Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001
        Christina Schenk
        14075
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        1) Anlage 9
        2) Anlage 10
        3) Anlage 11
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14077
        (C)
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        (B)
        Barthle, Norbert CDU/CSU 18.01.2001
        Dr. Bartsch, Dietmar PDS 18.01.2001
        Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 18.01.2001
        Behrendt, Wolfgang SPD 18.01.2001*
        Dr. Blank, CDU/CSU 18.01.2001
        Joseph-Theodor
        Brunnhuber, Georg CDU/CSU 18.01.2001
        Bulmahn, Edelgard SPD 18.01.2001
        Ehlert, Heidemarie PDS 18.01.2001
        Fischer (Berlin), BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
        Andrea DIE GRÜNEN
        Friedrich (Altenburg), SPD 18.01.2001
        Peter
        Dr. Fuchs, Ruth SPD 18.01.2001
        Gehrcke, Wolfgang PDS 18.01.2001
        Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 18.01.2001
        Günther (Duisburg), CDU/CSU 18.01.2001
        Horst
        Dr. Gysi, Gregor PDS 18.01.2001
        Hanewinckel, Christel SPD 18.01.2001
        Haschke (Großhenners- CDU/CSU 18.01.2001
        dorf ), Gottfried
        Hauser (Rednitzhem- CDU/CSU 18.01.2001
        bach), Hansgeorg
        Dr. Hendricks, Barbara SPD 18.01.2001
        Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
        DIE GRÜNEN
        Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 18.01.2001
        Irber, Brunhilde SPD 18.01.2001
        Klappert, Marianne SPD 18.01.2001
        Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 18.01.2001
        Kressl, Nicolette SPD 18.01.2001
        Kühn-Mengel, Helga SPD 18.01.2001
        Dr. Luft, Christa PDS 18.01.2001
        Nahles, Andrea SPD 18.01.2001
        Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
        DIE GRÜNEN
        Opel, Manfred SPD 18.01.2001
        Otto (Frankfurt), F.D.P. 18.01.2001
        Hans-Joachim
        Dr. Pfaff, Martin SPD 18.01.2001
        Pflug, Johannes SPD 18.01.2001
        Rübenkönig, Gerhard SPD 18.01.2001
        Spiller, Jörg-Otto SPD 18.01.2001
        Steiger, Wolfgang CDU/CSU 18.01.2001
        Vogt (Pforzheim), Ute SPD 18.01.2001
        Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
        DIE GRÜNEN
        Wohlleben, Verena SPD 18.01.2001
        Zapf, Uta SPD 18.01.2001
        * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung
        des Europarates
        Anlage 2
        Erklärung
        derAbgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner (PDS)
        zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion
        der CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der
        Bundesregierung: Weiterbau des Verkehrspro-
        jektes Deutsche Einheit (VDE) – Schienen-
        neubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig-
        Berlin (Drucksache 14/2692)
        Das Votum meiner Fraktion lautet Nein.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Wolfgang Dehnel (CDU/CSU)
        zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion
        der CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der
        Bundesregierung: Weiterbau des Verkehrspro-
        jektes Deutsche Einheit (VDE) – Schienen-
        neubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–
        Berlin (Drucksache 14/2692)
        Die im Bundesverkehrswegeplan vorgesehene Neu-
        baustrecke VDE-Nr. 8 ist teuerer (circa 5 Milliarden DM)
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        und erreicht deutlich weniger Bevölkerung in Ost-
        deutschland als eine Verbindung über Sachsen (1,1 bis 1,4
        Milli-onen gegenüber 3,3 bis 4 Millionen Menschen im
        Raum Plauen–Zwickau–Chemnitz). Zudem wird eine
        Verbin-dung über diese sächsische Region den bislang
        vom Hoch-geschwindigkeitsbahnverkehr ausgeschlosse-
        nen Raum Vogtland–Zwickau–Chemnitz als wichtigsten
        ostdeutschen Industrieraum einbeziehen.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        – Antrag: Schattenwirtschaft mit marktwirtschaftli-
        chen Mittel eindämmen
        – Gesetzentwurf: Eindämmung illegaler Betätigung
        im Baugewerbe
        – Unterrichtung: Neunter Bericht der Bundesregie-
        rung über Erfahrungen bei derAnwendung des Ar-
        beitnehmerüberlassungsgesetzes – AÜG – sowie
        über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämp-
        fung der illegalen Beschäftigung – BillBG – (Tages-
        ordnungspunkt 9 a bis c)
        Ludwig Eich (SPD): Illegale Beschäftigung ist in
        Zeiten der Globalisierung zu einem großen Problem
        geworden; insbesondere zu einem Problem in unserem
        Baugewerbe! Wie das Finanzministerium festgestellt hat,
        geht es um eine halbe Million Arbeitsplätze, die verlo-
        ren gehen; und es geht um dreistellige Milliardenbeträge,
        die dem Staat in Form von Steuern und unseren Sozial-
        kassen in Form von Beiträgen jedes Jahr verloren gehen.
        Es geht nicht um Schwarzarbeit in einer vernachlässig-
        baren Größe, sondern es geht um ein Krebsgeschwür, das
        enormen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet; und es
        geht auch um die würdelosen Umstände, die die Beschäf-
        tigten selbst erdulden. Das vorliegende Problem der ille-
        galen Beschäftigung ist groß und rechtfertigt diesen er-
        neuten gesetzgeberischen Versuch seiner Bekämpfung.
        Der Gesetzentwurf hat natürlich Instrumente, die zu ei-
        nem bürokratischen Aufwand führen. Er verlangt von den
        Unternehmen im Baugewerbe eine erweiterte Anzeige-
        pflicht. Damit soll vor allem die steuerliche Erfassung von
        Werksvertragsunternehmen verbessert werden. Aber der
        Kern des Gesetzes zielt darauf ab, dass jeder Bauunter-
        nehmer, der Bauleistungen an andere Bauunternehmer
        weitervergibt, vom Entgelt für diese Bauleistung einen
        Steuerabzug von 15 Prozent einbehält. Damit soll sicher-
        gestellt werden, dass die Steuern, die dem deutschen Fis-
        kus zustehen, auch in jedem Fall gezahlt werden. Dabei
        ist für die Wirkung dieses Instrumentes nicht unwichtig,
        dass der Unternehmer, der Bauleistungen an Subunter-
        nehmen weitervergibt, für diesen Steuerabzug in die
        Pflicht, sozusagen in Regress genommen wird.
        Nun sind diese Instrumente nicht neu: Bereits mit dem
        Steuerentlastungsgesetz 1999 wurde der Versuch unter-
        nommen, mit einem Steuerabzug an der Quelle unsere
        Steuereinnahmen bei der Vergabe an Subunternehmer zu
        sichern. Gescheitert ist der damalige Versuch aber nicht
        nur an europarechtlichen Problemen, sondern auch am
        bürokratischen Aufwand, der damit verbunden war.
        Wie nun die ersten Reaktionen auf den hier zur Debatte
        stehenden Gesetzentwurf zeigen, gibt es erneute Kritik
        und Bedenken an der Europatauglichkeit. Ich bin mir ganz
        sicher, dass sich auch bei unseren deutschen Bauunter-
        nehmern aufgrund des bürokratischen Aufwandes, den
        wir von ihnen verlangen, der Jubel über dieses Gesetz in
        Grenzen halten wird.
        Dennoch ist eine solche Reglung notwendig. Sie ist
        auch aus Wettbewerbsgründen unbedingt erforderlich.
        Wir müssen alle gesetzgeberischen Chancen nutzen, diese
        illegalen Praktiken einzudämmen; gerade in einer Zeit, in
        der es dem Baugewerbe nicht so gut geht.
        Allerdings, und wir sind ja in der ersten Beratung des
        Gesetzentwurfes, müssen wir die in 1999 gemachten Er-
        fahrungen berücksichtigen, Erfahrungen mit dem zeitli-
        chen Verwaltungsaufwand und Erfahrungen mit der Re-
        aktion aus dem europäischen Ausland.
        Was ein wenig irritiert, ist die nicht gerade ermutigende
        Erfolgsbilanz über die Wirkung der Abzugsteuer aus dem
        Jahre 1999. Aber die Wirkung dieses Instrumentes soll ja
        eine präventive, eine vorbeugende sein. Insofern lässt sich
        nicht unbedingt der Erfolg einer Abzugsteuer an den Zah-
        len aus dieser noch relativ kurzen Zeit bemessen.
        In jedem Fall ist die Bundesregierung bei ihren Be-
        mühungen zu unterstützen, den Gesetzesvollzug zu verbes-
        sern. Die Personalverstärkung der Hauptzollämter, die vor-
        genommen wird, ist beachtlich. Mit einer Verstärkung im
        Ermittlungsbereich von 1 400 Beamten wird der Personal-
        einsatz an dieser strategisch wichtigen Stelle mehr als ver-
        doppelt. Diese Anstrengungen können sich sehen lassen.
        Zusammen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kann
        daraus ein erfolgreiches Konzept für die Eindämmung
        von illegaler Beschäftigung werden. Ich glaube, die büro-
        kratische Belastung und der Verwaltungsaufwand müssen
        hingenommen werden, damit diese schwerwiegenden Zu-
        stände aufhören.
        Bei der Steuermoral ist es wie mit vielen Dingen im Le-
        ben: Manches muss mit entsprechender Anleitung einge-
        übt werden.
        Leyla Onur (SPD): Wir debattieren heute über ein
        schwerwiegendes Problem. Es geht um illegale Beschäf-
        tigung und Schwarzarbeit. Menschen, die schwarz arbei-
        ten oder arbeiten lassen, betrügen unseren Staat, unsere
        Gesellschaft um Steuern und Sozialabgaben. Sie vernich-
        ten ordentliche Arbeitsplätze und treiben kleine Unter-
        nehmen und Handwerksbetriebe in den Ruin. Deshalb
        ist die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und
        Schwarzarbeit eine der wichtigsten Aufgaben dieser Bun-
        desregierung und der Koalitionsfraktionen.
        Um nur drei Beispiele zu nennen: Wir haben die Lohn-
        nebenkosten gesenkt, damit Arbeit wieder billiger wird.
        Wir haben mit dem Entsendegesetz, der Regelung zur
        Scheinselbstständigkeit und den 630-Mark-Jobs die Ord-
        nung auf dem Arbeitsmarkt wieder hergestellt und wir ha-
        ben die größte Steuerreform in der Geschichte der Bun-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114078
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        desrepublik verabschiedet. Wir sind auf dem richtigen
        Weg, aber noch längst nicht am Ziel.
        Im vorliegenden Neunten Bericht der Bundesregierung
        können wir schwarz auf weiß nachlesen, dass die Be-
        kämpfung der illegalen Beschäftigung und der Schwarz-
        arbeit erhebliche Fortschritte gemacht hat. 1999 ist die
        Zahl der Verfahren und der verhängten Bußgelder in wich-
        tigen Bereichen auf einen neuen Höchststand gestiegen.
        Die Bundesregierung wird Kontrolle und Gesetzes-
        vollzug weiter verbessern: Die Bundesanstalt für Arbeit
        organisiert ihre Dienststellen effektiver: In jedem Arbeits-
        amt wird eine eigene Einheit gebildet und die Zusam-
        menarbeit mit dem Zoll intensiviert. Die Prüfungskompe-
        tenzen und Ermittlungsbefugnisse der Hauptzollämter
        werden erheblich erweitert. Im Bundesgebiet wurden be-
        reits im letzten Jahr 700 zusätzliche Stellen bei den
        Zollämtern geschaffen und wir werden dieses Jahr weitere
        700 Stellen einrichten.
        Das kann ich ganz konkret in meinem Wahlkreis
        Braunschweig beobachten. Im dortigen Hauptzollamt
        wurde die Arbeitsgruppe „Bekämpfung illegaler Beschäf-
        tigung“ letztes Jahr von 10 auf 21 Mitarbeiter mehr als
        verdoppelt. Dieses Jahr steht eine Aufstockung in ähnli-
        cher Größenordnung an. Ernsthafter kann man gegen ille-
        gale Beschäftigung nicht vorgehen.
        Darüber hinaus haben die Koalitionsfraktionen „Eck-
        punkte zur Verbesserung der Bekämpfung illegaler Be-
        schäftigung und Schwarzarbeit“ formuliert, die in Kürze
        vorgelegt werden.
        Die konstruktiven Vorschläge des Bundesrates für ein
        „Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Bauge-
        werbe“ werden von uns ebenfalls ausdrücklich begrüßt.
        Hierzu wird mein Fraktionskollege Ludwig noch einge-
        hend Stellung nehmen.
        Der vorliegende Antrag der FDP hilft nicht weiter:
        Nach anderthalb Seiten dünner Annahmen, Mutmaßun-
        gen und unseriöser Schlussfolgerungen stellt die FDP sie-
        ben knallharte Forderungen auf: vier Berichte, ein Son-
        dergutachten, eine neue Statistik und – ganz wichtig – die
        Verknüpfung von Rentenversicherung und Ökosteuern
        „im Lichte der Effizienzvorteile des Äquivalenzprinzips
        erneut zu überprüfen“. Die Leute aus der Praxis schütteln
        über diese Vorschläge nur mitleidig der Kopf.
        Ich habe einen Zollbeamten, der Leiter einer Prüf-
        gruppe für illegale Beschäftigung ist, gefragt, wie er den
        Nutzen neuer Statistiken einschätze. Die Antwort war
        kurz und bündig: Jeder zusätzliche Papierkram kostet uns
        Zeit und diese Zeit fehlt uns für Kontrollen draußen auf
        den Baustellen. Recht hat der Mann! Auch ohne Statisti-
        ken wissen wir: Razzien auf Baustellen sind das effizien-
        teste Mittel: nicht nur wegen der Bußgelder, sondern auch
        wegen ihrer abschreckenden Wirkung.
        Auch die unseriöse Behauptung der F.D.P., die Neure-
        gelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
        habe dazu geführt, dass ein guter Teil der Arbeitskräfte in
        die Schattenwirtschaft abgewandert sei, ist und bleibt
        falsch. Die Fakten beweisen das Gegenteil: Wir haben im
        Jahr 2000 rund 4 Millionen ausschließlich geringfügig
        Beschäftigte registriert. Diese Zahl liegt weit über den Er-
        wartungen.
        Zu dem Hinweis, zu hohe Steuern und Sozialabgaben
        trieben die Menschen in die Schwarzarbeit, sei nur ange-
        merkt, dass während ihrer Regierungszeit Steuern und
        Abgaben den absoluten Höchststand erreicht hatten. Das
        heißt: Sie haben die Menschen in die Schwarzarbeit ge-
        trieben. Wir dagegen haben seit Regierungsantritt Lohn-
        nebenkosten und Steuern gesenkt. Damit ist Deutschland
        auf dem richtigen Weg. Das hat mir gestern der in Ihrem
        Antrag zitierte Experte zum Thema Schattenwirtschaft,
        Professor Schneider, ausdrücklich versichert. Von der
        Steuerreform erwartet er eine erhebliche Senkung des
        Umfangs der Schwarzarbeit in Deutschland.
        Ich stelle abschließend fest: Alle bisherigen Maßnah-
        men tragen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und
        Schwarzarbeit bei. Weitere werden folgen. Was wir aller-
        dings nicht brauchen, sind F.D.P.-Vorschläge für weitere
        Statistiken.
        Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Die
        Schätzzahlen über die Entwicklung der Schattenwirt-
        schaft sind besorgniserregend: Derzeit beträgt das Volu-
        men rund 640 Milliarden DM, das entspricht 16 Prozent
        des Bruttoinlandprodukts oder umgerechnet 500 000 Ar-
        beitsplätzen. Für die Bekämpfung der Schattenwirtschaft
        ist eine nüchterne Analyse erforderlich.
        Insgesamt gilt es, drei Kategorien zu unterscheiden: Es
        geht erstens um Menschen, die über ihre berufliche Pflicht
        hinaus in ihrer Freizeit arbeiten, also die klassische
        Schwarzarbeit, die überwiegend im handwerklichen Be-
        reich und bei den Dienstleistungen auftritt. Die zweite
        Gruppe umfasst diejenigen, die Sozialleistungen kassie-
        ren und daneben schwarz arbeiten. Schließlich stellt die il-
        legale Arbeit von Menschen, insbesondere aus osteu-
        ropäischen Ländern, ein Problem dar.
        Die Antworten der Marktwirtschaft auf diese drei Ka-
        tegorien müssen entsprechend differenziert sein:
        Erstens. Hauptgruppe in der Schattenwirtschaft sind
        zum Teil qualifizierte Arbeitnehmer, die am Abend und
        Wochenende schwarz arbeiten, um sich bestimmte Wün-
        sche zu erfüllen. Der positive Aspekt in diesem Zusam-
        menhang ist die feststellbare Leistungsbereitschaft, die
        den Irrglauben widerlegt, dass alle Menschen weniger als
        35 Stunden oder weniger als fünf Tage in der Woche ar-
        beiten wollen. Der negative Aspekt besteht allerdings
        darin, dass diese Arbeit außerhalb des Sozial- und Steuer-
        systems stattfindet. Schätzungen zufolge gehen der Sozi-
        alversicherung rund 110 Milliarden DM durch Schwarz-
        arbeit verloren, wobei 10 000 Arbeitsplätze ungefähr
        einem Gegenwert von 225 Millionen DM an Sozialabga-
        ben entspricht.
        Wichtigstes Ziel ist, nicht Arbeitsleistung zu verhin-
        dern, sondern sie in den normalen, regulären Arbeitsmarkt
        zu überführen. Das Ziel heißt: aus Schwarzarbeit reguläre
        Arbeit machen! Zu diesem Zweck müssen Steuer- und
        Abgabenbelastungen mittelständischer Unternehmen und
        Handwerksbetriebe gesenkt werden. Notwendig wäre
        eine mutige Steuerreform gewesen. Die Absenkung der
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14079
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        (B)
        Grenzsteuerbelastung und des gesamten Tarifverlaufes
        war ein wichtiges Anliegen, zu dem die rot-grüne Bun-
        desregierung leider keine Kraft hatte.
        Ein höchst fataler Fehler war die Änderung der 630-DM-
        Regelung. Auffällig ist, dass der Schwerpunkt der
        Schwarzarbeit im Handwerk, im Hotel- und Gaststätten-
        gewerbe, im Gartenbau und bei den privaten und persön-
        lichen Dienstleistungen liegt. Das sind genau die Berei-
        che, in denen in hohem Maße 630-DM-Arbeitsplätze
        vorhanden waren. Durch die Änderung der 630-DM-Rege-
        lung sind reguläre Arbeitsplätze systematisch in die
        Schwarzarbeit getrieben worden. Es wurde das Gegenteil
        von dem getan, was notwendig gewesen wäre. Die Ideo-
        logie hat die Vernunft besiegt.
        Die zweite Gruppe, nämlich Sozialleistungsempfän-
        ger, die nebenher schwarzarbeiten, stellen insbesondere
        eine Bedrohung der Arbeitsmoral in unserem Land dar.
        Bisher gibt es dagegen kein wirksames Rezept. Weder die
        Drohung mit Kürzung von Sozialhilfe noch ihre tatsäch-
        liche Umsetzung waren bisher ausreichend. Die einzige
        marktwirtschaftliche Lösung lautet deswegen: Jeder, der
        Sozialleistungen kassiert, muss dafür arbeiten, das heißt
        muss beschäftigt werden, damit er erst gar keine Zeit mehr
        für Schwarzarbeit hat. Arbeitspflicht für diejenigen, die
        arbeitsfähig sind, aber nicht arbeiten wollen, halte ich für
        den richtigen Weg.
        Besonders akut ist die illegale Beschäftigung von Men-
        schen aus anderen Ländern seit Öffnung der Grenzen nach
        Osteuropa. Der Kaufkraftunterschied zwischen Tsche-
        chien und Polen einerseits und Deutschland andererseits
        ist eklatant. Dieser Aspekt muss bei der EU-Osterweite-
        rung Beachtung finden, um Kahlschlag in den Grenzre-
        gionen zu vermeiden.
        Bereits heute zeigt sich eine andere Problematik bei
        ausländischen Subunternehmen, die erheblich billiger
        sind – und dies häufig dadurch, dass sie sich ihren Ver-
        pflichtungen entziehen. Ein Grundgebot der Marktwirt-
        schaft besteht auch darin, den fairen Wettbewerb auf-
        rechtzuerhalten. Es kann nicht hingenommen werden,
        dass sich Billiganbieter ihren Steuerverpflichtungen ent-
        ziehen, indem sie beispielsweise durch ständige Umfir-
        mierung ihre Identität verschleiern.
        Die Bundesratsinitiative von Bayern, Baden-Württem-
        berg und Hessen ist deswegen zu begrüßen, mit der in der
        Problembranche Bau der Steueranspruch des Staates
        durchgesetzt werden soll.
        Der erste Lösungsansatz vom März 1999 mit einem
        25-prozentigen Abzug von der Auftragssumme ist an ei-
        ner EU-Intervention gescheitert. Das Gesetz musste nach
        sechs Monaten wieder außer Kraft gesetzt werden. Al-
        leine in diesen sechs Monaten hat man in Bayern 700 aus-
        ländische Werkvertragsunternehmer erstmalig erfasst.
        Erforderlich ist ein handhabbares Gesetz, das mit Vor-
        schlag von Bayern, Hessen, Baden-Württemberg nun-
        mehr vorliegt: Die Meldepflicht über die Tätigkeit aus-
        ländischer Subunternehmer wird erweitert und dem
        Auftraggeber ein 15-prozentiger pauschaler Abschlag von
        der Auftragssumme zur Abführung an das Finanzamt auf-
        erlegt, wenn nicht eine Freistellungsbescheinigung vorge-
        legt wird. Es handelt sich dabei um einen relativ einfachen
        und praktikablen Lösungsweg.
        Fazit: Schattenwirtschaft ist eine außerordentlich dif-
        ferenzierte Problematik. Marktwirtschaftliche Lösungen
        und Anreizsysteme für Leistungsbereite sind besser als
        staatliche Kontrollsysteme und Bevormundung. Der un-
        mittelbare Zusammenhang zwischen der Steuer- und Ab-
        gabenlast und der Schwarzarbeit muss jedem präsent sein,
        der neue Kosten und Belastungen – egal in welchem Be-
        reich – für die Unternehmen beschließt.
        Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
        Schwarzarbeit ist volkswirtschaftlich und sozialpolitisch
        eine Fehlentwicklung, gegen die wir handeln müssen.
        Dies tun wir auch.
        Der vorliegende Antrag der F.D.P. zur Schattenwirt-
        schaft ist aber wieder ein Sammelsurium verschiedenster
        Forderungen, die keine Abhilfe schaffen werden. Was Sie
        eigentlich wollen, ist allerdings sehr deutlich. Es geht zum
        wiederholten Male darum, das Thema 630-DM-Jobs oder
        auch Ökosteuer in den Blick der Öffentlichkeit zu zerren.
        Lösungen, um Licht in den Schatten zu bringen, schlagen
        Sie kaum vor. Sie stellen in Ihrem Antrag fest, dass exakte
        Zahlen über den Bereich Schattenwirtschaft kaum ver-
        fügbar sind, und Sie wissen auch, dass es in der Natur der
        Sache liegt, dass sich die Schattenwirtschaft – das heißt
        eben insbesondere auch die Schwarzarbeit – ungerne un-
        tersuchen lässt.
        Das Bild, das die F.D.P. hier suggerieren will, ist, dass
        die Schattenwirtschaft auch zulasten der regulären
        Arbeitsplätze immer weiter ausgedehnt wurde. Doch das
        ist ein typisches F.D.P.-Zerrbild. Folgendes ist jedoch
        deutlich. Wie auch immer sich die „Zahlen“ der
        Schattenwirtschaft zurzeit aktuell entwickeln, selbst
        wenn sie steigen würden: Die Arbeitsmarktdaten spre-
        chen eine deutliche Sprache. Es gibt einen in den letzten
        zwei Jahren zunehmenden Anstieg der Zahl der Erwerbs-
        tätigen. Diese positive Arbeitsmarktentwicklung ist eine
        Folge der positiven konjunkturellen Entwicklung und da-
        mit das Resultat einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die
        über Abgaben- und Steuersenkungen Erhebliches für eine
        verbesserte konjunkturelle Entwicklung getan hat.
        Aber nicht nur die Zahl der Erwerbstätigen steigt im
        Jahre 2000 um etwa 600 000. Auch die Zahl der sozial-
        versicherungspflichtigen Beschäftigten ohne die gering-
        fügig Beschäftigten hat wieder um 350 000 zugenommen.
        Außerdem gilt: Die Zahl der geringfügig Beschäftigen ist
        nicht gesunken, woraus Sie die Zunahme der Schatten-
        wirtschaft und Schwarzarbeit ableiten, sondern sie ist ge-
        stiegen.
        Die von mir genannten Arbeitsmarktdaten sind keine
        Daten über Schwarzarbeit; das ist richtig. Aber sie zeigen
        deutlich, dass das Bild einer auf Kosten des regulären Ar-
        beitsmarktes steigenden Schwarzarbeit eben ein überzo-
        genes, ein falsches Bild ist.
        Richtig ist, dass das Angebot an Arbeitskräften steigt,
        und zwar trotz einer demographischen Entwicklung, bei
        der mehr Arbeitskräfte wegen Alter ausscheiden, als
        Junge nachkommen. Das Angebot an Arbeitskräften
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114080
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        steigt, weil viele aus der stillen Reserve, Hausfrauen,
        Studenten und andere Personengruppen, die nicht in den
        Arbeitslosenstatistiken zu finden waren, auf den Arbeits-
        markt drängen. Dieses ist ein deutliches Signal dafür, dass
        die stille Reserve abnimmt. Das heißt aber auch, dass sich
        das Potenzial für Schwarzarbeit reduziert hat.
        Sie wiederum wollen nun mit Ihrer verqueren Ar-
        gumentation noch einmal Front gegen die 630-DM-Rege-
        lung machen. Was wir wollten, ist mit dieser Regelung
        erreicht worden. Der Trend zu immer weiter zerstückelten
        sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen wurde
        gestoppt, die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
        gung hat zugenommen. Wir haben die Gleichbehandlung
        von Einkünften, die erzielt werden können – mit Über-
        stunden beispielsweise – erreicht.
        Was Sie weiterhin wollen, ist Front machen gegen die
        Ökosteuer. Aber gerade hier wird Ihr Vorhaben besonders
        durchsichtig. Die Ökosteuer dient dazu, die Lohnneben-
        kosten zu senken. Wir haben die Lohnnebenkosten – ganz
        im Gegensatz zur alten Koalition – bereits gesenkt und
        werden dies weiter vorantreiben. Die hohen Lohnneben-
        kosten sind, wie Sie zu Recht bemerken, ein Faktor, der
        Schwarzarbeit fördert und gerade die kleinen Einkommen
        belastet. Dies ist ein Grund mehr, auf die Ökosteuer auch
        in Zukunft nicht zu verzichten.
        Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Ich begrüße die Gele-
        genheit, anhand des 9. Berichtes zum AÜG über die Lage
        am Arbeitsmarkt diskutieren zu können, und zwar umso
        mehr, als der Bericht eine Reihe von Passagen enthält, die
        deutlich machen, dass die Bundesregierung durchaus
        – zumindest in Ansätzen – die Ursache für die wahren
        Probleme auf dem Arbeitsmarkt kennt. Es stellt sich die
        Frage, warum Sie solche Erkenntnisse dann nicht auch zur
        Grundlage ihres Regierungshandelns machen.
        Der Bericht zeigt deutlich, dass der Arbeitsmarkt über-
        reguliert ist – man könnte auch sagen: „verriestert“ und
        verrammelt.
        Dies wird deutlich an zwei Indikatoren: dem Anstieg
        von Überstunden – im vergangenen Jahr waren 1,9 Milli-
        arden Überstunden zu verzeichnen – und der Zunahme
        der Leiharbeit. Dazu stellt der vorliegende Bericht fest:
        „Die Bedeutung der legalen Arbeitnehmerüberlassung für
        die deutsche Wirtschaft ist (im Berichtszeitraum) ge-
        wachsen. Die Zahl der Leiharbeitnehmer und Verleih-
        unternehmen ist weiter angestiegen.“
        Diese Entwicklung ist ohne jeden Zweifel darauf
        zurückzuführen, dass die Wirtschaft im Allgemeinen
        – und der Mittelstand im Besonderen – gezwungen ist,
        wegen der verfehlten Arbeitsrechtspolitik der rot-grünen
        Bundesregierung in Leiharbeit oder Überstunden zu
        flüchten, um über die Runden zu kommen.
        Der Bericht stellt weiter fest: „Ein weiterer Grund (für
        die Zunahme der Leiharbeit) ist die Unsicherheit der Un-
        ternehmen über den weiteren Konjunkturverlauf. Die Ver-
        leiher profitieren hier von dem restriktiven Einstellungs-
        verhalten der Unternehmen, die eher bereit sind,
        Personalbedarf mit Leiharbeitnehmern zu decken, als sich
        langfristig an einen Arbeitnehmer mit unbefristetem
        Arbeitsvertrag zu binden.“ Da kann ich nur sagen: Schön,
        dass auch die Bundesregierung diese Tatsache erkannt
        hat. Aber es genügt nicht, dies zu wissen; man muss es
        auch tun. Wir warten auf Maßnahmen, zum Beispiel beim
        Kündigungsschutz!
        Denjenigen aus der Regierungskoalition, die die
        Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer beklagen, sei
        gesagt: Die Leiharbeit wird auch zukünftig weiter zuneh-
        men, weil sie systematisch alle anderen flexiblen Instru-
        mente, wie etwa die befristeten Arbeitsverträge, den
        Unternehmen „weggeriestert“ haben. Natürlich hätten Ar-
        beitnehmer wesentlich mehr davon, würden sie – und sei
        es auch befristet – direkt bei einem Entleiher mit Bezah-
        lung nach Branchentarif arbeiten, anstatt bei einem Ver-
        leihunternehmen auf der Lohnliste zu stehen. Aber wer
        das will, der darf dann auch nicht die Bedingungen für be-
        fristete Beschäftigung verschlechtern, wie Sie das getan
        haben.
        Schlimmer als das: Sie haben den Druck sogar noch
        weiter erhöht, indem Sie die Bedeutung der Schwellen-
        werte im Arbeitsrecht noch erhöhen. Sehen Sie denn
        nicht, dass zukünftig mittelständische Unternehmen, die
        bis zu 15 Beschäftigte haben, bei einem Mehrbedarf an
        Personal verstärkt auf Leiharbeitnehmer zurückgreifen
        werden, um nicht in den Geltungsbereich des Teilzeitar-
        beitsgesetzes zu kommen und damit einem Rechtsan-
        spruch auf Teilzeitarbeit ausgesetzt zu sein?
        Ich sage Ihnen: Leiharbeit ist eine Chance – eine
        Chance für arbeitslose Menschen, nicht dauerhaft auf Ar-
        beitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen zu sein und
        auch in Übung zu bleiben. Training-on-the-job ist we-
        sentlich besser als jede Weiterbildungsmaßnahme der
        Bundesanstalt für Arbeit! Daher müssen die Restriktionen
        im AÜG – Stichworte: Höchstverleihdauer, Synchronisa-
        tionverbot und Wiederbeschäftigung – im Sinne einer
        Verbesserung der Chancen Arbeitsloser den Gegebenhei-
        ten und Erfordernissen der Praxis geändert werden. Der
        Bericht hält hierzu fest: „Unternehmen sind unter Um-
        ständen eher bereit, einen ehemals Arbeitslosen nach ei-
        ner Testphase als Leiharbeitnehmer fest einzustellen.“
        Ein weiteres Signal dafür, dass mit der Verfassung des
        Arbeitsmarktes etwas nicht stimmt, ist die Zunahme der
        so genannten Schwarzarbeit. Deren Zunahme ist ein Be-
        weis dafür, dass die Belastung der regulären Arbeitsein-
        kommen mit Steuern und Sozialversicherung offenbar zu
        hoch ist und es sich daher für eine bestimmte Gruppe in
        der Bevölkerung lohnt, schwarz zu arbeiten.
        lm Bericht heißt es dazu: „So mussten 1999 rund
        94,10 DM für eine legale Maurerstunde kalkuliert wer-
        den. Ein Maurer erhält, wenn er verheiratet ist und zwei
        Kinder hat, ungefähr 17,79 DM netto. Erhält der Schwarz-
        arbeiter für eine illegale Stunde 30,00 DM, so verdient er
        fast doppelt so viel und der Bauherr spart zwei Drittel.“
        Und schließlich lesen wir im Bericht: „Eine typische
        Begehungsform der Schwarzarbeit ist die Erbringung von
        Dienst- oder Werkleistungen im erheblichen Umfang bei
        gleichzeitigem Bezug von Arbeitslosengeld, Arbeitslo-
        senhilfe oder Sozialhilfe, ohne die Beschäftigung dem
        Leistungsträger mitzuteilen.“ Das ist, wie gesagt, alles
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14081
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        sehr lesenswert, aber auch ein deutlicher Handlungs-
        auftrag! Ich frage Sie: Was wollen Sie tun, um diesen
        Missbrauch zukünftig zu verhindern?
        Was der Bericht nicht sagt: Ist der Schwarzarbeiter
        ebenfalls verheiratet und Vater von zwei Kindern, dann
        hat er bei Sozialhilfebezug selbst als Facharbeiter in den
        meisten Branchen in etwa das Einkommen eines legal ar-
        beitenden Kollegen. Eigentlich logisch, dass legale Arbeit
        nicht mehr lohnt, zumal man nebenbei – man hat ja den
        ganzen Tag Zeit – und schwarz noch ein paar Mauern
        hochziehen kann.
        Das Anreizsystem ist falsch. Das Problem Ihrer bishe-
        rigen Politik ist, dass Sie die Menschen – über alles gese-
        hen – netto nicht wirklich entlasten. Warum nutzen Sie
        nicht den zweifellos vorhandenen Spielraum zur Senkung
        der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung? Das wäre
        ein erster Schritt, um die Schere zwischen Lohneinkom-
        men und Transfereinkommen wieder etwas zu öffnen. Da-
        rüber hinaus müssen Anreize zur Aufnahme einer sozi-
        alversicherungspflichtigen Arbeit geschaffen werden. Und
        das heißt auch – im Sinne einer aktivierenden Sozialpoli-
        tik –, den Druck etwas zu erhöhen. Die wirklich Bedürfti-
        gen müssen von den faulen Findigen getrennt werden.
        Nehmen Sie den Bericht als Ansporn, das Arbeitsrecht
        wieder zu „entriestern“, damit mehr Menschen eine Chance
        auf einen dauerhaften Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt
        bekommen! Wer Zeitarbeit reduzieren oder eingrenzen
        will, kommt nicht umhin, das Arbeitsrecht zuentschlacken.
        Sorgen Sie – wir sind bereit, dabei mitzuwirken – dafür,
        dass wir ein vernünftiges Anreizsystem für Menschen in
        der Sozialhilfe bekommen und dass sich ehrliche Arbeit,
        auch in unteren Lohngruppen, wieder lohnt.
        Dr. Klaus Grehn (PDS): Der vorgelegte Neunte Be-
        richt der Bundesregierung über Erfahrungen bei der An-
        wendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, des
        AÜG, sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur
        Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, des BillBG,
        enthält wiederum detaillierte Aufstellungen zur Bekämp-
        fung illegaler Beschäftigung und der Schwarzarbeit. Tat-
        sache ist, dass genaue Angaben zum Ausmaß der illegalen
        Beschäftigung und Schwarzarbeit nicht vorliegen und
        vielfach Vermutungen die Grundlage der öffentlichen
        Diskussion bilden. Dies spiegelt der F.D.P.-Antrag zur
        Schattenwirtschaft richtig wider.
        Für die PDS sind die Zurückdrängung und die Verhin-
        derung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit
        wichtige Maßnahmen zur Herstellung von mehr sozialer
        Gerechtigkeit. Der Bericht lässt wegen der Darstellung
        eine Gesamtbewertung der Bemühungen kaum zu; die Er-
        gebnisse beruhen auf jeweils unterschiedlichen Katego-
        rien unterschiedlicher Behörden. Hinzu kommt, dass die
        Ergebnisse trotz erheblichem Ressourceneinsatz nach wie
        vor eher mager sind. Die kritischen Hinweise von Staats-
        anwalten und Gewerkschaften, das sei positiv vermerkt,
        weisen auf Möglichkeiten der Anreicherung hin.
        Wie auch bei den Berichten der Vorgängerregierung
        werden Schattenwirtschaft und illegale Beschäftigung
        hier wie Marktauswüchse behandelt, die man mittels
        Razzien eliminieren kann. Aber gerade das funktioniert
        nicht, wie die Berichterstattungen verdeutlichen: Die Er-
        mittlungsbehörden eilen seit Jahren von einem Pyrrhus-
        sieg zum anderen.
        Die Anzahl der Kontrollen, der eingeleiteten Ermitt-
        lungsverfahren und der verhängten Bußgelder sind im Be-
        richtszeitraum erheblich gestiegen. Dies wird als Erfolg ge-
        wertet, obwohl diese Zahlen keine Erfolgsindikatoren sein
        können, denn erstens wurde das Kontrollpersonal erheblich
        aufgestockt, zweitens wurden neue Deliktfelder, unter an-
        derem Mindestlohnvergehen, eingeführt und drittens wurde
        der Bußgeldrahmen deutlich angehoben. Trotzdem boomt
        die Schattenwirtschaft nach Auffassung von Experten.
        Dass diese Entwicklung nun aber Ergebnis der
        630-DM-Regelungen oder aber der Ökosteuer sein soll,
        wie es die F.D.P. in ihrem Antrag begründet oder vermu-
        tet, erinnert eher an Kaffeesatzleserei. Gleiches trifft für
        die F.D.P.-Aussage, dass Arbeitszeitverkürzungen zur
        Schattenwirtschaft beitragen, zu.
        Wir meinen, dass die Schattenwirtschaft weiter boomt,
        weil sich egoistisches Gewinnstreben auf einem ungere-
        gelten Markt unter anderem auch durch die Arbeitneh-
        merüberlassung und die Schattenwirtschaft sehr profita-
        bel durchsetzen lässt. Insofern ist es auch notwendig, die
        dem Bericht zu entnehmende Praxis, dass die Bestrafung
        illegaler und gegen die Gesetze verstoßender Arbeitgeber
        nur in seltenen Fällen dem tatsächlichen Ausmaß der Ver-
        gehen entspricht, zu ändern.
        Wir bezweifeln die Sinnhaftigkeit der weiteren Ver-
        schärfung von Gesetzen, die bereits jetzt nicht voll ausge-
        schöpft werden. Wir bezweifeln auch die Sinnhaftigkeit
        der Aufstockung des Kontrollpersonals und der grund-
        rechtlich bedenklichen Ausweitung von Kontrollkompe-
        tenzen. Statt dessen wäre es sinnvoll, die überlasteten
        Staatsanwaltschaften zu stärken und effektive Maßnah-
        men zum Schutz prekär beschäftigter Arbeitnehmer zu er-
        greifen. – Letzteres unter anderem deshalb, weil diese Ar-
        beitnehmer doppelt zu leiden haben: Sie werden in der
        Beschäftigung diskriminiert und oft auch noch um den
        Lohn für die tatsächlich geleistet Arbeit betrogen.
        Es muss darum gehen, die Rechtssicherheit und die
        Konflikfähigkeit zu stärken, um den Anreiz des „Be-
        trugsbonus“ bei illegaler Beschäftigung zu beseitigen.
        Die Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler
        Beschäftigung durch effektiven Schutz allgemeiner Ar-
        beitnehmerrechte wäre ein Ansatz, der einer rot-grünen
        Politik angemessener wäre, als die Fortführung eines
        überkommenen Fehlaktionismus.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung
        des Antrages: Gesamtkonzeption für Berliner
        Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur
        notwendig (Tagesordnungspunkt 11)
        Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
        schon bemerkenswert, dass nun auch die Union zu der Er-
        kenntnis gelangt ist, dass wir eine Gesamtkonzeption für
        die Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur brau-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114082
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        chen. Im Gegensatz zur früheren Regierung Kohl hat die
        neue rot-grüne Regierung eine Konzeption der künftigen
        Gedenkstättenförderung vorgelegt. Von daher kommt der
        heutige Antrag reichlich spät. Dies finde ich bedauerlich,
        weil die Ziele, die in dieser Vorlage verfolgt werden, im
        Großen und Ganzen mit unseren Vorstellungen überein-
        stimmen. Schade also, dass der Kollege Nooke nicht
        rechtzeitig – das heißt im Zusammenhang mit dem Ge-
        denkstättenkonzept des Bundes – diese Vorschläge einge-
        bracht hat.
        Die Gedenkstätten für Opfer der SED-Dikatatur, die
        Mauergedenkstätte, das Dokumentationszentrum Ber-
        nauer Straße, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohen-
        schönhausen und die Stasi-Zentrale in der Normannen-
        straße sind wichtige Erinnerungsstätten für alle
        Deutschen. Insofern waren wir schon immer der Auffas-
        sung, dass die Finanzierung dieser Gedenkstätten auch
        eine Angelegenheit des Bundes ist.
        Das vereinte Deutschland bekennt sich zu seiner Ge-
        schichte; die vielen Gedenkstätten des Bundes zeigen das
        deutlich. Wir wollen auch weiterhin im Rahmen des Mög-
        lichen die Erinnerungsarbeit an die Geschichte der Deut-
        schen fördern. Die rot-grüne Bundesregierung hat es
        geschafft, eine Gedenkstättenkonzeption in dieser Wahl-
        periode zu verabschieden. Wir haben damit Versäumnisse
        der alten Regierung beiseite geräumt und vernünftige För-
        dergrundsätze vorgelegt.
        Was wir allerdings nicht akzeptieren wollen und kön-
        nen sind Versuche, alles und jedes auf den Bund abzu-
        wälzen. Gerade weil es um die Geschichte aller Deut-
        schen geht, müssen auch alle relevanten Ebenen ihren
        Beitrag leisten. Wir gehen davon aus, dass auch künftig
        der Bund maximal die Hälfte der Kosten übernimmt; die
        fehlenden Mittel müssen die Länder beisteuern. Wobei im
        Übrigen auch die Frage zu stellen ist, ob und inwieweit
        sich auch private Sponsoren oder Stiftungen an der För-
        derung beteiligen können.
        Wir werden in den Ausschüssen in aller Ruhe und
        Sachlichkeit die vorgelegten Vorschläge erörtern. Ich
        halte es daher für überzogen, wenn in Ihrem Antrag der
        Bundesregierung eine Frist bis zum 31. Mai 2001 gesetzt
        wird. Die Regierung Kohl hat das in acht Jahren nicht hin-
        bekommen; man sollte der neuen Regierung ausreichend
        Zeit geben. Eine Zeit, die wir gemeinsam brauchen wer-
        den, um eine tragfähige Konzeption und eine dauerhafte
        Finanzierung sicherzustellen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        der Unterrichtung: 4. Bericht der Bundesregie-
        rung zur Auswärtigen Kulturpolitik 1999 (Ta-
        gesordnungspunkt 12)
        Monika Griefahn (SPD): 2001 ist der von der UNO
        als das Jahr des Dialogs, der Zivilisation und der Kulturen
        ausgerufen worden. Insofern ist es gut, dass die Auswär-
        tige Kulturpolitik im letzten Jahrzehnt einen Bedeutungs-
        zuwachs bekomme hat, den vorher niemand angenommen
        hätte. Die Bundesregierung und das Auswärtige Amt ha-
        ben auf die Veränderungen der internationalen Umwelt
        reagiert. Die Auswärtige Kulturpolitik wird in der Außen-
        politik der Bundesrepublik eine wichtigere Rolle spielen,
        als dass bisher der Fall war. Auch global wird die Rolle
        der Kultur in den internationalen Beziehungen zuneh-
        mend beachtet. Damit finden Akzentverschiebungen in
        der Außenpolitik statt, die den Veränderungen in einer
        globalisierten Welt gerecht werden.
        Wir haben es momentan in der Welt fast ausschließlich
        mit ethnisch oder religiös motivierten Konflikten zu tun,
        also mit kulturellen Konfliktfaktoren. Die klassischen
        Konflikte um Land oder Ressourcen werden in der Be-
        deutung zurückgedrängt. Konflikte um Wasser werden in
        der Zukunft dramatisch werden. Aber die kulturellen Aus-
        einandersetzungen nehmen in ihrer Schärfe zu. Die Bun-
        desregierung hat diese veränderten Vorzeichen erkannt
        und mit der „Konzeption 2000“ für die Auswärtige Kul-
        turpolitik des Auswärtigen Amtes reagiert. Dort werden
        viele Gedanken aufgenommen, die den kulturellen inter-
        nationalen Beziehungen einen sicherheitspolitisch rele-
        vanten, weil präventiven Charakter zuweisen. Damit wird
        aufgezeigt, worum es in Zukunft gehen muss:
        Das Verstehen des anderen, der Respekt vor anderen
        kulturellen Eigenarten, Gebräuchen und Sitten, das ge-
        genseitige Geben und Nehmen, also die vom Auswärtigen
        Amt so genannte „Zweibahnstrasse“, sind der Weg, der in
        der internationalen Zusammenarbeit in Zukunft verstärkt
        gegangen werden muss.
        Damit rede ich nicht einem kulturellen Relativismus das
        Wort. Natürlich wollen wir auch unsere Werte vermitteln.
        Das gilt sowohl für demokratische Strukturen als auch für
        die Beachtung der Menschenrechte. Man sollte nicht argu-
        mentieren, dass ein anderes Menschenbild eben etwas sei,
        kulturell geprägt und deshalb per se nicht angreifbar sei.
        Dies wurde jahrelang mit den Wirtschaftswunderländern in
        Südost- und Nordostasien gemacht. Das waren zum größ-
        ten Teil Scheinargumente, die nur dazu dienen sollten, das
        wirtschaftliche Wachstum nicht zu gefährden.
        Ich will ausdrücken, dass wir verstehen müssen, mit
        wem wir es zu tun haben, dass wir in einen echten Dialog
        eintreten müssen und zwar innen und außen. Wir müssen
        bereit sein, den anderen mit all seinen Motivationen zu
        verstehen und wir dürfen erwarten, dass uns die gleiche
        Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Nur so kann es
        gelingen, Konflikte schon frühzeitig zu erkennen und sie
        zu verhindern, und zwar lange bevor Polizeieinsätze nötig
        sind oder Soldaten eingesetzt werden müssen. Die „Kon-
        zeption 2000“ des Auswärtigen Amtes hat diesen Gedan-
        ken aufgegriffen und ihn für die Teilbereiche der Auswär-
        tigen Kulturpolitik weiterentwickelt.
        Der hier debattierte Bericht der Bundesregierung zeigt,
        dass in dieser Hinsicht einiges auf den Weg gebracht wurde.
        Schon seit Antritt der Regierung von Gerhard Schröder und
        Joschka Fischer stand die konzeptionelle, strukturelle und
        inhaltliche Neuausrichtung auf der Tagesordnung. Sie wis-
        sen alle, dass auch die Auswärtige Kulturpolitik von den
        notwendigen Sparmaßnahmen nicht verschont wurde. Das
        konnte sie gar nicht. Dennoch ist es gelungen – dies zeigt
        der hier debattierte Bericht der Bundesregierung – die
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14083
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        Auswärtige Kulturpolitik neu zu positionieren und als
        wichtigen Pfeiler in die Außenpolitik zu integrieren. Das
        war nicht nur wegen der veränderten politischen Rahmen-
        bedingungen nötig, sondern es ist auch eine Reaktion auf
        die Entwicklungen in Kommunikation und Medien.
        Trotz aller Sparmaßnahmen ist es gelungen, beispiels-
        weise die Arbeit der Goethe-Institute sogar zu verbessern,
        indem „Goethe“ und Inter Nationes fusionierten. Dies ist
        ein Beispiel dafür, wie es trotz oder vielleicht gerade we-
        gen der Einsparungen zu einer Effizienzsteigerung in der
        internationalen Kulturarbeit gekommen ist. Dabei sind die
        Verbesserungen in der strukturellen Arbeit erst am Anfang.
        Die Einsparungen haben auch nicht verhindert, dass
        einer der Schwerpunkte der Auswärtigen Kulturpolitik,
        die Förderung der deutschen Sprache, vorangetrieben
        wurde. Hier wurden neue regionale Schwerpunkte ge-
        setzt und die Förderung auf Multiplikatoren verstärkt.
        Auch das diente der Effizienzsteigerung. Die vorsichtig
        erfolgte „Regionalisierung“ der Sprachförderung steht
        dabei in Einklang mit den Zielen der allgemeinen Außen-
        politik.
        Aber in den westeuropäischen Staaten, besonders in
        Frankreich, sinkt die Zahl der Deutsch-Schüler. Die Ori-
        entierung der jungen Leute in den osteuropäischen Län-
        dern an den angelsächsischen Sprachen bedeutet, dass be-
        sondere Bemühungen notwendig sind, damit Deutsch
        wenigstens als zweite Sprache präsent ist.
        Auswärtige Kulturpolitik wird heute ganz anders
        wahrgenommen als noch vor zehn Jahren. Sie dient darü-
        ber hinaus anderen Zwecken als vorher. Wir haben es mit
        völlig veränderten Wünschen zu tun, was die Adressaten
        unserer Kulturpolitik angeht. Das gilt vor allem für den
        Bereich der neuen Medien. Sie haben eine zunehmende
        Bedeutung auch in den internationalen Kulturbeziehun-
        gen. Deshalb haben wir inzwischen Kulturportale im In-
        ternet.
        Die Entwicklung in diesem Bereich bedeutet auch,
        dass wir über das Deutschlandbild, das wir transportieren
        wollen, neu nachdenken müssen. Für die Deutsche Welle
        haben wir damit begonnen. Dies kann aber nur ein erster
        Schritt sein. Die neuen Technologien haben die Welt der
        Kommunikation rasant verändert, wobei es nicht nur um
        die Schnelligkeit dieser Veränderungen geht, sondern
        auch und vor allem um die Qualität.
        Für die Auswärtige Kulturpolitik bedeutet dies, dass
        sie sich über die Zielgruppen dieser Politik Gedanken ma-
        chen muss. Sicher kann es nicht darum gehen, altbewährte
        Programme völlig preiszugeben; da bin ich konservativ.
        Vielmehr muss es sinnvolle Ergänzungen geben, die den
        Zielgruppen und deren „Nutzerverhalten“ gerecht werden
        können. Einem der grundlegenden Anliegen der AKP, der
        Förderung der deutschen Sprache, kann hier meines Er-
        achtens besonders gedient werden. Es ergeben sich neue
        Vertriebswege für Hörfunkprogramme und Sprachkurse,
        die vorher nicht da waren. Das Goethe-Institut hat in Zu-
        sammenarbeit mit Inter Nationes, der Deutschen Welle
        und dem Auswärtigen Amt einen neuen Multi-
        media-Sprachkurs entwickelt, der ab diesem Jahr über
        Fernsehen, Internet und Hörfunk angeboten wird. Das ist
        ein viel versprechender Weg, die Menschen über neue
        Wege und neue Zielgruppen zu erreichen.
        Noch ein Wort zum Haushalt: Die Mittlerorganisatio-
        nen der Auswärtigen Kulturpolitik haben in den letzten
        Haushaltsrunden Einschränkungen hinnehmen müssen.
        Dieser Beitrag ist von allen gefordert. Wir haben aber er-
        lebt, dass dadurch Effizienzsteigerungen erreicht werden
        konnten. Die Fusionierung von Goethe-Institut und Inter
        Nationes habe ich bereits erwähnt. Außerdem sind wir
        durch die Sparpolitik gefordert, intelligente und innova-
        tive Lösungen zu finden, die die Ziele der Auswärtigen
        Kulturpolitik fördern. Ich plädiere entschieden dafür, die
        Goethe-Institute zu budgetieren, damit die Prioritäten be-
        züglich Personal und Sachmittel jeweils vor Ort gesetzt
        werden können. Dazu brauchen wir die Zusammenarbeit
        von allen Beteiligten, auch hier im Bundestag.
        Die Auswärtige Kulturpolitik ist eigentlich nie ein Feld
        großer parteipolitischer Auseinandersetzungen gewesen.
        Diesen breiten Konsens wünsche ich mir auch für die Zu-
        kunft. Es kann der Sache nur dienlich sein, vor allem dem
        Deutschlandbild im Ausland. Gerade hier in Deutschland
        haben wir im Moment viel zu leisten. Die Auswärtige
        Kulturpolitik ist das geeignete Feld dazu. Nirgendwo
        sonst kommen so viele Menschen mit Deutschland in
        Berührung. Denken wir an den Austausch von Wissen-
        schaftlern und Studenten, an Konzertreisen, an die Aus-
        landsschulen, um nur einige Beispiele zu nennen. Das al-
        les sind unsere Bühnen.
        Dazu müssen wir aber auch verstärkt die kulturell arbei-
        tenden Gruppen in der Gesellschaft unterstützen. Theater,
        Musikgruppen, Filmemacher, Autoren und alle anderen,
        die sich um den Austausch der Kulturen kümmern, brau-
        chen einen sicheren Rahmen für ihre Arbeit. Deshalb fängt
        Auswärtige Kulturpolitik im Inland an. Beispielsweise
        müssen wir die Besteuerung ausländischer Künstler redu-
        zieren, damit sie für die deutschen Veranstalter finanzierbar
        bleiben. Ich rede hier nicht von Michael Jackson oder
        Luciano Pavarotti. Die kleinen Veranstalter haben inzwi-
        schen Probleme, Künstler aus dem Ausland zu engagieren,
        weil bis zu 40 Prozent der Gage ans Finanzamt gehen. Das
        ist einem lebendigen Kultur-austausch nicht förderlich.
        Wir können auch in Deutschland nicht das „Jahr des
        Dialogs der Kulturen“ begehen, ohne uns über notwen-
        dige und wirksame Strukturen und Rahmenbedingungen
        eines solchen kulturellen Dialoges Gedanken zu machen.
        Wenn dazu Dinge reformiert und neu gedacht werden
        müssen, so müssen wir das tun.
        Der Dialog ist die Zukunft der internationalen Bezie-
        hungen. Ich meine damit nicht den Dialog an den Konfe-
        renztischen. Das funktioniert – meistens. Ich rede von ei-
        nem Dialog über Werte, Vorstellungen, Gemeinsamkeiten
        und Unterschiede. Das ist ein Dialog über Kultur, durch
        den wir lernen, was der Andere denkt, fühlt und will. Es
        geht um Bedeutungen. Hier besteht ein großes friedens-
        förderndes Potenzial für die internationale Politik. Es darf
        nicht unterschätzt werden.
        Der Bericht der Bundesregierung über die Auswärtige
        Kulturpolitik gibt viele Anhaltspunkte dafür, dass es in
        diese Richtung geht. Der insgesamt höhere Stellenwert,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114084
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        den Kultur und Kulturpolitik seit 1998 in der Bundespo-
        litik genießen, wird auch in der AKIP deutlich. Dieser
        Weg ist richtig; er wird der höheren Bedeutung der Kul-
        tur in der Außenpolitik gerecht.
        Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „In-
        ternational kann in Medizin und Biologie in der Spitzen-
        forschung nur mitspielen, wer mindestens Lesefähigkeit
        im Deutschen besitzt.“ Ist das Wunschdenken? Im ersten
        Drittel des letzten Jahrhunderts entsprach dieser Satz der
        Wirklichkeit. Heute ist Deutsch nur noch relikthaft inter-
        nationale Wissenschaftssprache. Der Anteil der na-
        turwissenschaftlichen Publikationen lag 1996 bei 1,2 Pro-
        zent, der Anteil der englischen bei 90,7 Prozent. Warum
        soll man im Ausland heute noch Deutsch lernen? Wer in
        der ganzen Welt zu Hause ist, braucht kein Deutsch, we-
        der als Global Player, noch als Tourist.
        Die Bedeutung der Sprache ist nur ein Beispiel für die
        vielen Veränderungen, mit denen wir in der kulturpoliti-
        schen Landschaft konfrontiert werden. Die rasanten Ent-
        wicklungen, die die modernen Gesellschaften durchlau-
        fen, können verwirren, verunsichern, verängstigen.
        Globalisierung schafft Nähe, wo vorher keine war, ermög-
        licht uns die Auseinandersetzung mit dem, was uns eben
        noch fremd war. Wir sind auf allen Ebenen gefordert: nicht
        nur wirtschaftlich-technisch, sondern auch in der persönli-
        chen Begegnung, in der Kommunikation, im Dialog.
        Dialog, das ist das Stichwort für die neue konzeptio-
        nelle Ausrichtung der Auswärtigen Kulturpolitik. Unsere
        Gesellschaft, mit der wir die Herausforderungen von tech-
        nischer Entwicklung und Globalisierung erfolgreich be-
        stehen wollen, setzt auf Freiheit und auf mündige Bürge-
        rinnen und Bürger. Der kulturelle Dialog hat auch die
        Stärkung der Zivilgesellschaft zum Ziel. Begegnung, Ge-
        spräch und Reibung haben Sich-Kennen- und Verstehen-
        Lernen, Vertrauensbildung und Sympathieerwerb zur
        Folge. Deshalb bin ich besonders froh, dass das
        Goethe-Institut schon bald in Teheran, Algier und Ha-
        vanna anzutreffen sein wird. Das sind Orte, die dringend
        der Öffnung und Stärkung der Zivilgesellschaft bedürfen.
        Die Freiheit von Kunst und Kultur in Europa und in un-
        serem Land überall in der Welt bekannt zu machen, das
        heißt auch, für ihre demokratische Grundlage zu werben.
        Die Mittlerorganisationen deutscher Kultur arbeiten auf-
        grund unserer Geschichte unabhängig und ihre staatsferne
        Organisation kommt den schwierigen Arbeitsbedingun-
        gen in vielen Ländern entgegen.
        Allerdings haben wir den Mittlerorganisationen Vorga-
        ben im Rahmen notwendiger Strukturreformen gemacht.
        Wozu den Vorgängerregierungen immer der Mut fehlte,
        wurde endlich angepackt: Goethe-Institut und Internatio-
        nes zu fusionieren, war seit langem notwendig und zeigt,
        dass wir knappe Ressourcen besser zu nutzen suchen. Für
        mich ist aber auch klar: Wer mit weniger Mitteln effekti-
        ver arbeiten muss, braucht eine größere Flexibilität in der
        Mittelverwaltung.
        Lassen Sie mich kurz auf die Auslandsschulen eingehen.
        Erstens, der Bau neuer deutscher Schulen kann vor Ort
        nicht nur besser und schneller, sondern auch kostengünsti-
        ger geplant und realisiert werden. Zweitens, wir setzen
        auch im Schulbereich auf europäische Zusammenarbeit,
        zum Beispiel auf das Modell der so genannten Euro-Cam-
        pus-Schulen. Kooperationen zwischen Frankreich und
        Deutschland gelingen unter anderem in Manila und
        Schanghai; mit England arbeiten wir in Taiwan zusammen.
        Neben den Mittlerorganisationen und den deutschen
        Schulen im Ausland haben Austauschprogramme die weit
        reichendsten Erfolge, wenn es darum geht, deutsche Spra-
        che und Kultur ins Ausland zu vermitteln. Der Studieren-
        den- und Wissenschaftleraustausch ist uns deshalb ein
        wichtiges Anliegen. Wir haben im Haushalt 2001 das Sti-
        pendienprogramm nicht nur erhalten, wir haben es sogar
        noch mit einer soliden, längerfristigen Planung ausgebaut.
        Noch ist Deutsch die dritthäufigst gelernte Fremdspra-
        che der Welt. Die Tendenz ist rückläufig. Nur solange die
        deutschsprachigen Länder technologisch und wirtschaft-
        lich vorne mitspielen, bleibt Deutsch eine wichtige
        Fremdsprache. Aber: Es geht um mehr als die Hitliste im
        Sprachenranking: Kreative Menschen, Multiplikatoren
        und künftige Entscheidungsträger im Ausland zu fördern
        und sie an Deutschland und seiner Entwicklung zu inte-
        ressieren, muss unser Ziel sein. Und ich frage mich, wie
        wir dieses Ziel erreichen, wenn in Reiseführern über
        Deutschland davor gewarnt wird, als Mensch mit nicht
        weißer Hautfarbe bestimmte Regionen Deutschlands zu
        meiden.
        Selbst im Internet hätte ein fiktives Deutschlandbild
        keinen Bestand! Auswärtige Kulturpolitik kann nur das
        vermitteln, was hier lebendig ist. Und da war die Debatte
        um die so genannte Leitkultur alles andere als hilfreich.
        Lassen Sie uns hier alles tun, damit wir auch nach
        außen zu Recht das Bild einer offenen und toleranten Ge-
        sellschaft vermitteln können, die den Anforderungen der
        Moderne gewachsen ist.
        Ulrich Irmer (F.D.P.): Es ist selbstverständlich, dass
        die neuen außenpolitischen Herausforderungen zu Beginn
        des 21. Jahrhunderts auch ein Umdenken in der auswärti-
        gen Kulturpolitik erforderlich machen. Niemand wird da-
        her Zweifel daran haben, dass die vor 25 Jahren von der
        Enquete-Kommission des Bundestages festgeschriebenen
        Leitlinien neu definiert werden müssen.
        Den zweifellos großen Herausforderungen für eine
        Auswärtige Kulturpolitik im 21. Jahrhundert stehen je-
        doch knappe Mittel gegenüber. Der Kulturhaushalt des
        Auswärtigen Amtes wird bis 2003 um weitere 10 Prozent,
        das heißt um circa 130 Millionen DM schrumpfen. Mit
        der so genannten Konzeption 2000 für die Auswärtige
        Kulturpolitik versucht nun das Auswärtige Amt, aus der
        Not eine Tugend zu machen. Sicherlich ist es richtig, dass
        Sparzwänge auch Chancen für Reformen und Neubeginn
        bieten. Aber sie setzen Mut zur Innovation voraus.
        Aus meiner Sicht könnten erhebliche Synergie- und
        gleichzeitig auch Einspareffekte durch die Bündelung der
        zurzeit auf sechs Bundesressorts verteilten Zuständig-
        keiten für unterschiedliche Aspekte der Auswärtigen Kul-
        turpolitik erreicht werden. So ist es zum Beispiel über-
        haupt nicht einzusehen, weshalb Sprachkurse für deutsche
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14085
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        Minderheiten in Mittel- und Osteuropa über das BMI fi-
        nanziert werden, Sprachkurse des Goethe-Institutes indes-
        sen im Haushalt des Auswärtigen Amtes ressortieren.
        Ferner sollten folgende Maßnahmen bei einer Reform
        der auswärtigen Kulturpolitik im Vordergrund stehen: eine
        Reduzierung des Anteils der Personal- und Verwaltungs-
        kosten, nicht nur bei den Auslandsschulen, sondern auch
        wie zuletzt vom Bundesrechnungshof gefordert beim
        Goethe-Institut; eine verstärkte Übertragung von Einzel-
        bereichen bei Mittleraktivitäten, zum Beispiel des Sprach-
        unterrichtes in private Trägerschaft; eine Modernisierung
        und Straffung des weltweiten Netzes des GoetheInstitutes.
        In der Personalpolitik sollten die Kulturmittler, insbe-
        sondere Goethe-Institute und Auslandsschulen, zukünftig
        verstärkt auf die erheblich kostengünstigeren Ortskräfte
        zurückgreifen.
        Schließlich sollten die Möglichkeiten des Einsatzes
        von Sponsormitteln der Wirtschaft und privater Stiftun-
        gen besser genutzt werden. Die Konzeption 2000 bietet
        zwar Ansätze hierfür; sie sind jedoch noch zu halbherzig.
        Warum sollte es beispielsweise nicht möglich sein, im
        Rahmen unserer Sprachförderung berechtigte Anliegen
        unserer Exportwirtschaft zu berücksichtigen? Was wäre
        dagegen einzuwenden, wenn Industrie und Wirtschaft
        mehr Patenschaften für deutsche Auslandsbibliotheken
        übernähmen und im Zusammenhang mit den Mittlern bei
        Kulturveranstaltungen verstärkt als Sponsoren aufträten?
        Könnte nicht unsere Stipendienpolitik zumindest in Teil-
        bereichen durch kofinanzierte Programme mit den Inte-
        ressen der Wirtschaft in Einklang gebracht werden? Wäre
        es nicht sinnvoll, dass unsere exportorientierten Unter-
        nehmen sich verstärkt an der Finanzierung und Unterhal-
        tung von Auslandsschulen beteiligen? Ist es wirklich un-
        denkbar, dass zum Beispiel der Börsenverein des
        deutschen Buchhandels Gelegenheit erhielte, in ausge-
        wählten Goethe-Instituten deutsche Literatur – von der
        Belletristik bis zum Fachbuch – auszustellen oder viel-
        leicht sogar zu verkaufen? Was spricht eigentlich dage-
        gen, im Ausland verstärkt deutsche Häuser zu fördern, un-
        ter deren Dach Auslandshandelskammern, deutsche
        Firmen, Wirtschaftsverbände und Kultureinrichtungen
        untergebracht sind? Durch derartige Gemeinschaftsstruk-
        turen würden nicht nur Kosten gespart, sondern erhebli-
        che Synergieeffekte erzielt.
        Eine derartige Arbeitsteilung darf jedoch nicht ledig-
        lich finanztechnisch motiviert sein. Die gemeinsame
        Übernahme von Verantwortung öffentlicher und privater
        Träger wäre auch geeignet, einen kulturellen Wert an sich
        zu vermitteln, der das Wesen unserer Demokratie aus-
        macht, das Zusammenspiel von Staat und Bürgergesell-
        schaft. Wichtig ist hierfür, dass Kultur und Kommerz ihre
        Berührungsängste abbauen, die gemeinsamen Interessen
        erkennen und die verbindenden Elemente verstärken.
        Deutschland wird auch künftig weltweit nur dann Erfolg
        haben, wenn es Wirtschafts- und Kulturnation bleibt. Dies
        sind zwei Seiten derselben Medaille.
        Ausgesprochen fragwürdig ist indessen die Definition
        der Konzeption 2000 einer Auswärtigen Kulturpolitik als
        integralem Bestandteil einer auf Konfliktprävention und
        Friedenssicherung ausgerichteten deutschen Außenpoli-
        tik, deren Ziel die Stärkung von Zivilgesellschaften und
        der Herrschaft des Rechts als Schlüssel zu einer mensch-
        lichen und friedlichen Globalisierung sein soll. Einem
        derartig hehren Ziel kann man zwar nicht grundsätzlich
        widersprechen. Problematisch wäre es jedoch, wenn man
        die auswärtigen Kulturbeziehungen politisieren und den
        interkulturellen Dialog von politischem Wohlverhalten
        abhängig machen wollte. Die „FAZ“ bemerkt zu diesem
        Ansatz: „Autoritärer ist seit der Gründung der Bundesre-
        publik bisher keine auswärtige Kulturpolitik aufgetreten.“
        Demokratieförderung, Menschenrechte, Nachhaltig-
        keit des Wachstums, Armutsbekämpfung und Schutz der
        natürlichen Ressourcen sind klassische Ziele der Ent-
        wicklungs- und Menschenrechtspolitik, die zwar auch
        die Kulturbeziehungen insofern berühren, als sie unser
        gesellschaftliches Wertesystem zum Ausdruck bringen,
        deren Umsetzung jedoch nicht prioritäre Aufgabe der aus-
        wärtigen Kulturpolitik sein kann. Auswärtige Kulturpoli-
        tik kann Friedens- und Sicherheitspolitik nicht ersetzen.
        Es wäre ein ziemlich dreistes Beispiel deutschen Missio-
        narsdrangs, deutsche Kulturmittler als Friedensbringer in
        die Welt zu entsenden.
        Zu begrüßen ist hingegen, dass sich die Konzeption
        2000 zukünftig prioritär auch dem wechselseitigen
        Know-how-Transfer widmen will. Der Förderung der
        Wissenschaft und des Hochschulwesens sollten in der
        auswärtigen Kulturpolitik in der Tat mehr Bedeutung zu-
        kommen.
        Im zusammenwachsenden globalen Dorf wird der mul-
        tilateral koordinierten Auswärtigen Kulturpolitik eine im-
        mer wichtigere Rolle zufallen. Bedauerlicherweise ist die
        Koordinierung zwischen bilateraler und multilateraler
        Auswärtiger Kulturpolitik sowohl auf der Ebene staat-
        licher Stellen als auch der Mittlerorganisationen, ähnlich
        übrigens wie im Bereich der Entwicklungszusammenar-
        beit, nur sehr schwach ausgeprägt. Gerade im Zuge der
        bevorstehenden institutionellen Reformen der EU sollten
        wir auf eine stärkere Rolle einer gemeinsamen europä-
        ischen Auswärtigen Kulturpolitik drängen. Eine verge-
        meinschaftete Außen- und Sicherheitspolitik wäre ohne
        eine kulturelle Dimension unvollständig.
        Dies wird aber auch Wirkung in den außereuropäi-
        schen Raum haben. Jean Monet wird das kluge Wort zu-
        geschrieben, die europäische Einigung müsse mit der
        Kultur beginnen. Gerade die deutsche Auswärtige Kultur-
        politik sollte integraler Bestandteil eines derartigen Pro-
        zesses sein. Es wäre zu hoffen, dass dies zu einer Ent-
        wicklung führt, in der die Interaktion der Kulturen
        zunehmend zu einer bestimmenden Kraft wird, sowohl
        beim Zusammenwachsen Europas als auch bei der Aus-
        strahlung Europas auf die Welt.
        Dr. Heinrich Fink (PDS): Die Bundesregierung hat
        mit ihrem Amtsantritt 1998 für die auswärtige Kulturpo-
        litik neue Richtlinien vorgegeben, die den Bedingungen
        einer sich verändernden Welt stärker Rechnung tragen
        sollen. Als Prämissen auch der Auswärtigen Kulturpolitik
        benennt sie im vorliegenden Bericht: Sicherung des Frie-
        dens, Konfliktverhütung, Verwirklichung der Menschen-
        rechte, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Dem stimmt
        die PDS ohne Vorbehalt zu.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114086
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Bleiben wir bei der partnerschaftlichen Zusammenar-
        beit. Diese setzt Gleichberechtigung voraus, soll es einen
        wirklichen Dialog der verschiedenen Kulturen geben. Sie
        sollen Verständnis füreinander wecken. Sie sind damit das
        Gegenteil von Versuchen, Wertvorstellungen zu exportie-
        ren. Dies wäre nicht im Sinne der genannten Prämissen.
        Doch leider werden sie gelegentlich verlassen. Wenn zum
        Beispiel ein Ziel der deutschen Schulen in Osteuropa die
        Annäherung dieser Länder an so genannte euro-atlanti-
        sche Strukturen sein soll, halte ich dies nicht einem Dia-
        log von Kulturen für nicht angemessen. Dies gilt ebenso
        dafür, dass Hauptzielgruppen für unsere Kulturpro-
        gramme die aktuellen und künftigen Führungsgruppen in
        Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der anderen Länder
        sein sollen. Diese Ausprägung des Dialogs halte ich für
        ausgesprochen paternalistisch.
        Als sehr wohltuend allerdings empfinde ich den plura-
        listischen Ansatz in Bezug auf die Präsentation, der die
        deutschen Beiträge im Ausland betrifft; da besonders die
        Feststellung: „In Deutschland herrscht Kulturfreiheit. Es
        gibt keine Staatskultur.“ Und ich folgere: Demzufolge
        gibt es auch keine Leitkultur.
        Namens der PDS begrüße ich diese Vorgaben aus-
        drücklich. Gleichzeitig kann ich aber nicht verschweigen,
        dass der Bericht über deren inhaltliche Aussagen wenig
        mitzuteilen hat. Dies vermisse ich besonders bei den aka-
        demischen Austauschprogrammen, bei Medien wie der
        Deutschen Welle, auch der Präsentation deutscher Kunst
        im Ausland und umgekehrt ausländischer Künstler hier.
        Gerade über Letzteres müsste die Öffentlichkeit mehr er-
        fahren, als dass Auftritte von Gästen besonders aus Ent-
        wicklungs- und osteuropäischen Ländern wegen deren
        enger finanzieller Möglichkeiten stark begrenzt sind.
        Das gleiche betrifft die Goethe-Institute, deren Mit-
        glied ich bin und auch deshalb dem Bericht gern mehr
        über ihre Zukunft entnommen hätte.
        Eine Bemerkung, von der Sie vielleicht meinen, sie
        wäre hier nicht angebracht, möchte ich noch machen: Bei
        der gegenwärtigen Diskussion über Rechtsradikalismus
        und Fremdenfeindlichkeit hierzulande wird Nichtwissen
        über andere Kulturen als eine wesentliche Ursache ge-
        nannt. Hier könnte doch gerade die auswärtige Kulturpo-
        litik Mittlerdienste leisten. Der Bericht vermerkt zu dieser
        Aufgabenstellung jedoch nichts. Zwar wird der Anspruch
        formuliert, es dürfe „keinen einseitigen Kulturexport“,
        sondern müsse „einen Austausch in beide Richtungen“
        geben. Der Kontext allerdings vermittelt den Eindruck,
        dass der deutschen Darstellung im Ausland doch erheb-
        lich mehr Engagement und Mittel eingeräumt werden als
        der Präsentation anderer Kulturen hier. Anhaltspunkte, ob
        und – wenn ja – wie dies anders werden soll, fehlen.
        Ich wünschte, mehr – oder besser: Genaueres – über die
        deutschen Schulen im Ausland zu erfahren als nackte Zah-
        len über Etats und Lehrer. Wie haben sich die Lehrinhalte
        verändert bzw. sollen sie es? Der Bericht vermerkt mit Be-
        friedigung, dass die deutsche Exportindustrie weiter auf
        sie zählen könne. Das halte ich nicht für eine erst-rangige
        Aufgabe der Kulturpolitik. Da hatte ich nach der Juli-Rede
        des Bundesaußenministers zur auswärtigen Kulturpolitik
        anderes erhofft: „Die deutschen Schulen“, so Fischer sein-
        erzeit, „sind weit mehr als die Basislager der deutschen
        Exportwirtschaft. Wir müssen sie in die Lage versetzen,
        noch mehr als bisher als Ort der Begegnung zweier Kultu-
        ren in die Gastländer auszustrahlen.“ Seine bemerkens-
        werte Schlussfolgerung daraus: „Deshalb brauchen wir
        auch hier mehr Geld.“ Im Bericht heißt es jetzt allerdings:
        Die Auslandsschulen bleiben von den Sparmaßnahmen
        der Bundesregierung nicht ausgenommen.
        Die Kürzungen ziehen sich im Übrigen durch nahezu
        alle anderen Einzelposten in Sachen Auslandskultur –
        eine Folge des vorgegebenen Gesamteinsparvolumens
        von 130 Millionen DM. Nun stehe ich zwar auch auf dem
        Standpunkt, dass nicht allein viel Geld den vorgegebenen
        Zielen zur Verwirklichung hilft. Gerade deshalb habe ich
        nach den Inhalten gefragt. Doch wenn im konkreten Fall
        eine Kulturveranstaltung eines afrikanischen Landes in
        Deutschland nicht stattfindet, weil sie nicht gefördert wer-
        den kann, bleibt der hehre Anspruch des Dialogs doch
        wohl aus Geldgründen auf der Strecke. Ich erinnere da al-
        lerdings noch einmal an die erwähnte Rede des vorgestern
        hier so gescholtenen Außenministers: „Weder für die in-
        nere Entwicklung Deutschlands noch für die elementaren
        Ziele der deutschen Außenpolitik ist die auswärtige Kul-
        turpolitik eine Art Sahnehaube, auf die man in Zeiten des
        Sparens ohne Not verzichten kann. Wer solche Illusionen
        pflegt, der verkennt die Realitäten der Welt von heute und
        legt zugleich die Hand an den Ast, auf dem wir alle sit-
        zen.“ Wo er Recht hat, hat er Recht.
        Dr. Christoph Zöpel (SPD): Der Bericht der Bundes-
        regierung zur Auswärtigen Kulturpolitik für das Jahr 1999
        ist dem Hause im vergangenen Dezember zugeleitet wor-
        den. Ich möchte an dieser Stelle den Schwerpunkt auf
        zwei Themen legen, die seitdem und in der Zukunft be-
        sondere Herausforderungen an die Auswärtige Kulturpo-
        litik stellen. Dies sind der „Dialog der Kulturen“ sowie
        „Bildung und Hochschulen“.
        Zum Bezugsjahr 1999 nur so viel: Das Jahr stand im
        Zeichen der in der Koalitionsvereinbarung beschlossenen
        Neuausrichtung und Anpassung der Auswärtigen Kultur-
        politik und der Kürzungen im AKP-Haushalt durch das
        von der Bundesregierung beschlossene Sparprogramm.
        Die Neuausrichtung führte nach vielfältigen Beratungen
        mit den beteiligten Ressorts der Bundesregierung, den
        AKP-Mittlerorganisationen und den Ländern sowie Dis-
        kussionen im Ausschuss für Kultur und Medien dieses
        Hauses Mitte 2000 zur Vorstellung der „Konzeption
        2000“. Das Sparprogramm fordert von uns ein Einspar-
        volumen von 130 Millionen DM zwischen 2000 und
        2003. Dies bedeutet Einschnitte in gewachsene Struktu-
        ren, die möglichst sinnvoll erfolgen und aufgefangen
        werden müssen. Die in der vergangenen Woche auch ju-
        ristisch vollzogene Fusion von Goethe-Institut und Inter
        Nationes ist ein aktueller Schritt in die richtige Richtung.
        Nun zum Dialog der Kulturen. Die Rahmenbedingun-
        gen sind bekannt: Die Globalisierung lässt Menschen mit
        verschiedenen politischen, ethischen und religiösen Vor-
        stellungen einander immer näherrücken, über die elektro-
        nischen Medien werden Inhalte und Aussagen in Minu-
        tenschnelle um den Globus transportiert.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14087
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Kein Zweifel: Die Globalisierung enthält auch ein Po-
        tenzial an Konfliktstoffen. Daher muss sie politisch be-
        gleitet werden. Die Vereinten Nationen haben auf irani-
        sche Initiative und mit Unterstützung der EU das Jahr
        2001 zum Jahr des Dialoges der Kulturen ausgerufen, und
        zwar des Dialoges zwischen und innerhalb von Kulturen.
        Die Internationale Parlamentarier Union (IPU) hat ihre
        letzte Konferenz in Amman unter anderem diesem Thema
        gewidmet. Bundespräsident Rau hat von seinem Amts-
        vorgänger die Schirmherrschaft über eine entsprechende
        Initiative zur „Zukunft der Beziehungen zwischen westli-
        chen und islamischen Gesellschaften“ übernommen.
        Die Auswärtige Kulturpolitik ist das Instrument
        schlechthin, um diesen Dialog zu fördern. Mit ihren viel-
        fältigen Austauschprogrammen für Schüler, Jugendliche,
        Studierende und Akademiker, mit Auslandsschulen wirkt
        sie langfristig und nachhaltig in andere Gesellschaften
        hinein und öffnet sich zugleich der interkulturellen
        Zusammenarbeit. Mit der Förderung der deutschen Spra-
        che vermittelt sie den wichtigsten Schlüssel zum Ver-
        ständnis unserer Kultur. Sie wirkt in zwei Richtungen,
        sorgt für Verbreitung eines zeitgemäßen Deutschlandbil-
        des, aber auch für größere Vertrautheit Deutscher mit an-
        deren Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten.
        Auswärtige Kulturpolitik muss zu Hause beginnen –
        Dies gilt auch für den Dialog der Kulturen. Wenn es nicht
        gelingt, das Vorhandensein verschiedener kultureller Prä-
        gungen in Deutschland friedvoll auszuhalten und zu nut-
        zen, anderen ihre Andersartigkeit ohne Furcht, Neid oder
        Groll zuzugestehen, wie sollten wir dann am Dialog der
        Kulturen im weltweiten Maßstab erfolgreich teilnehmen?
        Für die Auswärtige Kulturpolitik ist dies ein wesentlicher
        Punkt: Die besten Austauschprogramme und ausgeklügelte
        Werbung für den Hochschulstandort Deutschland werden in
        ihrer Wirkung durch fremdenfeindliche Ausschreitungen
        empfindlich getroffen. Wir müssen alles unternehmen, um
        im Ausland wieder als ein offenes und gastfreundliches Land
        wahrgenommen zu werden und als ein Land, das die Würde
        des Menschen bewusst zu einem Eckstein seiner Verfassung
        erkoren hat. Was wir im Guten und im Schlechten den Aus-
        ländern in Deutschland antun, tun wir uns selbst an.
        Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt: Bildung
        und Hochschulen. Die Gesellschaften von morgen wer-
        den in immer stärkerer Weise Informations- und Wissens-
        gesellschaften sein. Globalisierung bedeutet für die In-
        dustrieländer mehr Konkurrenz, gerade auch auf den Ge-
        bieten von Wissen und Bildung. Wirtschaftlicher Erfolg
        hat die langfristige Sicherung von Know-how zu seiner
        Bedingung und Voraussetzung. Deutschland als stark ex-
        portorientiertes Land ist darauf angewiesen, in diesem
        Wettbewerb zu bestehen. Die Einführung der Green-
        Card-Regelung war nur eine erste Reaktion auf den Be-
        darf an qualifizierten Fachkräften. Die Berechnungen der
        Demographen zeigen, dass dieser Bedarf mittel- und lang-
        fristig noch steigen wird. Es ist daher unsere Aufgabe, im
        Inland für Rahmenbedingungen zu sorgen, die Deutsch-
        land aus der Perspektive des Auslands attraktiv machen,
        die besten Köpfe hier halten und unabhängig von ihrer
        Herkunft hierher bringen. Auch abgesehen von dem eher
        wirtschaftlichen Aspekt steht es uns nicht schlecht an, die
        kulturelle Vielfalt in Deutschland zu fördern. Warum hal-
        ten sich von weltweit circa 1,6 Millionen Auslandsstu-
        denten nur 7 Prozent in Deutschland, aber 30 Prozent in
        den USA auf?
        Neben Schwierigkeiten bei dem Erlernen der deutschen
        Sprache sind es mangelndes Interesse an einem rein deut-
        schen Abschluss und nicht zuletzt die Sorgen wegen mög-
        licher Bedrohung durch gewaltbereite Extremisten, die
        weltweit Resonanz finden und negativ wirken. Bei der In-
        ternationalisierung von Studiengängen, der Einführung von
        Bachelor- und Masterabschlüssen wurde bereits vieles er-
        reicht, auch in der Frage der Aufenthaltsberechti-gung der-
        jenigen Ausländer und Ausländerinnen, die an einer deut-
        schen Hochschule einen Abschluss erlangt haben. Diese
        Anfänge müssen zu einer in sich und im Verhältnis zu un-
        seren Interessen konsequenten Strategie ausgebaut werden.
        In den genannten Punkten sind auch die Länder gefor-
        dert. Bund und Länder müssen ihre Anstrengungen weiter
        gemeinsam unternehmen und eng abstimmen. Die vom
        Auswärtigen Amt koordinierte Auswärtige Kulturpolitik
        ergreift ihrerseits die notwendigen Maßnahmen, um im
        Ausland für den Hochschulstandort Deutschland zu wer-
        ben und mit dem Instrumentarium der Mittlerorganisatio-
        nen weitere Verbesserungen zu bewirken.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        – Entwurf: Zweites Gesetz zur Änderung des Künst-
        lersozialversicherungsgesetzes und anderer Ge-
        setze
        – Antrag: Reform der Künstlersozialversicherung
        gerecht gestalten
        – Antrag: Für eine grundlegende Reform der Künst-
        lersozialversicherung
        (Tagesordnungspunkt 20 a und b; Zusatztagesord-
        nungspunkt 7)
        Angelika Krüger-Leißner (SPD): Für selbstständige
        Künstler und Publizisten ist die Künstlersozialversiche-
        rung seit ihrer Einführung ein unverzichtbarer Bestand-
        teil ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz gewor-
        den. Auch von den abgabepflichtigen Verwertern wird
        die Künstlersozialversicherung akzeptiert. Diese Errun-
        genschaft, die auf eine SPD-geführte Bundesregierung
        unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zurückgeht, soll
        erhalten und den neuen Rahmenbedingungen angepasst
        werden.
        Die vorgesehenen Neuregelungen bringen notwendige
        Weiterentwicklungen, ohne die Künstlersozialversiche-
        rung in ihrer Substanz zu ändern: Der Zugang älterer
        Künstler und Publizisten zur günstigen Krankenversiche-
        rung der Rentner und Rentnerinnen wird erleichtert. Die
        Voraussetzungen für den Versicherungsschutz werden
        den bei selbstständigen Künstlern und Publizisten häufi-
        gen Einkommensschwankungen flexibler als bisher ange-
        passt. Das Verwaltungsverfahren wird im Interesse aller
        Beteiligten vereinfacht.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114088
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Der Zugang zur Künstlersozialversicherung wird teil-
        weise modifiziert, um einem eventuellen Missbrauch zu
        begegnen. Dies liegt im Interesse aller.
        So verkürzen wir die „Schonfrist“ für Berufsanfänger,
        wobei die Versicherungspflicht auch beim Unterschreiten
        der Geringfügigkeitsgrenze bestehen bleibt, von fünf auf
        drei Jahre, verlängern aber die Frist um die Zeiträume,
        wie Mutterschafts- und Erziehungsurlaub, Wehr- und Zi-
        vildienst oder Arbeitnehmertätigkeiten. Dagegen werden
        wir für Studenten, die nebenher eine künstlerische oder
        publizistische Tätigkeit ausüben, die Mitgliedschaft in der
        günstigen Krankenversicherung nach dem KSVG nicht
        ermöglichen. Das Gleiche gilt auch für über 65-Jährige,
        die sich erstmalig über eine künstlerische oder publizisti-
        sche Tätigkeit den Zugang zum Krankenversicherungs-
        schutz verschaffen wollen.
        Diese Veränderungen werden auch von den beteiligten
        Verbänden begrüßt, da sie den Versicherungsschutz für
        Künstler und Publizisten wesentlich verbessern.
        Selbstständige Künstler und Publizisten befinden sich
        in einer Situation, die der von Arbeitnehmern vergleichbar
        ist. Sie sind auf die Mitwirkung von Vermarktern oder Ver-
        wertern angewiesen, die ihre Werke dem Endverbraucher
        zugänglich machen. Der Gesetzgeber hat sie deshalb in der
        Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung pflichtversi-
        chert. Nach dem KSVG versicherte selbstständige Künst-
        ler und Publizisten haben wie Arbeitnehmer nur den hal-
        ben Beitrag zu zahlen. Der Quasi-Arbeitgeberbeitrag wird
        von den Verwertern aufgebracht und durch den Bundeszu-
        schuss ergänzt, soweit das Einkommen auf Selbstver-
        marktung beruht, also ohne Einschaltung von Verwertern.
        Bei der Novellierung des Künstlersozialversicherungsge-
        setzes geht es deshalb nicht um tiefgreifende strukturelle
        Änderungen, sondern vor allem um Anpassungen an ver-
        änderte Verhältnisse, Klärung von Zweifelsfragen sowie
        Verbesserungen des Verwaltungsverfahrens.
        Seit der letzten Novellierung im Jahr 1988 hat sich die
        Zahl der Versicherten mit rund 107 000 mehr als verdrei-
        facht. Die Aufwendungen des Bundes sind von 38,7 Mil-
        liarden DM in 1988 auf 166,5 Milliarden DM gemäß dem
        Entwurf für den Bundeshaushalt 2001 gestiegen. Dies ist
        ein Beweis, dass sich der Bund seiner Verantwortung für
        die Künstlersozialkasse bewusst ist.
        Der Erfassung der abgabepflichtigen Unternehmer,
        sprich der Verwerter, kommt eine besondere Bedeutung
        zu, da sie mit der Künstlersozialabgabe den Teil der Aus-
        gaben der KSK aufbringen, der nicht durch die Beitrags-
        anteile der Versicherten und den Bundeszuschuss gedeckt
        ist. Seit 1989 hat sich die Zahl der durch die KSK erfass-
        ten Verwerter mehr als verdoppelt. Sie liegt heute bei
        35 373. Allein in den letzten fünf Jahren sind 10 000 Ver-
        werter neu hinzugekommen.
        Auch wenn die meisten und wichtigsten der in § 24 Abs.
        1 Satz 1 KSVG aufgeführten typischen Verwerter von der
        KSK erfasst sind, so bereitet die Auffindung der Unterneh-
        men, die Eigenwerbung betreiben oder die unter die Gene-
        ralklausel des § 24 Abs. 2 KSVG fallen, noch einige
        Schwierigkeiten; denn weder an ihrem Namen noch an
        ihrem Geschäftsgegenstand ist zu erkennen, dass eine Ab-
        gabepflicht besteht. Die lückenlose Erfassung der abgabe-
        pflichtigen Unternehmen ist weiterhin Ziel der KSK. Dies
        gilt ebenso für die ausländischen Verwerter. Sofern diese im
        Inland als Verwerter tätig werden, sind sie ebenso abgabe-
        pflichtig wie entsprechende inländische Unternehmen.
        Durch die Bildung von Ausgleichsvereinigungen kann
        die Abgabepflicht einer Vielzahl gleichartiger Unterneh-
        men verwaltungsökonomisch geregelt und eine Belastung
        lediglich einzelner Unternehmer durch die Künstlersozi-
        alabgabe vermieden werden. Die Absenkung des Bundes-
        zuschusses durch das Haushaltssanierungsgesetz vom
        22. Dezember 1999 von 25 auf 20 Prozent der Ausgaben
        der Künstlersozialkasse (KSK) und die Einführung eines
        einheitlichen Abgabesatzes für die Künstlersozialabgabe
        war eine sachliche Entscheidung aufgrund des vermin-
        derten Selbstvermarktungsanteils und keine reine Spar-
        maßnahme im Rahmen der Haushaltssanierung.
        Der Bundeszuschuss ist insofern flexibel, als er nicht
        aus einem festen Betrag besteht, sondern mit den Bei-
        tragsausgaben der KSK für die Versicherten steigt.
        Eine Rückkehr zur alten Zuschusshöhe, wie sie meh-
        rere Verbände fordern, ist auch aus Haushaltsgründen ab-
        zulehnen.
        Ebenso ist mit dem Vorschlag der F.D.P. zu verfahren,
        einen festen Abgabesatz von 3,3 Prozent einzuführen. Die-
        ser wiederum würde einen Bundeszuschuss von circa
        25 Prozent bedingen und ihn mittelfristig auf knapp
        30 Prozent ansteigen lassen. Eine solche Defizithaftung
        kann wegen der Haushaltssituation des Bundes nicht ein-
        geführt werden. Auch die so genannte Korridorlösung mit
        einer Obergrenze von 25 Prozent und einer Untergrenze
        von 17 Prozent, die auf einen Vorschlag des Deutschen
        Kulturrates basiert, ist für den Bund nicht umsetzbar.
        Weiterhin schlägt die F.D.P. vor – ich zitiere –:
        Der Bundeszuschuss darf nicht unter die Höhe sin-
        ken, die den vom Bundesverfassungsgericht in der
        Entscheidung vom 8. April 1987 dargestellten An-
        forderungen entspricht. In einem solchen Fall wird
        der Künstlersozialabgabesatz gesenkt.
        Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
        dung aber keine Untergrenze für den Bundeszuschuss
        festgelegt. Es hat lediglich darauf aufmerksam gemacht,
        dass der Gesetzgeber bei der Festlegung des Bundeszu-
        schusses den Selbstvermarktungsanteil berücksichtigen
        muss. Eine erneute Überprüfung des Selbstvermarktungs-
        anteils wird aufgrund eines Beschlusses des Rechnungs-
        prüfungsausschusses des Deutschen Bundestages voraus-
        sichtlich im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein.
        Dennoch möchte ich möglichen Befürchtungen nach wei-
        terer Senkung des Bundeszuschusses gleich entgegentreten.
        Der Bundeszuschuss in Höhe von 20 Prozent der Ausgaben
        der Künstlersozialkasse sollte als verträgliche Größe gehal-
        ten werden. Dafür werde ich mich einsetzen. Schon nach ei-
        nem Jahr hat sich gezeigt, dass die Aufhebung der Sparten-
        trennung nach den Bereichen Wort, Musik, bildende und
        darstellende Kunst viele Vorteile bringt, auch wenn ich aner-
        kennen muss, dass der Musikbereich besonders belastet
        wird. Dennoch ist es ein notwendiger Schritt gewesen, da
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14089
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        sich die heutige Kultur- und Medienlandschaft nicht mehr
        deutlich voneinander abgrenzen lässt. Auch verfassungs-
        rechtliche Bedenken wurden geprüft und verworfen.
        Letztendlich hat sich die Höhe des einheitlichen Abga-
        besatzes von 4 Prozent im Jahre 2000 auf 3,9 Prozent im
        Jahre für die Verwerter positiv verändert.
        Wir werden in den nächsten Wochen noch genügend
        Zeit haben, über Details der Novellierungen auch mit den
        Betroffenenverbänden zu diskutieren. Für mich zeigt sich
        schon heute, dass wir mit dieser Novellierung das KSVG
        auf die veränderten Bedingungen ausgerichtet haben, die
        zu Verbesserungen der sozialen Absicherung der Künstler
        und Publizisten führen wird und das ist zu begrüßen.
        Andreas Storm (CDU/CSU): Die Künstlersozialver-
        sicherung wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Sie ist eine
        wichtige sozialpolitische Errungenschaft, die in den ver-
        gangenen beiden Jahrzehnten einen großen Beitrag zur
        Verbesserung der sozialen Absicherung unserer Künstle-
        rinnen und Künstler geleistet hat. Doch auch an der
        Künstlersozialversicherung geht die Zeit nicht spurlos
        vorüber, Reformen sind nötig geworden.
        Meine Damen und Herren aus der Regierungskoali-
        tion, in Ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998
        steht zu lesen: „Die neue Bundesregierung wird zur Ab-
        sicherung der Künstlerinnen und Künstler die Künstler-
        sozialversicherung verbessern.“ Über zwei Jahre sind
        seitdem vergangen, von Verbesserungen keine Spur. Im
        Gegenteil, die erste Maßnahme, die Sie nach dem Regie-
        rungswechsel im Bereich der Künstlersozialversicherung
        ergriffen haben, war eine Sparmaßnahme. Mit dem Haus-
        haltssanierungsgesetz vom Dezember 1999 haben Sie den
        Bundeszuschuss, der bislang 25 Prozent der Ausgaben der
        Künstlersozialkasse abgedeckt hat, auf 20 Prozent
        gesenkt. Damit haben Sie die Künstlersozialversicherung
        in eine prekäre finanzielle Situation gebracht, und Sie ha-
        ben bisher keinerlei Anstalten gemacht, diese Sparmaß-
        nahme im Zuge der Novellierung des Künstlersozial-
        versicherungsgesetzes wieder rückgängig zu machen.
        Der Bund zieht sich also teilweise aus seiner sozialpo-
        litischen Verantwortung für die Künstler zurück und spart
        damit etwa 40 Millionen Mark im Jahr. Die müssen dafür
        von den Verwertern aufgebracht werden, und das heißt: Es
        wird teurer, Künstler zu engagieren, und wo Veranstaltun-
        gen nicht ausfallen, werden die Honorare gekürzt werden
        müssen. Was das für die soziale Sicherung der Künstlerin-
        nen und Künstler bedeutet, will ich Ihnen kurz erläutern.
        Während das durchschnittliche Einkommen der Arbei-
        ter und Angestellten im Jahre 2000 53 513 DM betrug, mel-
        deten die in der Künstlersozialversicherung Versicherten
        einen Durchschnittsverdienst von gerade mal 21 852 DM,
        also von nur rund 40 Prozent dessen, was Arbeiter und An-
        gestellte verdienen. Entsprechend niedrig sind aber auch
        die Rentenansprüche der Künstlerinnen und Künstler. 40
        Prozent des Durchschnittsverdienstes – das macht deutlich,
        dass hier ein ganz besonderer Ausgleichsbedarf besteht und
        dass der Bund eine ganz besondere sozialpolitische Verant-
        wortung für die Künstler hat. Nicht zuletzt durch die anste-
        hende Rentenreform besteht eine starke Verpflichtung des
        Bundes, die soziale Sicherung der Künstler finanziell zu
        unterstützen, um Altersarmut zu vermeiden. Die Absichten
        der rot-grünen Koalition zur Förderung der Künstlersozial-
        versicherung sind jedoch weder ein kulturpolitischer Fort-
        schritt noch eine sozialpolitische Tat.
        Wenn wir für die Künstler aufgrund ihres extrem nied-
        rigen Einkommens eine besondere sozialpolitische
        Schutzwürdigkeit feststellen, dann muss sich diese auch
        in der Höhe des Bundeszuschusses widerspiegeln. Wenn
        der Bund schon bei Arbeitern und Angestellten 20 Prozent
        der sozialen Sicherung durch Steuermittel finanziert,
        dann müsste es bei den Künstlern doch wohl eher mehr als
        weniger sein.
        Wir begrüßen ausdrücklich die Leistungsverbesserun-
        gen, die der Regierungsentwurf für die Versicherten vor-
        sieht. Sie sind ein Schritt in die richtige Richtung, weil sie
        dazu beitragen können, dass die soziale Absicherung be-
        stimmter Problemgruppen unter den Künstlern verbessert
        wird. Aber Leistungsausweitungen müssen auch finan-
        ziert werden. Und da haben Sie genau das Gegenteil von
        dem vor, was sozialpolitisch geboten wäre. Mit nicht
        nachvollziehbaren Einsparungen beim Bundeszuschuss
        riskieren Sie, dass die Künstlersozialversicherung vor die
        Wand gefahren wird. Durch Ihre Sparsamkeit am falschen
        Platze werden die Leistungsverbesserungen für die Versi-
        cherten wieder zunichte gemacht.
        Als Begründung für die Einsparungen zulasten der
        Künstlersozialversicherung führt die Bundesregierung
        an, dass der Selbstvermarktungsanteil mittlerweile we-
        niger als 50 Prozent betrage und der Bundeszuschuss da-
        her auch weniger als 50 Prozent des Arbeitgeberanteils
        decken solle. Verlässliche Zahlen darüber gibt es aller-
        dings nicht, wie Sie selbst zugegeben haben. Denn das
        Ifo-Gutachten von 1995 bezeichnen Sie selbst als über-
        holt, obwohl Sie die Absenkung des Bundeszuschusses
        auch mit ebendiesem Gutachten begründen. Die Ergeb-
        nisse einer Überprüfung des Selbstvermarktungsanteils
        werden nach Angaben der Bundesregierung erst im Laufe
        des Jahres 2001 vorliegen. Mit anderen Worten: Sie sto-
        chern derzeit im Nebel und begründen die Einsparungen
        mit Daten, die gar nicht existieren.
        Eine sachliche Begründung für die Absenkung des
        Bundeszuschusses haben Sie also nicht, es wird vielmehr
        gespart um des Sparens willen. Damit sind Sie im Begriff,
        die in zwei Jahrzehnten bewährte Künstlersozialversi-
        cherung zu ruinieren! Auch die Zusicherung der Kollegin
        Ulla Schmidt, dass der Bundeszuschuss in den nächsten
        fünf Jahren nicht unter die 20-Prozent-Marke sinken wird,
        ist keinesfalls ausreichend.
        Der Bundeszuschuss muss vielmehr ein angemessener
        Ausdruck der kultur- und sozialpolitischen Verantwortung
        sein, die der Bund für die Künstlerinnen und Künstler hat.
        Wir fordern Sie daher auf, den Bundeszuschuss künftig
        unabhängig vom Selbstvermarktungsanteil festzusetzen.
        Der Streit um die aktuelle Höhe des Selbstvermarktungs-
        anteils zeigt doch, dass er als Maßstab für die Festsetzung
        des Bundeszuschusses untauglich ist, weil er tagespoliti-
        schen Entscheidungen unterworfen ist und damit Unsi-
        cherheit bei Künstlern und Verwertern verursacht.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114090
        (C)
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        Wir sprechen uns hingegen für ein Modell aus, das der
        Deutsche Kulturrat vor einigen Monaten vorgeschlagen
        hat. Sein Kern ist ein fester einheitlicher Abgabesatz von
        3,3 Prozent für die Verwerter und ein Korridor für den
        Bundeszuschuss, der zwischen 17 und 25 Prozent liegt.
        Der Bundeszuschuss soll wie bisher die Einnahmen aus
        der Künstlersozialabgabe auf 50 Prozent der Ausgaben
        der Künstlersozialkasse auffüllen. Änderungen im Fi-
        nanzbedarf der Künstlersozialkasse würden nach diesem
        Modell grundsätzlich zunächst eine Anpassung des Bun-
        deszuschusses nach sich ziehen. Damit könnten die teil-
        weise extremen Schwankungen in der Höhe der Künstler-
        sozialabgabe, die in der Vergangenheit immer wieder zu
        Planungsunsicherheiten bei den Verwertern geführt ha-
        ben, vermieden werden.
        Erst wenn der flexible Bundeszuschuss die Grenzen
        des Korridors erreicht, wird auch der Abgabesatz der Ver-
        werter durch Anhebung oder Absenkung angepasst. Da-
        mit könnte eine gleichmäßige und ausgewogene Belas-
        tung der Verwerter einerseits und des Bundes
        andererseits erreicht werden, die sich objektiv am Fi-
        nanzbedarf der Künstlersozialversicherung orientiert und
        das streitanfällige Kriterium des Selbstvermarktungsan-
        teils entbehrlich macht.
        Zugleich würde der Bund durch dieses Korridormodell
        dazu angehalten werden, sich intensiver als bisher um die
        lückenlose Erfassung der abgabepflichtigen Verwerter zu
        kümmern und die Trittbrettfahrer in die Pflicht zu neh-
        men. Gelingt ihm dies, kann der Bundeszuschuss unmit-
        telbar verringert werden, weil das Aufkommen aus der
        Künstlersozialabgabe bei gleichbleibendem Abgabesatz
        ansteigt.
        Wir halten diesen Vorschlag für einen fairen Ausgleich
        der Interessen, ohne den die Reform der Künstlersozial-
        versicherung mit Sicherheit fehlschlagen wird. Denn
        wenn es nicht gelingt, die Finanzierung der Künstlersozi-
        alversicherung wieder auf eine solide Grundlage zu stel-
        len, wird das System insgesamt existenziell gefährdet.
        Deshalb muss noch in diesem Jahr eine befriedigende Lö-
        sung des Einnahmenproblems gefunden werden. Wir sind
        dazu bereit.
        Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Seit 1983 können sich Künstler aller Berufsgattungen in
        der Künstlersozialversicherung gesetzlich versichern las-
        sen. Diese Kasse ist bis heute eine hervorragende Ein-
        richtung und in Europa einzigartig.
        Die Künstlersozialversicherung hat bei den Künstlern
        einen guten Ruf, denn sie bietet Ihnen eine gute Absiche-
        rung. Sie sind gesetzlich kranken- und rentenversichert
        und müssen die Sozialabgaben arbeitnehmergleich nur zu
        50 Prozent zahlen.
        Weil sich diese Regelung bewährt hat, ist es uns nach
        den schwierigen Vorgaben durch das Haushaltssanie-
        rungsgesetz bei der notwendigen Reform um eine mög-
        lichst große Beibehaltung des Status quo gegangen. Denn
        gerade für uns Kulturpolitiker sind die Künstler in ihrer
        Arbeit und ihren Werken so wichtig, dass wir trotz aller
        Einsparnotwendigkeiten, die ein echter Sparhaushalt er-
        forderlich macht, bei Ihnen nichts kürzen wollten. Die Re-
        form der Künstlersozialversicherung ist aber notwendig
        geworden, weil der Selbstvermarktungsanteil der Künst-
        ler gesunken ist und damit der Bundeszuschuss nicht auf
        dem bisherigen Niveau zu halten war.
        Wir haben aber die Leistungen der KSK optimiert und
        sie verwaltungstechnisch an den Bund angegliedert. Ins-
        gesamt ist die Stellung der Versicherten sogar gestärkt
        worden. Wir mussten allerdings die Verwerter stärker in
        die Pflicht nehmen. Es waren nicht immer leichte Ver-
        handlungen mit den Haushalts- und Finanzpolitikern,
        aber es ist uns gelungen, den Beitragssatz auf 20 Prozent
        festzuschreiben und so eine noch stärkere Absenkung des
        Bundesanteils zu verhindern. Unser politisches Ziel ist die
        Beitragsstabilisierung mindestens bis zum Jahr 2005, da-
        mit die Künstlersozialversicherung und die in ihr Versi-
        cherten Planungssicherheit haben. Die Vereinheitlichung
        des Verwerteranteils auf 4 Prozent ist angesichts der pro-
        blematischen Situation des Verwerteranteils angemessen
        und entspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz.
        Deutlich sind die Verbesserungen für die Versicherten
        in folgenden Bereichen: Wir haben durchgesetzt, dass äl-
        tere Künstler und Publizisten jetzt einen erleichterten Zu-
        gang zur Krankenversicherung der Rentner erhalten, auch
        wenn sie schon vor Entstehung der Künstlersozialversi-
        cherung tätig waren. Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes ist
        es Künstlern und Publizisten möglich, innerhalb von
        sechs Jahren zweimal die Geringfügigkeitsgrenze zu un-
        terschreiten, ohne dabei den Versicherungsschutz zu ver-
        lieren. Das ist eine echte Erleichterung und vor allem ein
        Zugeständnis an die langjährigen Mitglieder der KSK. Es
        wird damit flexibel auf die Situation der Künstler reagiert;
        die mit schwankenden Einkommensverhältnissen rech-
        nen müssen. Obendrein wird verhindert, dass es zu Mehr-
        fachprüfungen kommen muss.
        Es freut mich besonders, dass der Deutsche Kulturrat
        in seiner Stellungnahme um Kabinettsbeschluss am
        14. November 2000 unsere Reform ausdrücklich begrüßt
        hat. Ihr Geschäftsführer Olaf Zimmermann schreibt:
        Den Deutschen Kulturrat freut, dass mit dem Kabi-
        nettsbeschluss zur Reform des Künstlersozialversi-
        cherungsgesetzes die bereits angekündigten Verbes-
        serungen für die Versicherten „in trockenen
        Tüchern“ sind.
        Einziger Kritikpunkt war die Erhöhung des Verwerteran-
        teils. Außerdem werden wir uns außerhalb des Gesetzes
        dafür einsetzen, dass auch wirklich alle Verwerter erfasst
        werden. Ich weiß, dass diese Aufgabe für die Künstlersozi-
        alkasse nicht einfach ist, aber ich habe Vertrauen, dass sie
        das leisten wird. Die Überführung der Künstlersozialkasse
        in die Bundesverwaltung halte ich angesichts der anstehen-
        den Aufgaben ebenso für angemessen.
        Ich denke, wir haben einen für alle Beteiligtenannehm-
        baren Reformweg gefunden. Die Künstlersozialkasse sollte
        auch angesichts knapper Kassen leistungsfähig bleiben und
        in einigen Bereichen verbessert werden. Das war unser
        pragmatisches Reformziel und das haben wir erreicht.
        Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Der vorliegende
        Entwurf der Bundesregierung für die Novellierung des
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14091
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Künstlersozialversicherungsgesetzes wird zu einer Ato-
        misierung der Künstlersozialversicherung führen. Denn
        die auffällige Erhöhung des Einnahmesatzes für 2001 im
        Vergleich zu den beiden Vorjahren lässt vermuten, dass
        die Regierung aufgrund der beabsichtigten Novellierung
        von einer enormen Zunahme der Beiträge der Verwerter
        ausgeht. Sollten die Verwerter dagegen Klage vor dem eu-
        ropäischen Gerichtshof erheben und sollte das Gericht ei-
        ner solchen Klage stattgeben, wird dies letztlich zulasten
        der Künstler gehen. Denn bei einem Durchschnittsein-
        kommen von circa 21 000,– DM werden die Künstler
        keine Erhöhung ihrer Eigenbeträge verkraften können.
        Zur Sicherung und Fortentwicklung kulturellen Le-
        bens ist die soziale Absicherung der Künstler und Publi-
        zisten unabdingbar. Aber auch die Kulturwirtschaft
        benötigt verlässliche Kalkulationsgrundlagen und muss
        vor nicht mehr akzeptablen Belastungen durch die Künst-
        lersozialabgaben geschützt werden. Gerade die vergange-
        nen zehn Jahre haben zu einem überproportionalen An-
        wachsen des Versichertenkreises geführt. Daher ist es bei
        einer Reform von entscheidender Bedeutung, dass beide,
        Versicherte und Verwerter, von Verbesserungen des
        Künstlersozialversicherungsgesetzes gleichermaßen an-
        gemessen partizipieren. Obwohl beide betroffenen Grup-
        pen, die Künstler und die Verwerter, sich durch Vermitt-
        lung des Kulturrats auf gemeinsame Reformvorschläge
        geeinigt hatten, wurden diese von der Bundesregierung
        nicht aufgegriffen.
        Die F.D.P. wird sich dafür einsetzen, den Bestand der
        Künstlersozialkasse dauerhaft zu sichern. Wir legen
        hierzu Vorschläge für eine strukturelle Reform der Künst-
        lersozialversicherung vor:
        Erstens muss es nach Auffassung der F.D.P. darum gehen,
        den versicherten Personenkreis zu überprüfen und gegebe-
        nenfalls einzuschränken, damit die wirklich Anspruchsbe-
        rechtigten, nämlich alle freiberuflichen Künstler und Publi-
        zisten, dauerhaft sozial abgesichert werden können.
        Zweitens sind bisher nicht zum Kreis der abgabepflich-
        tigen Verwerter gehörende Unternehmen zu erfassen und
        die Abgabepflicht auf ausländische Verwerter, die mit in-
        ländischen Verwertern zusammenarbeiten, auszuweiten.
        Mithilfe der Verbände der Kultur- und Medienwirtschaft
        müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Kreis der
        Abgabepflichtigen lückenlos zu erfassen. Das bedeutet al-
        lerdings auch, dass diejenigen Organisationen, die wegen
        ihrer gemeinnützigen Struktur keinen wirtschaftlichen Un-
        ternehmenszweck verfolgen, wie zum Beispiel Laienorga-
        nisationen, keine Abgaben zu entrichten haben.
        Drittens ist schließlich die Höhe des „Bundeszuschus-
        ses“ flexibel zu gestalten. Mittels eines gesetzlichen Au-
        tomatismus muss der Bundeszuschuss bedarfsorientiert
        gewährt werden.
        Heinrich Fink (PDS): Eine dreiminütige Rede erlaubt
        keine großen Präliminarien. Eines möchte ich aber doch
        prinzipiell voranstellen: Die Künstlersozialversicherung
        ist eine soziale Errungenschaft, die nicht – auch nicht par-
        tiell – infrage gestellt oder abgebaut werden darf, sondern
        sie muss stabilisiert und ausgebaut werden. Dem ent-
        spricht unser Antrag. Er ist im Ergebnis einer umfassen-
        den Anhörung in unserer Fraktion zu diesem Thema
        entstanden, an der Künstlerinnen und Künstler und Publi-
        zistinnen und Publizisten aller Sparten besonders aus Ost-
        deutschland, Vertreter ihrer einschlägigen Berufsver-
        bände, der IG-Medien und des Deutschen Kulturrates
        sowie unabhängige Wissenschaftler und Wissenschaftle-
        rinnen teilgenommen haben.
        In der Anhörung wurde eines ganz deutlich: So wie die
        Kultur-Enquete der 70er-Jahre die Notwendigkeit einer
        Künstlersozialversicherung augenfällig gemacht hat, so
        ist eine aktuelle Untersuchung gleichen Ausmaßes die Vo-
        raussetzung für einen durchgreifenden und möglichst
        zielgenauen Ausbau des Gesetzes. Die Daten der Künst-
        lersozialkasse können – auch wenn sie in einen „Bericht
        der Bundesregierung über die soziale Lage der Künstle-
        rinnen und Künstler“ umgegossen werden – eine solche
        umfassende Kultur-Enquete nicht ersetzen. Das Gleiche
        gilt für die beabsichtigte Untersuchung zum Selbstver-
        marktungsanteil. Ich schlage vor, diese Studie fallen zu
        lassen und sie in die umfassende Enquete einzubeziehen,
        die die Bundesregierung nun unverzüglich in Auftrag ge-
        ben sollte.
        Diese fehlende Datenbasis mag der Bundesregierung
        ja durchaus gelegen kommen. Sie kann damit sogar die
        Begrenztheit ihrer „Reform“ rechtfertigen. Etwa nach
        dem Motto: Wenn keine nachhaltigen Veränderungen in
        der sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler und Pu-
        blizistinnen und Publizisten bekannt sind, bedarf es auch
        keiner grundlegenden Reform der Künstlersozialversi-
        cherung. Allerdings konnten auch wir als eine Partei des
        Realismus an dieser fehlenden Datenbasis zur tatsächli-
        chen sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler und
        Publizistinnen und Publizisten nicht vorbeisehen. Wir ha-
        ben unseren Forderungskatalog deshalb unterteilt.
        In einem ersten Teil stellen wir Forderungen auf, die
        wir noch im Rahmen des eingeleiteten Gesetzgebungs-
        verfahrens für realisierbar halten. In einem zweiten Teil
        verweisen wir die Bundesregierung auf einige Hauptrich-
        tungen, in die die Künstlersozialversicherung zukünftig
        ausgebaut werden müsste, deren konkrete Ausgestaltung
        ohne die eingeforderte Enquete jedoch nicht seriös be-
        stimmt werden kann. Das betrifft vor allem den Versiche-
        rungsschutz für Zeiten ohne Einkommen, die Einführung
        einer Arbeitslosenversicherung und die Gewährleistung
        einer angemessenen Rente.
        Was den angelaufenen Novellierungsprozess betrifft,
        so fordern wir, ihn so zu gestalten, dass alle hauptberuf-
        lich künstlerisch und publizistisch Tätigen, die nicht im
        Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses sozial abgesi-
        chert sind, in den Versicherungsschutz nach dem Künst-
        lersozialversicherungsgesetz einbezogen werden. Damit
        unterscheidet sich unserer Antrag grundlegend von dem
        der F.D.P., dessen einzige Botschaft an die Versicherten
        lautet: Wir wollen alles so lassen wie es ist und obendrein
        den Kreis der Versicherten möglichst einengen.
        Bei der Verfolgung unseres Anliegens beziehen wir
        durchaus die Verbesserungen ein, die der Gesetzentwurf
        der Bundesregierung vorsieht. Zugleich verlangen wir je-
        doch, dass alle beabsichtigten Verschlechterungen zurück-
        genommen werden. Darüber hinaus fordern wir als Er-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114092
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        gebnis unserer Anhörung einen Komplex von gesetzlich
        fixierten Regelungen, mit denen Versicherungslücken, die
        in der Praxis der Versicherung sichtbar geworden sind, ge-
        schlossen und eine bessere Versorgung im Krankheitsfall
        gewährleistet würden.
        Ich hoffe sehr, dass im Zuge der Debatten in den Aus-
        schüssen einiges davon noch aufgegriffen wird.
        Ulrike Mascher (SPD): Die Künstlersozialversiche-
        rung ist eine bedeutende sozial- und kulturpolitische Er-
        rungenschaft in Deutschland. Als sie unter Kanzler
        Helmut Schmidt auf den Weg gebracht wurde, war dies
        ein mutiger Schritt ins Neuland. Jetzt will die Bundesre-
        gierung den sozialen Schutz selbstständiger Künstler und
        Publizisten verbessern und die Künstlersozialversiche-
        rung den aktuellen Anforderungen anpassen.
        Selbstständige Künstler und Publizisten sind oft in ei-
        ner wirtschaftlichen Situation, die der von Arbeitnehmern
        vergleichbar ist. Sie sind auf die Mitwirkung von Verla-
        gen, Galerien oder Konzertagenturen angewiesen, damit
        ihre Werke oder Leistungen vermarktet werden können.
        Deshalb hat der Gesetzgeber sie in die gesetzliche Ren-
        ten-, Kranken- und später in die Pflegeversicherung ein-
        bezogen. Dabei müssen sie – wie Arbeitnehmer – nur den
        halben Beitrag entrichten. Die zweite Beitragshälfte wird
        von den Verwertern über eine Künstlersozialabgabe und
        über einen Bundeszuschuss aufgebracht. Mittlerweile
        sind rund 110 000 Künstler und Publizisten über die
        Künstlersozialkasse versichert und ihre Zahl nimmt wei-
        ter zu. Besonders erfreulich ist der hohe Anteil an Frauen
        mit etwa 43 Prozent. Bei den Berufsanfängern liegt der
        Frauenanteil sogar über 50 Prozent.
        Die Künstlersozialversicherung hat sich bewährt. Bei
        der Vorbereitung dieser Gesetzesänderung haben die Ver-
        bände der Künstler und Publizisten betont, wie unent-
        behrlich der Versicherungsschutz für die selbstständigen
        Künstler und Publizisten geworden ist. Auch die Verwer-
        tungsunternehmen haben weitgehend ihre Pflicht zur
        Zahlung der Künstlersozialabgabe akzeptiert. Mittler-
        weile müssen rund 35 000 Verwertungsunternehmen
        diese Abgabe zahlen. Damit hat sich ihre Zahl seit 1989
        mehr als verdoppelt. Das zeigt, wie gut die Künstlersozi-
        alversicherung funktioniert.
        Für eine grundlegende Reform der Künstlersozialver-
        sicherung besteht kein Bedürfnis. Notwendig sind aber
        einzelne Verbesserungen des Versicherungsschutzes, Ein-
        grenzungen der Versicherungspflicht, Vereinfachungen
        der Verwaltung sowie eine Organisationsänderung bei der
        Künstlersozialkasse.
        Besonders wichtig ist für selbstständige Künstler und
        Publizisten, dass sie gegen das Krankheitsrisiko im Rah-
        men der gesetzlichen Krankenversicherung abgesichert
        sind. Vielen älteren Künstlern und Publizisten ist aber
        nach geltendem Recht die Krankenversicherung der Rent-
        ner verschlossen. Sie können die Voraussetzung einer fast
        lückenlosen Pflichtversicherung in der zweiten Hälfte des
        Erwerbslebens nicht erfüllen. Ich bin deshalb froh, dass
        mit der vorliegenden Novelle für ältere Künstler und Pu-
        blizisten der Zugang zur Krankenversicherung der Rent-
        ner erleichtert wird.
        Für diesen Krankenversicherungsschutz ist erforder-
        lich, dass die selbstständige künstlerische oder publizisti-
        sche Tätigkeit vor 1983 aufgenommen wurde und für
        neun Zehntel der Zeit zwischen 1985 und dem Rentenan-
        trag eine Pflichtversicherung nach dem Künstlersozial-
        versicherungsgesetz bestanden hat. Für die neuen Bun-
        desländer wird dabei auf das Jahr 1992 abgestellt, dem
        frühesten Zeitpunkt, in dem Beiträge an die Künstlersozi-
        alkasse entrichtet werden konnten. Damit wird eine noch
        bestehende Lücke in der sozialen Absicherung der Künst-
        ler und Publizisten geschlossen und einem wichtigen An-
        liegen der Künstlerverbände Rechnung getragen.
        Ferner werden die Voraussetzungen für den Versiche-
        rungsschutz flexibler gestaltet. Künftig kann die Gering-
        fügigkeitsgrenze innerhalb von sechs Jahren bis zu zwei-
        mal im Jahr unterschritten werden, ohne dass der
        Versicherungsschutz entfällt. Das ist im Hinblick auf die
        häufigen Einkommensschwankungen eine deutliche Ver-
        besserung. Zuweilen wird der Vorwurf eines Missbrauchs
        der Künstlersozialversicherung laut. Es gibt jedoch keine
        Anhaltspunkte dafür, dass die Künstlersozialversicherung
        in nennenswertem Ausmaß von Personen in Anspruch
        genommen wird, die zu Unrecht in die Künstlersozialver-
        sicherung aufgenommen wurden. Gleichwohl soll dem
        Missbrauch durch verschiedene Maßnahmen entgegenge-
        wirkt werden:
        Zum einen wird die „Schonfrist“ für Berufsanfänger, in
        der sie auch bei Unterschreiten der Geringfügigkeits-
        grenze pflichtversichert sind, von 5 auf 3 Jahre verkürzt.
        Dadurch wird es der Künstlersozialkasse ermöglicht,
        früher als bisher die versicherungsrechtlichen Vorausset-
        zungen zu überprüfen. Zugleich wird diese Frist um
        Zeiträume verlängert, in denen eine Versicherungspflicht
        nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz nicht be-
        standen hat. Dies kommt insbesondere Müttern im Mut-
        terschafts- und Erziehungsurlaub zugute.
        Auch Studenten, deren Haupttätigkeit das Studium ist,
        können nicht mehr in die günstigere Krankenversiche-
        rung der Künstlersozialversicherung ausweichen.
        Schließlich entfällt für über 65-Jährige die Möglich-
        keit, sich über die erstmalige Aufnahme einer künstle-
        rischen oder publizistischen Tätigkeit den günstigen
        Krankenversicherungsschutz nach dem Künstlersozial-
        versicherungsgesetz zu verschaffen. Eine solche Belas-
        tung der Solidargemeinschaft ist nicht gerechtfertigt.
        Im Bereich der abgabepflichtigen Verwerter sind nur
        wenige Änderungen vorgesehen. Die Abgabepflicht wird
        für einige Zweifelsfälle klargestellt. Verschiedene Ver-
        waltungsvereinfachungen sollen die Erhebung der Künst-
        lersozialabgabe erleichtern. So wird die Bildung von
        Ausgleichsvereinigungen attraktiver gemacht, um die
        Abgabepflicht vieler Unternehmen kostengünstig zu ver-
        walten. Das Anliegen der Verbände, den Bundeszuschuss
        zur Künstlersozialversicherung wieder zu erhöhen,
        konnte allerdings nicht erfüllt werden. Der Gesetzgeber
        hat Ende 1999 mit dem Haushaltssanierungsgesetz den
        Bundeszuschuss von 25 auf 20 Prozent der Ausgaben der
        Künstlersozialkasse abgesenkt. Dies war keine reine
        Sparmaßnahme, sondern entsprechend der gesetzlichen
        Zweckbestimmung eine Folgerung aus dem verminderten
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14093
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        Selbstvermarktungsanteil. Die Bund beteiligt sich weiter-
        hin mit einem festen Prozentsatz an der Finanzierung der
        Künstlersozialversicherung. Dass die abgabepflichtigen
        Verwerter nicht unzumutbar belastet werden, zeigt die
        Höhe des Abgabesatzes, der von 4 Prozent im Jahre 2000
        auf 3,9 Prozent im Jahr 2001 gesenkt werden konnte. Da-
        mit sind die Finanzierungsgrundlagen der Künstlersozial-
        versicherung weiterhin gesichert.
        Schließlich soll die Künstlersozialkasse wieder in die
        Bundesverwaltung eingegliedert werden. Damit verdeut-
        licht der Bund seine politische Verantwortung für die
        Sozialversicherung der Künstler und Publizisten. Vorge-
        sehen ist eine Angliederung an die Bundesausführungs-
        behörde für Unfallversicherung in Wilhelmshaven. Der
        Standort und die Arbeitsplätze in der Region bleiben er-
        halten. Das Land Niedersachsen hat zugestimmt. Nach-
        teile für die Mitarbeiter der Künstlersozialkasse entstehen
        nicht.
        Mit dieser Novelle wird der soziale Schutz der Künst-
        ler und Publizisten ausgebaut und das Recht der Künst-
        lersozialversicherung den modernen Anforderungen an-
        gepasst. Wir sorgen dafür, dass die Lasten und Pflichten
        aller an der Künstlersozialversicherung Beteiligten austa-
        riert bleiben. Ich hoffe, dass der wichtige Grundkonsens
        zwischen den Versicherten, den Verwertungsunternehmen
        und dem Bund erhalten bleibt – im Interesse der sozialen
        Sicherung von Künstlern und Publizisten.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        beruflichen Gleichstellung von Prostituierten
        und anderer sexuell Dienstleistender (Tagesord-
        nungspunkt 13)
        Anni Brandt-Elsweier (SPD): Seit mehr als 2000 Jah-
        ren wird Prostitution nicht nur gesellschaftlich, sondern
        auch juristisch diskriminiert. Zuerst von den Römern und
        besonders hart in den Ehegesetzen des Kaisers Augustus.
        Liberaler war das Mittelalter. Ein Viertel der Teilnehmer
        an den Kreuzzügen waren Frauen, die dafür bezahlt wur-
        den, dass sie die christlichen Helden durch das Unterstüt-
        zen, was heute wieder als Verstoß angesehen wird – und
        zwar als Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller „billig
        und gerecht Denkenden“. Seit Martin Luther steigerte sich
        der juristische Druck, erreichte römisches Niveau im
        19. Jahrhundert und wurde totalitär unter Adolf Hitler, der
        die Prostituierten in Konzentrationslager verbrachte, zum
        Teil als einfache Gefangene, zum Teil zur sexuellen Un-
        terstützung seiner SS-Schergen.
        Die Bundesrepublik begann wieder mit der normalen
        Diskriminierung des 19. Jahrhunderts, die in der Straf-
        rechtsreform der 70er-Jahre leicht zurückgenommen
        wurde. Seitdem ist Prostitution in der Bundesrepublik
        zwar gesetzlich nicht mehr verboten, aber es gibt wohl
        keinen anderen Bereich, in dem das Geschäft mit der Dop-
        pelmoral derart blüht.
        Nach seriösen Schätzungen gibt es in Deutschland
        etwa 400 000 Personen, die der Prostitution nachgehen;
        überwiegend sind dies Frauen. Ihre Dienste werden täg-
        lich von über einer Million Männern in Anspruch genom-
        men. Prostitution ist ein äußerst lukrativer Wirtschafts-
        zweig, in dem geschätzte jährliche Umsätze von bis zu
        zwölf Milliarden Mark erzielt werden. Dies ist natürlich
        auch dem Staat bekannt. Das bedeutet, Prostituierte sind
        einkommens- und umsatzsteuerpflichtig.
        Aber der Staat nimmt nur. Den Prostituierten ist der un-
        mittelbare Zugang zu den gesetzlichen Sozialversiche-
        rungen verwehrt; denn Prostitution ist zwar nicht mehr
        verboten, aber nach wie vor sittenwidrig. Dies bedeutet in
        der Konsequenz, dass Prostituierte aufgrund der Sitten-
        widrigkeit ihres Handelns keinen rechtlich durchsetzba-
        ren Anspruch auf Bezahlung ihrer Tätigkeit haben und es
        bedeutet, dass sie keinen Anspruch auf Pflichtversiche-
        rung in der Krankenversicherung, Arbeitslosenversiche-
        rung sowie in der Rentenversicherung haben.
        Dies ist nicht mehr länger hinnehmbar und zu Beginn
        des neuen Jahrtausends auch nicht mehr zeitgemäß. Mit
        zeitgemäß meine ich nicht irgendeine kurzlebige Mode-
        erscheinung, einen Trend, der heute „in“ und morgen wie-
        der „out“ ist, sondern ich meine den festzustellenden
        Wandel im Moral- und Rechtsempfinden unserer Gesell-
        schaft, dem endlich Rechnung getragen werden muss.
        Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits in seinem ers-
        ten so genannten „Peep-Show-Urteil“ vom 15. Dezember
        1981 festgestellt, dass der Begriff der guten Sitten „auf die
        dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenen sozialethi-
        schen Wertvorstellungen verweise, die in der Rechtsge-
        meinschaft als maßgebliche Ordnungsvoraussetzungen
        anerkannt sind“.
        Gerade im Bereich der Sexualität hat in den letzten
        Jahrzehnten eine besonders schnelle Veränderung der
        Wertvorstellung stattgefunden. Wer kann sich heute noch
        vorstellen, dass eine Mutter sich der „Kuppelei“ schuldig
        macht, wenn sie ihre Tochter und deren Verlobten bei sich
        übernachten lässt, dass Ehebruch strafbar war und Beamte
        wegen dieses Deliktes entlassen werden konnten.
        Eines der bekanntesten neueren Gerichtsurteile in die-
        sem Zusammenhang ist das des Verwaltungsgerichtes
        Berlin im Prozess um die Schließung des stadtbekannten
        Edelbordells „Café Pssst!“ der Berliner Prostituierten
        Felicitas Weigmann. Das Bezirksamt Wilmersdorf wollte
        Frau Weigmann die Gaststättenerlaubnis entziehen, weil
        sie im Hinterhaus Zimmer an Prostituierte vermietete und
        somit der „Unsittlichkeit“ Vorschub leistete. Das Verwal-
        tungsgericht hob mit Urteil vom 1. Dezember 2000 den
        Widerruf der Gaststättenerlaubnis auf, da „Prostitution,
        die ohne kriminelle Begleiterscheinungen und insbeson-
        dere freiwillig unter Bedingungen ausgeübt werde, mit
        denen Frauen einverstanden seien, heute grundsätzlich
        nicht mehr als sittenwidrig einzustufen sei“. Das Gericht
        hatte vor der Urteilsfindung gesellschaftlich relevante Or-
        ganisationen zur sozialethischen Bewertung von Prosti-
        tution befragt. In den Antworten zeigte sich ein deutlicher
        Trend dahingehend, den Bereich der freiwilligen Prosti-
        tution nicht mehr als sittenwidrig anzusehen.
        Es wird also Zeit, dass von staatlicher Seite etwas un-
        ternommen wird, um zumindest die rechtliche Situation
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114094
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        der Prostituierten zu verbessern. Dass wir dies tun wer-
        den, haben wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart.
        Wir werden dazu – so hoffe ich – in Kürze einen eigenen
        Gesetzentwurf vorlegen. Sie sehen also, Kolleginnen und
        Kollegen von der PDS, dem Grundanliegen des von Ihnen
        vorgelegten Gesetzentwurfes will ich gar nicht wider-
        sprechen. Ich halte jedoch die Art und Weise, wie Sie zu
        der gewünschten Verbesserung kommen wollen, für voll-
        kommen ungeeignet. Denn ein solches Gesetz muss
        natürlich gut durchdacht und in jeder Hinsicht auch recht-
        lich haltbar sein. Der vorliegende Gesetzentwurf wird
        dem aber nicht gerecht.
        Die von Ihnen vorgeschlagene Verankerung sexueller
        Dienstleistungen im Dienstvertragsrecht ist abzulehnen.
        Auf diese Weise erlangt ein solcher Vertrag den Rechts-
        charakter eines normalen Arbeitsverhältnisses, was je-
        doch aufgrund der Besonderheiten des Berufsbildes in
        vielerlei Hinsicht – ich verweise hier nur auf etwaige Ge-
        währleistungspflichten – nicht tragbar ist. Sie haben dies
        erkannt und versuchen, diese Besonderheiten durch zahl-
        reiche Ausnahmeregelungen zu verdeutlichen. Aber ab-
        gesehen von der Kompliziertheit dieser Regelungen ist es
        auch höchst fraglich, ob mit diesen Vorschriften tatsäch-
        lich alle Eventualitäten Berücksichtigung finden. Zudem
        ist ein absolutes Leistungsverweigerungsrecht ohne Sank-
        tionsmöglichkeiten kaum mit der Annahme eines Arbeits-
        verhältnisses zu vereinbaren, das Grundlage der sozialen
        Absicherung sein soll.
        Auch dürfen Sie die Abwägung zwischen den einer-
        seits berechtigten Forderungen der Prostituierten nach
        rechtlicher Besserstellung und den andererseits nach wie
        vor notwendigen Schutz- und Sanktionsmechanismen des
        Staates nicht vergessen. Machen wir uns nichts vor: Es ist
        ja bei weitem nicht so, dass es nur den Bereich der lega-
        len, freiwilligen Prostitution gibt. Soweit es um Zwangs-
        ausübung und Ausbeutung zum Nachteil der Frauen geht,
        muss der Staat weiterhin die Möglichkeit haben, konse-
        quent dagegen vorzugehen – Ihre vorgeschlagenen Ände-
        rungen im Strafgesetzbuch gehen hier viel zu weit.
        Auch eine vollständige Abschaffung des Werbeverbo-
        tes im Ordnungswidrigkeitsgesetz, um hier nur noch ein
        weiteres Beispiel zu nennen, ist nicht zu befürworten, da
        weiterhin das Interesse am Schutz der Jugend Vorrang hat.
        Da die rechtliche Ausgestaltung einer Besserstellung der
        Prostituierten, wie sie die PDS-Fraktion vorschlägt, für
        uns nicht akzeptabel ist, lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
        Margot von Renesse (SPD): Das lateinische Wort
        für „Hure“ ist nicht weiblichen noch männlichen Ge-
        schlechts, sondern – zur Freude aller Lateinschüler – ein
        Neutrum. In der Sprache wie im Recht sind Prostituierte
        dementsprechend weniger Personen als Dinge oder
        Sachen ohne eigene Rechte, mit denen nach Belieben ver-
        fahren werden kann. Mit ihrer Rechtlosigkeit korres-
        pondiert ein Freier-, Zuhälter- und Bordellbetreiber-
        schutzrecht, das sich ihre Rechtlosigkeit zunutze machen
        kann.
        SPD und Grüne sind sich darin einig, dass wir die Per-
        sonenwürde dieser Menschen dringend wieder herstellen
        müssen und sie darum mit Rechten ausstatten sollten,
        durch die sie sowohl im Zivil- als auch im Sozialrecht
        endlich als Menschen wahrnimmt.
        Wie man das macht, ist nun weitestgehend eine tech-
        nische Frage. Zwei Lösungen bieten sich an: einmal die
        Gleichstellung des Vertrages über sexuelle Dienstleistun-
        gen mit anderen Verträgen über marktfähige Güter und
        Dienstleistungen, zum anderen die Öffnung der wichtigen
        Sozialversicherungen für Alter, Krankheit und Pflegebe-
        dürftigkeit sowie die Zuerkennung eines einklagbaren
        Anspruchs für geleistete Dienste bei Verzicht auf die Er-
        möglichung eines gegenseitig verpflichtenden Vertrages
        oder Arbeitsvertrages.
        Nun sind sich alle, sogar die PDS, darüber im Klaren,
        dass die sexuelle Dienstleistung anders ist als der Dienst
        eines Bäckerlehrlings oder einer Friseurin. Irgendwie
        muss vermieden werden, dass durch vertragliche
        Verpflichtung ein Druck entsteht, der diejenigen, die
        nicht, noch nicht oder nicht mehr der Prostitution nachge-
        hen wollen, dazu verpflichtet. Da dies bei gegenseitigen
        Verträgen aber immer der Fall ist, bei Arbeitsverträgen
        sogar noch das Direktionsrecht des Arbeitgebers
        hinzutritt, muss der erste Lösungsweg, derjenige der zivil-
        rechtlichen Gleichstellung, mit lauter Ausnahmen und
        Besonderheiten gegenüber dem geltenden Recht gespickt
        werden.
        Dies unterstreicht den nicht zu leugnenden Sonder-
        charakter des Prostitutionsvertrages in extrem augenfäl-
        liger Weise, muss aber sein, denn niemand kann wollen,
        dass eine Frau, die Arbeitslosengeld empfängt, eine
        Sperrfrist bekommt, wenn sie sich weigert, bei einem
        Bordell als Prostituierte zu arbeiten; der Familienrichter
        im Prozess über nachehelichen Unterhalt, eine Frau, die
        keine Arbeit findet, fragen kann, ob sie es schon einmal
        auf dem Strich versucht hat; sich eine unterhaltsberech-
        tigte geschiedene Frau, die mit einem Freund zusammen-
        lebt, sich auf ihren Unterhaltsanspruch nicht nur den
        Gegenwert für häusliche Dienstleistungen, sondern auch
        für sexuelle Hingabe anrechnen lassen muss; dass im
        Zivilprozess ein Freier wegen Schlechtleistung, Verzug
        oder Nichterfüllung seine Gegenleistung mindern oder
        Schadensersatz verlangen kann; eine Prostituierte, die aus
        ihrem Beruf in einem Bordell aussteigen will, eine Kündi-
        gungsfrist einzuhalten hat.
        Die vielfältigen Ausnahmen, die mir auf den ersten
        Blick als notwendig einfallen, dürften kaum ausreichen,
        um unerwünschte wie skurrile Folgen zu vermeiden. Die
        Gefahr der Lückenhaftigkeit der Ausnahmeregelungen
        liegt auf der Hand.
        Darum erscheint es mir sinnvoller, den zweiten Weg zu
        gehen. Diese Lösung geht von der nach wie vor zutref-
        fenden Vorstellung aus, dass Prostitution etwas prinzipiell
        anderes ist als beliebige bezahlte Dienstleistungen an-
        derer Art. Trotz gewandelter Auffassungen über Werte
        und Sitten scheint dieser Ausgangspunkt immer noch re-
        alistisch zu sein. Es gibt eben einiges, was einigen zwar
        inzwischen käuflich zu sein scheint, was wir aber nicht
        gerade als einen Beitrag zur Dienstleistungsgesellschaft
        empfinden: So ist die Leih- oder Mietmutterschaft bei uns
        sogar noch strafwürdig.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14095
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        Soweit mit dem Antrag der PDS mit der Beseitigung
        des Odiums der „Sittenwidrigkeit“ der Prostitution insge-
        heim die Absicht verbunden ist, eine spießige
        Gesellschaft so richtig zu ärgern und zu entlarven, so ist
        das ein Ziel, für die ich mich als alte Frau in einer alten
        Partei nicht mehr engagiere. Der Reiz des Leute-Ärgerns
        ist nicht mehr meine Sache, so wie ich auch nicht mehr
        „Klingelmännchen“ spiele. Wir Sozialdemokraten sind
        ernsthaft daran interessiert, die Lage von Prostituierten zu
        verbessern, soweit wir das können. Wir sind uns aller-
        dings der Tatsache bewusst, dass die von uns angestrebte
        rechtliche Verbesserung nichts oder gar nichts für die
        Frauen und Männer bringt, die man wie eine Schmuggel-
        ware importiert, kauft, verkauft, drangsaliert, erpresst und
        schindet. Die eigentliche Not des Milieus erreicht weder
        unser Weg noch ein anderer Weg zivilrechtlicher Rechts-
        änderung. Hier kann neben der Anwendung von
        Strafrecht nur helfen, dass diejenigen, die diese armen
        Menschen ge- und verbrauchen, von gesellschaftlicher
        Ächtung getroffen werden.
        Ilse Falk (CDU/CSU): In der letzte Legislaturperiode
        haben wir uns bereits intensiv mit dem Thema „mehr
        Rechte für Prostituierte“ befasst. Bereits damals herrschte
        breite Übereinstimmung darüber, dass es Zeit ist, endlich
        die Doppelmoral zu beenden. Es ist unehrlich zu akzep-
        tieren, dass täglich Hunderttausende Männer die Dienste
        von Prostituierten in Anspruch nehmen, der Staat von die-
        sen Frauen auch Steuern verlangt, ihnen aber gleichzeitig
        – mit dem Hinweis auf die Sittenwidrigkeit – annehmbare
        rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
        verweigert.
        Seit der Debatte im Jahr 1997 sind wir der Lösung die-
        ses Problems nicht näher gekommen. Die Abwägung,
        welche Regelungen notwendig und wünschenswert sind,
        ist schwierig. Neuregelungen dürfen die Würde der be-
        troffenen Frauen, insbesondere hinsichtlich ihrer sexuel-
        len Selbstbestimmung, nicht verletzen, müssen von der
        Gesellschaft mitgetragen werden können und sollen
        gleichzeitig den Frauen mehr Rechte geben. Die Antwort
        auf diese Erfordernisse gleicht in mancher Hinsicht einem
        Spagat und wohl auch aus diesen Gründen hat die rot-
        grüne Bundesregierung bisher den von ihr angekündigten
        Gesetzentwurf noch nicht vorgelegt.
        Ist der Gesetzgeber aus den genannten Gründen also
        bisher noch nicht tätig geworden, so hat sich in der Ge-
        sellschaft ein Wandel in der Einstellung zur Prostitution
        vollzogen. Frauen, die sich offen dazu bekennen, als Pros-
        tituierte zu arbeiten, werden heute gesellschaftlich nicht
        mehr geächtet. Viele Prostituierte treten selbstbewusst auf
        und fordern ihre Rechte ein. Dabei werden sie von einem
        Großteil der Gesellschaft unterstützt. Frauen wie Felicitas
        Weigmann, die in ihrem „Café Pssst“ versucht, ange-
        nehme Arbeitsbedingungen für Prostituierte zu schaffen,
        gelten als Vorbild, ihr Tun nicht mehr als verwerflich.
        Als Gesetzgeber müssen wir nun die Frage beantwor-
        ten, ob und gegebenenfalls wie dieser Wandel in der Be-
        wertung von Prostitution durch die Gesellschaft auch ge-
        setzgeberisch begleitet werden muss. Dazu müssen wir
        zunächst einmal klären, wo Regelungsbedarf besteht. Da-
        bei will ich mich an dieser Stelle nicht mit den morali-
        schen Aspekten der Prostitution befassen oder die Tätig-
        keit der Prostituierten einer Wertung zu unterziehen, son-
        dern mich mit den Bereichen befassen, in denen
        gesetzliche Regelungen nachgefragt werden. Einige
        Punkte wären: Die Straffreiheit bei Förderung der Prosti-
        tution durch angemessene Arbeitsbedingungen, das Ver-
        tragsrecht, der Bereich der Sozialversicherung.
        Durch seine Aufsehen erregende Entscheidung, die
        Förderung der Prostitution durch angemessene Arbeitsbe-
        dingungen nicht mehr als sittenwidrig einzustufen, hat das
        Berliner Verwaltungsgericht seine Rechtsprechung an die
        geänderte gesellschaftliche Realität angepasst. Im Dezem-
        ber 2000 stellte das Gericht in seinem Urteil zum „Café
        Pssst!“ fest, dass Prostitution zumindest als Teil unseres
        Zusammenlebens akzeptiert werde und daher nicht mehr
        gegen die guten Sitten verstoße. Der Klage gegen Ab-
        erkennung der Lizenz für das Café, das selbstständig ar-
        beitenden Prostituierten zu einem bezahlbaren Preis ange-
        messene Räume zur Verfügung stellt, wurde stattgegeben.
        Wenn die Rechtsprechung also künftig Prostitution
        nicht mehr als sittenwidrig einstuft, so sind auch die zwi-
        schen Prostituierten und ihren Freiern geschlossenen
        mündlichen Verträge nicht länger sittenwidrig, sondern
        rechtsgültig und Ansprüche gegenüber dem Freier ein-
        klagbar. Sittenwidrigkeit kann dann in Zukunft auch nicht
        länger als Totschlagargument in der rechtlichen Beurtei-
        lung von Prostitution verwendet werden. Vielmehr ist die
        Justiz einmal mehr aufgefordert, sehr genau hinzusehen,
        wo denn tatsächlich wider die guten Sitten verstoßen und
        damit ein Straftatbestand erfüllt wird.
        Zum Vertragsrecht: Die Einordnung von Prostitution
        unter das Dienstvertragsrecht und damit die Möglichkeit,
        Arbeitsverträge zwischen Prostituierten und ihren „Ar-
        beitgebern“ zu schließen, erschien mit zunächst wün-
        schenswert unter dem Aspekt, damit humanere Arbeitsbe-
        dingungen und eine bessere sozialrechtliche Absicherung
        für Prostituierte schaffen zu können. Intensivere Überle-
        gungen zu einer solcher Vertragsgestaltung mit all ihren
        Konsequenzen lassen mich allerdings diese Möglichkeit
        inzwischen wieder kritische sehen. Wer ist Arbeitgeber?
        Wer definiert die sexueller Dienstleistung? Welche Mög-
        lichkeit hat die Frau, eine Leistung zu versagen, wenn sie
        gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die Menschen-
        würde verstößt? Mehr Fragen, als brauchbare Antworten!
        Mit der Möglichkeit von Arbeitsverträgen zwischen
        Prostituierten und ihren Arbeitgebern würden wir auch
        zugleich die Zuhälterei legalisieren, was keiner wollen
        kann; denn § 180 a StGB hat eben auch einen Schutz-
        zweck. Eine Abschaffung dieses Paragraphen würde die
        Prostituierten nach unserer Auffassung in eine nicht ge-
        wollte Abhängigkeit zu den Bordellbesitzern bringen.
        Bleibt also weiterhin die selbstständig arbeitende Pro-
        stituierte im Mittelpunkt der Überlegungen. Wie kann sie
        sich gegen Risiken absichern?
        Krankenversicherung: Mit dem Argument der Sitten-
        widrigkeit haben in der Vergangenheit fast alle Kranken-
        kassen die Aufnahme von Prostituierten verweigert. Auch
        auf diesem Sektor hat sich etwas verändert. Eine große
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114096
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        deutsche Krankenkasse ist seit November 2000 bereit,
        Frauen zu versichern, die als Beruf Prostituierte angeben
        und das ohne Extravereinbarungen oder höhere Beiträge.
        Rentenversicherung: Für selbstständig arbeitende Pros-
        tituierte besteht die Möglichkeit, sich privat zu versi-
        chern. Das Argument, die Versicherungsbeiträge seien zu
        hoch, weil die Versicherten die Arbeitgeber- und Arbeit-
        nehmer allein tragen müssen, zieht hier nicht, da es auf
        alle selbstständig Tätigen zutrifft.
        Arbeitslosenversicherung: Das Argument, dass aus-
        stiegswillige Prostituierte ihr Vorhaben oft nicht aus-
        führen, weil sie keine Möglichkeit haben, an Umschu-
        lungs- und Arbeitsförderungsmaßnahmen teilzuhaben, ist
        so nicht schlüssig. Auch heute schon stellen Arbeitsämter
        Mittel für Ausstiegs- und Umschulungsprogramme für
        Prostituierte zur Verfügung, auch wenn diese keine Leis-
        tungen in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
        Fazit: Die Anerkennung von Prostitution als Beruf
        kommt für unsere Fraktion nicht in Frage. Intimbereiche,
        die mit dem Kern der Persönlichkeit eng verbunden sind,
        zur marktgängigen Ware zu machen, verstößt nach unse-
        rer Auffassung gegen die Würde des Menschen. Wir wer-
        den uns daher jedem Versuch widersetzen, die Prostitu-
        tion als Beruf gesellschaftsfähig zu machen. Eine
        Anerkennung dieser Tätigkeit käme unserer Meinung
        nach einer Zementierung der mangelnden Gleichberech-
        tigung von Frauen gleich.
        Vor dem Hintergrund, dass nur etwa 25 Prozent der
        Frauen als Prostituierte arbeiten, weil sie das wirklich
        wollen, und der Großteil der anderen Frauen in diese
        Tätigkeit irgendwie hineingeraten ist – nach einer Tren-
        nung/Scheidung, durch Alkohol- oder Drogenabhängig-
        keit, durch finanzielle Schwierigkeiten –, sollten wir
        unsere Hauptaufgabe darin sehen, zwar die Arbeitsbedin-
        gungen so gut es geht zu verbessern, aber eben auch Aus-
        stiegswillige über schon bestehende Hilfsprogramme zu
        informieren und bei Bedarf neue zu schaffen.
        Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass wir
        uns im Zusammenhang mit gesetzgeberischen Überle-
        gungen in erster Linie mit der Gruppe der Prostituierten
        befassen, die organisiert, selbstbewusst und in der Lage
        sind, ihre persönliche Situation zu gestalten. Die große
        Zahl derer, die als Prostituierte ausgebeutet, unterdrückt
        und zum Teil unter unvorstellbaren Zwängen illegal hier
        arbeiten müssen, muss aber ebenso in den Blickpunkt
        gerückt werden. Alleine ihretwegen müssen wir sehr ge-
        nau prüfen, welche Regelungen Schutzwirkungen haben
        und erhalten bleiben müssen und wo Veränderungen
        tatsächlich sinnvoll sind.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Seit mehr als zehn Jahren setzen sich die Grü-
        nen für die Abschaffung der sozialen und rechtlichen Dis-
        kriminierung von Prostituierten ein. 1990 legten wir den
        ersten Gesetzentwurf vor, 1996 brachten wir das Thema
        zum zweiten Mal ins Parlament. In der damaligen Debatte
        haben alle Fraktionen erklärt, dass hier dringend Gesetzes-
        änderungen notwendig sind, um die eklatante Benachtei-
        ligung der Prostituierten zu beenden. Leider kam es we-
        gen der zeitlichen Nähe zur Bundestagswahl damals nicht
        mehr zu einer interfraktionellen Einigung. Nun wird es al-
        lerdings höchste Zeit.
        Im Koalitionsvertrag sind wir ja eine entsprechende
        Verpflichtung eingegangen. Eine rot-grüne Arbeits-
        gruppe, die sich im Ziel einig ist, aber noch Details regeln
        muss, steht kurz vor dem Abschluss der Diskussion. Da-
        rum finde ich es auch bedauerlich, dass die PDS ihren
        Entwurf bereits heute aufgesetzt hat. In vier Wochen hät-
        ten wir über die Gesetzentwürfe gemeinsam diskutieren
        können; denn einige Vorschläge der PDS gehen in die
        richtige Richtung.
        Ich finde, es ist eines liberalen Rechtsstaats nicht wür-
        dig, dass er einer Personengruppe zwar Pflichten aufer-
        legt, ihnen aber alle sozialen Rechte vorenthält. Da nach
        ständiger Rechtssprechung Prostitution gegen die guten
        Sitten verstößt, haben Prostituierte keine Möglichkeit,
        nach geleisteter Arbeit ihren Lohn einzuklagen. Ihnen
        steht die gesetzliche Krankenversicherung ebenso wenig
        zu wie die gesetzliche Rentenversicherung. Prostituierte
        werden von den Behörden in bestimmte Straßen einer
        Stadt verbannt. Gehen sie außerhalb dieser Gebiete ihrem
        Gewerbe nach, machen sie sich strafbar. Personen, die
        Prostituierten gute und sichere Arbeitsbedingungen an-
        bieten, können wegen „Förderung der Prostitution“ bis zu
        drei Jahren Haftstrafe verurteilt werden. Schon ein geho-
        beneres Ambiente, wie zum Beispiel ein Bad mit golde-
        nen Wasserhähnen oder das Auslegen von Kondomen, er-
        füllt den Straftatbestand der Förderung der Prostitution.
        Ein Arbeitgeber jedoch, der ein finsteres Loch zu einer
        Wuchermiete anbietet, tut dies unter dem Schutz des Ge-
        setzes. Und der Staat ist nicht zimperlich, wenn es darum
        geht, Steuern „aus gewerbsmäßiger Unzucht“ zu erheben;
        trotz der Sittenwidrigkeit.
        Diese Doppelmoral muss nun endlich beendet werden.
        Dazu fordert uns im Übrigen auch der Ausschuss gegen Dis-
        kriminierung jeglicher Art der Vereinten Nationen auf. In ei-
        ner Gesetzesänderung muss es primär darum gehen, die Sit-
        tenwidrigkeit der freiwilligen Prostitution zu beseitigen.
        Der Reichsgerichtshof hatte im Jahre 1901 das An-
        standsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zum
        Maßstab für die guten Sitten gesetzt. Die Gerichte sind
        diesem Urteil 100 Jahre lang gefolgt. Dabei sagen heute
        über 70 Prozent der Bevölkerung, dass sie das anders
        sehen. Diesem gesellschaftlichen Wandel muss auch die
        Politik folgen.
        Bei diesem Vorhaben werden wir von einem kürzlich
        erfolgten Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts Berlin
        unterstützt, das zum ersten Mal Prostitution als per se
        nicht sittenwidrig ansah. Dieses Urteil wurde auf eine
        Umfrage bei 50 gesellschaftlich wichtigen Gruppen ge-
        stützt. Von der Bischöfin bis zur Industrie- und Handels-
        kammer waren sich alle einig: Prostituierte dürfen nicht
        länger diskriminiert werden. Dies war jedoch nur ein Ur-
        teil. Ein anderes Gericht könnte auch eine andere Ent-
        scheidung treffen. Deshalb muss eine Klarstellung im Ge-
        setz eindeutig dafür sorgen, dass Vereinbarungen über
        sexuelle Dienstleistungen gegen ein Entgelt rechtmäßig
        sind. Damit wäre eine wichtige Voraussetzung für einen
        sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz gegeben.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14097
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        Nach unserer Auffassung müssten Prostituierte aber
        auch Arbeitsverträge schließen können. Dies hätte nicht
        nur eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zur
        Folge, sondern würde auch einen eventuellen Ausstieg er-
        leichtern, weil Umschulungsmaßnahmen des Arbeitsam-
        tes in Anspruch genommen werden könnten. Auch die
        Aufnahme der Prostituierten in eine gesetzliche Kranken-
        versicherung hat hohe Priorität. Denn bis heute ist ihr Ge-
        sundheitsschutz nicht gesichert. Krankenkassen weigern
        sich, Prostituierte aufzunehmen. Verschweigen sie ihre
        Tätigkeit oder weichen sie auf eine Notlüge aus, machen
        sie sich strafbar und müssen Leistungen zurückzahlen.
        Auch das werden wir ändern.
        Die rot-grüne Regierungskoalition wird dafür sorgen,
        dass Prostituierte nicht länger Bürgerinnen zweiter Klasse
        sind. Lassen Sie uns im Ausschuss intensiv darüber dis-
        kutieren, welche Regelungen dazu notwendig sind.
        Ina Lenke (F.D.P.): Prostituierte werden in Deutsch-
        land diskriminiert. Das ist eine Tatsache ebenso wie die
        Doppelmoral, mit der die Gesellschaft und der Staat mit
        Prostituierten umgeht. Allerdings hat sich gerade in der
        letzten Zeit in der Bevölkerung und auch bei Gerichten
        und unter Politikern die Einsicht durchgesetzt, dass hier
        Handlungsbedarf besteht und besonders das Verdikt der
        Sittenwidrigkeit abgeschafft werden muss. Insoweit ist
        die Zielrichtung des Gesetzentwurfs der PDS positiv zu
        bewerten. Die Diskriminierung von Prostituierten und die
        Sittenwidrigkeit müssen abgeschafft werden, der Staat
        darf nicht einerseits bei den Einkünften der Prostituierten
        abkassieren und ihnen auf der anderen Seite den staat-
        lichen Schutz versagen, wenn es um die Geltendmachung
        ihres Lohns geht.
        Doch wie weit soll und will man gehen? Ich denke, es
        ist eine Sache, zu akzeptieren, dass es Prostitution gibt
        und heute etwa 1 Million Männer am Tag dieses Gewerbe
        in Anspruch nehmen. Es ist jedoch etwas anderes, dieses
        gesellschaftlich und moralisch zuwerten. Mit Letzterem
        bin ich nicht einverstanden. Man muss sich auch genau
        überlegen, welche Folgen es hat, wenn man – wie die PDS
        hier – quasi ein Dirnendienstvertragsrecht im BGB ein-
        führt. Dies führt zu praktischen Schwierigkeiten: Wie
        werden die Gerichtsverfahren aussehen, in denen eine
        Schlechtleistung der Prostituierten überprüft werden soll?
        Gibt es demnächst Sachverständige dafür? Das alles mu-
        tet doch recht seltsam an.
        Aber davon abgesehen: Tun wir den Frauen wirklich
        einen Gefallen damit? Der Gesetzentwurf der PDS ist ge-
        prägt vom Bild der eigenverantwortlichen, selbstbe-
        stimmten Prostituierten, die aus freien Stücken dieser
        Tätigkeit nachgeht, nicht von einem Zuhälter unterdrückt
        wird und für ihre Rechte einstehen und kämpfen kann.
        Diese Frauen gibt es selbstverständlich auch, sie dürften
        auch nicht unbedingt in der Minderheit sein. Jedoch ist
        das Bild der Prostitution in Wirklichkeit wesentlich viel-
        schichtiger. Es gibt eben auch in nicht unerheblicher Zahl
        die Fälle der Zwangsprostitution, die nach Deutschland il-
        legal eingeschleppten Ausländerinnen, die von Zuhältern
        gezwungen werden, auf den Strich zu gehen, den Straßen-
        strich und das Drogenmilieu. Auch für diese würden die
        neuen Regelungen gelten. Der Zuhälter wäre Arbeitgeber
        und würde also ganz legal, staatlich legitimiert, Druck auf
        seine Arbeitnehmerinnen ausüben dürfen. So stellt sich
        die Frage, ob man tatsächlich ausstiegswillige Prostitu-
        ierte an Kündigungsfristen binden will oder ob zukünftig
        ein Zuhälter über das Arbeitsamt Prostituierte vermittelt
        bekommen kann?
        Im Übrigen wird es durch die Abschaffung des Straftat-
        bestandes der Zuhälterei den Strafverfolgungsbehörden
        unglaublich schwer gemacht, gegen sie vorzugehen bzw.
        sie überhaupt strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu
        können. Die allgemeinen Straftatbestände der Nötigung
        und der Erpressung können hier nicht in allen Fällen he-
        rangezogen werden.
        Ich stimme mit der PDS überein, dass demgegenüber
        die Förderung der Prostitution als Straftatbestand abge-
        schafft werden muss, damit sich die Bordellbesitzer oder
        Bordellbesitzerinnen, die für eine ordentliche Arbeitsum-
        gebung in den Bordellen sorgen, nicht strafbar machen.
        Kritisch sehe ich aber die vorgesehenen Änderungen im
        Ausländergesetz. Eine „Green-Card“ für Frauen, die in
        der Bundesrepublik der Prostitution nachkommen wollen,
        kann nicht das Ziel sein. Insgesamt ist der vorliegende Ge-
        setzentwurf nicht komplett durchdacht, besonders was die
        Folgen des vorliegenden Gesetzes betrifft. Es bleiben
        noch viele Fragen offen.
        Ich bin sehr dafür, die Diskriminierung von Prostitu-
        ierten endlich abzuschaffen und bin gerne bereit hier kon-
        struktiv mitzuarbeiten. Dies alles muss jedoch innerhalb
        eines durchdachten Konzepts und wirklich zum Schutz
        der Prostituierten sein.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Senkung des Entgelts
        für die Beförderung von Briefsendungen im Gel-
        tungsbereich der Exklusivlizenz nach § 51 Post-
        gesetz (Tagesordnungspunkt 14)
        Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Wir verstehen sehr
        gut, wie nötig es die F.D.P. hat, ihr Image als Partei der
        Besserverdienenden abzuschütteln. Dazu ist ihr offen-
        sichtlich kein Fehlversuch zu peinlich und kein Irrweg zu
        abseitig. – Zur Rechtslage wird Staatssekretär Mosdorf
        noch sprechen.
        Die F.D.P. macht hier gleich einen Doppelfehler, ers-
        tens, weil die Regulierungsbehörde auch nach den Worten
        ihres früheren Präsidenten Scheurle derzeit in der Por-
        tofrage aufgrund der allgemeinen Weisung des Bundes-
        wirtschaftsministers nicht handeln kann und zweitens,
        weil sie – auch wenn es diese Weisung nicht gäbe – ent-
        sprechend der Gesetzeslage wohl kaum irgendwelchen
        Aufforderungen aus F.D.P.-Anträgen im Deutschen Bun-
        destag folgen würde.
        Dazu zwei Bemerkungen: Zum einen: Wir erinnern uns
        alle gut an den energischen Kampf von F.D.P. und Union
        gegen die Weisung des Ministers. Da gab es die Andro-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114098
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        hung von gerichtlicher Überprüfung bis zu Bundesratsbe-
        schlüssen, die uns noch eines Besseren belehren würden.
        Auf deren Erfolg warten wir noch heute. Also stellen wir
        fest: Die Weisung war kein Eingriff in die Selbstständig-
        keit der Behörde und rechtlich einwandfrei. – Zum ande-
        ren erinnern wir uns gut an das Gerede der F.D.P. vom ord-
        nungspolitischen Sündenfall, der in jeder politischen
        Einflussnahme auf die Regulierungsbehörde bestehe. In
        dem von Union und F.D.P. verfassten Beiratsbeschluss re-
        klamierten Sie die „alleinige Zuständigkeit – der RegTP –
        für die Genehmigung von Entgelten.
        Auch in der derzeit stattfindenden absolut notwendi-
        gen Debatte über die mittelfristigen Erfordernisse moder-
        ner Regulierung geriert sich die F.D.P. als Gralshüterin
        der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde, die wir
        überhaupt nicht infrage stellen. Und dann so ein Antrag:
        „Der Deutsche Bundestag fordert die Regulierungs-
        behörde für Telekommunikation und Post auf ...“.
        Hätten Sie lieber die „allgemeine Zuständigkeit“ ak-
        zeptiert, dann hätten Sie sich auch die peinliche Begrün-
        dung des Antrages erspart.
        Da wird wild über Kosten und Preise spekuliert, mit
        Zahlen nicht genannter Herkunft hantiert, die EU-Kom-
        mission für Positionen in Anspruch genommen, die sie
        nicht teilt. Die F.D.P. versucht nichts anderes, als den Deut-
        schen Bundestag an die Stelle einer Beschlusskammer der
        RegTP zu setzen – und das mit kaum zu überbietendem Di-
        lettantismus. Sie weiß noch nicht einmal, dass Rabatte beim
        Porto im reservierten Bereich der Preisaufsicht der RegTP
        unterliegen und eben nicht der „Marktmacht“ großer, klei-
        ner oder mittlerer Geschäftspartner der DPAG.
        Auch das auf diesen Fehler aufgebaute Argument, die
        Kleinkunden und Mittelständler bezahlten den Börsen-
        gang, den Bundeshaushalt und die Marktmacht der Post
        AG, geht an der Realität vorbei. Bekanntlich wird das
        große Geschäft im Postmarkt mit den Großkunden ge-
        macht und bei den Kleinverbrauchern und in der Fläche
        eher draufgezahlt. Aus diesem Grund stürzen sich ja die
        Wettbewerber der Post AG auch nicht auf Handwerker und
        Liebespaare – aus diesem Grund versuchen auch viele,
        sich der Bedienung in der Fläche zu entziehen. Nein, alle
        stürzen sich auf die Geschäftskunden in Ballungsräumen.
        Also: Der derzeitige Einheitstarif und die genehmigten
        Entgelte sind eine Mischkalkulation, die auch die Kosten
        des Infrastrukturauftrages und der sozialen Verpflichtun-
        gen einfließen. Mag sein, dass diese Entgelte mittelfristig
        gesenkt werden können. Das werden wir genau dann be-
        trachten, wenn es aktuell wird, nämlich nach Ablauf der
        Frist für die derzeit genehmigten Entgelte. Derzeit haben
        wir entschieden und gut begründet: Wir brauchen Stabi-
        lität in Zeiten des Börsengangs und wir brauchen keinen
        weiteren Druck zum Abbau des flächendeckenden Ange-
        bots, der Kundenfreundlichkeit und der Arbeitsplätze.
        Und dann kommt der internationale Vergleich. Angeb-
        lich sind wir die teuersten. Aber Vorsicht: Brief ist nicht
        Brief, so wie Müller nicht Müller ist und PDS in Deutsch-
        land nicht PDS in Italien – auch wenn sie alle gleich
        heißen. Der billige Brief in Spanien erreicht den Adres-
        saten bzw. die Adressatin nur zu 55 Prozent schon am
        nächsten Tag, in Deutschland zu rund 90 Prozent. Selbst
        im angeblich vorbildlich liberalisierten Schweden, aber
        auch in Frankreich, Portugal und vier weiteren Ländern
        muss ein Arbeiter länger fürs Porto arbeiten als bei uns. In
        den meisten Ländern Europas wird nur fünfmal pro Wo-
        che zugestellt. Aufgrund all dessen, einschließlich der
        Kaufkraftparitäten in Rechnung gestellt, belegen wir ei-
        nen Mittelplatz bei den Briefgebühren.
        Allzu Neugierige warne ich auch vor dem Glauben,
        wenn alles liberalisiert ist, werde auf dem Postmarkt alles
        billiger. Das schwedische Beispiel weist leider in eine an-
        dere Richtung. Wir werden uns daher im Postbereich nicht
        von unserem Kurs der berechenbaren, kundenfreundlich
        und sozialverträglich flankierten Liberalisierungsschritte
        im europäischen Konzert abbringen lassen. Dies haben
        wir auch schon im Einzelnen anlässlich der Aktuellen
        Stunde am 5. April 2000 ausgeführt.
        Für Irrlichterei, billige Showeffekte und Verunsiche-
        rungen gegenüber Wettbewerbern, Kunden und Beschäf-
        tigten der gesamten Branche ist dabei kein Platz. Wenn
        die F.D.P. in der Wirtschaftspolitik einmal wieder ernst
        genommen werden will, muss sie auf solche Anträge wie
        den heute vorliegenden verzichten. Solange das nicht ge-
        schieht, werden wir sie ablehnen müssen.
        Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Wegen des
        rechtswidrigen Eingriffs des Bundesministers für Wirt-
        schaft und Technologie, Dr. Werner Müller, im März 2000
        in die Regulierung ermittelt die EU-Kommission in einem
        Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik
        Deutschland.
        Die Bundesregierung hat vor zehn Monaten durch die
        Weisung an die Reg-TP verhindert, dass die Regulie-
        rungsbehörde mit Wirkung ab 1. September 2000, also
        vor 4 Monaten, niedrigere Preise im Monopolbereich der
        Post festsetzt.
        Zu Recht hat ein Sachverständiger bei der Anhörung
        zur Postpolitik im letzten Jahr formuliert: „Die Regierung
        nimmt die Postkunden in Geiselhaft.“
        Da die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
        nen von SPD und Grünen aber auch rechtzeitig durch die
        gegen unsere Stimmen im November 1999 verabschiedete
        Post-Universaldienstleistungsverordnung – PUDLV –
        Vorsorge getroffen haben, dass die betroffenen Postkun-
        den nicht mit Rechtsmitteln gegen überhöhte Preise vor-
        gehen können, liegt das Ganze also nun in Brüssel.
        Man muss das nochmals betonen: Diese Bundesregie-
        rung verhindert, dass der Postkunde Rechtsmittel gegen
        solche Entscheidungen einleiten kann. Als Verbraucher
        hat er nur die Möglichkeit, sich schriftlich bei der Regu-
        lierungsbehörde zu beschweren.
        Wer nun gehofft hatte, dass die demnächst anstehende
        Postdienstleistungsverordnung – PdLV – im Bereich der
        Leistungsentgelte etwas präziser sei, sieht sich erneut ent-
        täuscht: Dort findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf
        – was das Mindeste wäre –, dass die Kunden ein Anspruch
        darauf haben, dass die Entgelte den Bestimmungen des
        § 20 PostG entsprechen müssen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14099
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Die derzeitige Regelung soll festlegen, dass das Porto
        in der so genannten Exklusivlizenz, also dem Postmono-
        pol, bis Ende des Jahres 2002 gelten soll. Eine Änderung
        im Portobereich muss also sowieso noch in dieser Legis-
        laturperiode festgelegt werden.
        Ich darf dabei einmal voraussagen, dass bei der anste-
        henden Portorunde die Post sicherlich keinen Einzelan-
        trag stellen wird. Sie erwartet vermutlich das, was sie mit-
        hilfe der Deutschen Postgewerkschaft durch Intervention
        im Januar 2000 beim Bundeskanzler verhindert hat: näm-
        lich die Berechnung nach dem so genannten Preiscap-
        Verfahren.
        Dabei habe ich zunehmend den Eindruck, dass bei vie-
        len die Mechanismen des anwendbaren Preiscap-Verfah-
        rens nicht begriffen worden sind. Denn nach diesem
        Verfahren geht es nicht um die Anordnung eines Einze-
        lentgeltes, also zum Beispiel für den Brief bis 20 Gramm,
        sondern um einen Preiskorb aus Rationalisierungsfort-
        schritten sowie Lohn- und Inflationsentwicklung, was
        dann zu Preisveränderungen in einer vorgegebenen Pro-
        zentzahl über die ganze Breite der Produkte führt.
        Natürlich gilt auch dann für das Einzelprodukt die ef-
        fiziente Preisleistung. Natürlich wäre dabei im letzten
        Jahr eine Senkung des Standardbriefes unausweichlich
        gewesen. Und ich behaupte einmal, die Post hätte ihrem
        Image einen fast unbezahlbaren Dienst erwiesen, wenn
        sie das Porto angepasst hätte. Mit ihrer Weigerung einer
        Portosenkung haben Bundesregierung und Post AG aber
        selbst dazu beigetragen, dass sich inzwischen der Ein-
        druck gefestigt hat: Ohne Beibehaltung des Monopols,
        ohne weiteren staatlichen Schutz ist das Unternehmen
        Post AG nicht in der Lage im Wettbewerb zu bestehen.
        Der Bundesfinanzminister verstärkt diesen Eindruck
        durch seine diversen Briefe an die Fachaufsicht. Er
        glaubt, nur durch staatliche Eingriffe kann er den Aktien-
        wert erhalten, was nichts anderes heißt, als dass der Bund
        durch künstliche Spitzenpreise auf Kosten der Verbrau-
        cher Kasse macht.
        Denn es war schon bezeichnend, dass der Bundeswirt-
        schaftsminister in einem Interview als Grund für seinen
        Griff in die Portokasse der Bürger angegebenen hatte, vor
        einem Börsengang müsse man dafür sorgen, dass das Un-
        ternehmen ausreichenden Gewinn ausweise. Es ging also
        nicht um den günstigeren Portotarif für den Verbraucher,
        sondern um die Zusage an die Aktionäre auf einen satten
        Gewinn.
        Nach dem EWG-Vertrag sind die Mitgliedstaaten un-
        ter anderem verpflichtet, die missbräuchliche Ausnutzung
        der marktbeherrschenden Stellung von Unternehmen zu
        verhindern und sie nicht noch zu fördern. Vor allem aber
        sind Bundesregierung und Post sowohl nach dem Postge-
        setz als auch nach EU-Recht verpflichtet, die Preise der
        Post im Monopolbereich an den Kosten für effiziente Leis-
        tungsbereitstellung zu orientieren; und nach Ansicht aller
        wichtigen Marktbeobachter ist das Porto für Standard-
        briefe zu hoch.
        In diesem Zusammenhang darf ich nochmals auf einen
        unannehmbaren Sachverhalt hinweisen: Dass die Post zum
        Jahresanfang eine neue teure Spitzenkraft eingestellt hat,
        nämlich die ehemalige EU-Kommissarin Wulf-Mathies,
        deutet darauf hin, dass sie die Vorwürfe vielfacher Rechts-
        verstöße viel ernster nimmt, als sie öffentlich zugibt.
        Als einen regelrechten Skandal empfinde ich es aber
        nach wie vor, dass Frau Wulf-Mathies nicht nur mit ihrem
        Insider-Wissen als ehemalige EU-Kommissarin der Post
        zu Diensten ist, sondern gleichzeitig auch noch der Bun-
        desregierung als Beraterin zur Verfügung steht, und dies,
        wo doch gleichzeitig die Brüsseler Verfahren nicht nur ge-
        gen die Post, sondern auch gegen die Bundesregierung ge-
        richtet sind. Ich empfinde dies bis heute als eine uner-
        trägliche Interessenverquickung, die eigentlich schwerer
        wiegt als das, was man Herrn Bangemann vorgeworfen
        hatte.
        Die Regierung sollte zweierlei tun: Sie sollte erstens
        der Regulierungsbehörde unmittelbar die Möglichkeit ge-
        ben, das unterbrochene Preisverfahren zu Ende zu führen,
        was zu verbraucherfreundlicherem Porto führen würde
        und sie sollte sich zweitens nicht hinter den Staaten ver-
        stecken, die das Postmonopol möglichst noch lange bei-
        behalten möchten. Der Ablauf des Postmonopols Ende
        2002, wie es im Postgesetz der alten Regierung steht,
        kann nicht durch EU-Recht verhindert werden.
        Wie sagte doch vor wenigen Tagen der neue Vorsit-
        zende der Monopolkommission in einem Interview im
        Handelsblatt – ich zitiere –: „Ohne Wettbewerb bleibt das
        Briefporto noch lange hoch.“
        Der Vorstandsvorsitzende der Post AG, Dr. Zumwinkel,
        hat Recht, wenn er öffentlich erklärt, dass die Postlibera-
        lisierung nur vorankommt, wenn Deutschland weiterhin,
        wie unter der alten Regierung, Vorreiter der verbraucher-
        freundlichen Liberalisierung bleibt. Inzwischen sind wir
        in Europa längst nicht mehr Vorreiter, sondern allenfalls
        im Mittelfeld der Reformstaaten zu finden.
        Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Liberalisierung des Postmarktes in Europa ist ins
        Stocken gekommen. Die EU-Staaten konnten sich bisher
        nicht auf einen gemeinsamen Zeitplan zur weiteren Öff-
        nung des Postmarktes einigen. Das bedeutet, dass das Un-
        gleichgewicht der Marktöffnung in Europa weiter besteht.
        Deutschland hat im Unterschied zu anderen Ländern
        der EU in der Öffnung des Postmarktes schon gute Er-
        gebnisse erzielt. Dass diese Marktöffnung noch nicht weit
        genug geht, darin sind wir uns sicherlich einig. Bei einem
        gegenwärtigen Marktanteil der privaten Unternehmen
        von unter 2 Prozent im lizenzierten Bereich müssen wir
        noch große Schritte gehen. Wir sind zu diesen Schritten
        bereit besonders, wenn man sich Bereiche ansieht, in de-
        nen der Wettbewerb für die Kunden erhebliche Fort-
        schritte gebracht hat.
        Ein gutes Beispiel für die positiven Folgen des Wett-
        bewerbs im Postwesen ist der Kurierbereich. In nur weni-
        gen Jahren haben flexible Wettbewerber eine Vielzahl von
        innovativen Dienstleistungen hervorgebracht. Das hat
        auch das Unternehmen Post beflügelt und hat geholfen,
        Verkrustungen aufzubrechen. Wer von Ihnen vor einigen
        Jahren versucht hat, eine Sendung innerhalb eines Tages
        an einen beliebigen Ort Deutschlands zu befördern, weiß
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114100
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        um den Fortschritt. Diese breite Auswahl an Dienstleis-
        tungen und Wettbewerbern brauchen wir auch in anderen
        Bereichen des Postmarktes.
        Wir stoßen aber dort auf Probleme, wo wir den ande-
        ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union weit voraus
        sind. Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, alle
        diese Länder wollen den Postmarkt nicht in dem Maße li-
        beralisieren, wie wir das vorhaben. Dort wird versucht, an
        der alten Staatspost festzuhalten und Wettbewerber mög-
        lichst vom Markt fernzuhalten. Wir sind aber darauf
        angewiesen, in gleichen Schritten wie unsere europä-
        ischen Nachbarn vorzugehen. Ein Ungleichgewicht in der
        Marktköffnung der Staaten birgt die Gefahr eines Un-
        gleichgewichtes auf dem deutschen Markt. Unternehmen
        aus Ländern, die ihren Markt noch nichtliberalisiert ha-
        ben, können mit ihren üppigen Monopolgewinnen auf den
        Märkten konkurrieren, auf denen bereits ein funktionie-
        render Markt entsteht. Wir sehen dieses Beispiel heute auf
        dem Energiemarkt, auf dem die französische EDF ihre
        Monopolgewinne dazu nutzt, sich auf dem liberalisierten
        deutschen Energiemarkt zu positionieren. Deutsche Un-
        ternehmen haben diese Gewinne nicht und können in
        Frankreich auch nicht in den Wettbewerb um den End-
        kunden eingreifen. Es ist daher wichtig, die Öffnung des
        Postmarktes im Einklang mit der europäischen Entwick-
        lung fortzuführen.
        Wir müssen aber der Motor der weiteren Liberalisie-
        rung der Postmärkte in Europa sein. Daher ist es unsere
        Aufgabe, auf einen europaweit verbindlichen Termin zum
        Auslaufen des Postmonopols hinzuarbeiten. Dadurch
        werden auch die Länder in Zugzwang gebracht, die sich
        auf ihren bisherigen Liberalisierungsschritten ausruhen
        wollen.
        Der Termin für die europaweite Marktöffnung im
        Postbereich darf nicht erst 2009 sein. Dadurch würde
        wertvolle Zeit verschenkt, während weiter Monopol-
        preise gezahlt werden müssen und aufkommende Wettbe-
        werber vom Markt ferngehalten werden. Alle Mitglieds-
        länder müssen schon früher dazu gebracht werden, echte
        Schritte zur Marktöffnung zu unternehmen. Dazu gehört
        auch die europaweite Öffnung des Marktes für Briefpost
        unterhalb 350 Gramm.
        Es macht sich natürlich sehr gut, wenn die sehr geehr-
        ten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. die Senkung
        des Briefportos verlangen. Aber das allein reicht nicht. Ich
        hätte wirklich gedacht, dass gerade Sie als Mitglieder ei-
        ner wirtschaftsliberalen Partei den gesamten Hintergrund
        berücksichtigen könnten und sich nicht in einfachen po-
        pulären Forderungen ergingen.
        Rainer Funke (F.D.P.): Ich gratuliere zunächst der
        Post AG zu dem erfolgreichen Börsengang. Die Post AG
        hat nicht nur den beabsichtigten Betrag emittieren kön-
        nen, sondern hat offensichtlich auch einen richtigen Aus-
        gabekurs gefunden. Die Post AG ist eines der ganz selte-
        nen Unternehmen in der Welt, die privatisiert sind und
        ihren Aktionären aufgrund einer Monopolrente einen
        Gewinn bescheren kann, der niemals zustande gekommen
        wäre, wenn die Dienstleistungen der Post im Wettbewerb
        stehen würden. Das ist für unser marktwirtschaftliches
        System schon eine Ausnahmeerscheinung – um nicht zu
        sagen: ein Skandal!
        Realistischerweise betrüge bei Wettbewerbsverhältnis-
        sen der Preis für die Beförderung eines Normalbriefes bis
        20 Gramm 90 Pfennig. Mit diesem überhöhten Porto von
        1,10 DM finanziert die Post AG den Umbau zu einem
        weltweiten Logistikunternehmen. Ich will nicht missver-
        standen werden: Der Zug, Mehrwertdienstleistungen auf
        dem Gebiet der Logistik zu erwirtschaften, ist richtig. Die
        Finanzierung aber, über den überhöhten Portopreis auf-
        grund der Monopolstellung, ist falsch, weil auf diese
        Weise privaten Wettbewerbern, die nicht über solche
        Monopolstellungen verfügen, im Wettbewerb Vorteile
        zugeschanzt werden, die in einem fairen Wettbewerb
        nicht möglich wären. Dasselbe gilt natürlich auch für den
        Bereich des Paketdienstes. Durch entsprechende Quer-
        subventionierung werden private Wettbewerber am Markt
        weggebissen.
        Die F.D.P.-Fraktion wird sich vehement gegen die Ver-
        längerung des Postmonopols wehren. Dieses Monopol
        verfälscht den Wettbewerb auch auf Drittmärkten. Das
        Argument, man müsse im europäischen Geleitzug das
        Monopol nach und nach, möglichst erst in acht bis zehn
        Jahren, aufheben, ist verlogen. Wir müssen nicht die
        Fehler zum Beispiel unserer französischen Nachbarn
        übernehmen. Uns hat der Wettbewerb für unsere Volks-
        wirtschaft nur genutzt. Das gilt nicht nur für die Telekom-
        munikation, wo wir Vorreiter in Europa für die Öffnung
        der Märkte gewesen sind, übrigens sehr zum Nutzen un-
        serer Verbraucher und unserer Wirtschaft. Dies sollte auch
        für die Post AG gelten; denn nur ein wettbewerbsfähiges
        Unternehmen ist fit und nicht fett.
        Gerhard Jüttemann (PDS): Die PDS-Fraktion hatte
        beantragt, in die heutige Debatte um den vorliegenden An-
        trag der F.D.P. auch einen Gesetzentwurf der PDS-Frak-
        tion zur Änderung des Postgesetzes einzubeziehen. Die
        F.D.P. hat das abgelehnt mit der Begründung, die beiden
        parlamentarischen Initiativen hätten angeblich nichts mit-
        einander zu tun. Ich will den Zusammenhang erklären.
        Die Begründung unserer Ablehnung des F.D.P.-Antrages
        ergibt sich daraus.
        Diejenigen, die uns erklären, Postleistungen könnten
        billiger als heute erbracht werden und deshalb Portosen-
        kungen verlangen, spekulieren auf zweierlei: Erstens da-
        rauf, dass die Post weiter ihr Personal reduziert und damit
        die Arbeitslosenzahlen nach oben treibt, und zweitens,
        dass für die verbliebenen Mitarbeiter die sozialen Stan-
        dards, vor allem die Einkommen, weiter reduziert werden.
        Diese Entwicklung hat besonders zu Beginn dieses
        Jahre geradezu beängstigende Formen angenommen.
        Mehr als 19 000 Beschäftigte der Deutschen Post AG
        müssen in diesem Jahr Gehaltseinbußen zwischen 7 und
        30 Prozent hinnehmen. Betroffen von diesem Lohnraub
        sind alle Beschäftigten mit befristeten Verträgen und sol-
        che, die ab 1. Januar oder später neu eingestellt werden.
        Hintergrund dessen, dass sich die Gewerkschaft darauf
        eingelassen hat, sind die Erpressungsversuche der Deut-
        schen Post AG, die mit Ausgliederung verschiedener
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14101
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        Bereiche und Fremdvergabe an Billiganbieter gedroht
        hatte. Allerdings gehören diese Billiganbieter meist zum
        eigenen Konzern. Denn die Deutsche Post AG hat sich
        nach der Privatisierung zu einem unübersehbaren Ge-
        flecht von Logistikunternehmen gewandelt, die zu einem
        erheblichen Teil mit Scheinselbstständigen und Men-
        schen in prekären Arbeitsverhältnissen agieren.
        Die so genannten Wettbewerber der Deutschen Post
        AG, die auf nichts sehnlicher als die totale Marktöffnung
        warten, arbeiten fast ausschließlich ebenfalls mit Schein-
        selbstständigen und Menschen in prekären Beschäfti-
        gungsverhältnissen. Und eines ist völlig klar: Wenn der
        Markt eines Tages zu 100 Prozent geöffnet sein wird, dann
        sind auch die Tarife der Stammbelegschaft der Deutschen
        Post AG nicht mehr zu halten.
        Dieser katastrophale Abbau sozialer Standards im
        Postbereich ist das Ergebnis von Privatisierung, Liberali-
        sierung und Förderung des Wettbewerbs. Der Antrag der
        F.D.P. zur Portosenkung dient nichts anderem als der Be-
        schleunigung dieses Prozesses und damit des Sozialraubs.
        Gleichzeitig wird er die Arbeitslosigkeit im Postbereich
        verstärken, nachdem die Post schon heute ihre Beschäf-
        tigtenzahl infolge der Privatisierung um 150 000 reduziert
        hat.
        Ziel des Gesetzentwurfs der PDS hingegen, über den
        die F.D.P. nicht reden will, über den hier aber trotzdem
        noch geredet werden wird, ist die Ausdehnung der ge-
        fährdeten, aber noch vorhandenen sozialen Privilegien
        der Stammbelegschaft der Deutschen Post AG auf die an-
        deren Beschäftigten der Branche.
        Siegmar Mosdorf (SPD): Bereits im April vergange-
        nen Jahres ist auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion,eine
        Aktuelle Stunde mit dem Ziel einer Briefportosenkung
        veranstaltet worden. Der F.D.P.-Antrag will diese alte
        Diskussion neu aufnehmen. Aber nur durch ihre bloße
        Wiederholung werden Forderungen nicht besser. Statt-
        dessen müssten neue Argumente vorgetragen werden; die
        sind jedoch nicht zu erkennen.
        Damals wie heute vertritt die Bundesregierung die
        Auffassung, dass die Weisung zur Fortführung des Brief-
        portos bis zum 31. Dezember 2002 wirtschaftspolitisch
        geboten und rechtlich zulässig war. Denn: Es besteht ein
        innerer Zusammenhang zwischen der Laufzeit der Exklu-
        sivlizenz der Deutschen Post AG und der Geltungsdauer
        bestehender Genehmigungen, auf die im Postgesetz Be-
        zug genommen wird.
        Mittlerweile bezweifelt auch kein Mensch mehr, dass
        der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ge-
        genüber der Regulierungsbehörde ein gesetzlich verbrief-
        tes Weisungsrecht hat. Damit ist auch keinesfalls die
        immer wieder zu Recht betonte und vom Wirtschafts-
        minister gewahrte Unabhängigkeit der Regulierungsbe-
        hörde für Telekommunikation und Post tangiert worden.
        Diese besteht selbstverständlich, bezieht sich jedoch auf
        förmliche Verfahren bei den einzelnen Beschlusskam-
        mern. Ein solches förmliches Verfahren zur Neufest-
        setzung des Briefportos war letztes Jahr jedoch nicht ein-
        geleitet worden.
        Nun, nachdem seit dem 1. September 2000 die Geneh-
        migungen für die Briefentgelte fortbestehen, fordert der
        vorliegende Antrag die Regulierungsbehörde auf, das
        Porto zu senken. Da Sie fair die Begründung dieses An-
        trags das Postgesetz heranziehen, frage ich Sie, auf wel-
        cher postgesetzlichen Grundlage das Porto denn jetzt ge-
        senkt werden soll? Es gibt dafür nämlich keine! Und
        deshalb ist Ihr Antrag auch unseriös: Sie fordern etwas,
        was sich zwar wunderbar fordern lässt, wofür es aber
        keine Mittel zur Durchsetzung gibt.
        Der von Ihnen angeführte § 20 des Postgesetzes ist
        zwar richtig zitiert. In Verbindung mit § 24 des Postgeset-
        zes ist er jedoch nicht einschlägig. Die Regulierungs-
        behörde kann Briefentgelte nur dann nachträglich über-
        prüfen, wenn entweder Preisunterbietungen zu vermuten
        sind oder eine Diskriminierung einzelner Kunden vor-
        liegt. Beides ist nicht der Fall. Deshalb läuft Ihr Antrag
        und seine Begründung ins Leere.
        Die Deutsche Post AG stellt sich bereits seit mehreren
        Jahren auf die zukünftigen wirtschaftlichen Herausforde-
        rungen der Brief-, Transport- und Logistikmärkte ein. Mit
        teilweise großen Aufwendungen verbessert sie ihre inne-
        ren Betriebsstrukturen und steigert damit auf längere
        Sicht ihre Effizienz. Dass dieser Weg erfolgreich ist, zeigt
        der im letzten Herbst bei insgesamt schwierigem Börsen-
        umfeld gelungene Börsenstart der Deutschen Post AG.
        Sowohl Privatanleger als auch institutionelle Investoren
        setzen in die Leistungsfähigkeit der Deutschen Post AG
        großes Vertrauen.
        Eine weiterhin solide wirtschaftliche Entwicklung der
        Deutschen Post AG wird dann die Voraussetzung dafür
        bilden, dass eine Senkung des Briefportos nach dem Aus-
        laufen der bestehenden Genehmigungen Ende 2002 mög-
        lich ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat auf diesen Zu-
        sammenhang bereits vor einigen Wochen hingewiesen.
        Über Art und Höhe der dann vorzunehmenden Tarifver-
        änderung im Briefbereich wird dann selbstverständlich
        die Regulierungsbehörde in einem förmlichen Verfahren
        zu entscheiden haben.
        Ich bitte Sie deshalb, den gestellten Antrag abzulehnen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
        Personenstandsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22)
        Harald Friese (SPD): Als sich die junge Mutter ver-
        zweifelt beim Frauennotruf im bayerischen Amberg mel-
        dete, war sie auf der Suche nach einer Bleibe für ihr un-
        gewolltes Baby, das sie in wenigen Stunden zur Welt
        bringen würde. Niemand durfte es wissen, niemand ihren
        Namen kennen, aber das Kind sollte es gut haben. „Wir
        treffen uns“, sagte die Beraterin am Notruftelefon rasch,
        „Sie können uns ihr Baby übergeben, der Name spielt
        keine Rolle, es wird gut versorgt.“
        Doch damit war der Anruferin noch nicht geholfen. Sie
        hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte, wenn die We-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114102
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        hen einsetzten. Zu Hause würde die Geburt bemerkt, im
        Krankenhaus registriert. „Wo soll ich denn hin?, fragte sie
        weinend. Die Sozialarbeiterin schwieg lange. „Ich kann
        Ihnen nicht helfen“, sagte sie. „Gehen Sie irgendwohin,
        wo Sie Wasser haben, am besten zum Klo.“...
        Diese geheimen Geburten in öffentlichen Toiletten,
        Hinterzimmern und Kellerverschlägen machten ihr Angst –
        vor allem das Wissen darum, was Mutter und Kind dabei
        passieren kann: dass etwa manchem Neugeborenen, wenn
        es plötzlich schreit, in Panik doch noch ein Kissen aufs
        Gesicht gedrückt wird.“
        So der „Spiegel“ vom 16. Oktober 2000.
        Nur eine Geschichte, die zu Herzen geht? Ein Einzel-
        fall? Leider nein!
        Etwa zwei Dutzend getötete Neugeborene findet man
        jährlich in Deutschland – mehr oder weniger zufällig. Die
        Dunkelziffer getöteter Neugeborener soll mindestens
        vierzigmal so groß sein, also tausend Babys im Jahr, die
        nach der Geburt umgebracht werden.
        Und dies sind alles Kinder von Müttern, die nicht in ei-
        nem Krankenhaus, nicht zu Hause mit einer Hebamme,
        sondern im Verborgenen und in der Regel allein entbin-
        den: in einer öffentlichen Toilette, in einem Kellerraum,
        jedenfalls anonym und unerkannt. Die Frauen befinden
        sich in ausweglosen Situationen und verheimlichen des-
        halb Schwangerschaft und Geburt.
        Ich will heute nicht der Frage nachgehen, warum es in
        unserem Sozialstaat zu solchen Lebenssituationen kommt.
        Wir würden von viel menschlichem Leid erfahren: Ent-
        scheidender ist, was der Gesetzgeber tun kann, um schwan-
        geren Frauen, die um jeden Preis anonym bleiben wollen,
        eine humane Geburt zu ermöglichen. Nur dadurch sichern
        wir den geborenen Kindern eine Chance zum Leben.
        Unser geltendes Personenstandsrecht steht aber so ge-
        nannten anonymen Geburten entgegen. Die §§ 16 ff. des
        Personenstandsgesetzes bestimmen, dass eine Geburt bin-
        nen einer Woche anzuzeigen ist, und zwar von denen, die
        bei der Geburt anwesend waren. Bürgerschaftliche Initia-
        tiven, wie der Verein Sterni Park e.V. in Hamburg, sichern
        mit so genannten Babyklappen zwar das Überleben eines
        Neugeborenen, aber nicht dessen Geburt unter humanen
        und medizinisch einwandfreien Bedingungen. Der Sozi-
        aldienst katholischer Frauen in Amberg ermöglicht im
        dortigen Krankenhaus anonyme Geburten. Die Beteilig-
        ten begehen dann aber eine Ordnungswidrigkeit und kön-
        nen mit der Festsetzung eines Zwangsgeldes angehalten
        werden, den Namen der Mutter preiszugeben.
        Es bleibt also festzuhalten: Anonyme Geburten sind in
        Deutschland rechtswidrig. Wenn man sie will, muss das
        Personenstandsgesetz geändert werden.
        Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion versucht, mit einer
        Verlängerung der Anzeigefrist das enge zeitliche Korsett
        des Personenstandsgesetz zu sprengen. Bestehen bleibt
        aber weiterhin die Verpflichtung, danach den Namen der
        Mutter offen zu legen. Das löst aber das Problem nicht.
        Die SPD-Fraktion hält auch aus anderen Gründen den Ge-
        setzentwurf der CDU/CSU-Fraktion für problematisch.
        Er ist so nicht zustimmungsfähig. Wir sind uns aber im
        Ziel einig, Müttern in ausweglosen Situation zu helfen
        und damit den Kindern zu helfen. Denn man kann ein
        Kind nur mit der Mutter, nicht aber gegen die Mutter
        schützen.
        Ich will nicht verhehlen: Eine Änderung des Perso-
        nenstandsgesetzes begegnet einer Fülle rechtlicher Be-
        denken. Zunächst verfassungsrechtliche: Nach einer Ent-
        scheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Ja-
        nuar 1989 ist das Recht auf Kenntnis auf eigene Abstam-
        mung Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes
        nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Ist dieses
        mit der Legalisierung anonymer Geburten vereinbar? Es
        gibt völkerrechtliche Bedenken: Art. 7 der UN-Kinder-
        konvention bestimmt, dass jedes Kind das Recht hat,
        seine Herkunft zu kennen. Eine Änderung des Personen-
        standsgesetzes könnte zudem gegen Art. 8 Abs.1 der Eu-
        ropäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, wo-
        nach von Geburt an die Integration des Kindes in seine
        Familie ermöglicht werden muss.
        Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ver-
        weist dabei auf den Grundsatz „mater semper certa est“.
        Dieser Satz atmet denselben Geist wie das Personen-
        standsgesetz, das sich auch heute kaum von seiner Ur-
        sprungsfassung aus dem Jahre 1875 unterscheidet, näm-
        lich die Verdrängung sozialer Realität aus dem rechtlichen
        Bewusstsein.
        Wir werden über vieles diskutieren müssen, auch darü-
        ber, ob die Möglichkeit anonymer Geburten von, Müttern
        missbraucht werden kann. Ich glaube es nicht, aber wir
        müssen die Erfahrungen im Ausland, insbesondere in
        Frankreich, sorgfältig prüfen und auswerten.
        In der Güterabwägung zwischen dem Recht auf Kennt-
        nis der eigenen Abstammung und dem Recht auf Leben
        unter Verzicht auf Kenntnis der eigenen Abstammung fällt
        mir aber die Entscheidung leicht: Sie muss zugunsten des
        Lebens falten.
        Zum weiteren Verfahren möchte ich einen Vorschlag
        machen: Es wäre dem Thema angemessen, im Rahmen ei-
        ner interfraktionellen Arbeitsgruppe gemeinsam nach Lö-
        sungen zu suchen. Dazu lade ich Sie herzlich ein.
        Renate Diemers (CDU/CSU): Politisch fühle ich
        mich immer dann in besonderer Weise gefordert, wenn
        sich hinter einem nüchtern und trocken klingenden Ge-
        setzentwurf lebensentscheidende Rahmenbedingungen
        für Menschen in unserem Land verbergen. Ich bin sicher,
        dass viele Menschen mit dem Begriff Personenstandsge-
        setz erst einmal gar nichts verbinden. Aber es handelt
        sich in der Tat um ein lebenswichtiges, ein sehr emotio-
        nales Thema und ich freue mich, dass die zuständigen
        Kollegen aus dem innenpolitischen Bereich mir als Fa-
        milienpolitikerin die Gelegenheit geben, dazu Stellung
        zu nehmen.
        Der vorliegende Gesetzentwurf zum Personenstands-
        gesetz beinhaltet, die Anzeigefrist der Schwangerenbera-
        tungsstellen für Geburten von einer Woche auf 10 Wochen
        zu verlängern. Mütter in Konfliktsituationen sollen sich
        an eine geeignete Schwangerenberatungsstelle wenden
        können und sollen zunächst – das heißt bis 10 Wochen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14103
        (C)
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        (A)
        (B)
        nach der Geburt – anonym bleiben können. Die Bera-
        tungsstellen hätten durch eine verlängerte Anzeigefrist
        mehr Zeit, den betroffenen Frauen einen Weg aus ihrer
        Notlage aufzuzeigen. Die Zahl der Kindesaussetzungen
        und andere Panikreaktionen würden mit Sicherheit ver-
        ringert. Außerdem wird damit dem ordnungsrechtlichen
        Auftrag, den das Personenstandsgesetz regelt, auch
        Genüge getan. Denn es dient ja auch dem Zweck, die Her-
        kunft eines Menschen zu dokumentieren. Somit wird
        zunächst einmal sichergestellt, dass Kinder in der Regel
        ihre Wurzeln kennen und ihre Interessen zum Beispiel in
        Bezug auf Erbansprüche gewahrt werden. Eine Verlänge-
        rung der Anzeigefrist ist somit auch im Interesse der Kin-
        der, wenn sich eine Mutter erst nach etlichen Wochen ent-
        schließt, zu ihrem Kind zu stehen. Voraussetzung
        allerdings ist, dass umfassend über die Bedeutung der An-
        zeigefrist informiert wird.
        In letzter Zeit wurde in der Öffentlichkeit sehr viel über
        Babyklappen diskutiert, die in vielen Städten inzwischen
        eingerichtet wurden. Dadurch wird zumindest sicherge-
        stellt, dass die ausgesetzten Kinder umgehend medizi-
        nisch versorgt werden und sich die Mütter nicht strafbar
        machen. Hier muss möglichst rasch der gesetzliche Rah-
        men geschaffen werden, um allen Beteiligten die notwen-
        dige Rechtssicherheit zu geben. Aber die Babyklappen –
        wie auch die Beratungsstellen – werden nicht von allen
        verzweifelten Frauen genutzt werden.
        Findelkinder und Kindesaussetzung bis hin zu Kindes-
        tötungen aus totaler Verzweiflung hat es leider schon
        immer gegeben. In Deutschland hat sich die Zahl der Aus-
        setzungen in den vergangenen Jahrzehnten erfreulicher-
        weise verringert – sicherlich auch eine Folge der verbes-
        serten Verhütungsmöglichkeiten und der Hilfsangebote –
        und sich bei etwa 40 bis 50 Kinder pro Jahr eingependelt.
        Aber auch die gering erscheinende Zahl macht schmerz-
        haft deutlich, dass wir eine gewisse Anzahl von Frauen in
        Notlagen trotz aller Beratungsmöglichkeiten und Hilfsan-
        gebote, trotz Anzeigefrist und Babyklappen einfach nicht
        erreichen können.
        Eine Frau, die nicht zu ihrer Schwangerschaft und
        ihrem Kind steht bzw. stehen kann, ist in einer enormen
        Stresssituation. Frauen reagieren auf verschiedenste
        Weise darauf, mit Schwangerschaftsabbruch, Aussetzung
        oder gar Tötung von Neugeborenen. Und genau hier müs-
        sen wir ansetzen und hinterfragen. Gibt es nicht noch an-
        dere Hilfsangebote für Frauen, über die wir sprechen soll-
        ten? Daher rege ich über die heutige Debatte hinaus an,
        gemeinsam über eine gesetzliche Regelung für anonyme
        Geburten zu sprechen.
        Diese Möglichkeit würde für diese kleine Gruppe der
        Frauen bestehen, jene 40 bis 50 pro Jahr, die so verzweifelt
        sind, dass sie eine Schwangerschaft verheimlichen, sich kei-
        nem Arzt anvertrauen und auf keinen Fall den Weg in die
        Beratungsstellen finden. Wie verzweifelt muss man sein,
        wenn man monatelang derartige körperliche und seelische
        Belastungen aushält! Zu wissen, auf die unwürdigste Weise,
        zum Beispiel auf einer öffentlichen Toilette, auf die die mei-
        sten Menschen noch nicht einmal zum Händewaschen ge-
        hen würden, ein Kind zur Welt zu bringen und anschließend
        auf ebenso unwürdige Art wegzugeben! Von anderen Pani-
        kreaktionen wie Kindestötungen ganz zu schweigen.
        Aber auch den Aspekt der gesundheitlichen Schädi-
        gungen des Kindes und auch der Frau aufgrund der feh-
        lenden medizinischen Versorgung dürfen wir nicht außer
        Acht lassen.
        Spricht es für eine kinderfreundliche Gesellschaft,
        wenn wir diesen Frauen und ihren Kindern ärztlichen Bei-
        stand während der Schwangerschaft und der Geburt quasi
        verweigern? Wäre es wirklich ein finanzielles Problem,
        wenn 40 bis 50 Frauen pro Jahr in Deutschland anonym
        entbinden würden? Wäre es nicht vielmehr eine kinder-
        freundliche und solidarische Gesellschaft, wenn Frauen
        sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden
        und stattdessen ein Kind anonym zur Welt bringen könn-
        ten, das heißt mit ärztlicher Hilfe? Und das wäre der Un-
        terschied zur bereits praktizierten Babyklappen-Lösung.
        Ich persönlich plädiere und werbe daher für die Mög-
        lichkeit, dass Frauen in einem Krankenhaus oder mithilfe
        einer Hebamme zu Hause anonym und mit entsprechender
        medizinischer Nachsorge entbinden können, um das Kind
        anschließend zur Adoption freizugeben. Die Belastungen
        für diese Frauen wären auch diesen neuen Bedingungen
        nach wie vor enorm; das sollten wir nicht vergessen.
        Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Thema in
        nächster Zeit sehr ernsthaft diskutieren würden, und ich
        wünsche mir im Interesse der Frauen und Kinder, dass ein
        fraktionsübergreifender Konsens möglich sein wird. Mir
        ist allerdings auch bewusst, dass bis zu einer entsprechen-
        den gesetzlichen Regelung noch großer Beratungsbedarf
        besteht und viele Fragen abzuklären sind. Aus diesem
        Grunde bitte ich Sie, unserem Gesetzentwurf zur Ände-
        rung des Personenstandsgesetzes zuzustimmen, weil auch
        die Verlängerung der Anzeigefrist ein weiterer wichtiger
        Schritt zum Wohle der Kinder und der Frauen sein wird.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN):
        In der Schule gezeugt,
        in Panik verschwiegen,
        in Lügen verstrickt,
        im Keller geboren,
        im Müll entsorgt.
        So beschreibt sehr eindeutig eine Initiative des Sterni
        Parks die Situation der ausgesetzten, häufig tot aufgefun-
        denen Neugeborenen. In Deutschland werden jährlich
        40 ausgesetzte Säuglinge gefunden. Die Hälfte von ihnen
        ist tot. Die genaue Zahl der ausgesetzten und getöteten
        Säuglinge, die niemals gefunden werden, ist mit Sicher-
        heit deutlich höher. In einer Notsituation verheimlichen
        die meist sehr jungen Frauen Schwangerschaft und Ge-
        burt. In ihrer Verzweiflung kann es zu Kurzschlussreak-
        tionen kommen. Sie setzen die Säuglinge aus. In Extrem-
        fällen kommt es sogar zur Tötung.
        Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
        CSU, legen uns einen Gesetzentwurf vor, der auf diese
        Problematik eingeht. Aber Ihr Vorschlag ändert an der
        Problematik, dass die jungen Frauen während der Geburt
        bisher nicht auf Hilfe hoffen können – eine Ausnahme bil-
        det die Klinik in Sulzbach –, nichts. Kein Kind, das bis-
        her gefunden wurde, wurde in einer Klinik geboren. Für
        uns bleiben einige entscheidende Fragen offen. Sie wol-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114104
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        len die Frist für die Anzeigepflicht für eine Geburt auf
        zehn Wochen verlängern.
        In dieser Zeit soll die Schwangerenberatungsstelle auf
        die Mutter einwirken, um eine heimliche Geburt doch
        noch zu verhindern; denn wie sollte es sonst verstanden
        werden, dass in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs
        steht, dass die Frau zunächst ihre Anonymität wahren
        kann. Ich glaube, dass der Druck, der ja eigentlich von den
        Frauen genommen werden soll, damit wieder erhöht wird.
        Erhöht werden würde mit dem vorliegenden Entwurf
        auch die Verantwortung der Beratungsstellen. Sie sollen
        nach dem Gesetzentwurf für die Anzeigepflicht verant-
        wortlich sein. Ich glaube, das ist problematisch.
        Ich glaube, wir sind uns in dem Ziel einig, dass wir die
        Gesundheit der verzweifelten Frauen und das Leben der
        Neugeborenen schützen wollen. Aber wir müssen uns
        doch fragen, wie die Hilfe aussehen muss, damit diese
        Frauen sie auch annehmen können; denn ansonsten schaf-
        fen wir eine Lösung, die an den Problemen vorbeigeht. Ist
        es nicht besser, Frauen, die sich in einem existenzgefähr-
        denden Konflikt befinden, tatsächlich in Ausnahmefällen
        die anonyme Geburt in einem Krankenhaus anzubieten?
        In diesem Fall wäre das Krankenhaus in Zusammenarbeit
        mit einer entsprechenden Stelle für die Anmeldung des
        Kindes verantwortlich. Ich sehe keinen sachlichen Grund,
        die Anzeigepflicht bei einer anonymen Geburt allein auf
        die Beratungsstellen zu verlagern.
        Derzeit gibt es bereits einige mutige Projekte, die die
        anonyme Geburt ermöglichen. Dazu gehören eine Klinik
        in Bayern, in der Mütter ihre neugeborenen Kinder
        zurücklassen können wie auch das Hamburger Findel-
        kind-Projekt. Ein Blick über die Grenzen kann uns viel-
        leicht bei der Lösung helfen. In Frankreich sind anonyme
        Geburten bereits seit 1941 möglich. Diese Möglichkeit
        wurde damals geschaffen, um Frauen, die während des
        Krieges beispielsweise von ausländischen Soldaten uner-
        wünscht schwanger wurden, die Chance zu geben, ano-
        nym zu entbinden.
        Diese Regelung dient noch heute dem Schutz des Kin-
        des bei einer anonymen Geburt. Circa 500 bis 700 Kinder
        werden dort als „anonym“ registriert. Allerdings wurden
        dort bis jetzt auf sämtliche Abstammungsnachweise ver-
        nichtet. Inzwischen hat das Kabinett aber beschlossen,
        dass Kinder auf Antrag Kontakt zu ihren leiblichen Eltern
        herstellen können.
        Wir müssen auch bedenken, wie dem Recht des Kin-
        des, die eigene Abstammung zu erfahren, Rechnung ge-
        tragen werden kann.
        Lassen Sie uns möglichst gemeinsam nach einer Lö-
        sung suchen, die die Frauen, die sich in einer akuten Not-
        lage befinden, in ihrem Konflikt mit niedrig schwelligen
        Beratungs- und Hilfsangeboten unterstützt, die das Leben
        der Kinder schützt und Möglichkeiten schafft, freiwillig
        die eigene Abstammung zu erfahren, und Kinderhandel
        ausschließt. Zur Lösung dieser Konflikte ist der vorge-
        legte Gesetzentwurf nicht ausreichend. Darum schlage
        ich vor, dass wir all diese Fragen mit Vertretern von den
        entsprechenden Initiativen und Fachleuten aus Wissen-
        schaft in einer Anhörung erörtern. Vielleicht gelingt es
        uns sogar, einen gemeinsamen neuen Antrag zu verab-
        schieden.
        Ina Lenke (F.D.P.):Der Antrag der CDU/CSU zur Än-
        derung des Personenstandsgesetzes ist erst auf den zwei-
        ten Blick ein Thema, mit dem sich der Bundestag drin-
        gend beschäftigen muss. Ich selbst war in Vorbereitung
        dazu.
        Ich würde mir wünschen, dass wir während der Bera-
        tungen in den Ausschüssen zu einem gemeinsamen An-
        trag und gemeinsamer Beschlussfassung kommen, um
        schwangeren Frauen, die in ihrem persönlichen Umfeld
        und in ihren Familien nicht gut aufgehoben sind, eine
        Möglichkeit zu eröffnen, ihr Kind auch anonym zur Welt
        zu bringen.
        Die Zielrichtung dieses Antrages ist positiv: Schwan-
        geren Frauen in einer Notsituation soll geholfen werden,
        ihr Kind unter ärztlicher Betreuung anonym zur Welt zu
        bringen. Rechtlich ist das derzeit nicht möglich. Ärzte,
        Hebammen und Klinikleitungen befinden sich nicht auf
        legalem Boden, wenn sie Leben und Gesundheit schützen
        wollen. Mit gesetzlichen Änderungen können wir verhin-
        dern, dass jedes Jahr circa 40 bis 50 Frauen unter unwür-
        digen Zuständen und in gefahrvollen Situationen für Mut-
        ter und Kind ein Kind zur Welt bringen.
        Was soll getan werden, um zu verhindern, dass Säug-
        linge ausgesetzt werden und zu Tode kommen? Die so ge-
        nannten „Babyklappen“ sind eine Art der Hilfestellung,
        eine andere ist der vorliegende Antrag. Den Ansatz,
        Schwangerenberatungsstellen einzuschalten, sehe ich posi-
        tiv. Schon jetzt kann die Beratung anonym erfolgen. Das
        soll nun über den Zeitpunkt der Geburt ausgedehnt werden.
        Der Vorschlag des CDU/CSU-Antrages, die Frist zur
        Anzeige einer Geburt nach § 16 Personenstandsgesetz
        von eine auf zehn Wochen auszudehnen, gibt der Mutter
        Gelegenheit, sich für das gemeinsame Leben mit ihrem
        Kind zu entscheiden. Ein Problem der Regelung ist, dass
        das Recht des Kindes, seine Herkunft zu erfahren, mit
        der anonymen Geburt stark eingeschränkt wird: Dazu hat
        ein Verband aus Hamburg den Abgeordneten Vorschläge
        gemacht, die mit in die parlamentarischen Beratungen
        einbezogen werden sollten, mit dem Ziel, verfassungs-
        rechtliche Bedenken auszuräumen und somit das Recht
        des Kindes, seine Herkunft zu erfahren, beizubehalten.
        Neben gesetzlichen Änderungen muss ein Ausbau von
        Hilfsangeboten erfolgen. Die Babyklappe als letzte Ret-
        tung von Findelkindern oder Einrichtungen wie das Kin-
        derhaus im brandenburgischen Schwinau, das ausgesetzte
        Kinder aufnimmt, sind niedrig schwellige Angebote, die
        helfen, Leben zu retten. Wenn sich der Bundestag zu ei-
        ner Novellierung des Personenstandsgesetzes entschließt,
        sollten auch Regelungen gefunden werden, die die ano-
        nyme Geburt im Krankenhaus – wie sie in Süddeutsch-
        land von einem Krankenhaus bereits durchgeführt wird –
        gesetzlich absichern und gleichzeitig Klarheit über ver-
        fassungsrechtliche Fragen und andere, wie beispielsweise
        die Kostenträgerschaft, schaffen.
        Ich würde mich freuen, wenn wir zu einem gemeinsa-
        men Antrag aller Fraktionen im Deutschen Bundestag kä-
        men und werde mich dafür einsetzen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14105
        (C)
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        (A)
        (B)
        Heidemarie Lüth (PDS): Welcher formale Akt, wel-
        che persönliche Tragik, welches Leid, welche Demüti-
        gung, aber auch welche Chance verbergen sich hinter die-
        sem Gesetzentwurf? Seit Jahrhunderten bemühen sich
        Frauen, ja kämpfen Frauen, um die Selbstbestimmung.
        Dies schließt die Beantwortung der Frage ein, ob sie ein
        Kind austragen oder wann sie ein Kind gebären und ob sie
        mit ihm leben können.
        Nicht alle betroffenen Frauen lösen diesen schwierigen
        Konflikt aus den unterschiedlichsten Gründen selbstbe-
        stimmt und selbstbewusst. Aus Scham, allein gelassen, un-
        ter dem Druck der eigenen Familie, den Gesetzen ausge-
        setzt, die nicht immer bekannt sind, entscheiden sich
        Frauen zum Äußersten. Wir alle wissen das. Muss die Frau
        illegal gebären, sind oft Gefahren für Mutter und Kind der
        Preis. Noch schwerer wiegen psychische Belastung und
        Angst! Ein Findelkind – die Weltliteratur hält Zeugnisse be-
        reit – kann ebenso ein Problem der Frau von nebenan sein.
        Eine Möglichkeit, den in dieser Not geborenen Kindern
        eine Chance zu geben, sind die „Babyklappen“. Dies ist
        eine nicht geringe Chance für diese Kinder, die Chance auf
        Leben! Nach den heute geltenden gesetzlichen Regelun-
        gen verlieren sie jedoch das Recht, je ihre Herkunft zu er-
        fahren. Die abgebenden Mütter haben keine Aussicht, je zu
        erfahren, was aus dem Leben, zu dem sie trotz alledem ver-
        holfen haben, geworden ist. Adoptiveltern, die den Kin-
        dern Vater und Mutter werden, leben mit diesem Konflikt.
        Wer erlaubt uns, die wir nicht betroffen sind, diese sen-
        sible Frage zu entscheiden, zu entscheiden, ob ein Adoptiv-
        kind wissen darf, wer die leiblichen Eltern sind, ob die
        leibliche Mutter nach Jahren erfahren darf, wo und wie das
        Kind lebt? Wer erlaubt uns nicht zuletzt zu entscheiden,
        wie die Adoptiveltern das Problem bewältigen? Eine
        sechsfache unterschiedliche Sicht! Was darf, was muss
        rechtlich für alle Seiten wirklich geregelt sein? Welche vor
        allem auch zeitlichen Spielräume sollen gegeben werden?
        Kann überhaupt zwischen den Schutzgütern der am Kon-
        flikt beteiligten Parteien abgewogen werden? Was soll
        primär sein? Dies sind Fragen, die einen nicht loslassen!
        Sollen diese Kinder eine Chance haben und die abge-
        benden Mütter freier entscheiden können, dann bedarf es
        nicht noch mehr Regelungen! Dann bedarf es eines
        ganzen Bündels von Hilfsangeboten, die entkriminalisie-
        ren, vor Babyhändlern schützen, Frauen in der Schwan-
        gerschaft und bei der Geburt die notwendige gesundheit-
        liche Betreuung ermöglichen, den Kindern eine Chance
        geben, ihre Herkunft zu erfahren, so sie denn wollen, und
        die den Adoptiveltern, die nun Eltern der Kinder sind, hel-
        fen, gemeinsam mit ihren Kindern die komplizierte Si-
        tuation zu meistern.
        Nicht zu vergessen die erheblich schwerwiegendere
        Position der Frauen, für die das Ausländergesetz ent-
        scheidet. Der vorliegende Entwurf ist ein scheinbarer
        Aufschub, bietet letztlich keine wirkliche Lösung. Der
        anonymen Beratung und der anonymen Geburt folgt letzt-
        lich doch die staatliche Sanktion: die Meldepflicht, und
        zwar nicht von den Frauen direkt; vielmehr werden die
        Schwangerenberatungsstellen meldepflichtig. So bleibt
        den Frauen auch dieser psychische Druck nicht erspart.
        Eventuell wird momentan eine Panikreaktion verhindert;
        die Lösung ist es in keiner Weise. Wir sollten gemeinsam
        mit den Vereinen, Verbänden und den Selbsthilfegruppen
        überlegen, welche Wege geboten und gangbar sind.
        Nicht alles, was rechtlich geregelt ist, ist hilfreich,
        schon gar nicht in einem Bereich, in dem es um das
        Schicksal und Entscheidungen geht, die einen in der Tat
        ein Leben lang begleiten!
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
        Krankenhausfinanzierungsgesetzes und der
        Bundespflegesatzverordnung (DRG-Systemzu-
        schlags-Gesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 8)
        Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist gut,
        dass wir das zentrale Reformvorhaben, eine neue Vergü-
        tungsstruktur nach Leistung für die Krankenhäuser einzu-
        führen, heute ein tüchtiges Stück voranbringen:
        Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn in
        Zukunft die Leistung im Krankenhaus nicht mehr nach dem
        belegten Bett, sondern nach der tatsächlichen Leistung,
        nach dem tatsächlichen Aufwand in D-Mark bezahlt wird.
        Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn wir der
        Rosinenpickerei mit der Selektion der günstigsten Krank-
        heitsfälle durch die Einführung der DRGs ein Ende berei-
        ten. Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn wir
        durch Abschläge oder Zuschläge die Mehr- oder Minder-
        kosten von Krankenhäusern für ihre strukturbedingten Auf-
        gaben gerecht bewerten. Dies ist ein wichtiger Wertewan-
        del unter dem Motto: Das Geld muss der Leistung folgen.
        Erfreulich ist, dass die Deutsche Krankenhausgesell-
        schaft und die Krankenhausgesellschaften der Länder die-
        sen Reformschritt nun aufgeschlossen und konstruktiv
        gefördert haben. Das Ziel der ersten Etappe ist also zeit-
        gerecht erreicht.
        Die Vereinbarung in der Selbstverwaltung wird von al-
        len Beteiligten positiv bewertet, denn die AR-DRGs sind
        das medizinisch zeitgerechteste DRG-System.
        Drei wichtige Aufgaben sind jetzt zu leisten: Erstens.
        Die AR-DRGs müssen an die deutschen Behandlungsver-
        hältnisse angepasst werden. Zweitens. Das Klassifikati-
        onssystem muss jährlich an medizinische Veränderungen
        angepasst werden. Drittens. Die Bewertungsrelationen
        müssen auf der Grundlage tatsächlicher Kosten deutscher
        Krankenhäuser kalkuliert werden.
        Diese Aufgabenstellung ist nach unserer Auffassung
        weder vom Staat, sprich: vom BMG, noch von privaten
        Einrichtungen zu erfüllen. Wir setzen nicht auf staatliche,
        wir setzen nicht auf private, wir setzen auf die Selbstver-
        waltung. Wir reden nicht über Selbstverwaltung, sondern
        wir bauen und vertrauen auf die Selbstverwaltung. Die
        Selbstverwaltung braucht aber zur Umsetzung der ge-
        nannten drei Punkte einen neuen, wichtigen Baustein;
        denn nur so können diese zentralen Aufgaben erfüllt wer-
        den. Dieser neue Baustein heißt: DRG-Institut.
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        Die Selbstverwaltung hat sich darauf verständigt, die-
        ses Institut einzurichten. Das DRG-Institut wird die er-
        forderlichen Aufgaben übernehmen. Ohne eine solche,
        hochqualifiziert arbeitende Einrichtung geht es nicht. Das
        belegen die Erfahrungen vieler Länder.
        Dass die Erfüllung nicht zum Nulltarif geht, wissen wir
        von den Ländern, die mit DRGs arbeiten. Wenn sie Leis-
        tungen sehr korrekt abbilden sollen, dann müssen Fach-
        leute dicke Bretter bohren. Vergessen wir nicht: Es geht
        nicht um ein Rechnungsvolumen von 100 Millionen DM,
        sondern um ein Volumen von 100 Milliarden DM, für das
        wir eine neue leistungsbezogene Vergütung einführen
        wollen.
        Die geschätzten 5 Millionen DM für Institut und wis-
        senschaftliche Aufträge – 3,5 Millionen DM für das Insti-
        tut und 1,5 Millionen DM für die Aufträge –, sind sicher
        nicht überzogen hoch. Trotzdem können diese 5 Milli-
        onen DM nicht von der Selbstverwaltung, vor allem aber
        nicht von den Krankenhausgesellschaften, aus der Porto-
        kasse bezahlt werden. Dies kann die Selbstverwaltung aus
        eigener Kraft nicht schaffen.
        Wir schaffen mit dem DRG-Systemzuschlags-Gesetz die
        rechtliche Grundlage für die Finanzierung. Dazu wollen wir
        einen einfachen, schnell begehbaren Weg herstellen. Dieser
        Weg heißt Systemzuschlag. Die Kosten für das DRG-Insti-
        tut sollen über einen Systemzuschlag finanziert werden.
        Dieser Zuschlag ist von den Krankenhäusern zu entrichten.
        Der Systemzuschlag beträgt 30 Pfennig pro Krankheitsfall.
        Damit sind die 5 Millionen DM finanzierbar.
        Dabei wollen wir das einzelne Krankenhaus nicht über-
        fordern. Die 30 Pfennige pro Krankheitsfall werden die
        Budgets der Krankenhäuser nicht belasten. Diese Kosten
        werden nicht zulasten des Krankenhauses gehen. Das heißt,
        die Krankenhaus-Kollekte findet außerbudgetär statt.
        Aber wir verkennen nicht: Durch diese „Aus-
        deckelung“ haben wir auch den Rahmen für die Zustim-
        mung erweitert und das Gesetzgebungsverfahren be-
        schleunigt. Dies hat dazu geführt, dass im Bundestag die
        Mehrheit klar ist; auch aus dem Bundesrat – gleich, aus
        welcher Richtung – wird Zustimmung signalisiert.
        Die Selbstverwaltung hat sich auf diese Lösung ver-
        ständigt. Damit können wir nicht nur der Selbstverwal-
        tung zeitgerecht zu einem großartigen Baustein verhelfen.
        Wir bleiben auch noch im Zeitplan, um zeitgerecht die
        D-DRGs, in Deutschland einzuführen. Das D steht für die
        deutschen DRGs.
        Eines möchte ich noch unbedingt klarstellen: Die Rege-
        lung des DRG-Systemzuschlags-Gesetzes ist nicht als Prä-
        zedenzfall zu verstehen. Sie wird hier ausnahmsweise ge-
        troffen und ist gerechtfertigt wegen des außerordentlichen
        Umfangs und der Dauerhaftigkeit des Vorhabens.
        Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Wir beschäfti-
        gen uns heute mit dem Entwurf der Regierungsfraktionen
        für ein DRG-Systemzuschlags-Gesetz. Dieses Gesetz ist
        zweifelsohne wichtig, es ist aber bei den notwendigen
        Veränderungen für die Einführung eines neuen Entgelt-
        systems im stationären Sektor nur der kleinste Baustein.
        Krankenhäuser, Selbstverwaltung und Fachgesell-
        schaften haben sich angestrengt, die ihnen vom Gesetz-
        geber übertragenen Aufgaben in einem zeitlich eng
        gesteckten Rahmen zu bewältigen. Die rot-grüne Bundes-
        regierung lässt indes nicht erkennen, dass auch sie ihre
        Hausaufgaben macht.
        Die rot-grüne Regierungskoalition hat mit der GKV-
        Gesundheitsreform 2000 zwar die Weichen für die Ein-
        führung eines neuen pauschalierten Entgeltsystems im
        stationären Sektor gestellt. Aber Rot-Grün verkennt, dass
        in Deutschland die erforderlichen Daten für eine zuver-
        lässige, flächendeckende Kalkulation der in deutschen
        Kliniken behandelten Fälle und ihrer Aufwendungen erst
        erstellt werden müssen.
        Zwar hat Rot-Grün der DRG-Einführung eine Vorbe-
        reitungsphase vorangestellt, jedoch ist diese zeitlich viel
        zu knapp bemessen. Noch im Jahr 2000 sollten die Leis-
        tungs- und Diagnosekataloge erarbeitet, Krankenhäuser
        repräsentativ ausgewählt und die Kalkulationsregeln er-
        stellt werden. Die Daten des Jahres 2001 sollen pro-
        spektiv erfasst und zur Berechnung der Relativgewichte
        herangezogen werden, um dann im Jahr 2002 Basisfall-
        preise zu ermöglichen.
        Dieser Zeitplan ist nicht zu halten. Auch deshalb ist die
        rot-grüne Bundesregierung aufgefordert, die Anpassungs-
        phase für die Krankenhäuser zu verlängern und nicht be-
        reits zum 1. Januar 2003 die stationären Leistungen scharf
        nach dem DRG-System abzurechnen. Geschieht dies
        nicht, droht die Einführung des neuen Finanzierungssys-
        tems ein Flop zu werden – jedoch nicht, weil die Selbst-
        verwaltung ihre Hausaufgaben nicht erledigt hätte, son-
        dern weil die Regierung nicht angemessen auf die
        Situation reagiert hat.
        Neben der Verlängerung der Anpassungsphase bis zum
        Jahr 2006 ist es dringend erforderlich, sowohl das Kran-
        kenhausfinanzierungsgesetz als auch die neue Entgeltver-
        ordnung noch in diesem Jahr zu novellieren. Die ord-
        nungspolitischen und finanziellen Rahmenbedingungen
        für die Systemumstellung und die Konvergenzphase müs-
        sen schnell geschaffen werden.
        Anpassungsbedarf besteht auch bei der Verschlüsse-
        lung der Daten. Erst zum 1. Januar 2000 ist der ICD-10
        eingeführt worden. Dieser kann aber nicht 1:1 auf den
        australischen Schlüssel, der für das DRG-System gilt,
        umgesetzt werden. Der derzeit geltende Prozeduren-
        schlüssel enthält nur wenige diagnostische Maßnahmen
        und ist damit als Grundlage des neu aufzubauenden deut-
        schen Kataloges ungeeignet.
        Noch kritischer als die jahrelang versäumte Kataloger-
        stellung wirkt sich indes die inhaltliche Abstimmung aus.
        Der Widerspruch wird hier besonders dadurch deutlich,
        dass es noch gar keine definierten Grundlagen für die
        DRGs gibt, jedoch heute schon prophylaktisch der diffe-
        renzierte Inhalt reduziert wird. Mit dem reduzierten Kata-
        loginhalt sollen dann aber bereits in diesem Jahr die Leis-
        tungen dokumentiert und die Relativgewichte kalkuliert
        werden. Ziel ist es, in 2002 für das Jahr 2003 eine kosten-
        homogene Fallgruppe zu bilden und die zutreffende Höhe
        des Basisfallpreises zu ermitteln.
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        Wenn die rot-grüne Bundesregierung glaubt, mit die-
        sem vorgegebenen Verfahren Gewinne zu erzielen – etwa
        in Form einer baldigen Kostenreduktion im Kranken-
        haussektor –, dann irrt sich diese Bundesregierung. Die
        Einführung von DRG – das zeigen internationale Erfah-
        rungen – ist bislang nicht mit einer Kostenreduktion ver-
        bunden gewesen. So hat beispielsweise in Frankreich die
        Einführung der „Groupes homogenes de malades“ circa
        3 Milliarden Francs gekostet. In Österreich und in Italien
        sind die Kosten je Fall bei Einführung der DRG um 5 bzw.
        3,9 Prozent gestiegen. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass
        mit der Einführung der DRG unmittelbar eine Kostenre-
        duktion im stationären Sektor einhergehen wird. Vielmehr
        ist davon auszugehen, dass die Einführung des neuen pau-
        schalierten Entgeltsystems zwischen 3 und 5 Prozent der
        Krankenhausbudgets verbrauchen wird.
        Unredlich ist die Aussage von Rot-Grün in dem Gesetz-
        entwurf, dass durch dieses Gesetz eine Erhöhung der Ein-
        zelpreise, des allgemeinen Preisniveaus und insbesondere
        des Verbraucherpreises nicht zu erwarten ist. Denn die er-
        hoffte Verbesserung der Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus
        wird nicht unmittelbar einsetzen, sondern erst eine Folge
        von Jahren, wenn nicht gar von Jahrzehnten sein.
        Vielleicht hofft die rot-grüne Bundesregierung darauf,
        dass die Mehrausgaben der Krankenkassen in den oh-
        nehin angekündigten Beitragssatzsteigerungen unterge-
        hen.
        Völlig ungeklärt ist die Situation bei den Privatversi-
        cherten. Denn sie sollen laut Gesetzentwurf mit 0,30 DM
        pro Krankenhaustag an den Kosten der Entwicklung, Ein-
        führung und laufenden Pflege des DRG-Fallpauschalen-
        systems beteiligt werden. Im Interesse der Privatversi-
        cherten hat die rot-grüne Bundesregierung zu klären, ob
        die Privatversicherer – ebenso wie die gesetzlichen Kran-
        kenkassen – bereit sind, sich an diesen Kosten zu beteili-
        gen.
        Die rot-grüne Bundesregierung ist aufgerufen, die
        Rahmenbedingungen im Krankenhaussektor so auszuge-
        stalten, dass die Einführung des neuen pauschalierten Ent-
        geltsystems möglichst reibungslos funktionieren kann.
        Dazu ist der vorgelegte Gesetzentwurf ein erster Schritt,
        allerdings der kleinstmögliche. Und es bleiben viele Fra-
        gen offen.
        Katrin Göring-Eckart (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN):Wir stehen vor einer grundlegenden Reform in der
        Krankenhausfinanzierung und einer entscheidenen Um-
        setzung und Fortführung des Gesundheitsreformgesetzes.
        Mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 hatte die Bun-
        desregierung die Spitzenverbände der Krankenkassen und
        die Deutsche Krankenhausgesellschaft beauftragt, bis
        zum 1. Januar 2003 ein DRG-Fallpauschalensystem für
        die Vergütung von voll- und teilstationärer Krankenhaus-
        leistung einzuführen. Bereits jetzt bestehen die Vergütun-
        gen im Krankenhausbereich zu 25 Prozent aus Fallpau-
        schalen und Sonderentgelten. Damit haben wir gute
        Erfahrungen gemacht und wollen es deshalb fortführen.
        Die Einführung des Fallpauschalensystems bedeutet
        für mich vor allem zweierlei: Transparenz und Patienten-
        orientierung. Dafür stehen wir Grünen. Das Fallpauscha-
        len-Vergütungssystem im Krankenhausbereich bedeutet,
        dass wir die gleiche Leistung, unabhängig von der jewei-
        ligen Region, gleich vergüten werden. Eine einheitliche
        Vergütung bedeutet mehr Gleichheit und mehr Transpa-
        renz. Eine solche Vergütung nach Fallpauschalen wird of-
        fenlegen, wer wo und welche Kosten verursacht und ob
        die Erträge die Kosten decken. Das wird den Kranken-
        häusern eine notwendige Basis bieten, strategische Ent-
        scheidungen zu treffen. So werden wir auch Qualitätsde-
        fizite und Wirtschaftlichkeitsreserven genauer benennen
        können. Wir werden damit Schluss machen, dass wirt-
        schaftliche Verhaltensweisen noch belohnt werden, die
        nicht zum Wohle des Patienten geschehen. Wir geben ein
        Drittel der beitragsfinanzierten Ausgaben im Gesund-
        heitswesen für den Krankenhausbereich aus. Es ist not-
        wendig und möglich, in diesem Bereich zu sparen.
        Wir Grüne haben uns zum Ziel gesetzt, die Beiträge
        stabil zu halten. Das gilt für die gesetzliche Rentenversi-
        cherung, die Arbeitslosenversicherung, die Pflegeversi-
        cherung, aber auch gerade für die gesetzliche Kranken-
        versicherung. Wir sind an der Grenze der zumutbaren
        Belastung von Sozialabgaben für die junge Generation
        angelangt. Das DRG-Fallpauschalensystem trägt dazu
        bei, die Beitragssatzstabilität zu gewährleisten.
        Neben der Beitragssatzstabilität kämpfen wir für Qua-
        lität im Gesundheitswesen und Patientenrechte. In Zu-
        kunft kann es nicht nur darum gehen, Krankheiten zu be-
        handeln, sondern der Mensch muss mit seiner gesamten
        sozialen Umwelt und seinen Problemen im Mittelpunkt
        der medizinischen Versorgung stehen. In Zukunft kann es
        also nicht darum gehen, den Menschen in einem hoch spe-
        zialisierten Fachbetrieb eines Krankenhauses zu behan-
        deln. Das Krankenhaus muss durchlässig werden und eine
        Versorgungsstruktur geschaffen werden, in dem sta-
        tionäre und ambulante Fachdienste eng vernetzt sind und
        auch Dienste der allgemeinen Lebenshilfe und Selbsthil-
        fegruppen mit einschließt. Gesundheitszentren sollten
        den örtlichen Mittelpunkt bilden und die vor- und nach-
        gelagerten Leistungsbereiche koordinieren. Der Mensch
        darf in Zukunft nicht nur von einer medizinischen Instanz
        zur nächsten weitergereicht werden, sondern muss in ei-
        ner gut abgestimmten Einzelfallbetreuung über die ein-
        zelnen Instanzen hinweg begleitet werden.
        Die notwendige Anpassung an die australische
        AR-DRG Klassifikation wird mit der einhergehenden An-
        passung an die Besonderheiten der Vergütungssysteme
        der Bundesrepublik, der Kalkulation der allpauschalen
        und deren Einführung sowie ständige Anpassung an den
        medizinisch technischen Fortschritt, die Einstellung von
        Personal und Schaffung neuer institutioneller Strukturen
        Kosten verursachen. Das Gesetz sieht vor, den DRG-
        Systemzuschlag pro Krankenhausfall zusätzlich abzu-
        rechnen. Die Krankenhäuser werden die Beträge an die
        Selbstverwaltungspartner weiterleiten. Bund, Ländern
        und Gemeinden werden keine zusätzlichen Ausgaben ent-
        stehen.
        Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf des DRG-
        Systemzuschlags regeln wir klar die Zuständigkeiten für
        die entstehenden Kosten der Umstellung. Wir schaffen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114108
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        damit eine weitere wichtige Grundlage, das DRG-System
        zu realisieren. Bitte stimmen Sie dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf zu und tragen Sie mit dazu bei, unser Ge-
        sundheitswesens zu modernisieren.
        Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Mit der GKV-Gesund-
        heitsreform 2000 hat die Koalition die Einführung eines
        diagnosebezogenen Fallpauschalsystems beschlossen.
        Die für die Einführung zugrunde gelegten Fristen sind da-
        bei viel zu kurz bemessen. Ich hätte erwartet, dass in ei-
        nem Gesetz zur Änderung des Krankenhausfinanzie-
        rungsgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung diese
        Fristen zumindest um drei Jahre nach hinten geschoben
        werden, weil bereits jetzt absehbar ist, dass in der Kürze
        der Zeit ein seriöses Implementieren des neuen Systems
        nicht möglich ist. Die Gefahren, die für die Kranken-
        hausversorgung der Bevölkerung damit verbunden sind,
        wenn zu schnell gehandelt wird, sind viel zu groß. Ganz
        abgesehen davon steht die Rahmensetzung für das neue
        System nach wie vor aus. Auch dies hätte im Zuge einer
        Gesetzesänderung geklärt werden müssen. Die Kranken-
        häuser müssen wissen, unter welchen Bedingungen sie
        zukünftig arbeiten werden. Die alte Bundesgesundheits-
        ministerin Frau Fischer hat anlässlich des Deutschen
        Krankenhaustages verkündet, dass sie ein „echtes Preis-
        system“ wolle. Völlig ungeklärt ist zur Zeit, ob das die
        SPD auch so sieht. Zudem wäre es auch höchst interessant
        gewesen, in Gesetzesform gegossen vorzufinden, was
        diese Koalition unter einem „echten Preissystem“ ver-
        steht. Ein Budget macht in einem solchen System keinen
        Sinn, genauso wenig wie starre, prospektiv festgelegte
        Leistungsmengen. Die duale Finanzierung heutiger Prä-
        gung, die detaillierte staatliche Krankenhausplanung sind
        ebenfalls mit einem Preissystem nicht kompatibel. Der
        vorgelegte Gesetzentwurf greift deshalb entschieden zu
        kurz. Ohne Zweifel müssen die Kosten, die durch den
        Aufbau und die Pflege eines Fallpauschalsystems entste-
        hen. getragen werden. Aber ob das nun unbedingt über ei-
        nen Krankenhauspfennig erfolgen muss, oder ob es nicht
        andere, effizientere Lösungen gibt, wird in den weiteren
        Beratungen zu klären sein. Zudem fallen Kosten nicht nur
        den neu zu schaffenden Gremien an, sondern auch in den
        Krankenhäusern, die nun mit der Umstellung beginnen
        müssen. Auch hierfür müssen Lösungen gefunden wer-
        den.
        Dr. Ruth Fuchs (PDS): Zu den Veränderungen für
        den Krankenhausbereich, die mit der Gesundheitsreform
        2000 beschlossen wurden, gehört der vollständige Über-
        gang zu einer Vergütung von Krankenhausleistungen
        durch Fallpauschalen. Inzwischen haben sich die beauf-
        tragten Selbstverwaltungsgremien darauf festgelegt, dem
        zu erstellenden Katalog solcher Fallpauschalen eine in
        Australien bereits angewendete Diagnosen-Klassifikation
        zugrunde zu legen. Das verlangt ihre Anpassung an die
        deutschen Verhältnisse sowie weitere umfangreiche Vor-
        bereitungsarbeiten. Zu diesen gehören die Entwicklung
        entsprechender Kodierregeln, die Kalkulation der Pau-
        schalen bzw. die Ermittlung von Bewertungsrelationen,
        die Schaffung eines Systems von Zu- und Abschlägen und
        anderes mehr. In der Folgezeit wird dazu auch die stän-
        dige Berücksichtigung der künftigen Entwicklungen in
        Diagnostik und Therapie sowie der laufenden Verände-
        rungen der ökonomischen Rahmenbedingungen der
        Krankenhäuser zählen. Aus diesem Grunde sollen jetzt
        neue institutionelle Strukturen entstehen, die bisher nicht
        erforderliche finanzielle Aufwendungen verursachen.
        Der vorliegende Gesetzentwurf zielt darauf, durch die
        Neueinführung eines so genannten DRG-Systemzu-
        schlags je Krankenhausfall die rechtlichen Grundlagen
        für die Bereitstellung der zusätzlich benötigten Mittel zu
        schaffen. Da die anfallenden Kosten noch nicht genauer
        zu beziffern sind, werden zunächst einmal jährlich 5 Mil-
        lionen DM veranschlagt. Nach allen Erfahrungen dürfte
        sich diese Summe künftig weiter erhöhen. Auch wenn es
        sich dabei – gemessen an den Gesamtkosten der Kran-
        kenhäuser – nicht um systemsprengende Größenordnun-
        gen handelt, bleibt dennoch bemerkenswert, dass die Re-
        gierungskoalition ohne weiteres bereit ist, Geld der
        Versicherten zusätzlich und sogar außerhalb der Budget-
        grenzen für neue bürokratische Institutionen auszugeben.
        Für die eigentlichen medizinischen Versorgungsaufgaben
        hält sie dagegen an einer Budgetierungspolitik fest, die in
        ihrer Rigorosität und Undifferenziertheit nach wie vor nur
        als hochgradig verfehlt bezeichnet werden kann.
        Schwerwiegender sind nach unserer Auffassung aller-
        dings die Gefahren, die mit der Einführung des DRG-Sys-
        tems generell für eine humane und an den Interessen der
        Patienten sowie der Beschäftigten orientierte Arbeit in
        den Krankenhäusern einhergehen. Zu befürchten ist, dass
        die neue Vergütungsform die schon heute einseitige Öko-
        nomisierung der Arbeit in den Krankenhäusern weiter be-
        schleunigt. Zugleich wächst die Gefahr, dass es zwischen
        den Krankenhäusern noch stärker zu ungesundem Kon-
        kurrenzverhalten kommt und dass sich der Trend zu un-
        vertretbarem Bettenabbau und Privatisierung sowie der
        Druck auf die Flächentarifverträge verstärken. Gerade
        deshalb treten wir auch weiterhin entschieden für den Er-
        halt des staatlichen Sicherstellungsauftrages ein, der be-
        kanntlich auf eine flächendeckende, stationäre Versor-
        gung auch in strukturschwachen Gebieten gerichtet ist.
        Nach unserer Auffassung lässt sich nur so soziale Verant-
        wortung mit ökonomischer Vernunft verbinden. Erfah-
        rungsgemäß können DRGs darüber hinaus bewirken, dass
        stationäre Leistungen reduziert werden und die Qualität
        der Behandlung für den einzelnen Patienten leidet. Mehr
        noch: Besonders chronisch kranke Menschen können zu
        so genannten schlechten Risiken werden, was ihre Ver-
        sorgung insgesamt infrage stellt. Unseres Erachtens hat
        die Regierung hier die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass
        es weder zu Qualitätsdumping noch zu Risikoselektion
        kommt. Zugleich steht sie in der Verantwortung, Qua-
        litätssicherungssysteme zur Anwendung zu bringen, die
        in ihrer Wirksamkeit deutlich über das bisher Konzipierte
        hinausgehen. In diesem Zusammenhang wird es immer
        wichtiger, dass auch die Personalbemessungen vor allem
        von den notwendigen Qualitätsstandards abgeleitet wer-
        den. Nach unserer Auffassung ist ein weiterer Perso-
        nalabbau in den Krankenhäusern völlig unzumutbar. Im
        Gegenteil: Wie auch internationale Vergleiche zeigen, be-
        steht in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet noch im-
        mer Nachholbedarf.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14109
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        Im Übrigen ist die flächendeckende Installierung ei-
        ner Krankenhausvergütung nach Fallpauschalen im
        Maßstab eines ganzen Landes ein völliges Novum. Das
        hat die Regierung allerdings nicht daran gehindert, Zeit-
        spannen für ihre Bewältigung vorzugeben, die – trotz
        erster Verlängerungen – noch immer zu knapp sind.
        Schwerwiegende Fehlentwicklungen auf Kosten der
        Patienten und des Krankenhauspersonals sind so gera-
        dezu vorprogrammiert. Damit wird die DRG-Ein-
        führung zu einem Feldexperiment ohne Beispiel. Auch
        der vorliegende Gesetzentwurf steht für uns in diesem
        Kontext.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114110
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        Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin