequenz daraus muss je-
doch sein, die Sanktionen zu verschärfen, sie zielgerich-
teter dort einzusetzen, wo sie unmittelbar die Interessen
Saddam Husseins beeinträchtigen, und ihre Umsetzung
besser zu kontrollieren. Ihre Aufhebung indessen hätte
nur eine Konsequenz: die politische Aufwertung des Sad-
dam-Regimes. Daher ist es geradezu grotesk, dass die
gleiche PDS-Fraktion, die Saddam Hussein mit dem heute
hier vorliegenden Antrag des Völkermords bezichtigt,
noch vor wenigen Wochen die Aufhebung der Sanktionen
gegen den Irak gefordert hat.
Der Antrag geht auf die Mitverantwortung deutscher
Firmen für die Produktion von Giftgas im Irak ein. Alle
hier im Hause wissen, dass die deutsche Justiz damals je-
dem Verdachtsfall rigoros nachgegangen ist und die Ver-
antwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Die
damals schon restriktiven Exportrichtlinien für Rüstungs-
güter und so genannte Dual-use-Produkte sind sukzessive
weiter verschärft worden. Es kann also überhaupt keine
Rede davon sein, dass die damalige Bundesregierung, so
wie dies im PDS-Antrag behauptet wird, in irgendeiner
Form direkt oder indirekt eine Mitverantwortung für
rechtswidrige Machenschaften von einzelnen Unterneh-
men trifft. Im Gegenteil: Das große Engagement der da-
maligen Bundesregierung hat dazu beigetragen, dass die
Vorwürfe schnell und vollständig aufgeklärt und die Täter
ihrer Strafe zugeführt werden konnten.
Deutschland ist aktiv an dem VN-Programm „Food for
Oil“ beteiligt, dessen Ziel es ist, die größte wirtschaftliche
Not der irakischen Bevölkerung zu mildern. Dies begrüßt
die F.D.P.-Bundestagsfraktion ebenso wie sie sich dort,
wo erforderlich, auch für humanitäre Hilfsleistungen für
die kurdische Bevölkerungsgruppe im Nordirak einsetzt.
Von einer Wiedergutmachungsaktion Deutschlands in ei-
ner wie auch immer gearteten Form kann jedoch keine
Rede sein. Hierzu besteht auch kein Anlass.
Dass sich gerade die PDS-Fraktion 13 Jahre nach dem
Massaker von Halabja und der Vertreibung der Kurden
aus dieser Region dieses Themas annimmt, zeigt erneut
die außenpolitische Ambivalenz und Selektivität der
selbsternannten demokratischen Sozialisten. Offensicht-
lich liegt der PDS das Schicksal der Kurden deutlich mehr
am Herzen als das der Kosovo-Albaner. Noch sehr deut-
lich erinnere ich mich an den herzlichen Händedruck zwi-
schen Gregor Gysi und Slobodan Milosevic, während
gleichzeitig Milosevics Schergen Tausende von Albanern
ermordeten und Hunderttausende vertrieben. Eine derar-
tige Politik ist an Hypokrisie nicht mehr zu überbieten und
ich bin insofern froh, dass die PDS durch ihren Antrag
einmal mehr Gelegenheit gegeben hat, dies auch deutlich
auszusprechen.
Wenn es der PDS schon daran gelegen ist, historische
Hintergründe und Verantwortungen zu klären, so muss sie
sich auch fragen lassen, inwieweit sie etwa als SED-
Nachfolgepartei bereit ist, Verantwortung zu übernehmen
für die Politik der Sozialistischen Solidarität der DDR,
etwa mit dem Massenmörder Pol Pot, dessen Terror über
1 Million Kambodschanern das Leben gekostet hat. Eine
parlamentarische Aufarbeitung dieser und anderer schwe-
rer Verfehlungen der DDR-Außenpolitik würde der PDS
gut bekommen.
Ulla Jelpke (PDS): Die PDS fordert in dem vorlie-
genden Antrag, den irakischen Giftgasangriff auf Halabja
vom 16. März 1988 als Völkermord einzustufen und hu-
manitäre Hilfe für die Opfer des Angriffs zu leisten.
Dieser Antrag geht auf zahlreiche Bitten und Schreiben
kurdischer Organisationen zurück. Allein in den letzten
Tagen habe ich in meinem Büro erneut zahlreiche Schrei-
ben von kurdischen Initiativen und Organisationen erhal-
ten. Darunter ist zum Beispiel ein Schreiben des Kurdi-
schen Nationalkongresses, ein internationaler Aufruf von
64 kurdischen Organisationen aus den Niederlanden, der
Bundesrepublik und Australien und natürlich vor allem
Schreiben und Aufrufe aus Süd-Kurdistan selbst. Sie se-
hen daran: viele Kurdinnen und Kurden erwarten drin-
gend eine solche Entscheidung des Bundestags. Auch
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch
unterstützen unser Anliegen.
Als die PDS den heutigen Antrag einreichte, wusste ich
nicht, dass ich mir bald auch direkt ein Bild von der Si-
tuation in Halabja machen würde. Das ist inzwischen ge-
schehen. Ich war vor wenigen Wochen in Halabja. Ich
muss Ihnen sagen: Ich war erschüttert. Die Menschen dort
leiden noch heute unter den Folgen des damaligen An-
griffs. Dieser Giftgasangriff war in unseren Augen ein-
deutig ein Verbrechen des Völkermords. Nach Art. 2 der
„Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völ-
kermords“ von 1948 bedeutet – ich zitiere –: „Völker-
mord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht
begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115588
(C)
(D)
(A)
(B)
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zer-
stören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe, b) Verur-
sachung von schwerem körperlichem oder seelischem
Schaden an Mitgliedern der Gruppe, c) vorsätzliche Auf-
erlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die ge-
eignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teil-
weise herbeizuführen.“
Mehrere Menschenrechtsorganisationen, darunter etwa
Human Rights Watch, sind zu dem Schluss gekommen,
dass die von der irakischen Armee an den Kurden
während der so genannten „Anfal-Kampagne“ im Jahre
1988 verübten Menschenrechtsverletzungen den Tatbe-
stand des Völkermords erfüllen. 5 000 Menschen kamen
damals in Halabja qualvoll zu Tode, mehr als 10 000 er-
litten infolge des Einsatzes von Senfgas und anderen Ner-
vengasen schwerste Verletzungen.
Zwischen 50 000 und 100 000 Menschen sind insge-
samt bei der „Anfal-Kampagne“ massenhaften Hinrich-
tungen und dem „Verschwindenlassen“ zum Opfer gefal-
len, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. Etwa 2 000
Dörfer wurden zerstört, die Bevölkerung vertrieben.
Männer, Frauen und Kinder wurden zu Hunderten unter
unmenschlichen Bedingungen in Haft gehalten. Alles das
geschah zu dem Zweck, die kurdische Bevölkerung im
Norden des Irak, also in Südkurdistan, buchstäblich aus-
zulöschen.
Etwa 70 Prozent der Giftgasproduktionsanlagen des
Irak stammten nach Presseberichten damals aus der Bun-
desrepublik. Im August 1990 wurden sieben Mitarbeiter
beteiligter deutscher Firmen – ich nenne die Firmen
Preussag, W.E.T., Karl Kolb, Pilot Plant – zwar vorüber-
gehend festgenommen. Die Verfahren gegen sie wurden
aber in den Jahren 1994 bzw. 1996 mit nur ganz geringen
Bewährungsstrafen, mit der Einstellung des Verfahrens
oder sogar mit Freispruch beendet. Das ist beschämend.
Die Hilfsorganisation Medico international hat 1998
eine Liste von 56 weiteren deutschen Firmen veröffent-
licht, die zu der irakischen Giftgasproduktion beigetragen
haben sollen. Diese Firmen sind dafür bis heute nicht zur
Rechenschaft gezogen worden.
Ich weiß, die Bundesrepublik hat nach Ende der 80er-
Jahre humanitäre Hilfe geleistet. Aber das war viel zu
wenig.
Ich sagte schon: Ich war vor wenigen Wochen in Ha-
labja. Noch immer sind viele Häuser, die 1988 zerstört
wurden, nicht wieder aufgebaut. Der Boden, das Grund-
wasser sind nicht entseucht. Die Menschen trinken wieder
Wasser aus den Brunnen, ohne dass dieses Wasser kon-
trolliert wurde, ob es noch giftig ist oder nicht. Auf dem
mit Giftgas verseuchten Boden werden wieder Nahrungs-
mittel angebaut: Gemüse, Salate und anderes. Vieh wei-
det auf dem Gras. Die Menschen in Halabja haben den
Eindruck – und das haben sie mir auch deutlich gesagt –,
dass die Welt sie wieder vergessen hat.
Nach medizinischen Untersuchungen leiden über die
Hälfte der heute wieder 50 000 Einwohner von Halabja an
Spätfolgen des damaligen Giftgasangriffs. Neben Atem-
wegs- und Herzerkrankungen, Asthma, Allergien sowie
Lungenkrebs sind in den letzten Jahren vor allem die Fälle
von Hautkrebs und Leukämie überproportional gestiegen.
Nirgendwo ist die Zahl der Fehlgeburten so hoch wie hier.
Die Ärzte berichten von einer alarmierend hohen Zahl
von Missbildungen: Kinder mit deformiertem Schädel,
offenem Rachen, fehlenden Gliedern. „Das Schlimme ist,
dass wir den Frauen nicht helfen können“, zitiert die „ta-
geszeitung“ in einem heute erschienenen Bericht den Di-
rektor des Krankenhauses von Halabja, Dr. Adil Kerim
Fatah. „Deutschland muss die Opfer entschädigen“, for-
dert auch dieser Arzt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen
Amt: Wir haben die Lage im Irak bereits Ende Januar aus-
führlich diskutiert und sind uns einig: Die humanitäre Si-
tuation der Zivilbevölkerung im Irak ist dramatisch
schlecht, teilweise menschlich tragisch, nicht nur in Ha-
labja, sondern landesweit. Wir dürfen uns aber nicht täu-
schen lassen, wer dafür die Verantwortung trägt: Es ist
nicht das internationale Sanktionsregime, es ist die poli-
tisch unverantwortliche Führung des Landes, die dies in
seinen Ruin treibt: das irakische Regime. Dies sind dieje-
nigen, die Halabja bombardiert haben, vielleicht nur, um
ihr C- und B-Waffenpotenzial militärisch zu testen.
Saddam Hussein kämpft einerseits um den innenpoliti-
schen Machterhalt, andererseits sucht er eine dominante
Rolle in der sensiblen Nahostregion. Er instrumentalisiert
auch heute die Lage der eigenen Bevölkerung für sein
Machtstreben.
Die Bundesregierung hat viel Verständnis für die Kri-
tik an der Situation in Halabja und die Sorge um die Be-
völkerung im Kurdengebiet im Nordirak. Ich nutze die
Gelegenheit, daran zu erinnern, dass die Fraktion der
Grünen bereits im Jahr 1988 im Deutschen Bundesstag
– Drucksache 11/2247 – den Giftgasmord des Irak in Ha-
labja an Tausenden von Kurden verurteilt und die Unter-
bindung der Lieferungen von Produktionsanlagen und
Chemikalien an Irak verlangt hat. Sie verlangte auch ei-
nen verstärkten Einsatz für eine internationale Konven-
tion über B- und C-Waffen.
Es ist aber der falsche Ansatz, im Jahr 2001 eine Scha-
densersatzpflicht der Bundesregierung zu konstruieren
und Hussein aus der Verantwortung zu nehmen. Die Bun-
desregierung hat seinerzeit Konsequenzen aus dem von
der irakischen Seite gezielt betriebenen Missbrauch der
zivilen Lieferungen für militärische Zwecke gezogen und
das Exportkontrollsystem im Außenwirtschaftsrecht, we-
sentlich auf Druck dieses Hauses, verschärft. Die illega-
len Lieferungen deutscher Firmen sind von deutschen Ge-
richten in aufwendigen Verfahren beurteilt worden. Die
heutige erbarmungswürdige Situation der Opfer des ira-
kischen Giftgasangriffs auf Halabja wie auch an anderen
Orten im Irak wird nicht dadurch verbessert, dass Verant-
wortlichkeiten verschoben werden.
Nebenbei sei bemerkt, dass die Bundesregierung seit
1991 humanitäre Hilfe für die notleidende kurdische
Bevölkerung im Irak leistet – 1991 mehr als 415 Milli-
onen DM, von 1993 bis 1997 13 Millionen DM –, zusätz-
lich erhebliche finanzielle Beiträge zu den Hilfsmaßnah-
men der internationalen Hilfsorganisationen UNHCR,
IKRK und UNICEF, zuletzt übrigens im März dieses Jah-
res 0,5 Millionen DM. Hinzu kommen Hilfsmaßnahmen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15589
(C)
(D)
(A)
(B)
an denen die Bundesregierung über das ECHO-Pro-
gramm der EU-Kommission beteiligt ist, wo seit 1991
weitere 170 Millionen DM bereitgestellt wurden.
Saddam Hussein hat kein Interesse, die Lage zu ver-
bessern. Er nutzt bewusst die Möglichkeiten zur Verbes-
serung der Lage der Bevölkerung nicht aus, die das Sank-
tionssystem der Vereinten Nationen durch die
Resolutionen 661, 986 und auch 1284 bietet, um der in-
ternationalen Staatengemeinschaft den schwarzen Peter
zuzuschieben. Ich habe dies für die Bundesregierung in
meiner Rede vom 25. Januar 2001 hier dargelegt.
Wenn uns Halabja eines lehrt, so ist das, dass der Wes-
ten Recht hat, wenn er davon ausgeht, dass der Diktator
bereit ist, über Leichen zu gehen für seine politischen
Ziele, dass er hemmungslos willens und bereit ist, biolo-
gische und chemische Waffen einzusetzen, sofern er sie
hat. Das ist der Grund für das Sanktionssystem der
Vereinten Nationen. Dieser Grund besteht unverändert
weiter fort.
Dass der Erfolg des Sanktionsregimes begrenzt ist und
durch die Maßnahmen des Bagdader Regimes teilweise
konterkariert wird, das die eigene Bevölkerung in eine
Geiselhaft nimmt, liegt auf der Hand; hierin sind wir uns,
denke ich, alle einig. Wir haben dies in verschiedenen
Ausschüssen eingehend erörtert. Die Bundesregierung
sucht daher nach Lösungen, die die Auswirkungen der
Sanktionen auf die Zivilbevölkerung möglichst gering
hält. Das „Öl für Lebensmittel“-Programm hat dies effizi-
ent nicht erreicht.
Im Januar habe ich für die Bundesregierung die Er-
wartung ausgedrückt, dass es zu einer Wiederaufnahme
des Gesprächsfadens zwischen VN-Generalsekretär und
dem Irak kommen möge, der seit der Operation „Wüsten-
fuchs“ 1998 abgerissen ist. Nun war der irakische Außen-
minister am 26./27. Februar in New York. Statt einer
konstruktiven Herangehensweise war er der Meinung,
Irak habe alle Sanktionen erfüllt, und fordert: eine bedin-
gungslose Aufhebung aller Sanktionen, bevor eine Ko-
operation mit dem VN-Überwachungsmechanismus in
Frage komme, sowie die Aufhebung der Flugverbotszo-
nen, die sofortige Einstellung der Kontrollflüge. Der Rüs-
tungsüberwachung will er nur zustimmen, wenn die ge-
samte Region, insbesondere Israel, einbezogen werde.
Dadurch macht der Irak alle Überlegungen, eventuell
einer Aussetzung der Sanktionen auf „Bewährung“ für
sechs Monate, selbst zunichte. Wir haben nach Kräften
eine politische Lösung des Irak-Problems unterstützt und
dies gegenüber den fünf ständigen Mitgliedern des VN-
Sicherheitsrats und der irakischen Seite vertreten; unser
Einfluss im Sicherheitsrat ist, wie jeder weiß, mangels ei-
ner deutschen Mitgliedschaft begrenzt.
Der neue US-Außenminister Powell hat Überlegungen
angestellt, wie man erreichen kann, dass der Ansatz des
Sanktionssystems wieder verstärkt auf die Einhaltung der
Abrüstungsverpflichtungen gelegt werden kann, ohne
dass das irakische Regime dies konterkariert. Es bleibt ab-
zuwarten, wie sich dies in konkrete Initiativen des Si-
cherheitsrats entwickeln wird.
Die Bundesregierung setzt sich verstärkt auch für eine
grundsätzliche Überprüfung und Verbesserung des Sank-
tionsinstrumentariums der Vereinten Nationen ein. Es
muss vermieden werden, dass Sanktionen entweder die
gewünschte Wirkung, nämlich das Einlenken derer, die
Stabilität und Frieden einer Region bedrohen, nicht errei-
chen oder dass sie Nebenwirkungen entfalten, die unver-
hältnismäßig erscheinen oder zu humanitären Tragödien
führen. Mit zwei Konferenzen in Bonn 1999 und Berlin
2000 haben wir deshalb die Initiative zu zielgerichteteren
Sanktionen, zu so genannten smart sanctions, im Bereich
von Waffenembargos und von Reise- und Luftverkehrs-
beschränkungen ergriffen. Dies hat einerseits in den Ver-
einten Nationen einen starken Denkanstoß gegeben und
die Diskussion über größere Sanktionseffizienz ange-
stoßen; es hat andererseits unserem Ansehen in den VN
genutzt. Als Resultat dieses so genannten Berlin-Bonn-
Prozesses wird demnächst ein Handbuch zur Abfassung
solcher auf die Eliten der betroffenen Regime zielenden
Resolutionen vorgestellt werden. Zielgerichtete, „smarte“
Sanktionen sollen weitgreifende Embargos möglichst
verhindern und die Zivilbevölkerung möglichst aussparen.
Eine Feinabstimmung von Sanktionen – wie Kofi
Annan hervorhob – stellt kein Einknicken vor dem Ver-
letzer dar, sondern ist das Zeichen eines verantwortlichen
Umgangs der internationalen Staatengemeinschaft mit
den Zwangsmaßnahmen, die eine Friedensbedrohung
verhindern oder unterbinden sollen.
Anlage 7
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 760. Sitzung am 9. März
2001 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2
Grundgesetz zu stellen:
– Gesetz zu den Änderungen vom 1. Oktober
1999 der Satzung der Internationalen Atom-
energie-Organisation
– Gesetz zu dem Zusatzabkommen vom 19. Mai
1999 zum Europipe-Abkommen vom 20. April
1993 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und dem Königreich Norwegen über den
Transport von Gas durch eine neue Rohrlei-
tung (Europipe II) vom Königreich Norwegen
in die Bundesrepublik Deutschland
– Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen
vom 5. März 1996 über die an Verfahren vor
dem Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte teilnehmenden Personen
– Gesetz zur Änderung der Europäischen Sozial-
charta
– Gesetz zu dem Vertrag vom 3. Juni 1999 zwi-
schen derBundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen Republik über das Grenzurkun-
denwerk der gemeinsamen Staatsgrenze
– Gesetz über Rahmenbedingungen für elektro-
nische Signaturen und zur Änderung weiterer
Vorschriften
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 200115590
(C)
(D)
(A)
(B)
– Gesetz zur Reform und Verbesserung der Ausbil-
dungsförderung – Ausbildungsförderungsre-
formgesetz (AföRG)
– Sechzehntes Gesetz zur Änderung des Bundes-
wahlgesetzes
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der
Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
nachstehenden Vorlagen absieht:
Innenausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand derAbwick-
lung des Fonds fürWiedergutmachtungsleistungen an jü-
dische Verfolgte
– Drucksache 14/4264 –
Haushaltsausschuss
– Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentin des Bun-
desrechnungshofes als Vorsitzende des Bundesschuldenaus-
schusses
Bericht des Bundesschuldenausschusses über seine Tätig-
keit sowie die Verwaltung derBundesschuld im Jahre 1999
– Drucksache 14/5059 –
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch-
lands 1999 und Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksache 14/2957 –
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung 2000
– Drucksachen 14/4229 –
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla-
gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla-
ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung
abgesehen hat.
Ausschuss fürWirtschaft und
Technologie
Drucksache 14/5172 Nr. 2.25
Drucksache 14/5172 Nr. 2.37
Drucksache 14/5172 Nr. 2.81
Drucksache 14/5172 Nr. 2.82
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 159. Sitzung. Berlin, Freitag, den 16. März 2001 15591
(C)(A)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin