Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001
Christina Schenk
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(C)
(D)
(A)
(B)
1) Anlage 9
2) Anlage 10
3) Anlage 11
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(C)
(D)
(A)
(B)
Barthle, Norbert CDU/CSU 18.01.2001
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 18.01.2001
Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 18.01.2001
Behrendt, Wolfgang SPD 18.01.2001*
Dr. Blank, CDU/CSU 18.01.2001
Joseph-Theodor
Brunnhuber, Georg CDU/CSU 18.01.2001
Bulmahn, Edelgard SPD 18.01.2001
Ehlert, Heidemarie PDS 18.01.2001
Fischer (Berlin), BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
Andrea DIE GRÜNEN
Friedrich (Altenburg), SPD 18.01.2001
Peter
Dr. Fuchs, Ruth SPD 18.01.2001
Gehrcke, Wolfgang PDS 18.01.2001
Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 18.01.2001
Günther (Duisburg), CDU/CSU 18.01.2001
Horst
Dr. Gysi, Gregor PDS 18.01.2001
Hanewinckel, Christel SPD 18.01.2001
Haschke (Großhenners- CDU/CSU 18.01.2001
dorf ), Gottfried
Hauser (Rednitzhem- CDU/CSU 18.01.2001
bach), Hansgeorg
Dr. Hendricks, Barbara SPD 18.01.2001
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
DIE GRÜNEN
Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 18.01.2001
Irber, Brunhilde SPD 18.01.2001
Klappert, Marianne SPD 18.01.2001
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 18.01.2001
Kressl, Nicolette SPD 18.01.2001
Kühn-Mengel, Helga SPD 18.01.2001
Dr. Luft, Christa PDS 18.01.2001
Nahles, Andrea SPD 18.01.2001
Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
DIE GRÜNEN
Opel, Manfred SPD 18.01.2001
Otto (Frankfurt), F.D.P. 18.01.2001
Hans-Joachim
Dr. Pfaff, Martin SPD 18.01.2001
Pflug, Johannes SPD 18.01.2001
Rübenkönig, Gerhard SPD 18.01.2001
Spiller, Jörg-Otto SPD 18.01.2001
Steiger, Wolfgang CDU/CSU 18.01.2001
Vogt (Pforzheim), Ute SPD 18.01.2001
Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 18.01.2001
DIE GRÜNEN
Wohlleben, Verena SPD 18.01.2001
Zapf, Uta SPD 18.01.2001
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates
Anlage 2
Erklärung
derAbgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner (PDS)
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der
Bundesregierung: Weiterbau des Verkehrspro-
jektes Deutsche Einheit (VDE) – Schienen-
neubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig-
Berlin (Drucksache 14/2692)
Das Votum meiner Fraktion lautet Nein.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Wolfgang Dehnel (CDU/CSU)
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der
Bundesregierung: Weiterbau des Verkehrspro-
jektes Deutsche Einheit (VDE) – Schienen-
neubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–
Berlin (Drucksache 14/2692)
Die im Bundesverkehrswegeplan vorgesehene Neu-
baustrecke VDE-Nr. 8 ist teuerer (circa 5 Milliarden DM)
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
und erreicht deutlich weniger Bevölkerung in Ost-
deutschland als eine Verbindung über Sachsen (1,1 bis 1,4
Milli-onen gegenüber 3,3 bis 4 Millionen Menschen im
Raum Plauen–Zwickau–Chemnitz). Zudem wird eine
Verbin-dung über diese sächsische Region den bislang
vom Hoch-geschwindigkeitsbahnverkehr ausgeschlosse-
nen Raum Vogtland–Zwickau–Chemnitz als wichtigsten
ostdeutschen Industrieraum einbeziehen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– Antrag: Schattenwirtschaft mit marktwirtschaftli-
chen Mittel eindämmen
– Gesetzentwurf: Eindämmung illegaler Betätigung
im Baugewerbe
– Unterrichtung: Neunter Bericht der Bundesregie-
rung über Erfahrungen bei derAnwendung des Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetzes – AÜG – sowie
über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämp-
fung der illegalen Beschäftigung – BillBG – (Tages-
ordnungspunkt 9 a bis c)
Ludwig Eich (SPD): Illegale Beschäftigung ist in
Zeiten der Globalisierung zu einem großen Problem
geworden; insbesondere zu einem Problem in unserem
Baugewerbe! Wie das Finanzministerium festgestellt hat,
geht es um eine halbe Million Arbeitsplätze, die verlo-
ren gehen; und es geht um dreistellige Milliardenbeträge,
die dem Staat in Form von Steuern und unseren Sozial-
kassen in Form von Beiträgen jedes Jahr verloren gehen.
Es geht nicht um Schwarzarbeit in einer vernachlässig-
baren Größe, sondern es geht um ein Krebsgeschwür, das
enormen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet; und es
geht auch um die würdelosen Umstände, die die Beschäf-
tigten selbst erdulden. Das vorliegende Problem der ille-
galen Beschäftigung ist groß und rechtfertigt diesen er-
neuten gesetzgeberischen Versuch seiner Bekämpfung.
Der Gesetzentwurf hat natürlich Instrumente, die zu ei-
nem bürokratischen Aufwand führen. Er verlangt von den
Unternehmen im Baugewerbe eine erweiterte Anzeige-
pflicht. Damit soll vor allem die steuerliche Erfassung von
Werksvertragsunternehmen verbessert werden. Aber der
Kern des Gesetzes zielt darauf ab, dass jeder Bauunter-
nehmer, der Bauleistungen an andere Bauunternehmer
weitervergibt, vom Entgelt für diese Bauleistung einen
Steuerabzug von 15 Prozent einbehält. Damit soll sicher-
gestellt werden, dass die Steuern, die dem deutschen Fis-
kus zustehen, auch in jedem Fall gezahlt werden. Dabei
ist für die Wirkung dieses Instrumentes nicht unwichtig,
dass der Unternehmer, der Bauleistungen an Subunter-
nehmen weitervergibt, für diesen Steuerabzug in die
Pflicht, sozusagen in Regress genommen wird.
Nun sind diese Instrumente nicht neu: Bereits mit dem
Steuerentlastungsgesetz 1999 wurde der Versuch unter-
nommen, mit einem Steuerabzug an der Quelle unsere
Steuereinnahmen bei der Vergabe an Subunternehmer zu
sichern. Gescheitert ist der damalige Versuch aber nicht
nur an europarechtlichen Problemen, sondern auch am
bürokratischen Aufwand, der damit verbunden war.
Wie nun die ersten Reaktionen auf den hier zur Debatte
stehenden Gesetzentwurf zeigen, gibt es erneute Kritik
und Bedenken an der Europatauglichkeit. Ich bin mir ganz
sicher, dass sich auch bei unseren deutschen Bauunter-
nehmern aufgrund des bürokratischen Aufwandes, den
wir von ihnen verlangen, der Jubel über dieses Gesetz in
Grenzen halten wird.
Dennoch ist eine solche Reglung notwendig. Sie ist
auch aus Wettbewerbsgründen unbedingt erforderlich.
Wir müssen alle gesetzgeberischen Chancen nutzen, diese
illegalen Praktiken einzudämmen; gerade in einer Zeit, in
der es dem Baugewerbe nicht so gut geht.
Allerdings, und wir sind ja in der ersten Beratung des
Gesetzentwurfes, müssen wir die in 1999 gemachten Er-
fahrungen berücksichtigen, Erfahrungen mit dem zeitli-
chen Verwaltungsaufwand und Erfahrungen mit der Re-
aktion aus dem europäischen Ausland.
Was ein wenig irritiert, ist die nicht gerade ermutigende
Erfolgsbilanz über die Wirkung der Abzugsteuer aus dem
Jahre 1999. Aber die Wirkung dieses Instrumentes soll ja
eine präventive, eine vorbeugende sein. Insofern lässt sich
nicht unbedingt der Erfolg einer Abzugsteuer an den Zah-
len aus dieser noch relativ kurzen Zeit bemessen.
In jedem Fall ist die Bundesregierung bei ihren Be-
mühungen zu unterstützen, den Gesetzesvollzug zu verbes-
sern. Die Personalverstärkung der Hauptzollämter, die vor-
genommen wird, ist beachtlich. Mit einer Verstärkung im
Ermittlungsbereich von 1 400 Beamten wird der Personal-
einsatz an dieser strategisch wichtigen Stelle mehr als ver-
doppelt. Diese Anstrengungen können sich sehen lassen.
Zusammen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kann
daraus ein erfolgreiches Konzept für die Eindämmung
von illegaler Beschäftigung werden. Ich glaube, die büro-
kratische Belastung und der Verwaltungsaufwand müssen
hingenommen werden, damit diese schwerwiegenden Zu-
stände aufhören.
Bei der Steuermoral ist es wie mit vielen Dingen im Le-
ben: Manches muss mit entsprechender Anleitung einge-
übt werden.
Leyla Onur (SPD): Wir debattieren heute über ein
schwerwiegendes Problem. Es geht um illegale Beschäf-
tigung und Schwarzarbeit. Menschen, die schwarz arbei-
ten oder arbeiten lassen, betrügen unseren Staat, unsere
Gesellschaft um Steuern und Sozialabgaben. Sie vernich-
ten ordentliche Arbeitsplätze und treiben kleine Unter-
nehmen und Handwerksbetriebe in den Ruin. Deshalb
ist die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und
Schwarzarbeit eine der wichtigsten Aufgaben dieser Bun-
desregierung und der Koalitionsfraktionen.
Um nur drei Beispiele zu nennen: Wir haben die Lohn-
nebenkosten gesenkt, damit Arbeit wieder billiger wird.
Wir haben mit dem Entsendegesetz, der Regelung zur
Scheinselbstständigkeit und den 630-Mark-Jobs die Ord-
nung auf dem Arbeitsmarkt wieder hergestellt und wir ha-
ben die größte Steuerreform in der Geschichte der Bun-
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desrepublik verabschiedet. Wir sind auf dem richtigen
Weg, aber noch längst nicht am Ziel.
Im vorliegenden Neunten Bericht der Bundesregierung
können wir schwarz auf weiß nachlesen, dass die Be-
kämpfung der illegalen Beschäftigung und der Schwarz-
arbeit erhebliche Fortschritte gemacht hat. 1999 ist die
Zahl der Verfahren und der verhängten Bußgelder in wich-
tigen Bereichen auf einen neuen Höchststand gestiegen.
Die Bundesregierung wird Kontrolle und Gesetzes-
vollzug weiter verbessern: Die Bundesanstalt für Arbeit
organisiert ihre Dienststellen effektiver: In jedem Arbeits-
amt wird eine eigene Einheit gebildet und die Zusam-
menarbeit mit dem Zoll intensiviert. Die Prüfungskompe-
tenzen und Ermittlungsbefugnisse der Hauptzollämter
werden erheblich erweitert. Im Bundesgebiet wurden be-
reits im letzten Jahr 700 zusätzliche Stellen bei den
Zollämtern geschaffen und wir werden dieses Jahr weitere
700 Stellen einrichten.
Das kann ich ganz konkret in meinem Wahlkreis
Braunschweig beobachten. Im dortigen Hauptzollamt
wurde die Arbeitsgruppe „Bekämpfung illegaler Beschäf-
tigung“ letztes Jahr von 10 auf 21 Mitarbeiter mehr als
verdoppelt. Dieses Jahr steht eine Aufstockung in ähnli-
cher Größenordnung an. Ernsthafter kann man gegen ille-
gale Beschäftigung nicht vorgehen.
Darüber hinaus haben die Koalitionsfraktionen „Eck-
punkte zur Verbesserung der Bekämpfung illegaler Be-
schäftigung und Schwarzarbeit“ formuliert, die in Kürze
vorgelegt werden.
Die konstruktiven Vorschläge des Bundesrates für ein
„Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Bauge-
werbe“ werden von uns ebenfalls ausdrücklich begrüßt.
Hierzu wird mein Fraktionskollege Ludwig noch einge-
hend Stellung nehmen.
Der vorliegende Antrag der FDP hilft nicht weiter:
Nach anderthalb Seiten dünner Annahmen, Mutmaßun-
gen und unseriöser Schlussfolgerungen stellt die FDP sie-
ben knallharte Forderungen auf: vier Berichte, ein Son-
dergutachten, eine neue Statistik und – ganz wichtig – die
Verknüpfung von Rentenversicherung und Ökosteuern
„im Lichte der Effizienzvorteile des Äquivalenzprinzips
erneut zu überprüfen“. Die Leute aus der Praxis schütteln
über diese Vorschläge nur mitleidig der Kopf.
Ich habe einen Zollbeamten, der Leiter einer Prüf-
gruppe für illegale Beschäftigung ist, gefragt, wie er den
Nutzen neuer Statistiken einschätze. Die Antwort war
kurz und bündig: Jeder zusätzliche Papierkram kostet uns
Zeit und diese Zeit fehlt uns für Kontrollen draußen auf
den Baustellen. Recht hat der Mann! Auch ohne Statisti-
ken wissen wir: Razzien auf Baustellen sind das effizien-
teste Mittel: nicht nur wegen der Bußgelder, sondern auch
wegen ihrer abschreckenden Wirkung.
Auch die unseriöse Behauptung der F.D.P., die Neure-
gelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
habe dazu geführt, dass ein guter Teil der Arbeitskräfte in
die Schattenwirtschaft abgewandert sei, ist und bleibt
falsch. Die Fakten beweisen das Gegenteil: Wir haben im
Jahr 2000 rund 4 Millionen ausschließlich geringfügig
Beschäftigte registriert. Diese Zahl liegt weit über den Er-
wartungen.
Zu dem Hinweis, zu hohe Steuern und Sozialabgaben
trieben die Menschen in die Schwarzarbeit, sei nur ange-
merkt, dass während ihrer Regierungszeit Steuern und
Abgaben den absoluten Höchststand erreicht hatten. Das
heißt: Sie haben die Menschen in die Schwarzarbeit ge-
trieben. Wir dagegen haben seit Regierungsantritt Lohn-
nebenkosten und Steuern gesenkt. Damit ist Deutschland
auf dem richtigen Weg. Das hat mir gestern der in Ihrem
Antrag zitierte Experte zum Thema Schattenwirtschaft,
Professor Schneider, ausdrücklich versichert. Von der
Steuerreform erwartet er eine erhebliche Senkung des
Umfangs der Schwarzarbeit in Deutschland.
Ich stelle abschließend fest: Alle bisherigen Maßnah-
men tragen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und
Schwarzarbeit bei. Weitere werden folgen. Was wir aller-
dings nicht brauchen, sind F.D.P.-Vorschläge für weitere
Statistiken.
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Die
Schätzzahlen über die Entwicklung der Schattenwirt-
schaft sind besorgniserregend: Derzeit beträgt das Volu-
men rund 640 Milliarden DM, das entspricht 16 Prozent
des Bruttoinlandprodukts oder umgerechnet 500 000 Ar-
beitsplätzen. Für die Bekämpfung der Schattenwirtschaft
ist eine nüchterne Analyse erforderlich.
Insgesamt gilt es, drei Kategorien zu unterscheiden: Es
geht erstens um Menschen, die über ihre berufliche Pflicht
hinaus in ihrer Freizeit arbeiten, also die klassische
Schwarzarbeit, die überwiegend im handwerklichen Be-
reich und bei den Dienstleistungen auftritt. Die zweite
Gruppe umfasst diejenigen, die Sozialleistungen kassie-
ren und daneben schwarz arbeiten. Schließlich stellt die il-
legale Arbeit von Menschen, insbesondere aus osteu-
ropäischen Ländern, ein Problem dar.
Die Antworten der Marktwirtschaft auf diese drei Ka-
tegorien müssen entsprechend differenziert sein:
Erstens. Hauptgruppe in der Schattenwirtschaft sind
zum Teil qualifizierte Arbeitnehmer, die am Abend und
Wochenende schwarz arbeiten, um sich bestimmte Wün-
sche zu erfüllen. Der positive Aspekt in diesem Zusam-
menhang ist die feststellbare Leistungsbereitschaft, die
den Irrglauben widerlegt, dass alle Menschen weniger als
35 Stunden oder weniger als fünf Tage in der Woche ar-
beiten wollen. Der negative Aspekt besteht allerdings
darin, dass diese Arbeit außerhalb des Sozial- und Steuer-
systems stattfindet. Schätzungen zufolge gehen der Sozi-
alversicherung rund 110 Milliarden DM durch Schwarz-
arbeit verloren, wobei 10 000 Arbeitsplätze ungefähr
einem Gegenwert von 225 Millionen DM an Sozialabga-
ben entspricht.
Wichtigstes Ziel ist, nicht Arbeitsleistung zu verhin-
dern, sondern sie in den normalen, regulären Arbeitsmarkt
zu überführen. Das Ziel heißt: aus Schwarzarbeit reguläre
Arbeit machen! Zu diesem Zweck müssen Steuer- und
Abgabenbelastungen mittelständischer Unternehmen und
Handwerksbetriebe gesenkt werden. Notwendig wäre
eine mutige Steuerreform gewesen. Die Absenkung der
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Grenzsteuerbelastung und des gesamten Tarifverlaufes
war ein wichtiges Anliegen, zu dem die rot-grüne Bun-
desregierung leider keine Kraft hatte.
Ein höchst fataler Fehler war die Änderung der 630-DM-
Regelung. Auffällig ist, dass der Schwerpunkt der
Schwarzarbeit im Handwerk, im Hotel- und Gaststätten-
gewerbe, im Gartenbau und bei den privaten und persön-
lichen Dienstleistungen liegt. Das sind genau die Berei-
che, in denen in hohem Maße 630-DM-Arbeitsplätze
vorhanden waren. Durch die Änderung der 630-DM-Rege-
lung sind reguläre Arbeitsplätze systematisch in die
Schwarzarbeit getrieben worden. Es wurde das Gegenteil
von dem getan, was notwendig gewesen wäre. Die Ideo-
logie hat die Vernunft besiegt.
Die zweite Gruppe, nämlich Sozialleistungsempfän-
ger, die nebenher schwarzarbeiten, stellen insbesondere
eine Bedrohung der Arbeitsmoral in unserem Land dar.
Bisher gibt es dagegen kein wirksames Rezept. Weder die
Drohung mit Kürzung von Sozialhilfe noch ihre tatsäch-
liche Umsetzung waren bisher ausreichend. Die einzige
marktwirtschaftliche Lösung lautet deswegen: Jeder, der
Sozialleistungen kassiert, muss dafür arbeiten, das heißt
muss beschäftigt werden, damit er erst gar keine Zeit mehr
für Schwarzarbeit hat. Arbeitspflicht für diejenigen, die
arbeitsfähig sind, aber nicht arbeiten wollen, halte ich für
den richtigen Weg.
Besonders akut ist die illegale Beschäftigung von Men-
schen aus anderen Ländern seit Öffnung der Grenzen nach
Osteuropa. Der Kaufkraftunterschied zwischen Tsche-
chien und Polen einerseits und Deutschland andererseits
ist eklatant. Dieser Aspekt muss bei der EU-Osterweite-
rung Beachtung finden, um Kahlschlag in den Grenzre-
gionen zu vermeiden.
Bereits heute zeigt sich eine andere Problematik bei
ausländischen Subunternehmen, die erheblich billiger
sind – und dies häufig dadurch, dass sie sich ihren Ver-
pflichtungen entziehen. Ein Grundgebot der Marktwirt-
schaft besteht auch darin, den fairen Wettbewerb auf-
rechtzuerhalten. Es kann nicht hingenommen werden,
dass sich Billiganbieter ihren Steuerverpflichtungen ent-
ziehen, indem sie beispielsweise durch ständige Umfir-
mierung ihre Identität verschleiern.
Die Bundesratsinitiative von Bayern, Baden-Württem-
berg und Hessen ist deswegen zu begrüßen, mit der in der
Problembranche Bau der Steueranspruch des Staates
durchgesetzt werden soll.
Der erste Lösungsansatz vom März 1999 mit einem
25-prozentigen Abzug von der Auftragssumme ist an ei-
ner EU-Intervention gescheitert. Das Gesetz musste nach
sechs Monaten wieder außer Kraft gesetzt werden. Al-
leine in diesen sechs Monaten hat man in Bayern 700 aus-
ländische Werkvertragsunternehmer erstmalig erfasst.
Erforderlich ist ein handhabbares Gesetz, das mit Vor-
schlag von Bayern, Hessen, Baden-Württemberg nun-
mehr vorliegt: Die Meldepflicht über die Tätigkeit aus-
ländischer Subunternehmer wird erweitert und dem
Auftraggeber ein 15-prozentiger pauschaler Abschlag von
der Auftragssumme zur Abführung an das Finanzamt auf-
erlegt, wenn nicht eine Freistellungsbescheinigung vorge-
legt wird. Es handelt sich dabei um einen relativ einfachen
und praktikablen Lösungsweg.
Fazit: Schattenwirtschaft ist eine außerordentlich dif-
ferenzierte Problematik. Marktwirtschaftliche Lösungen
und Anreizsysteme für Leistungsbereite sind besser als
staatliche Kontrollsysteme und Bevormundung. Der un-
mittelbare Zusammenhang zwischen der Steuer- und Ab-
gabenlast und der Schwarzarbeit muss jedem präsent sein,
der neue Kosten und Belastungen – egal in welchem Be-
reich – für die Unternehmen beschließt.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Schwarzarbeit ist volkswirtschaftlich und sozialpolitisch
eine Fehlentwicklung, gegen die wir handeln müssen.
Dies tun wir auch.
Der vorliegende Antrag der F.D.P. zur Schattenwirt-
schaft ist aber wieder ein Sammelsurium verschiedenster
Forderungen, die keine Abhilfe schaffen werden. Was Sie
eigentlich wollen, ist allerdings sehr deutlich. Es geht zum
wiederholten Male darum, das Thema 630-DM-Jobs oder
auch Ökosteuer in den Blick der Öffentlichkeit zu zerren.
Lösungen, um Licht in den Schatten zu bringen, schlagen
Sie kaum vor. Sie stellen in Ihrem Antrag fest, dass exakte
Zahlen über den Bereich Schattenwirtschaft kaum ver-
fügbar sind, und Sie wissen auch, dass es in der Natur der
Sache liegt, dass sich die Schattenwirtschaft – das heißt
eben insbesondere auch die Schwarzarbeit – ungerne un-
tersuchen lässt.
Das Bild, das die F.D.P. hier suggerieren will, ist, dass
die Schattenwirtschaft auch zulasten der regulären
Arbeitsplätze immer weiter ausgedehnt wurde. Doch das
ist ein typisches F.D.P.-Zerrbild. Folgendes ist jedoch
deutlich. Wie auch immer sich die „Zahlen“ der
Schattenwirtschaft zurzeit aktuell entwickeln, selbst
wenn sie steigen würden: Die Arbeitsmarktdaten spre-
chen eine deutliche Sprache. Es gibt einen in den letzten
zwei Jahren zunehmenden Anstieg der Zahl der Erwerbs-
tätigen. Diese positive Arbeitsmarktentwicklung ist eine
Folge der positiven konjunkturellen Entwicklung und da-
mit das Resultat einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die
über Abgaben- und Steuersenkungen Erhebliches für eine
verbesserte konjunkturelle Entwicklung getan hat.
Aber nicht nur die Zahl der Erwerbstätigen steigt im
Jahre 2000 um etwa 600 000. Auch die Zahl der sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigten ohne die gering-
fügig Beschäftigten hat wieder um 350 000 zugenommen.
Außerdem gilt: Die Zahl der geringfügig Beschäftigen ist
nicht gesunken, woraus Sie die Zunahme der Schatten-
wirtschaft und Schwarzarbeit ableiten, sondern sie ist ge-
stiegen.
Die von mir genannten Arbeitsmarktdaten sind keine
Daten über Schwarzarbeit; das ist richtig. Aber sie zeigen
deutlich, dass das Bild einer auf Kosten des regulären Ar-
beitsmarktes steigenden Schwarzarbeit eben ein überzo-
genes, ein falsches Bild ist.
Richtig ist, dass das Angebot an Arbeitskräften steigt,
und zwar trotz einer demographischen Entwicklung, bei
der mehr Arbeitskräfte wegen Alter ausscheiden, als
Junge nachkommen. Das Angebot an Arbeitskräften
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steigt, weil viele aus der stillen Reserve, Hausfrauen,
Studenten und andere Personengruppen, die nicht in den
Arbeitslosenstatistiken zu finden waren, auf den Arbeits-
markt drängen. Dieses ist ein deutliches Signal dafür, dass
die stille Reserve abnimmt. Das heißt aber auch, dass sich
das Potenzial für Schwarzarbeit reduziert hat.
Sie wiederum wollen nun mit Ihrer verqueren Ar-
gumentation noch einmal Front gegen die 630-DM-Rege-
lung machen. Was wir wollten, ist mit dieser Regelung
erreicht worden. Der Trend zu immer weiter zerstückelten
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen wurde
gestoppt, die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung hat zugenommen. Wir haben die Gleichbehandlung
von Einkünften, die erzielt werden können – mit Über-
stunden beispielsweise – erreicht.
Was Sie weiterhin wollen, ist Front machen gegen die
Ökosteuer. Aber gerade hier wird Ihr Vorhaben besonders
durchsichtig. Die Ökosteuer dient dazu, die Lohnneben-
kosten zu senken. Wir haben die Lohnnebenkosten – ganz
im Gegensatz zur alten Koalition – bereits gesenkt und
werden dies weiter vorantreiben. Die hohen Lohnneben-
kosten sind, wie Sie zu Recht bemerken, ein Faktor, der
Schwarzarbeit fördert und gerade die kleinen Einkommen
belastet. Dies ist ein Grund mehr, auf die Ökosteuer auch
in Zukunft nicht zu verzichten.
Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Ich begrüße die Gele-
genheit, anhand des 9. Berichtes zum AÜG über die Lage
am Arbeitsmarkt diskutieren zu können, und zwar umso
mehr, als der Bericht eine Reihe von Passagen enthält, die
deutlich machen, dass die Bundesregierung durchaus
– zumindest in Ansätzen – die Ursache für die wahren
Probleme auf dem Arbeitsmarkt kennt. Es stellt sich die
Frage, warum Sie solche Erkenntnisse dann nicht auch zur
Grundlage ihres Regierungshandelns machen.
Der Bericht zeigt deutlich, dass der Arbeitsmarkt über-
reguliert ist – man könnte auch sagen: „verriestert“ und
verrammelt.
Dies wird deutlich an zwei Indikatoren: dem Anstieg
von Überstunden – im vergangenen Jahr waren 1,9 Milli-
arden Überstunden zu verzeichnen – und der Zunahme
der Leiharbeit. Dazu stellt der vorliegende Bericht fest:
„Die Bedeutung der legalen Arbeitnehmerüberlassung für
die deutsche Wirtschaft ist (im Berichtszeitraum) ge-
wachsen. Die Zahl der Leiharbeitnehmer und Verleih-
unternehmen ist weiter angestiegen.“
Diese Entwicklung ist ohne jeden Zweifel darauf
zurückzuführen, dass die Wirtschaft im Allgemeinen
– und der Mittelstand im Besonderen – gezwungen ist,
wegen der verfehlten Arbeitsrechtspolitik der rot-grünen
Bundesregierung in Leiharbeit oder Überstunden zu
flüchten, um über die Runden zu kommen.
Der Bericht stellt weiter fest: „Ein weiterer Grund (für
die Zunahme der Leiharbeit) ist die Unsicherheit der Un-
ternehmen über den weiteren Konjunkturverlauf. Die Ver-
leiher profitieren hier von dem restriktiven Einstellungs-
verhalten der Unternehmen, die eher bereit sind,
Personalbedarf mit Leiharbeitnehmern zu decken, als sich
langfristig an einen Arbeitnehmer mit unbefristetem
Arbeitsvertrag zu binden.“ Da kann ich nur sagen: Schön,
dass auch die Bundesregierung diese Tatsache erkannt
hat. Aber es genügt nicht, dies zu wissen; man muss es
auch tun. Wir warten auf Maßnahmen, zum Beispiel beim
Kündigungsschutz!
Denjenigen aus der Regierungskoalition, die die
Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer beklagen, sei
gesagt: Die Leiharbeit wird auch zukünftig weiter zuneh-
men, weil sie systematisch alle anderen flexiblen Instru-
mente, wie etwa die befristeten Arbeitsverträge, den
Unternehmen „weggeriestert“ haben. Natürlich hätten Ar-
beitnehmer wesentlich mehr davon, würden sie – und sei
es auch befristet – direkt bei einem Entleiher mit Bezah-
lung nach Branchentarif arbeiten, anstatt bei einem Ver-
leihunternehmen auf der Lohnliste zu stehen. Aber wer
das will, der darf dann auch nicht die Bedingungen für be-
fristete Beschäftigung verschlechtern, wie Sie das getan
haben.
Schlimmer als das: Sie haben den Druck sogar noch
weiter erhöht, indem Sie die Bedeutung der Schwellen-
werte im Arbeitsrecht noch erhöhen. Sehen Sie denn
nicht, dass zukünftig mittelständische Unternehmen, die
bis zu 15 Beschäftigte haben, bei einem Mehrbedarf an
Personal verstärkt auf Leiharbeitnehmer zurückgreifen
werden, um nicht in den Geltungsbereich des Teilzeitar-
beitsgesetzes zu kommen und damit einem Rechtsan-
spruch auf Teilzeitarbeit ausgesetzt zu sein?
Ich sage Ihnen: Leiharbeit ist eine Chance – eine
Chance für arbeitslose Menschen, nicht dauerhaft auf Ar-
beitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen zu sein und
auch in Übung zu bleiben. Training-on-the-job ist we-
sentlich besser als jede Weiterbildungsmaßnahme der
Bundesanstalt für Arbeit! Daher müssen die Restriktionen
im AÜG – Stichworte: Höchstverleihdauer, Synchronisa-
tionverbot und Wiederbeschäftigung – im Sinne einer
Verbesserung der Chancen Arbeitsloser den Gegebenhei-
ten und Erfordernissen der Praxis geändert werden. Der
Bericht hält hierzu fest: „Unternehmen sind unter Um-
ständen eher bereit, einen ehemals Arbeitslosen nach ei-
ner Testphase als Leiharbeitnehmer fest einzustellen.“
Ein weiteres Signal dafür, dass mit der Verfassung des
Arbeitsmarktes etwas nicht stimmt, ist die Zunahme der
so genannten Schwarzarbeit. Deren Zunahme ist ein Be-
weis dafür, dass die Belastung der regulären Arbeitsein-
kommen mit Steuern und Sozialversicherung offenbar zu
hoch ist und es sich daher für eine bestimmte Gruppe in
der Bevölkerung lohnt, schwarz zu arbeiten.
lm Bericht heißt es dazu: „So mussten 1999 rund
94,10 DM für eine legale Maurerstunde kalkuliert wer-
den. Ein Maurer erhält, wenn er verheiratet ist und zwei
Kinder hat, ungefähr 17,79 DM netto. Erhält der Schwarz-
arbeiter für eine illegale Stunde 30,00 DM, so verdient er
fast doppelt so viel und der Bauherr spart zwei Drittel.“
Und schließlich lesen wir im Bericht: „Eine typische
Begehungsform der Schwarzarbeit ist die Erbringung von
Dienst- oder Werkleistungen im erheblichen Umfang bei
gleichzeitigem Bezug von Arbeitslosengeld, Arbeitslo-
senhilfe oder Sozialhilfe, ohne die Beschäftigung dem
Leistungsträger mitzuteilen.“ Das ist, wie gesagt, alles
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sehr lesenswert, aber auch ein deutlicher Handlungs-
auftrag! Ich frage Sie: Was wollen Sie tun, um diesen
Missbrauch zukünftig zu verhindern?
Was der Bericht nicht sagt: Ist der Schwarzarbeiter
ebenfalls verheiratet und Vater von zwei Kindern, dann
hat er bei Sozialhilfebezug selbst als Facharbeiter in den
meisten Branchen in etwa das Einkommen eines legal ar-
beitenden Kollegen. Eigentlich logisch, dass legale Arbeit
nicht mehr lohnt, zumal man nebenbei – man hat ja den
ganzen Tag Zeit – und schwarz noch ein paar Mauern
hochziehen kann.
Das Anreizsystem ist falsch. Das Problem Ihrer bishe-
rigen Politik ist, dass Sie die Menschen – über alles gese-
hen – netto nicht wirklich entlasten. Warum nutzen Sie
nicht den zweifellos vorhandenen Spielraum zur Senkung
der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung? Das wäre
ein erster Schritt, um die Schere zwischen Lohneinkom-
men und Transfereinkommen wieder etwas zu öffnen. Da-
rüber hinaus müssen Anreize zur Aufnahme einer sozi-
alversicherungspflichtigen Arbeit geschaffen werden. Und
das heißt auch – im Sinne einer aktivierenden Sozialpoli-
tik –, den Druck etwas zu erhöhen. Die wirklich Bedürfti-
gen müssen von den faulen Findigen getrennt werden.
Nehmen Sie den Bericht als Ansporn, das Arbeitsrecht
wieder zu „entriestern“, damit mehr Menschen eine Chance
auf einen dauerhaften Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt
bekommen! Wer Zeitarbeit reduzieren oder eingrenzen
will, kommt nicht umhin, das Arbeitsrecht zuentschlacken.
Sorgen Sie – wir sind bereit, dabei mitzuwirken – dafür,
dass wir ein vernünftiges Anreizsystem für Menschen in
der Sozialhilfe bekommen und dass sich ehrliche Arbeit,
auch in unteren Lohngruppen, wieder lohnt.
Dr. Klaus Grehn (PDS): Der vorgelegte Neunte Be-
richt der Bundesregierung über Erfahrungen bei der An-
wendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, des
AÜG, sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur
Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, des BillBG,
enthält wiederum detaillierte Aufstellungen zur Bekämp-
fung illegaler Beschäftigung und der Schwarzarbeit. Tat-
sache ist, dass genaue Angaben zum Ausmaß der illegalen
Beschäftigung und Schwarzarbeit nicht vorliegen und
vielfach Vermutungen die Grundlage der öffentlichen
Diskussion bilden. Dies spiegelt der F.D.P.-Antrag zur
Schattenwirtschaft richtig wider.
Für die PDS sind die Zurückdrängung und die Verhin-
derung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit
wichtige Maßnahmen zur Herstellung von mehr sozialer
Gerechtigkeit. Der Bericht lässt wegen der Darstellung
eine Gesamtbewertung der Bemühungen kaum zu; die Er-
gebnisse beruhen auf jeweils unterschiedlichen Katego-
rien unterschiedlicher Behörden. Hinzu kommt, dass die
Ergebnisse trotz erheblichem Ressourceneinsatz nach wie
vor eher mager sind. Die kritischen Hinweise von Staats-
anwalten und Gewerkschaften, das sei positiv vermerkt,
weisen auf Möglichkeiten der Anreicherung hin.
Wie auch bei den Berichten der Vorgängerregierung
werden Schattenwirtschaft und illegale Beschäftigung
hier wie Marktauswüchse behandelt, die man mittels
Razzien eliminieren kann. Aber gerade das funktioniert
nicht, wie die Berichterstattungen verdeutlichen: Die Er-
mittlungsbehörden eilen seit Jahren von einem Pyrrhus-
sieg zum anderen.
Die Anzahl der Kontrollen, der eingeleiteten Ermitt-
lungsverfahren und der verhängten Bußgelder sind im Be-
richtszeitraum erheblich gestiegen. Dies wird als Erfolg ge-
wertet, obwohl diese Zahlen keine Erfolgsindikatoren sein
können, denn erstens wurde das Kontrollpersonal erheblich
aufgestockt, zweitens wurden neue Deliktfelder, unter an-
derem Mindestlohnvergehen, eingeführt und drittens wurde
der Bußgeldrahmen deutlich angehoben. Trotzdem boomt
die Schattenwirtschaft nach Auffassung von Experten.
Dass diese Entwicklung nun aber Ergebnis der
630-DM-Regelungen oder aber der Ökosteuer sein soll,
wie es die F.D.P. in ihrem Antrag begründet oder vermu-
tet, erinnert eher an Kaffeesatzleserei. Gleiches trifft für
die F.D.P.-Aussage, dass Arbeitszeitverkürzungen zur
Schattenwirtschaft beitragen, zu.
Wir meinen, dass die Schattenwirtschaft weiter boomt,
weil sich egoistisches Gewinnstreben auf einem ungere-
gelten Markt unter anderem auch durch die Arbeitneh-
merüberlassung und die Schattenwirtschaft sehr profita-
bel durchsetzen lässt. Insofern ist es auch notwendig, die
dem Bericht zu entnehmende Praxis, dass die Bestrafung
illegaler und gegen die Gesetze verstoßender Arbeitgeber
nur in seltenen Fällen dem tatsächlichen Ausmaß der Ver-
gehen entspricht, zu ändern.
Wir bezweifeln die Sinnhaftigkeit der weiteren Ver-
schärfung von Gesetzen, die bereits jetzt nicht voll ausge-
schöpft werden. Wir bezweifeln auch die Sinnhaftigkeit
der Aufstockung des Kontrollpersonals und der grund-
rechtlich bedenklichen Ausweitung von Kontrollkompe-
tenzen. Statt dessen wäre es sinnvoll, die überlasteten
Staatsanwaltschaften zu stärken und effektive Maßnah-
men zum Schutz prekär beschäftigter Arbeitnehmer zu er-
greifen. – Letzteres unter anderem deshalb, weil diese Ar-
beitnehmer doppelt zu leiden haben: Sie werden in der
Beschäftigung diskriminiert und oft auch noch um den
Lohn für die tatsächlich geleistet Arbeit betrogen.
Es muss darum gehen, die Rechtssicherheit und die
Konflikfähigkeit zu stärken, um den Anreiz des „Be-
trugsbonus“ bei illegaler Beschäftigung zu beseitigen.
Die Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler
Beschäftigung durch effektiven Schutz allgemeiner Ar-
beitnehmerrechte wäre ein Ansatz, der einer rot-grünen
Politik angemessener wäre, als die Fortführung eines
überkommenen Fehlaktionismus.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung
des Antrages: Gesamtkonzeption für Berliner
Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur
notwendig (Tagesordnungspunkt 11)
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist
schon bemerkenswert, dass nun auch die Union zu der Er-
kenntnis gelangt ist, dass wir eine Gesamtkonzeption für
die Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur brau-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114082
(C)
(D)
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(B)
chen. Im Gegensatz zur früheren Regierung Kohl hat die
neue rot-grüne Regierung eine Konzeption der künftigen
Gedenkstättenförderung vorgelegt. Von daher kommt der
heutige Antrag reichlich spät. Dies finde ich bedauerlich,
weil die Ziele, die in dieser Vorlage verfolgt werden, im
Großen und Ganzen mit unseren Vorstellungen überein-
stimmen. Schade also, dass der Kollege Nooke nicht
rechtzeitig – das heißt im Zusammenhang mit dem Ge-
denkstättenkonzept des Bundes – diese Vorschläge einge-
bracht hat.
Die Gedenkstätten für Opfer der SED-Dikatatur, die
Mauergedenkstätte, das Dokumentationszentrum Ber-
nauer Straße, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohen-
schönhausen und die Stasi-Zentrale in der Normannen-
straße sind wichtige Erinnerungsstätten für alle
Deutschen. Insofern waren wir schon immer der Auffas-
sung, dass die Finanzierung dieser Gedenkstätten auch
eine Angelegenheit des Bundes ist.
Das vereinte Deutschland bekennt sich zu seiner Ge-
schichte; die vielen Gedenkstätten des Bundes zeigen das
deutlich. Wir wollen auch weiterhin im Rahmen des Mög-
lichen die Erinnerungsarbeit an die Geschichte der Deut-
schen fördern. Die rot-grüne Bundesregierung hat es
geschafft, eine Gedenkstättenkonzeption in dieser Wahl-
periode zu verabschieden. Wir haben damit Versäumnisse
der alten Regierung beiseite geräumt und vernünftige För-
dergrundsätze vorgelegt.
Was wir allerdings nicht akzeptieren wollen und kön-
nen sind Versuche, alles und jedes auf den Bund abzu-
wälzen. Gerade weil es um die Geschichte aller Deut-
schen geht, müssen auch alle relevanten Ebenen ihren
Beitrag leisten. Wir gehen davon aus, dass auch künftig
der Bund maximal die Hälfte der Kosten übernimmt; die
fehlenden Mittel müssen die Länder beisteuern. Wobei im
Übrigen auch die Frage zu stellen ist, ob und inwieweit
sich auch private Sponsoren oder Stiftungen an der För-
derung beteiligen können.
Wir werden in den Ausschüssen in aller Ruhe und
Sachlichkeit die vorgelegten Vorschläge erörtern. Ich
halte es daher für überzogen, wenn in Ihrem Antrag der
Bundesregierung eine Frist bis zum 31. Mai 2001 gesetzt
wird. Die Regierung Kohl hat das in acht Jahren nicht hin-
bekommen; man sollte der neuen Regierung ausreichend
Zeit geben. Eine Zeit, die wir gemeinsam brauchen wer-
den, um eine tragfähige Konzeption und eine dauerhafte
Finanzierung sicherzustellen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Unterrichtung: 4. Bericht der Bundesregie-
rung zur Auswärtigen Kulturpolitik 1999 (Ta-
gesordnungspunkt 12)
Monika Griefahn (SPD): 2001 ist der von der UNO
als das Jahr des Dialogs, der Zivilisation und der Kulturen
ausgerufen worden. Insofern ist es gut, dass die Auswär-
tige Kulturpolitik im letzten Jahrzehnt einen Bedeutungs-
zuwachs bekomme hat, den vorher niemand angenommen
hätte. Die Bundesregierung und das Auswärtige Amt ha-
ben auf die Veränderungen der internationalen Umwelt
reagiert. Die Auswärtige Kulturpolitik wird in der Außen-
politik der Bundesrepublik eine wichtigere Rolle spielen,
als dass bisher der Fall war. Auch global wird die Rolle
der Kultur in den internationalen Beziehungen zuneh-
mend beachtet. Damit finden Akzentverschiebungen in
der Außenpolitik statt, die den Veränderungen in einer
globalisierten Welt gerecht werden.
Wir haben es momentan in der Welt fast ausschließlich
mit ethnisch oder religiös motivierten Konflikten zu tun,
also mit kulturellen Konfliktfaktoren. Die klassischen
Konflikte um Land oder Ressourcen werden in der Be-
deutung zurückgedrängt. Konflikte um Wasser werden in
der Zukunft dramatisch werden. Aber die kulturellen Aus-
einandersetzungen nehmen in ihrer Schärfe zu. Die Bun-
desregierung hat diese veränderten Vorzeichen erkannt
und mit der „Konzeption 2000“ für die Auswärtige Kul-
turpolitik des Auswärtigen Amtes reagiert. Dort werden
viele Gedanken aufgenommen, die den kulturellen inter-
nationalen Beziehungen einen sicherheitspolitisch rele-
vanten, weil präventiven Charakter zuweisen. Damit wird
aufgezeigt, worum es in Zukunft gehen muss:
Das Verstehen des anderen, der Respekt vor anderen
kulturellen Eigenarten, Gebräuchen und Sitten, das ge-
genseitige Geben und Nehmen, also die vom Auswärtigen
Amt so genannte „Zweibahnstrasse“, sind der Weg, der in
der internationalen Zusammenarbeit in Zukunft verstärkt
gegangen werden muss.
Damit rede ich nicht einem kulturellen Relativismus das
Wort. Natürlich wollen wir auch unsere Werte vermitteln.
Das gilt sowohl für demokratische Strukturen als auch für
die Beachtung der Menschenrechte. Man sollte nicht argu-
mentieren, dass ein anderes Menschenbild eben etwas sei,
kulturell geprägt und deshalb per se nicht angreifbar sei.
Dies wurde jahrelang mit den Wirtschaftswunderländern in
Südost- und Nordostasien gemacht. Das waren zum größ-
ten Teil Scheinargumente, die nur dazu dienen sollten, das
wirtschaftliche Wachstum nicht zu gefährden.
Ich will ausdrücken, dass wir verstehen müssen, mit
wem wir es zu tun haben, dass wir in einen echten Dialog
eintreten müssen und zwar innen und außen. Wir müssen
bereit sein, den anderen mit all seinen Motivationen zu
verstehen und wir dürfen erwarten, dass uns die gleiche
Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Nur so kann es
gelingen, Konflikte schon frühzeitig zu erkennen und sie
zu verhindern, und zwar lange bevor Polizeieinsätze nötig
sind oder Soldaten eingesetzt werden müssen. Die „Kon-
zeption 2000“ des Auswärtigen Amtes hat diesen Gedan-
ken aufgegriffen und ihn für die Teilbereiche der Auswär-
tigen Kulturpolitik weiterentwickelt.
Der hier debattierte Bericht der Bundesregierung zeigt,
dass in dieser Hinsicht einiges auf den Weg gebracht wurde.
Schon seit Antritt der Regierung von Gerhard Schröder und
Joschka Fischer stand die konzeptionelle, strukturelle und
inhaltliche Neuausrichtung auf der Tagesordnung. Sie wis-
sen alle, dass auch die Auswärtige Kulturpolitik von den
notwendigen Sparmaßnahmen nicht verschont wurde. Das
konnte sie gar nicht. Dennoch ist es gelungen – dies zeigt
der hier debattierte Bericht der Bundesregierung – die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14083
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Auswärtige Kulturpolitik neu zu positionieren und als
wichtigen Pfeiler in die Außenpolitik zu integrieren. Das
war nicht nur wegen der veränderten politischen Rahmen-
bedingungen nötig, sondern es ist auch eine Reaktion auf
die Entwicklungen in Kommunikation und Medien.
Trotz aller Sparmaßnahmen ist es gelungen, beispiels-
weise die Arbeit der Goethe-Institute sogar zu verbessern,
indem „Goethe“ und Inter Nationes fusionierten. Dies ist
ein Beispiel dafür, wie es trotz oder vielleicht gerade we-
gen der Einsparungen zu einer Effizienzsteigerung in der
internationalen Kulturarbeit gekommen ist. Dabei sind die
Verbesserungen in der strukturellen Arbeit erst am Anfang.
Die Einsparungen haben auch nicht verhindert, dass
einer der Schwerpunkte der Auswärtigen Kulturpolitik,
die Förderung der deutschen Sprache, vorangetrieben
wurde. Hier wurden neue regionale Schwerpunkte ge-
setzt und die Förderung auf Multiplikatoren verstärkt.
Auch das diente der Effizienzsteigerung. Die vorsichtig
erfolgte „Regionalisierung“ der Sprachförderung steht
dabei in Einklang mit den Zielen der allgemeinen Außen-
politik.
Aber in den westeuropäischen Staaten, besonders in
Frankreich, sinkt die Zahl der Deutsch-Schüler. Die Ori-
entierung der jungen Leute in den osteuropäischen Län-
dern an den angelsächsischen Sprachen bedeutet, dass be-
sondere Bemühungen notwendig sind, damit Deutsch
wenigstens als zweite Sprache präsent ist.
Auswärtige Kulturpolitik wird heute ganz anders
wahrgenommen als noch vor zehn Jahren. Sie dient darü-
ber hinaus anderen Zwecken als vorher. Wir haben es mit
völlig veränderten Wünschen zu tun, was die Adressaten
unserer Kulturpolitik angeht. Das gilt vor allem für den
Bereich der neuen Medien. Sie haben eine zunehmende
Bedeutung auch in den internationalen Kulturbeziehun-
gen. Deshalb haben wir inzwischen Kulturportale im In-
ternet.
Die Entwicklung in diesem Bereich bedeutet auch,
dass wir über das Deutschlandbild, das wir transportieren
wollen, neu nachdenken müssen. Für die Deutsche Welle
haben wir damit begonnen. Dies kann aber nur ein erster
Schritt sein. Die neuen Technologien haben die Welt der
Kommunikation rasant verändert, wobei es nicht nur um
die Schnelligkeit dieser Veränderungen geht, sondern
auch und vor allem um die Qualität.
Für die Auswärtige Kulturpolitik bedeutet dies, dass
sie sich über die Zielgruppen dieser Politik Gedanken ma-
chen muss. Sicher kann es nicht darum gehen, altbewährte
Programme völlig preiszugeben; da bin ich konservativ.
Vielmehr muss es sinnvolle Ergänzungen geben, die den
Zielgruppen und deren „Nutzerverhalten“ gerecht werden
können. Einem der grundlegenden Anliegen der AKP, der
Förderung der deutschen Sprache, kann hier meines Er-
achtens besonders gedient werden. Es ergeben sich neue
Vertriebswege für Hörfunkprogramme und Sprachkurse,
die vorher nicht da waren. Das Goethe-Institut hat in Zu-
sammenarbeit mit Inter Nationes, der Deutschen Welle
und dem Auswärtigen Amt einen neuen Multi-
media-Sprachkurs entwickelt, der ab diesem Jahr über
Fernsehen, Internet und Hörfunk angeboten wird. Das ist
ein viel versprechender Weg, die Menschen über neue
Wege und neue Zielgruppen zu erreichen.
Noch ein Wort zum Haushalt: Die Mittlerorganisatio-
nen der Auswärtigen Kulturpolitik haben in den letzten
Haushaltsrunden Einschränkungen hinnehmen müssen.
Dieser Beitrag ist von allen gefordert. Wir haben aber er-
lebt, dass dadurch Effizienzsteigerungen erreicht werden
konnten. Die Fusionierung von Goethe-Institut und Inter
Nationes habe ich bereits erwähnt. Außerdem sind wir
durch die Sparpolitik gefordert, intelligente und innova-
tive Lösungen zu finden, die die Ziele der Auswärtigen
Kulturpolitik fördern. Ich plädiere entschieden dafür, die
Goethe-Institute zu budgetieren, damit die Prioritäten be-
züglich Personal und Sachmittel jeweils vor Ort gesetzt
werden können. Dazu brauchen wir die Zusammenarbeit
von allen Beteiligten, auch hier im Bundestag.
Die Auswärtige Kulturpolitik ist eigentlich nie ein Feld
großer parteipolitischer Auseinandersetzungen gewesen.
Diesen breiten Konsens wünsche ich mir auch für die Zu-
kunft. Es kann der Sache nur dienlich sein, vor allem dem
Deutschlandbild im Ausland. Gerade hier in Deutschland
haben wir im Moment viel zu leisten. Die Auswärtige
Kulturpolitik ist das geeignete Feld dazu. Nirgendwo
sonst kommen so viele Menschen mit Deutschland in
Berührung. Denken wir an den Austausch von Wissen-
schaftlern und Studenten, an Konzertreisen, an die Aus-
landsschulen, um nur einige Beispiele zu nennen. Das al-
les sind unsere Bühnen.
Dazu müssen wir aber auch verstärkt die kulturell arbei-
tenden Gruppen in der Gesellschaft unterstützen. Theater,
Musikgruppen, Filmemacher, Autoren und alle anderen,
die sich um den Austausch der Kulturen kümmern, brau-
chen einen sicheren Rahmen für ihre Arbeit. Deshalb fängt
Auswärtige Kulturpolitik im Inland an. Beispielsweise
müssen wir die Besteuerung ausländischer Künstler redu-
zieren, damit sie für die deutschen Veranstalter finanzierbar
bleiben. Ich rede hier nicht von Michael Jackson oder
Luciano Pavarotti. Die kleinen Veranstalter haben inzwi-
schen Probleme, Künstler aus dem Ausland zu engagieren,
weil bis zu 40 Prozent der Gage ans Finanzamt gehen. Das
ist einem lebendigen Kultur-austausch nicht förderlich.
Wir können auch in Deutschland nicht das „Jahr des
Dialogs der Kulturen“ begehen, ohne uns über notwen-
dige und wirksame Strukturen und Rahmenbedingungen
eines solchen kulturellen Dialoges Gedanken zu machen.
Wenn dazu Dinge reformiert und neu gedacht werden
müssen, so müssen wir das tun.
Der Dialog ist die Zukunft der internationalen Bezie-
hungen. Ich meine damit nicht den Dialog an den Konfe-
renztischen. Das funktioniert – meistens. Ich rede von ei-
nem Dialog über Werte, Vorstellungen, Gemeinsamkeiten
und Unterschiede. Das ist ein Dialog über Kultur, durch
den wir lernen, was der Andere denkt, fühlt und will. Es
geht um Bedeutungen. Hier besteht ein großes friedens-
förderndes Potenzial für die internationale Politik. Es darf
nicht unterschätzt werden.
Der Bericht der Bundesregierung über die Auswärtige
Kulturpolitik gibt viele Anhaltspunkte dafür, dass es in
diese Richtung geht. Der insgesamt höhere Stellenwert,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114084
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den Kultur und Kulturpolitik seit 1998 in der Bundespo-
litik genießen, wird auch in der AKIP deutlich. Dieser
Weg ist richtig; er wird der höheren Bedeutung der Kul-
tur in der Außenpolitik gerecht.
Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „In-
ternational kann in Medizin und Biologie in der Spitzen-
forschung nur mitspielen, wer mindestens Lesefähigkeit
im Deutschen besitzt.“ Ist das Wunschdenken? Im ersten
Drittel des letzten Jahrhunderts entsprach dieser Satz der
Wirklichkeit. Heute ist Deutsch nur noch relikthaft inter-
nationale Wissenschaftssprache. Der Anteil der na-
turwissenschaftlichen Publikationen lag 1996 bei 1,2 Pro-
zent, der Anteil der englischen bei 90,7 Prozent. Warum
soll man im Ausland heute noch Deutsch lernen? Wer in
der ganzen Welt zu Hause ist, braucht kein Deutsch, we-
der als Global Player, noch als Tourist.
Die Bedeutung der Sprache ist nur ein Beispiel für die
vielen Veränderungen, mit denen wir in der kulturpoliti-
schen Landschaft konfrontiert werden. Die rasanten Ent-
wicklungen, die die modernen Gesellschaften durchlau-
fen, können verwirren, verunsichern, verängstigen.
Globalisierung schafft Nähe, wo vorher keine war, ermög-
licht uns die Auseinandersetzung mit dem, was uns eben
noch fremd war. Wir sind auf allen Ebenen gefordert: nicht
nur wirtschaftlich-technisch, sondern auch in der persönli-
chen Begegnung, in der Kommunikation, im Dialog.
Dialog, das ist das Stichwort für die neue konzeptio-
nelle Ausrichtung der Auswärtigen Kulturpolitik. Unsere
Gesellschaft, mit der wir die Herausforderungen von tech-
nischer Entwicklung und Globalisierung erfolgreich be-
stehen wollen, setzt auf Freiheit und auf mündige Bürge-
rinnen und Bürger. Der kulturelle Dialog hat auch die
Stärkung der Zivilgesellschaft zum Ziel. Begegnung, Ge-
spräch und Reibung haben Sich-Kennen- und Verstehen-
Lernen, Vertrauensbildung und Sympathieerwerb zur
Folge. Deshalb bin ich besonders froh, dass das
Goethe-Institut schon bald in Teheran, Algier und Ha-
vanna anzutreffen sein wird. Das sind Orte, die dringend
der Öffnung und Stärkung der Zivilgesellschaft bedürfen.
Die Freiheit von Kunst und Kultur in Europa und in un-
serem Land überall in der Welt bekannt zu machen, das
heißt auch, für ihre demokratische Grundlage zu werben.
Die Mittlerorganisationen deutscher Kultur arbeiten auf-
grund unserer Geschichte unabhängig und ihre staatsferne
Organisation kommt den schwierigen Arbeitsbedingun-
gen in vielen Ländern entgegen.
Allerdings haben wir den Mittlerorganisationen Vorga-
ben im Rahmen notwendiger Strukturreformen gemacht.
Wozu den Vorgängerregierungen immer der Mut fehlte,
wurde endlich angepackt: Goethe-Institut und Internatio-
nes zu fusionieren, war seit langem notwendig und zeigt,
dass wir knappe Ressourcen besser zu nutzen suchen. Für
mich ist aber auch klar: Wer mit weniger Mitteln effekti-
ver arbeiten muss, braucht eine größere Flexibilität in der
Mittelverwaltung.
Lassen Sie mich kurz auf die Auslandsschulen eingehen.
Erstens, der Bau neuer deutscher Schulen kann vor Ort
nicht nur besser und schneller, sondern auch kostengünsti-
ger geplant und realisiert werden. Zweitens, wir setzen
auch im Schulbereich auf europäische Zusammenarbeit,
zum Beispiel auf das Modell der so genannten Euro-Cam-
pus-Schulen. Kooperationen zwischen Frankreich und
Deutschland gelingen unter anderem in Manila und
Schanghai; mit England arbeiten wir in Taiwan zusammen.
Neben den Mittlerorganisationen und den deutschen
Schulen im Ausland haben Austauschprogramme die weit
reichendsten Erfolge, wenn es darum geht, deutsche Spra-
che und Kultur ins Ausland zu vermitteln. Der Studieren-
den- und Wissenschaftleraustausch ist uns deshalb ein
wichtiges Anliegen. Wir haben im Haushalt 2001 das Sti-
pendienprogramm nicht nur erhalten, wir haben es sogar
noch mit einer soliden, längerfristigen Planung ausgebaut.
Noch ist Deutsch die dritthäufigst gelernte Fremdspra-
che der Welt. Die Tendenz ist rückläufig. Nur solange die
deutschsprachigen Länder technologisch und wirtschaft-
lich vorne mitspielen, bleibt Deutsch eine wichtige
Fremdsprache. Aber: Es geht um mehr als die Hitliste im
Sprachenranking: Kreative Menschen, Multiplikatoren
und künftige Entscheidungsträger im Ausland zu fördern
und sie an Deutschland und seiner Entwicklung zu inte-
ressieren, muss unser Ziel sein. Und ich frage mich, wie
wir dieses Ziel erreichen, wenn in Reiseführern über
Deutschland davor gewarnt wird, als Mensch mit nicht
weißer Hautfarbe bestimmte Regionen Deutschlands zu
meiden.
Selbst im Internet hätte ein fiktives Deutschlandbild
keinen Bestand! Auswärtige Kulturpolitik kann nur das
vermitteln, was hier lebendig ist. Und da war die Debatte
um die so genannte Leitkultur alles andere als hilfreich.
Lassen Sie uns hier alles tun, damit wir auch nach
außen zu Recht das Bild einer offenen und toleranten Ge-
sellschaft vermitteln können, die den Anforderungen der
Moderne gewachsen ist.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Es ist selbstverständlich, dass
die neuen außenpolitischen Herausforderungen zu Beginn
des 21. Jahrhunderts auch ein Umdenken in der auswärti-
gen Kulturpolitik erforderlich machen. Niemand wird da-
her Zweifel daran haben, dass die vor 25 Jahren von der
Enquete-Kommission des Bundestages festgeschriebenen
Leitlinien neu definiert werden müssen.
Den zweifellos großen Herausforderungen für eine
Auswärtige Kulturpolitik im 21. Jahrhundert stehen je-
doch knappe Mittel gegenüber. Der Kulturhaushalt des
Auswärtigen Amtes wird bis 2003 um weitere 10 Prozent,
das heißt um circa 130 Millionen DM schrumpfen. Mit
der so genannten Konzeption 2000 für die Auswärtige
Kulturpolitik versucht nun das Auswärtige Amt, aus der
Not eine Tugend zu machen. Sicherlich ist es richtig, dass
Sparzwänge auch Chancen für Reformen und Neubeginn
bieten. Aber sie setzen Mut zur Innovation voraus.
Aus meiner Sicht könnten erhebliche Synergie- und
gleichzeitig auch Einspareffekte durch die Bündelung der
zurzeit auf sechs Bundesressorts verteilten Zuständig-
keiten für unterschiedliche Aspekte der Auswärtigen Kul-
turpolitik erreicht werden. So ist es zum Beispiel über-
haupt nicht einzusehen, weshalb Sprachkurse für deutsche
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14085
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Minderheiten in Mittel- und Osteuropa über das BMI fi-
nanziert werden, Sprachkurse des Goethe-Institutes indes-
sen im Haushalt des Auswärtigen Amtes ressortieren.
Ferner sollten folgende Maßnahmen bei einer Reform
der auswärtigen Kulturpolitik im Vordergrund stehen: eine
Reduzierung des Anteils der Personal- und Verwaltungs-
kosten, nicht nur bei den Auslandsschulen, sondern auch
wie zuletzt vom Bundesrechnungshof gefordert beim
Goethe-Institut; eine verstärkte Übertragung von Einzel-
bereichen bei Mittleraktivitäten, zum Beispiel des Sprach-
unterrichtes in private Trägerschaft; eine Modernisierung
und Straffung des weltweiten Netzes des GoetheInstitutes.
In der Personalpolitik sollten die Kulturmittler, insbe-
sondere Goethe-Institute und Auslandsschulen, zukünftig
verstärkt auf die erheblich kostengünstigeren Ortskräfte
zurückgreifen.
Schließlich sollten die Möglichkeiten des Einsatzes
von Sponsormitteln der Wirtschaft und privater Stiftun-
gen besser genutzt werden. Die Konzeption 2000 bietet
zwar Ansätze hierfür; sie sind jedoch noch zu halbherzig.
Warum sollte es beispielsweise nicht möglich sein, im
Rahmen unserer Sprachförderung berechtigte Anliegen
unserer Exportwirtschaft zu berücksichtigen? Was wäre
dagegen einzuwenden, wenn Industrie und Wirtschaft
mehr Patenschaften für deutsche Auslandsbibliotheken
übernähmen und im Zusammenhang mit den Mittlern bei
Kulturveranstaltungen verstärkt als Sponsoren aufträten?
Könnte nicht unsere Stipendienpolitik zumindest in Teil-
bereichen durch kofinanzierte Programme mit den Inte-
ressen der Wirtschaft in Einklang gebracht werden? Wäre
es nicht sinnvoll, dass unsere exportorientierten Unter-
nehmen sich verstärkt an der Finanzierung und Unterhal-
tung von Auslandsschulen beteiligen? Ist es wirklich un-
denkbar, dass zum Beispiel der Börsenverein des
deutschen Buchhandels Gelegenheit erhielte, in ausge-
wählten Goethe-Instituten deutsche Literatur – von der
Belletristik bis zum Fachbuch – auszustellen oder viel-
leicht sogar zu verkaufen? Was spricht eigentlich dage-
gen, im Ausland verstärkt deutsche Häuser zu fördern, un-
ter deren Dach Auslandshandelskammern, deutsche
Firmen, Wirtschaftsverbände und Kultureinrichtungen
untergebracht sind? Durch derartige Gemeinschaftsstruk-
turen würden nicht nur Kosten gespart, sondern erhebli-
che Synergieeffekte erzielt.
Eine derartige Arbeitsteilung darf jedoch nicht ledig-
lich finanztechnisch motiviert sein. Die gemeinsame
Übernahme von Verantwortung öffentlicher und privater
Träger wäre auch geeignet, einen kulturellen Wert an sich
zu vermitteln, der das Wesen unserer Demokratie aus-
macht, das Zusammenspiel von Staat und Bürgergesell-
schaft. Wichtig ist hierfür, dass Kultur und Kommerz ihre
Berührungsängste abbauen, die gemeinsamen Interessen
erkennen und die verbindenden Elemente verstärken.
Deutschland wird auch künftig weltweit nur dann Erfolg
haben, wenn es Wirtschafts- und Kulturnation bleibt. Dies
sind zwei Seiten derselben Medaille.
Ausgesprochen fragwürdig ist indessen die Definition
der Konzeption 2000 einer Auswärtigen Kulturpolitik als
integralem Bestandteil einer auf Konfliktprävention und
Friedenssicherung ausgerichteten deutschen Außenpoli-
tik, deren Ziel die Stärkung von Zivilgesellschaften und
der Herrschaft des Rechts als Schlüssel zu einer mensch-
lichen und friedlichen Globalisierung sein soll. Einem
derartig hehren Ziel kann man zwar nicht grundsätzlich
widersprechen. Problematisch wäre es jedoch, wenn man
die auswärtigen Kulturbeziehungen politisieren und den
interkulturellen Dialog von politischem Wohlverhalten
abhängig machen wollte. Die „FAZ“ bemerkt zu diesem
Ansatz: „Autoritärer ist seit der Gründung der Bundesre-
publik bisher keine auswärtige Kulturpolitik aufgetreten.“
Demokratieförderung, Menschenrechte, Nachhaltig-
keit des Wachstums, Armutsbekämpfung und Schutz der
natürlichen Ressourcen sind klassische Ziele der Ent-
wicklungs- und Menschenrechtspolitik, die zwar auch
die Kulturbeziehungen insofern berühren, als sie unser
gesellschaftliches Wertesystem zum Ausdruck bringen,
deren Umsetzung jedoch nicht prioritäre Aufgabe der aus-
wärtigen Kulturpolitik sein kann. Auswärtige Kulturpoli-
tik kann Friedens- und Sicherheitspolitik nicht ersetzen.
Es wäre ein ziemlich dreistes Beispiel deutschen Missio-
narsdrangs, deutsche Kulturmittler als Friedensbringer in
die Welt zu entsenden.
Zu begrüßen ist hingegen, dass sich die Konzeption
2000 zukünftig prioritär auch dem wechselseitigen
Know-how-Transfer widmen will. Der Förderung der
Wissenschaft und des Hochschulwesens sollten in der
auswärtigen Kulturpolitik in der Tat mehr Bedeutung zu-
kommen.
Im zusammenwachsenden globalen Dorf wird der mul-
tilateral koordinierten Auswärtigen Kulturpolitik eine im-
mer wichtigere Rolle zufallen. Bedauerlicherweise ist die
Koordinierung zwischen bilateraler und multilateraler
Auswärtiger Kulturpolitik sowohl auf der Ebene staat-
licher Stellen als auch der Mittlerorganisationen, ähnlich
übrigens wie im Bereich der Entwicklungszusammenar-
beit, nur sehr schwach ausgeprägt. Gerade im Zuge der
bevorstehenden institutionellen Reformen der EU sollten
wir auf eine stärkere Rolle einer gemeinsamen europä-
ischen Auswärtigen Kulturpolitik drängen. Eine verge-
meinschaftete Außen- und Sicherheitspolitik wäre ohne
eine kulturelle Dimension unvollständig.
Dies wird aber auch Wirkung in den außereuropäi-
schen Raum haben. Jean Monet wird das kluge Wort zu-
geschrieben, die europäische Einigung müsse mit der
Kultur beginnen. Gerade die deutsche Auswärtige Kultur-
politik sollte integraler Bestandteil eines derartigen Pro-
zesses sein. Es wäre zu hoffen, dass dies zu einer Ent-
wicklung führt, in der die Interaktion der Kulturen
zunehmend zu einer bestimmenden Kraft wird, sowohl
beim Zusammenwachsen Europas als auch bei der Aus-
strahlung Europas auf die Welt.
Dr. Heinrich Fink (PDS): Die Bundesregierung hat
mit ihrem Amtsantritt 1998 für die auswärtige Kulturpo-
litik neue Richtlinien vorgegeben, die den Bedingungen
einer sich verändernden Welt stärker Rechnung tragen
sollen. Als Prämissen auch der Auswärtigen Kulturpolitik
benennt sie im vorliegenden Bericht: Sicherung des Frie-
dens, Konfliktverhütung, Verwirklichung der Menschen-
rechte, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Dem stimmt
die PDS ohne Vorbehalt zu.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114086
(C)
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(B)
Bleiben wir bei der partnerschaftlichen Zusammenar-
beit. Diese setzt Gleichberechtigung voraus, soll es einen
wirklichen Dialog der verschiedenen Kulturen geben. Sie
sollen Verständnis füreinander wecken. Sie sind damit das
Gegenteil von Versuchen, Wertvorstellungen zu exportie-
ren. Dies wäre nicht im Sinne der genannten Prämissen.
Doch leider werden sie gelegentlich verlassen. Wenn zum
Beispiel ein Ziel der deutschen Schulen in Osteuropa die
Annäherung dieser Länder an so genannte euro-atlanti-
sche Strukturen sein soll, halte ich dies nicht einem Dia-
log von Kulturen für nicht angemessen. Dies gilt ebenso
dafür, dass Hauptzielgruppen für unsere Kulturpro-
gramme die aktuellen und künftigen Führungsgruppen in
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft der anderen Länder
sein sollen. Diese Ausprägung des Dialogs halte ich für
ausgesprochen paternalistisch.
Als sehr wohltuend allerdings empfinde ich den plura-
listischen Ansatz in Bezug auf die Präsentation, der die
deutschen Beiträge im Ausland betrifft; da besonders die
Feststellung: „In Deutschland herrscht Kulturfreiheit. Es
gibt keine Staatskultur.“ Und ich folgere: Demzufolge
gibt es auch keine Leitkultur.
Namens der PDS begrüße ich diese Vorgaben aus-
drücklich. Gleichzeitig kann ich aber nicht verschweigen,
dass der Bericht über deren inhaltliche Aussagen wenig
mitzuteilen hat. Dies vermisse ich besonders bei den aka-
demischen Austauschprogrammen, bei Medien wie der
Deutschen Welle, auch der Präsentation deutscher Kunst
im Ausland und umgekehrt ausländischer Künstler hier.
Gerade über Letzteres müsste die Öffentlichkeit mehr er-
fahren, als dass Auftritte von Gästen besonders aus Ent-
wicklungs- und osteuropäischen Ländern wegen deren
enger finanzieller Möglichkeiten stark begrenzt sind.
Das gleiche betrifft die Goethe-Institute, deren Mit-
glied ich bin und auch deshalb dem Bericht gern mehr
über ihre Zukunft entnommen hätte.
Eine Bemerkung, von der Sie vielleicht meinen, sie
wäre hier nicht angebracht, möchte ich noch machen: Bei
der gegenwärtigen Diskussion über Rechtsradikalismus
und Fremdenfeindlichkeit hierzulande wird Nichtwissen
über andere Kulturen als eine wesentliche Ursache ge-
nannt. Hier könnte doch gerade die auswärtige Kulturpo-
litik Mittlerdienste leisten. Der Bericht vermerkt zu dieser
Aufgabenstellung jedoch nichts. Zwar wird der Anspruch
formuliert, es dürfe „keinen einseitigen Kulturexport“,
sondern müsse „einen Austausch in beide Richtungen“
geben. Der Kontext allerdings vermittelt den Eindruck,
dass der deutschen Darstellung im Ausland doch erheb-
lich mehr Engagement und Mittel eingeräumt werden als
der Präsentation anderer Kulturen hier. Anhaltspunkte, ob
und – wenn ja – wie dies anders werden soll, fehlen.
Ich wünschte, mehr – oder besser: Genaueres – über die
deutschen Schulen im Ausland zu erfahren als nackte Zah-
len über Etats und Lehrer. Wie haben sich die Lehrinhalte
verändert bzw. sollen sie es? Der Bericht vermerkt mit Be-
friedigung, dass die deutsche Exportindustrie weiter auf
sie zählen könne. Das halte ich nicht für eine erst-rangige
Aufgabe der Kulturpolitik. Da hatte ich nach der Juli-Rede
des Bundesaußenministers zur auswärtigen Kulturpolitik
anderes erhofft: „Die deutschen Schulen“, so Fischer sein-
erzeit, „sind weit mehr als die Basislager der deutschen
Exportwirtschaft. Wir müssen sie in die Lage versetzen,
noch mehr als bisher als Ort der Begegnung zweier Kultu-
ren in die Gastländer auszustrahlen.“ Seine bemerkens-
werte Schlussfolgerung daraus: „Deshalb brauchen wir
auch hier mehr Geld.“ Im Bericht heißt es jetzt allerdings:
Die Auslandsschulen bleiben von den Sparmaßnahmen
der Bundesregierung nicht ausgenommen.
Die Kürzungen ziehen sich im Übrigen durch nahezu
alle anderen Einzelposten in Sachen Auslandskultur –
eine Folge des vorgegebenen Gesamteinsparvolumens
von 130 Millionen DM. Nun stehe ich zwar auch auf dem
Standpunkt, dass nicht allein viel Geld den vorgegebenen
Zielen zur Verwirklichung hilft. Gerade deshalb habe ich
nach den Inhalten gefragt. Doch wenn im konkreten Fall
eine Kulturveranstaltung eines afrikanischen Landes in
Deutschland nicht stattfindet, weil sie nicht gefördert wer-
den kann, bleibt der hehre Anspruch des Dialogs doch
wohl aus Geldgründen auf der Strecke. Ich erinnere da al-
lerdings noch einmal an die erwähnte Rede des vorgestern
hier so gescholtenen Außenministers: „Weder für die in-
nere Entwicklung Deutschlands noch für die elementaren
Ziele der deutschen Außenpolitik ist die auswärtige Kul-
turpolitik eine Art Sahnehaube, auf die man in Zeiten des
Sparens ohne Not verzichten kann. Wer solche Illusionen
pflegt, der verkennt die Realitäten der Welt von heute und
legt zugleich die Hand an den Ast, auf dem wir alle sit-
zen.“ Wo er Recht hat, hat er Recht.
Dr. Christoph Zöpel (SPD): Der Bericht der Bundes-
regierung zur Auswärtigen Kulturpolitik für das Jahr 1999
ist dem Hause im vergangenen Dezember zugeleitet wor-
den. Ich möchte an dieser Stelle den Schwerpunkt auf
zwei Themen legen, die seitdem und in der Zukunft be-
sondere Herausforderungen an die Auswärtige Kulturpo-
litik stellen. Dies sind der „Dialog der Kulturen“ sowie
„Bildung und Hochschulen“.
Zum Bezugsjahr 1999 nur so viel: Das Jahr stand im
Zeichen der in der Koalitionsvereinbarung beschlossenen
Neuausrichtung und Anpassung der Auswärtigen Kultur-
politik und der Kürzungen im AKP-Haushalt durch das
von der Bundesregierung beschlossene Sparprogramm.
Die Neuausrichtung führte nach vielfältigen Beratungen
mit den beteiligten Ressorts der Bundesregierung, den
AKP-Mittlerorganisationen und den Ländern sowie Dis-
kussionen im Ausschuss für Kultur und Medien dieses
Hauses Mitte 2000 zur Vorstellung der „Konzeption
2000“. Das Sparprogramm fordert von uns ein Einspar-
volumen von 130 Millionen DM zwischen 2000 und
2003. Dies bedeutet Einschnitte in gewachsene Struktu-
ren, die möglichst sinnvoll erfolgen und aufgefangen
werden müssen. Die in der vergangenen Woche auch ju-
ristisch vollzogene Fusion von Goethe-Institut und Inter
Nationes ist ein aktueller Schritt in die richtige Richtung.
Nun zum Dialog der Kulturen. Die Rahmenbedingun-
gen sind bekannt: Die Globalisierung lässt Menschen mit
verschiedenen politischen, ethischen und religiösen Vor-
stellungen einander immer näherrücken, über die elektro-
nischen Medien werden Inhalte und Aussagen in Minu-
tenschnelle um den Globus transportiert.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14087
(C)
(D)
(A)
(B)
Kein Zweifel: Die Globalisierung enthält auch ein Po-
tenzial an Konfliktstoffen. Daher muss sie politisch be-
gleitet werden. Die Vereinten Nationen haben auf irani-
sche Initiative und mit Unterstützung der EU das Jahr
2001 zum Jahr des Dialoges der Kulturen ausgerufen, und
zwar des Dialoges zwischen und innerhalb von Kulturen.
Die Internationale Parlamentarier Union (IPU) hat ihre
letzte Konferenz in Amman unter anderem diesem Thema
gewidmet. Bundespräsident Rau hat von seinem Amts-
vorgänger die Schirmherrschaft über eine entsprechende
Initiative zur „Zukunft der Beziehungen zwischen westli-
chen und islamischen Gesellschaften“ übernommen.
Die Auswärtige Kulturpolitik ist das Instrument
schlechthin, um diesen Dialog zu fördern. Mit ihren viel-
fältigen Austauschprogrammen für Schüler, Jugendliche,
Studierende und Akademiker, mit Auslandsschulen wirkt
sie langfristig und nachhaltig in andere Gesellschaften
hinein und öffnet sich zugleich der interkulturellen
Zusammenarbeit. Mit der Förderung der deutschen Spra-
che vermittelt sie den wichtigsten Schlüssel zum Ver-
ständnis unserer Kultur. Sie wirkt in zwei Richtungen,
sorgt für Verbreitung eines zeitgemäßen Deutschlandbil-
des, aber auch für größere Vertrautheit Deutscher mit an-
deren Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten.
Auswärtige Kulturpolitik muss zu Hause beginnen –
Dies gilt auch für den Dialog der Kulturen. Wenn es nicht
gelingt, das Vorhandensein verschiedener kultureller Prä-
gungen in Deutschland friedvoll auszuhalten und zu nut-
zen, anderen ihre Andersartigkeit ohne Furcht, Neid oder
Groll zuzugestehen, wie sollten wir dann am Dialog der
Kulturen im weltweiten Maßstab erfolgreich teilnehmen?
Für die Auswärtige Kulturpolitik ist dies ein wesentlicher
Punkt: Die besten Austauschprogramme und ausgeklügelte
Werbung für den Hochschulstandort Deutschland werden in
ihrer Wirkung durch fremdenfeindliche Ausschreitungen
empfindlich getroffen. Wir müssen alles unternehmen, um
im Ausland wieder als ein offenes und gastfreundliches Land
wahrgenommen zu werden und als ein Land, das die Würde
des Menschen bewusst zu einem Eckstein seiner Verfassung
erkoren hat. Was wir im Guten und im Schlechten den Aus-
ländern in Deutschland antun, tun wir uns selbst an.
Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt: Bildung
und Hochschulen. Die Gesellschaften von morgen wer-
den in immer stärkerer Weise Informations- und Wissens-
gesellschaften sein. Globalisierung bedeutet für die In-
dustrieländer mehr Konkurrenz, gerade auch auf den Ge-
bieten von Wissen und Bildung. Wirtschaftlicher Erfolg
hat die langfristige Sicherung von Know-how zu seiner
Bedingung und Voraussetzung. Deutschland als stark ex-
portorientiertes Land ist darauf angewiesen, in diesem
Wettbewerb zu bestehen. Die Einführung der Green-
Card-Regelung war nur eine erste Reaktion auf den Be-
darf an qualifizierten Fachkräften. Die Berechnungen der
Demographen zeigen, dass dieser Bedarf mittel- und lang-
fristig noch steigen wird. Es ist daher unsere Aufgabe, im
Inland für Rahmenbedingungen zu sorgen, die Deutsch-
land aus der Perspektive des Auslands attraktiv machen,
die besten Köpfe hier halten und unabhängig von ihrer
Herkunft hierher bringen. Auch abgesehen von dem eher
wirtschaftlichen Aspekt steht es uns nicht schlecht an, die
kulturelle Vielfalt in Deutschland zu fördern. Warum hal-
ten sich von weltweit circa 1,6 Millionen Auslandsstu-
denten nur 7 Prozent in Deutschland, aber 30 Prozent in
den USA auf?
Neben Schwierigkeiten bei dem Erlernen der deutschen
Sprache sind es mangelndes Interesse an einem rein deut-
schen Abschluss und nicht zuletzt die Sorgen wegen mög-
licher Bedrohung durch gewaltbereite Extremisten, die
weltweit Resonanz finden und negativ wirken. Bei der In-
ternationalisierung von Studiengängen, der Einführung von
Bachelor- und Masterabschlüssen wurde bereits vieles er-
reicht, auch in der Frage der Aufenthaltsberechti-gung der-
jenigen Ausländer und Ausländerinnen, die an einer deut-
schen Hochschule einen Abschluss erlangt haben. Diese
Anfänge müssen zu einer in sich und im Verhältnis zu un-
seren Interessen konsequenten Strategie ausgebaut werden.
In den genannten Punkten sind auch die Länder gefor-
dert. Bund und Länder müssen ihre Anstrengungen weiter
gemeinsam unternehmen und eng abstimmen. Die vom
Auswärtigen Amt koordinierte Auswärtige Kulturpolitik
ergreift ihrerseits die notwendigen Maßnahmen, um im
Ausland für den Hochschulstandort Deutschland zu wer-
ben und mit dem Instrumentarium der Mittlerorganisatio-
nen weitere Verbesserungen zu bewirken.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
– Entwurf: Zweites Gesetz zur Änderung des Künst-
lersozialversicherungsgesetzes und anderer Ge-
setze
– Antrag: Reform der Künstlersozialversicherung
gerecht gestalten
– Antrag: Für eine grundlegende Reform der Künst-
lersozialversicherung
(Tagesordnungspunkt 20 a und b; Zusatztagesord-
nungspunkt 7)
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Für selbstständige
Künstler und Publizisten ist die Künstlersozialversiche-
rung seit ihrer Einführung ein unverzichtbarer Bestand-
teil ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz gewor-
den. Auch von den abgabepflichtigen Verwertern wird
die Künstlersozialversicherung akzeptiert. Diese Errun-
genschaft, die auf eine SPD-geführte Bundesregierung
unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zurückgeht, soll
erhalten und den neuen Rahmenbedingungen angepasst
werden.
Die vorgesehenen Neuregelungen bringen notwendige
Weiterentwicklungen, ohne die Künstlersozialversiche-
rung in ihrer Substanz zu ändern: Der Zugang älterer
Künstler und Publizisten zur günstigen Krankenversiche-
rung der Rentner und Rentnerinnen wird erleichtert. Die
Voraussetzungen für den Versicherungsschutz werden
den bei selbstständigen Künstlern und Publizisten häufi-
gen Einkommensschwankungen flexibler als bisher ange-
passt. Das Verwaltungsverfahren wird im Interesse aller
Beteiligten vereinfacht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114088
(C)
(D)
(A)
(B)
Der Zugang zur Künstlersozialversicherung wird teil-
weise modifiziert, um einem eventuellen Missbrauch zu
begegnen. Dies liegt im Interesse aller.
So verkürzen wir die „Schonfrist“ für Berufsanfänger,
wobei die Versicherungspflicht auch beim Unterschreiten
der Geringfügigkeitsgrenze bestehen bleibt, von fünf auf
drei Jahre, verlängern aber die Frist um die Zeiträume,
wie Mutterschafts- und Erziehungsurlaub, Wehr- und Zi-
vildienst oder Arbeitnehmertätigkeiten. Dagegen werden
wir für Studenten, die nebenher eine künstlerische oder
publizistische Tätigkeit ausüben, die Mitgliedschaft in der
günstigen Krankenversicherung nach dem KSVG nicht
ermöglichen. Das Gleiche gilt auch für über 65-Jährige,
die sich erstmalig über eine künstlerische oder publizisti-
sche Tätigkeit den Zugang zum Krankenversicherungs-
schutz verschaffen wollen.
Diese Veränderungen werden auch von den beteiligten
Verbänden begrüßt, da sie den Versicherungsschutz für
Künstler und Publizisten wesentlich verbessern.
Selbstständige Künstler und Publizisten befinden sich
in einer Situation, die der von Arbeitnehmern vergleichbar
ist. Sie sind auf die Mitwirkung von Vermarktern oder Ver-
wertern angewiesen, die ihre Werke dem Endverbraucher
zugänglich machen. Der Gesetzgeber hat sie deshalb in der
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung pflichtversi-
chert. Nach dem KSVG versicherte selbstständige Künst-
ler und Publizisten haben wie Arbeitnehmer nur den hal-
ben Beitrag zu zahlen. Der Quasi-Arbeitgeberbeitrag wird
von den Verwertern aufgebracht und durch den Bundeszu-
schuss ergänzt, soweit das Einkommen auf Selbstver-
marktung beruht, also ohne Einschaltung von Verwertern.
Bei der Novellierung des Künstlersozialversicherungsge-
setzes geht es deshalb nicht um tiefgreifende strukturelle
Änderungen, sondern vor allem um Anpassungen an ver-
änderte Verhältnisse, Klärung von Zweifelsfragen sowie
Verbesserungen des Verwaltungsverfahrens.
Seit der letzten Novellierung im Jahr 1988 hat sich die
Zahl der Versicherten mit rund 107 000 mehr als verdrei-
facht. Die Aufwendungen des Bundes sind von 38,7 Mil-
liarden DM in 1988 auf 166,5 Milliarden DM gemäß dem
Entwurf für den Bundeshaushalt 2001 gestiegen. Dies ist
ein Beweis, dass sich der Bund seiner Verantwortung für
die Künstlersozialkasse bewusst ist.
Der Erfassung der abgabepflichtigen Unternehmer,
sprich der Verwerter, kommt eine besondere Bedeutung
zu, da sie mit der Künstlersozialabgabe den Teil der Aus-
gaben der KSK aufbringen, der nicht durch die Beitrags-
anteile der Versicherten und den Bundeszuschuss gedeckt
ist. Seit 1989 hat sich die Zahl der durch die KSK erfass-
ten Verwerter mehr als verdoppelt. Sie liegt heute bei
35 373. Allein in den letzten fünf Jahren sind 10 000 Ver-
werter neu hinzugekommen.
Auch wenn die meisten und wichtigsten der in § 24 Abs.
1 Satz 1 KSVG aufgeführten typischen Verwerter von der
KSK erfasst sind, so bereitet die Auffindung der Unterneh-
men, die Eigenwerbung betreiben oder die unter die Gene-
ralklausel des § 24 Abs. 2 KSVG fallen, noch einige
Schwierigkeiten; denn weder an ihrem Namen noch an
ihrem Geschäftsgegenstand ist zu erkennen, dass eine Ab-
gabepflicht besteht. Die lückenlose Erfassung der abgabe-
pflichtigen Unternehmen ist weiterhin Ziel der KSK. Dies
gilt ebenso für die ausländischen Verwerter. Sofern diese im
Inland als Verwerter tätig werden, sind sie ebenso abgabe-
pflichtig wie entsprechende inländische Unternehmen.
Durch die Bildung von Ausgleichsvereinigungen kann
die Abgabepflicht einer Vielzahl gleichartiger Unterneh-
men verwaltungsökonomisch geregelt und eine Belastung
lediglich einzelner Unternehmer durch die Künstlersozi-
alabgabe vermieden werden. Die Absenkung des Bundes-
zuschusses durch das Haushaltssanierungsgesetz vom
22. Dezember 1999 von 25 auf 20 Prozent der Ausgaben
der Künstlersozialkasse (KSK) und die Einführung eines
einheitlichen Abgabesatzes für die Künstlersozialabgabe
war eine sachliche Entscheidung aufgrund des vermin-
derten Selbstvermarktungsanteils und keine reine Spar-
maßnahme im Rahmen der Haushaltssanierung.
Der Bundeszuschuss ist insofern flexibel, als er nicht
aus einem festen Betrag besteht, sondern mit den Bei-
tragsausgaben der KSK für die Versicherten steigt.
Eine Rückkehr zur alten Zuschusshöhe, wie sie meh-
rere Verbände fordern, ist auch aus Haushaltsgründen ab-
zulehnen.
Ebenso ist mit dem Vorschlag der F.D.P. zu verfahren,
einen festen Abgabesatz von 3,3 Prozent einzuführen. Die-
ser wiederum würde einen Bundeszuschuss von circa
25 Prozent bedingen und ihn mittelfristig auf knapp
30 Prozent ansteigen lassen. Eine solche Defizithaftung
kann wegen der Haushaltssituation des Bundes nicht ein-
geführt werden. Auch die so genannte Korridorlösung mit
einer Obergrenze von 25 Prozent und einer Untergrenze
von 17 Prozent, die auf einen Vorschlag des Deutschen
Kulturrates basiert, ist für den Bund nicht umsetzbar.
Weiterhin schlägt die F.D.P. vor – ich zitiere –:
Der Bundeszuschuss darf nicht unter die Höhe sin-
ken, die den vom Bundesverfassungsgericht in der
Entscheidung vom 8. April 1987 dargestellten An-
forderungen entspricht. In einem solchen Fall wird
der Künstlersozialabgabesatz gesenkt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung aber keine Untergrenze für den Bundeszuschuss
festgelegt. Es hat lediglich darauf aufmerksam gemacht,
dass der Gesetzgeber bei der Festlegung des Bundeszu-
schusses den Selbstvermarktungsanteil berücksichtigen
muss. Eine erneute Überprüfung des Selbstvermarktungs-
anteils wird aufgrund eines Beschlusses des Rechnungs-
prüfungsausschusses des Deutschen Bundestages voraus-
sichtlich im Laufe dieses Jahres abgeschlossen sein.
Dennoch möchte ich möglichen Befürchtungen nach wei-
terer Senkung des Bundeszuschusses gleich entgegentreten.
Der Bundeszuschuss in Höhe von 20 Prozent der Ausgaben
der Künstlersozialkasse sollte als verträgliche Größe gehal-
ten werden. Dafür werde ich mich einsetzen. Schon nach ei-
nem Jahr hat sich gezeigt, dass die Aufhebung der Sparten-
trennung nach den Bereichen Wort, Musik, bildende und
darstellende Kunst viele Vorteile bringt, auch wenn ich aner-
kennen muss, dass der Musikbereich besonders belastet
wird. Dennoch ist es ein notwendiger Schritt gewesen, da
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14089
(C)
(D)
(A)
(B)
sich die heutige Kultur- und Medienlandschaft nicht mehr
deutlich voneinander abgrenzen lässt. Auch verfassungs-
rechtliche Bedenken wurden geprüft und verworfen.
Letztendlich hat sich die Höhe des einheitlichen Abga-
besatzes von 4 Prozent im Jahre 2000 auf 3,9 Prozent im
Jahre für die Verwerter positiv verändert.
Wir werden in den nächsten Wochen noch genügend
Zeit haben, über Details der Novellierungen auch mit den
Betroffenenverbänden zu diskutieren. Für mich zeigt sich
schon heute, dass wir mit dieser Novellierung das KSVG
auf die veränderten Bedingungen ausgerichtet haben, die
zu Verbesserungen der sozialen Absicherung der Künstler
und Publizisten führen wird und das ist zu begrüßen.
Andreas Storm (CDU/CSU): Die Künstlersozialver-
sicherung wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Sie ist eine
wichtige sozialpolitische Errungenschaft, die in den ver-
gangenen beiden Jahrzehnten einen großen Beitrag zur
Verbesserung der sozialen Absicherung unserer Künstle-
rinnen und Künstler geleistet hat. Doch auch an der
Künstlersozialversicherung geht die Zeit nicht spurlos
vorüber, Reformen sind nötig geworden.
Meine Damen und Herren aus der Regierungskoali-
tion, in Ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998
steht zu lesen: „Die neue Bundesregierung wird zur Ab-
sicherung der Künstlerinnen und Künstler die Künstler-
sozialversicherung verbessern.“ Über zwei Jahre sind
seitdem vergangen, von Verbesserungen keine Spur. Im
Gegenteil, die erste Maßnahme, die Sie nach dem Regie-
rungswechsel im Bereich der Künstlersozialversicherung
ergriffen haben, war eine Sparmaßnahme. Mit dem Haus-
haltssanierungsgesetz vom Dezember 1999 haben Sie den
Bundeszuschuss, der bislang 25 Prozent der Ausgaben der
Künstlersozialkasse abgedeckt hat, auf 20 Prozent
gesenkt. Damit haben Sie die Künstlersozialversicherung
in eine prekäre finanzielle Situation gebracht, und Sie ha-
ben bisher keinerlei Anstalten gemacht, diese Sparmaß-
nahme im Zuge der Novellierung des Künstlersozial-
versicherungsgesetzes wieder rückgängig zu machen.
Der Bund zieht sich also teilweise aus seiner sozialpo-
litischen Verantwortung für die Künstler zurück und spart
damit etwa 40 Millionen Mark im Jahr. Die müssen dafür
von den Verwertern aufgebracht werden, und das heißt: Es
wird teurer, Künstler zu engagieren, und wo Veranstaltun-
gen nicht ausfallen, werden die Honorare gekürzt werden
müssen. Was das für die soziale Sicherung der Künstlerin-
nen und Künstler bedeutet, will ich Ihnen kurz erläutern.
Während das durchschnittliche Einkommen der Arbei-
ter und Angestellten im Jahre 2000 53 513 DM betrug, mel-
deten die in der Künstlersozialversicherung Versicherten
einen Durchschnittsverdienst von gerade mal 21 852 DM,
also von nur rund 40 Prozent dessen, was Arbeiter und An-
gestellte verdienen. Entsprechend niedrig sind aber auch
die Rentenansprüche der Künstlerinnen und Künstler. 40
Prozent des Durchschnittsverdienstes – das macht deutlich,
dass hier ein ganz besonderer Ausgleichsbedarf besteht und
dass der Bund eine ganz besondere sozialpolitische Verant-
wortung für die Künstler hat. Nicht zuletzt durch die anste-
hende Rentenreform besteht eine starke Verpflichtung des
Bundes, die soziale Sicherung der Künstler finanziell zu
unterstützen, um Altersarmut zu vermeiden. Die Absichten
der rot-grünen Koalition zur Förderung der Künstlersozial-
versicherung sind jedoch weder ein kulturpolitischer Fort-
schritt noch eine sozialpolitische Tat.
Wenn wir für die Künstler aufgrund ihres extrem nied-
rigen Einkommens eine besondere sozialpolitische
Schutzwürdigkeit feststellen, dann muss sich diese auch
in der Höhe des Bundeszuschusses widerspiegeln. Wenn
der Bund schon bei Arbeitern und Angestellten 20 Prozent
der sozialen Sicherung durch Steuermittel finanziert,
dann müsste es bei den Künstlern doch wohl eher mehr als
weniger sein.
Wir begrüßen ausdrücklich die Leistungsverbesserun-
gen, die der Regierungsentwurf für die Versicherten vor-
sieht. Sie sind ein Schritt in die richtige Richtung, weil sie
dazu beitragen können, dass die soziale Absicherung be-
stimmter Problemgruppen unter den Künstlern verbessert
wird. Aber Leistungsausweitungen müssen auch finan-
ziert werden. Und da haben Sie genau das Gegenteil von
dem vor, was sozialpolitisch geboten wäre. Mit nicht
nachvollziehbaren Einsparungen beim Bundeszuschuss
riskieren Sie, dass die Künstlersozialversicherung vor die
Wand gefahren wird. Durch Ihre Sparsamkeit am falschen
Platze werden die Leistungsverbesserungen für die Versi-
cherten wieder zunichte gemacht.
Als Begründung für die Einsparungen zulasten der
Künstlersozialversicherung führt die Bundesregierung
an, dass der Selbstvermarktungsanteil mittlerweile we-
niger als 50 Prozent betrage und der Bundeszuschuss da-
her auch weniger als 50 Prozent des Arbeitgeberanteils
decken solle. Verlässliche Zahlen darüber gibt es aller-
dings nicht, wie Sie selbst zugegeben haben. Denn das
Ifo-Gutachten von 1995 bezeichnen Sie selbst als über-
holt, obwohl Sie die Absenkung des Bundeszuschusses
auch mit ebendiesem Gutachten begründen. Die Ergeb-
nisse einer Überprüfung des Selbstvermarktungsanteils
werden nach Angaben der Bundesregierung erst im Laufe
des Jahres 2001 vorliegen. Mit anderen Worten: Sie sto-
chern derzeit im Nebel und begründen die Einsparungen
mit Daten, die gar nicht existieren.
Eine sachliche Begründung für die Absenkung des
Bundeszuschusses haben Sie also nicht, es wird vielmehr
gespart um des Sparens willen. Damit sind Sie im Begriff,
die in zwei Jahrzehnten bewährte Künstlersozialversi-
cherung zu ruinieren! Auch die Zusicherung der Kollegin
Ulla Schmidt, dass der Bundeszuschuss in den nächsten
fünf Jahren nicht unter die 20-Prozent-Marke sinken wird,
ist keinesfalls ausreichend.
Der Bundeszuschuss muss vielmehr ein angemessener
Ausdruck der kultur- und sozialpolitischen Verantwortung
sein, die der Bund für die Künstlerinnen und Künstler hat.
Wir fordern Sie daher auf, den Bundeszuschuss künftig
unabhängig vom Selbstvermarktungsanteil festzusetzen.
Der Streit um die aktuelle Höhe des Selbstvermarktungs-
anteils zeigt doch, dass er als Maßstab für die Festsetzung
des Bundeszuschusses untauglich ist, weil er tagespoliti-
schen Entscheidungen unterworfen ist und damit Unsi-
cherheit bei Künstlern und Verwertern verursacht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114090
(C)
(D)
(A)
(B)
Wir sprechen uns hingegen für ein Modell aus, das der
Deutsche Kulturrat vor einigen Monaten vorgeschlagen
hat. Sein Kern ist ein fester einheitlicher Abgabesatz von
3,3 Prozent für die Verwerter und ein Korridor für den
Bundeszuschuss, der zwischen 17 und 25 Prozent liegt.
Der Bundeszuschuss soll wie bisher die Einnahmen aus
der Künstlersozialabgabe auf 50 Prozent der Ausgaben
der Künstlersozialkasse auffüllen. Änderungen im Fi-
nanzbedarf der Künstlersozialkasse würden nach diesem
Modell grundsätzlich zunächst eine Anpassung des Bun-
deszuschusses nach sich ziehen. Damit könnten die teil-
weise extremen Schwankungen in der Höhe der Künstler-
sozialabgabe, die in der Vergangenheit immer wieder zu
Planungsunsicherheiten bei den Verwertern geführt ha-
ben, vermieden werden.
Erst wenn der flexible Bundeszuschuss die Grenzen
des Korridors erreicht, wird auch der Abgabesatz der Ver-
werter durch Anhebung oder Absenkung angepasst. Da-
mit könnte eine gleichmäßige und ausgewogene Belas-
tung der Verwerter einerseits und des Bundes
andererseits erreicht werden, die sich objektiv am Fi-
nanzbedarf der Künstlersozialversicherung orientiert und
das streitanfällige Kriterium des Selbstvermarktungsan-
teils entbehrlich macht.
Zugleich würde der Bund durch dieses Korridormodell
dazu angehalten werden, sich intensiver als bisher um die
lückenlose Erfassung der abgabepflichtigen Verwerter zu
kümmern und die Trittbrettfahrer in die Pflicht zu neh-
men. Gelingt ihm dies, kann der Bundeszuschuss unmit-
telbar verringert werden, weil das Aufkommen aus der
Künstlersozialabgabe bei gleichbleibendem Abgabesatz
ansteigt.
Wir halten diesen Vorschlag für einen fairen Ausgleich
der Interessen, ohne den die Reform der Künstlersozial-
versicherung mit Sicherheit fehlschlagen wird. Denn
wenn es nicht gelingt, die Finanzierung der Künstlersozi-
alversicherung wieder auf eine solide Grundlage zu stel-
len, wird das System insgesamt existenziell gefährdet.
Deshalb muss noch in diesem Jahr eine befriedigende Lö-
sung des Einnahmenproblems gefunden werden. Wir sind
dazu bereit.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Seit 1983 können sich Künstler aller Berufsgattungen in
der Künstlersozialversicherung gesetzlich versichern las-
sen. Diese Kasse ist bis heute eine hervorragende Ein-
richtung und in Europa einzigartig.
Die Künstlersozialversicherung hat bei den Künstlern
einen guten Ruf, denn sie bietet Ihnen eine gute Absiche-
rung. Sie sind gesetzlich kranken- und rentenversichert
und müssen die Sozialabgaben arbeitnehmergleich nur zu
50 Prozent zahlen.
Weil sich diese Regelung bewährt hat, ist es uns nach
den schwierigen Vorgaben durch das Haushaltssanie-
rungsgesetz bei der notwendigen Reform um eine mög-
lichst große Beibehaltung des Status quo gegangen. Denn
gerade für uns Kulturpolitiker sind die Künstler in ihrer
Arbeit und ihren Werken so wichtig, dass wir trotz aller
Einsparnotwendigkeiten, die ein echter Sparhaushalt er-
forderlich macht, bei Ihnen nichts kürzen wollten. Die Re-
form der Künstlersozialversicherung ist aber notwendig
geworden, weil der Selbstvermarktungsanteil der Künst-
ler gesunken ist und damit der Bundeszuschuss nicht auf
dem bisherigen Niveau zu halten war.
Wir haben aber die Leistungen der KSK optimiert und
sie verwaltungstechnisch an den Bund angegliedert. Ins-
gesamt ist die Stellung der Versicherten sogar gestärkt
worden. Wir mussten allerdings die Verwerter stärker in
die Pflicht nehmen. Es waren nicht immer leichte Ver-
handlungen mit den Haushalts- und Finanzpolitikern,
aber es ist uns gelungen, den Beitragssatz auf 20 Prozent
festzuschreiben und so eine noch stärkere Absenkung des
Bundesanteils zu verhindern. Unser politisches Ziel ist die
Beitragsstabilisierung mindestens bis zum Jahr 2005, da-
mit die Künstlersozialversicherung und die in ihr Versi-
cherten Planungssicherheit haben. Die Vereinheitlichung
des Verwerteranteils auf 4 Prozent ist angesichts der pro-
blematischen Situation des Verwerteranteils angemessen
und entspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz.
Deutlich sind die Verbesserungen für die Versicherten
in folgenden Bereichen: Wir haben durchgesetzt, dass äl-
tere Künstler und Publizisten jetzt einen erleichterten Zu-
gang zur Krankenversicherung der Rentner erhalten, auch
wenn sie schon vor Entstehung der Künstlersozialversi-
cherung tätig waren. Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes ist
es Künstlern und Publizisten möglich, innerhalb von
sechs Jahren zweimal die Geringfügigkeitsgrenze zu un-
terschreiten, ohne dabei den Versicherungsschutz zu ver-
lieren. Das ist eine echte Erleichterung und vor allem ein
Zugeständnis an die langjährigen Mitglieder der KSK. Es
wird damit flexibel auf die Situation der Künstler reagiert;
die mit schwankenden Einkommensverhältnissen rech-
nen müssen. Obendrein wird verhindert, dass es zu Mehr-
fachprüfungen kommen muss.
Es freut mich besonders, dass der Deutsche Kulturrat
in seiner Stellungnahme um Kabinettsbeschluss am
14. November 2000 unsere Reform ausdrücklich begrüßt
hat. Ihr Geschäftsführer Olaf Zimmermann schreibt:
Den Deutschen Kulturrat freut, dass mit dem Kabi-
nettsbeschluss zur Reform des Künstlersozialversi-
cherungsgesetzes die bereits angekündigten Verbes-
serungen für die Versicherten „in trockenen
Tüchern“ sind.
Einziger Kritikpunkt war die Erhöhung des Verwerteran-
teils. Außerdem werden wir uns außerhalb des Gesetzes
dafür einsetzen, dass auch wirklich alle Verwerter erfasst
werden. Ich weiß, dass diese Aufgabe für die Künstlersozi-
alkasse nicht einfach ist, aber ich habe Vertrauen, dass sie
das leisten wird. Die Überführung der Künstlersozialkasse
in die Bundesverwaltung halte ich angesichts der anstehen-
den Aufgaben ebenso für angemessen.
Ich denke, wir haben einen für alle Beteiligtenannehm-
baren Reformweg gefunden. Die Künstlersozialkasse sollte
auch angesichts knapper Kassen leistungsfähig bleiben und
in einigen Bereichen verbessert werden. Das war unser
pragmatisches Reformziel und das haben wir erreicht.
Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Der vorliegende
Entwurf der Bundesregierung für die Novellierung des
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14091
(C)
(D)
(A)
(B)
Künstlersozialversicherungsgesetzes wird zu einer Ato-
misierung der Künstlersozialversicherung führen. Denn
die auffällige Erhöhung des Einnahmesatzes für 2001 im
Vergleich zu den beiden Vorjahren lässt vermuten, dass
die Regierung aufgrund der beabsichtigten Novellierung
von einer enormen Zunahme der Beiträge der Verwerter
ausgeht. Sollten die Verwerter dagegen Klage vor dem eu-
ropäischen Gerichtshof erheben und sollte das Gericht ei-
ner solchen Klage stattgeben, wird dies letztlich zulasten
der Künstler gehen. Denn bei einem Durchschnittsein-
kommen von circa 21 000,– DM werden die Künstler
keine Erhöhung ihrer Eigenbeträge verkraften können.
Zur Sicherung und Fortentwicklung kulturellen Le-
bens ist die soziale Absicherung der Künstler und Publi-
zisten unabdingbar. Aber auch die Kulturwirtschaft
benötigt verlässliche Kalkulationsgrundlagen und muss
vor nicht mehr akzeptablen Belastungen durch die Künst-
lersozialabgaben geschützt werden. Gerade die vergange-
nen zehn Jahre haben zu einem überproportionalen An-
wachsen des Versichertenkreises geführt. Daher ist es bei
einer Reform von entscheidender Bedeutung, dass beide,
Versicherte und Verwerter, von Verbesserungen des
Künstlersozialversicherungsgesetzes gleichermaßen an-
gemessen partizipieren. Obwohl beide betroffenen Grup-
pen, die Künstler und die Verwerter, sich durch Vermitt-
lung des Kulturrats auf gemeinsame Reformvorschläge
geeinigt hatten, wurden diese von der Bundesregierung
nicht aufgegriffen.
Die F.D.P. wird sich dafür einsetzen, den Bestand der
Künstlersozialkasse dauerhaft zu sichern. Wir legen
hierzu Vorschläge für eine strukturelle Reform der Künst-
lersozialversicherung vor:
Erstens muss es nach Auffassung der F.D.P. darum gehen,
den versicherten Personenkreis zu überprüfen und gegebe-
nenfalls einzuschränken, damit die wirklich Anspruchsbe-
rechtigten, nämlich alle freiberuflichen Künstler und Publi-
zisten, dauerhaft sozial abgesichert werden können.
Zweitens sind bisher nicht zum Kreis der abgabepflich-
tigen Verwerter gehörende Unternehmen zu erfassen und
die Abgabepflicht auf ausländische Verwerter, die mit in-
ländischen Verwertern zusammenarbeiten, auszuweiten.
Mithilfe der Verbände der Kultur- und Medienwirtschaft
müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Kreis der
Abgabepflichtigen lückenlos zu erfassen. Das bedeutet al-
lerdings auch, dass diejenigen Organisationen, die wegen
ihrer gemeinnützigen Struktur keinen wirtschaftlichen Un-
ternehmenszweck verfolgen, wie zum Beispiel Laienorga-
nisationen, keine Abgaben zu entrichten haben.
Drittens ist schließlich die Höhe des „Bundeszuschus-
ses“ flexibel zu gestalten. Mittels eines gesetzlichen Au-
tomatismus muss der Bundeszuschuss bedarfsorientiert
gewährt werden.
Heinrich Fink (PDS): Eine dreiminütige Rede erlaubt
keine großen Präliminarien. Eines möchte ich aber doch
prinzipiell voranstellen: Die Künstlersozialversicherung
ist eine soziale Errungenschaft, die nicht – auch nicht par-
tiell – infrage gestellt oder abgebaut werden darf, sondern
sie muss stabilisiert und ausgebaut werden. Dem ent-
spricht unser Antrag. Er ist im Ergebnis einer umfassen-
den Anhörung in unserer Fraktion zu diesem Thema
entstanden, an der Künstlerinnen und Künstler und Publi-
zistinnen und Publizisten aller Sparten besonders aus Ost-
deutschland, Vertreter ihrer einschlägigen Berufsver-
bände, der IG-Medien und des Deutschen Kulturrates
sowie unabhängige Wissenschaftler und Wissenschaftle-
rinnen teilgenommen haben.
In der Anhörung wurde eines ganz deutlich: So wie die
Kultur-Enquete der 70er-Jahre die Notwendigkeit einer
Künstlersozialversicherung augenfällig gemacht hat, so
ist eine aktuelle Untersuchung gleichen Ausmaßes die Vo-
raussetzung für einen durchgreifenden und möglichst
zielgenauen Ausbau des Gesetzes. Die Daten der Künst-
lersozialkasse können – auch wenn sie in einen „Bericht
der Bundesregierung über die soziale Lage der Künstle-
rinnen und Künstler“ umgegossen werden – eine solche
umfassende Kultur-Enquete nicht ersetzen. Das Gleiche
gilt für die beabsichtigte Untersuchung zum Selbstver-
marktungsanteil. Ich schlage vor, diese Studie fallen zu
lassen und sie in die umfassende Enquete einzubeziehen,
die die Bundesregierung nun unverzüglich in Auftrag ge-
ben sollte.
Diese fehlende Datenbasis mag der Bundesregierung
ja durchaus gelegen kommen. Sie kann damit sogar die
Begrenztheit ihrer „Reform“ rechtfertigen. Etwa nach
dem Motto: Wenn keine nachhaltigen Veränderungen in
der sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler und Pu-
blizistinnen und Publizisten bekannt sind, bedarf es auch
keiner grundlegenden Reform der Künstlersozialversi-
cherung. Allerdings konnten auch wir als eine Partei des
Realismus an dieser fehlenden Datenbasis zur tatsächli-
chen sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler und
Publizistinnen und Publizisten nicht vorbeisehen. Wir ha-
ben unseren Forderungskatalog deshalb unterteilt.
In einem ersten Teil stellen wir Forderungen auf, die
wir noch im Rahmen des eingeleiteten Gesetzgebungs-
verfahrens für realisierbar halten. In einem zweiten Teil
verweisen wir die Bundesregierung auf einige Hauptrich-
tungen, in die die Künstlersozialversicherung zukünftig
ausgebaut werden müsste, deren konkrete Ausgestaltung
ohne die eingeforderte Enquete jedoch nicht seriös be-
stimmt werden kann. Das betrifft vor allem den Versiche-
rungsschutz für Zeiten ohne Einkommen, die Einführung
einer Arbeitslosenversicherung und die Gewährleistung
einer angemessenen Rente.
Was den angelaufenen Novellierungsprozess betrifft,
so fordern wir, ihn so zu gestalten, dass alle hauptberuf-
lich künstlerisch und publizistisch Tätigen, die nicht im
Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses sozial abgesi-
chert sind, in den Versicherungsschutz nach dem Künst-
lersozialversicherungsgesetz einbezogen werden. Damit
unterscheidet sich unserer Antrag grundlegend von dem
der F.D.P., dessen einzige Botschaft an die Versicherten
lautet: Wir wollen alles so lassen wie es ist und obendrein
den Kreis der Versicherten möglichst einengen.
Bei der Verfolgung unseres Anliegens beziehen wir
durchaus die Verbesserungen ein, die der Gesetzentwurf
der Bundesregierung vorsieht. Zugleich verlangen wir je-
doch, dass alle beabsichtigten Verschlechterungen zurück-
genommen werden. Darüber hinaus fordern wir als Er-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114092
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gebnis unserer Anhörung einen Komplex von gesetzlich
fixierten Regelungen, mit denen Versicherungslücken, die
in der Praxis der Versicherung sichtbar geworden sind, ge-
schlossen und eine bessere Versorgung im Krankheitsfall
gewährleistet würden.
Ich hoffe sehr, dass im Zuge der Debatten in den Aus-
schüssen einiges davon noch aufgegriffen wird.
Ulrike Mascher (SPD): Die Künstlersozialversiche-
rung ist eine bedeutende sozial- und kulturpolitische Er-
rungenschaft in Deutschland. Als sie unter Kanzler
Helmut Schmidt auf den Weg gebracht wurde, war dies
ein mutiger Schritt ins Neuland. Jetzt will die Bundesre-
gierung den sozialen Schutz selbstständiger Künstler und
Publizisten verbessern und die Künstlersozialversiche-
rung den aktuellen Anforderungen anpassen.
Selbstständige Künstler und Publizisten sind oft in ei-
ner wirtschaftlichen Situation, die der von Arbeitnehmern
vergleichbar ist. Sie sind auf die Mitwirkung von Verla-
gen, Galerien oder Konzertagenturen angewiesen, damit
ihre Werke oder Leistungen vermarktet werden können.
Deshalb hat der Gesetzgeber sie in die gesetzliche Ren-
ten-, Kranken- und später in die Pflegeversicherung ein-
bezogen. Dabei müssen sie – wie Arbeitnehmer – nur den
halben Beitrag entrichten. Die zweite Beitragshälfte wird
von den Verwertern über eine Künstlersozialabgabe und
über einen Bundeszuschuss aufgebracht. Mittlerweile
sind rund 110 000 Künstler und Publizisten über die
Künstlersozialkasse versichert und ihre Zahl nimmt wei-
ter zu. Besonders erfreulich ist der hohe Anteil an Frauen
mit etwa 43 Prozent. Bei den Berufsanfängern liegt der
Frauenanteil sogar über 50 Prozent.
Die Künstlersozialversicherung hat sich bewährt. Bei
der Vorbereitung dieser Gesetzesänderung haben die Ver-
bände der Künstler und Publizisten betont, wie unent-
behrlich der Versicherungsschutz für die selbstständigen
Künstler und Publizisten geworden ist. Auch die Verwer-
tungsunternehmen haben weitgehend ihre Pflicht zur
Zahlung der Künstlersozialabgabe akzeptiert. Mittler-
weile müssen rund 35 000 Verwertungsunternehmen
diese Abgabe zahlen. Damit hat sich ihre Zahl seit 1989
mehr als verdoppelt. Das zeigt, wie gut die Künstlersozi-
alversicherung funktioniert.
Für eine grundlegende Reform der Künstlersozialver-
sicherung besteht kein Bedürfnis. Notwendig sind aber
einzelne Verbesserungen des Versicherungsschutzes, Ein-
grenzungen der Versicherungspflicht, Vereinfachungen
der Verwaltung sowie eine Organisationsänderung bei der
Künstlersozialkasse.
Besonders wichtig ist für selbstständige Künstler und
Publizisten, dass sie gegen das Krankheitsrisiko im Rah-
men der gesetzlichen Krankenversicherung abgesichert
sind. Vielen älteren Künstlern und Publizisten ist aber
nach geltendem Recht die Krankenversicherung der Rent-
ner verschlossen. Sie können die Voraussetzung einer fast
lückenlosen Pflichtversicherung in der zweiten Hälfte des
Erwerbslebens nicht erfüllen. Ich bin deshalb froh, dass
mit der vorliegenden Novelle für ältere Künstler und Pu-
blizisten der Zugang zur Krankenversicherung der Rent-
ner erleichtert wird.
Für diesen Krankenversicherungsschutz ist erforder-
lich, dass die selbstständige künstlerische oder publizisti-
sche Tätigkeit vor 1983 aufgenommen wurde und für
neun Zehntel der Zeit zwischen 1985 und dem Rentenan-
trag eine Pflichtversicherung nach dem Künstlersozial-
versicherungsgesetz bestanden hat. Für die neuen Bun-
desländer wird dabei auf das Jahr 1992 abgestellt, dem
frühesten Zeitpunkt, in dem Beiträge an die Künstlersozi-
alkasse entrichtet werden konnten. Damit wird eine noch
bestehende Lücke in der sozialen Absicherung der Künst-
ler und Publizisten geschlossen und einem wichtigen An-
liegen der Künstlerverbände Rechnung getragen.
Ferner werden die Voraussetzungen für den Versiche-
rungsschutz flexibler gestaltet. Künftig kann die Gering-
fügigkeitsgrenze innerhalb von sechs Jahren bis zu zwei-
mal im Jahr unterschritten werden, ohne dass der
Versicherungsschutz entfällt. Das ist im Hinblick auf die
häufigen Einkommensschwankungen eine deutliche Ver-
besserung. Zuweilen wird der Vorwurf eines Missbrauchs
der Künstlersozialversicherung laut. Es gibt jedoch keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Künstlersozialversicherung
in nennenswertem Ausmaß von Personen in Anspruch
genommen wird, die zu Unrecht in die Künstlersozialver-
sicherung aufgenommen wurden. Gleichwohl soll dem
Missbrauch durch verschiedene Maßnahmen entgegenge-
wirkt werden:
Zum einen wird die „Schonfrist“ für Berufsanfänger, in
der sie auch bei Unterschreiten der Geringfügigkeits-
grenze pflichtversichert sind, von 5 auf 3 Jahre verkürzt.
Dadurch wird es der Künstlersozialkasse ermöglicht,
früher als bisher die versicherungsrechtlichen Vorausset-
zungen zu überprüfen. Zugleich wird diese Frist um
Zeiträume verlängert, in denen eine Versicherungspflicht
nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz nicht be-
standen hat. Dies kommt insbesondere Müttern im Mut-
terschafts- und Erziehungsurlaub zugute.
Auch Studenten, deren Haupttätigkeit das Studium ist,
können nicht mehr in die günstigere Krankenversiche-
rung der Künstlersozialversicherung ausweichen.
Schließlich entfällt für über 65-Jährige die Möglich-
keit, sich über die erstmalige Aufnahme einer künstle-
rischen oder publizistischen Tätigkeit den günstigen
Krankenversicherungsschutz nach dem Künstlersozial-
versicherungsgesetz zu verschaffen. Eine solche Belas-
tung der Solidargemeinschaft ist nicht gerechtfertigt.
Im Bereich der abgabepflichtigen Verwerter sind nur
wenige Änderungen vorgesehen. Die Abgabepflicht wird
für einige Zweifelsfälle klargestellt. Verschiedene Ver-
waltungsvereinfachungen sollen die Erhebung der Künst-
lersozialabgabe erleichtern. So wird die Bildung von
Ausgleichsvereinigungen attraktiver gemacht, um die
Abgabepflicht vieler Unternehmen kostengünstig zu ver-
walten. Das Anliegen der Verbände, den Bundeszuschuss
zur Künstlersozialversicherung wieder zu erhöhen,
konnte allerdings nicht erfüllt werden. Der Gesetzgeber
hat Ende 1999 mit dem Haushaltssanierungsgesetz den
Bundeszuschuss von 25 auf 20 Prozent der Ausgaben der
Künstlersozialkasse abgesenkt. Dies war keine reine
Sparmaßnahme, sondern entsprechend der gesetzlichen
Zweckbestimmung eine Folgerung aus dem verminderten
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Selbstvermarktungsanteil. Die Bund beteiligt sich weiter-
hin mit einem festen Prozentsatz an der Finanzierung der
Künstlersozialversicherung. Dass die abgabepflichtigen
Verwerter nicht unzumutbar belastet werden, zeigt die
Höhe des Abgabesatzes, der von 4 Prozent im Jahre 2000
auf 3,9 Prozent im Jahr 2001 gesenkt werden konnte. Da-
mit sind die Finanzierungsgrundlagen der Künstlersozial-
versicherung weiterhin gesichert.
Schließlich soll die Künstlersozialkasse wieder in die
Bundesverwaltung eingegliedert werden. Damit verdeut-
licht der Bund seine politische Verantwortung für die
Sozialversicherung der Künstler und Publizisten. Vorge-
sehen ist eine Angliederung an die Bundesausführungs-
behörde für Unfallversicherung in Wilhelmshaven. Der
Standort und die Arbeitsplätze in der Region bleiben er-
halten. Das Land Niedersachsen hat zugestimmt. Nach-
teile für die Mitarbeiter der Künstlersozialkasse entstehen
nicht.
Mit dieser Novelle wird der soziale Schutz der Künst-
ler und Publizisten ausgebaut und das Recht der Künst-
lersozialversicherung den modernen Anforderungen an-
gepasst. Wir sorgen dafür, dass die Lasten und Pflichten
aller an der Künstlersozialversicherung Beteiligten austa-
riert bleiben. Ich hoffe, dass der wichtige Grundkonsens
zwischen den Versicherten, den Verwertungsunternehmen
und dem Bund erhalten bleibt – im Interesse der sozialen
Sicherung von Künstlern und Publizisten.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
beruflichen Gleichstellung von Prostituierten
und anderer sexuell Dienstleistender (Tagesord-
nungspunkt 13)
Anni Brandt-Elsweier (SPD): Seit mehr als 2000 Jah-
ren wird Prostitution nicht nur gesellschaftlich, sondern
auch juristisch diskriminiert. Zuerst von den Römern und
besonders hart in den Ehegesetzen des Kaisers Augustus.
Liberaler war das Mittelalter. Ein Viertel der Teilnehmer
an den Kreuzzügen waren Frauen, die dafür bezahlt wur-
den, dass sie die christlichen Helden durch das Unterstüt-
zen, was heute wieder als Verstoß angesehen wird – und
zwar als Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller „billig
und gerecht Denkenden“. Seit Martin Luther steigerte sich
der juristische Druck, erreichte römisches Niveau im
19. Jahrhundert und wurde totalitär unter Adolf Hitler, der
die Prostituierten in Konzentrationslager verbrachte, zum
Teil als einfache Gefangene, zum Teil zur sexuellen Un-
terstützung seiner SS-Schergen.
Die Bundesrepublik begann wieder mit der normalen
Diskriminierung des 19. Jahrhunderts, die in der Straf-
rechtsreform der 70er-Jahre leicht zurückgenommen
wurde. Seitdem ist Prostitution in der Bundesrepublik
zwar gesetzlich nicht mehr verboten, aber es gibt wohl
keinen anderen Bereich, in dem das Geschäft mit der Dop-
pelmoral derart blüht.
Nach seriösen Schätzungen gibt es in Deutschland
etwa 400 000 Personen, die der Prostitution nachgehen;
überwiegend sind dies Frauen. Ihre Dienste werden täg-
lich von über einer Million Männern in Anspruch genom-
men. Prostitution ist ein äußerst lukrativer Wirtschafts-
zweig, in dem geschätzte jährliche Umsätze von bis zu
zwölf Milliarden Mark erzielt werden. Dies ist natürlich
auch dem Staat bekannt. Das bedeutet, Prostituierte sind
einkommens- und umsatzsteuerpflichtig.
Aber der Staat nimmt nur. Den Prostituierten ist der un-
mittelbare Zugang zu den gesetzlichen Sozialversiche-
rungen verwehrt; denn Prostitution ist zwar nicht mehr
verboten, aber nach wie vor sittenwidrig. Dies bedeutet in
der Konsequenz, dass Prostituierte aufgrund der Sitten-
widrigkeit ihres Handelns keinen rechtlich durchsetzba-
ren Anspruch auf Bezahlung ihrer Tätigkeit haben und es
bedeutet, dass sie keinen Anspruch auf Pflichtversiche-
rung in der Krankenversicherung, Arbeitslosenversiche-
rung sowie in der Rentenversicherung haben.
Dies ist nicht mehr länger hinnehmbar und zu Beginn
des neuen Jahrtausends auch nicht mehr zeitgemäß. Mit
zeitgemäß meine ich nicht irgendeine kurzlebige Mode-
erscheinung, einen Trend, der heute „in“ und morgen wie-
der „out“ ist, sondern ich meine den festzustellenden
Wandel im Moral- und Rechtsempfinden unserer Gesell-
schaft, dem endlich Rechnung getragen werden muss.
Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits in seinem ers-
ten so genannten „Peep-Show-Urteil“ vom 15. Dezember
1981 festgestellt, dass der Begriff der guten Sitten „auf die
dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenen sozialethi-
schen Wertvorstellungen verweise, die in der Rechtsge-
meinschaft als maßgebliche Ordnungsvoraussetzungen
anerkannt sind“.
Gerade im Bereich der Sexualität hat in den letzten
Jahrzehnten eine besonders schnelle Veränderung der
Wertvorstellung stattgefunden. Wer kann sich heute noch
vorstellen, dass eine Mutter sich der „Kuppelei“ schuldig
macht, wenn sie ihre Tochter und deren Verlobten bei sich
übernachten lässt, dass Ehebruch strafbar war und Beamte
wegen dieses Deliktes entlassen werden konnten.
Eines der bekanntesten neueren Gerichtsurteile in die-
sem Zusammenhang ist das des Verwaltungsgerichtes
Berlin im Prozess um die Schließung des stadtbekannten
Edelbordells „Café Pssst!“ der Berliner Prostituierten
Felicitas Weigmann. Das Bezirksamt Wilmersdorf wollte
Frau Weigmann die Gaststättenerlaubnis entziehen, weil
sie im Hinterhaus Zimmer an Prostituierte vermietete und
somit der „Unsittlichkeit“ Vorschub leistete. Das Verwal-
tungsgericht hob mit Urteil vom 1. Dezember 2000 den
Widerruf der Gaststättenerlaubnis auf, da „Prostitution,
die ohne kriminelle Begleiterscheinungen und insbeson-
dere freiwillig unter Bedingungen ausgeübt werde, mit
denen Frauen einverstanden seien, heute grundsätzlich
nicht mehr als sittenwidrig einzustufen sei“. Das Gericht
hatte vor der Urteilsfindung gesellschaftlich relevante Or-
ganisationen zur sozialethischen Bewertung von Prosti-
tution befragt. In den Antworten zeigte sich ein deutlicher
Trend dahingehend, den Bereich der freiwilligen Prosti-
tution nicht mehr als sittenwidrig anzusehen.
Es wird also Zeit, dass von staatlicher Seite etwas un-
ternommen wird, um zumindest die rechtliche Situation
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der Prostituierten zu verbessern. Dass wir dies tun wer-
den, haben wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart.
Wir werden dazu – so hoffe ich – in Kürze einen eigenen
Gesetzentwurf vorlegen. Sie sehen also, Kolleginnen und
Kollegen von der PDS, dem Grundanliegen des von Ihnen
vorgelegten Gesetzentwurfes will ich gar nicht wider-
sprechen. Ich halte jedoch die Art und Weise, wie Sie zu
der gewünschten Verbesserung kommen wollen, für voll-
kommen ungeeignet. Denn ein solches Gesetz muss
natürlich gut durchdacht und in jeder Hinsicht auch recht-
lich haltbar sein. Der vorliegende Gesetzentwurf wird
dem aber nicht gerecht.
Die von Ihnen vorgeschlagene Verankerung sexueller
Dienstleistungen im Dienstvertragsrecht ist abzulehnen.
Auf diese Weise erlangt ein solcher Vertrag den Rechts-
charakter eines normalen Arbeitsverhältnisses, was je-
doch aufgrund der Besonderheiten des Berufsbildes in
vielerlei Hinsicht – ich verweise hier nur auf etwaige Ge-
währleistungspflichten – nicht tragbar ist. Sie haben dies
erkannt und versuchen, diese Besonderheiten durch zahl-
reiche Ausnahmeregelungen zu verdeutlichen. Aber ab-
gesehen von der Kompliziertheit dieser Regelungen ist es
auch höchst fraglich, ob mit diesen Vorschriften tatsäch-
lich alle Eventualitäten Berücksichtigung finden. Zudem
ist ein absolutes Leistungsverweigerungsrecht ohne Sank-
tionsmöglichkeiten kaum mit der Annahme eines Arbeits-
verhältnisses zu vereinbaren, das Grundlage der sozialen
Absicherung sein soll.
Auch dürfen Sie die Abwägung zwischen den einer-
seits berechtigten Forderungen der Prostituierten nach
rechtlicher Besserstellung und den andererseits nach wie
vor notwendigen Schutz- und Sanktionsmechanismen des
Staates nicht vergessen. Machen wir uns nichts vor: Es ist
ja bei weitem nicht so, dass es nur den Bereich der lega-
len, freiwilligen Prostitution gibt. Soweit es um Zwangs-
ausübung und Ausbeutung zum Nachteil der Frauen geht,
muss der Staat weiterhin die Möglichkeit haben, konse-
quent dagegen vorzugehen – Ihre vorgeschlagenen Ände-
rungen im Strafgesetzbuch gehen hier viel zu weit.
Auch eine vollständige Abschaffung des Werbeverbo-
tes im Ordnungswidrigkeitsgesetz, um hier nur noch ein
weiteres Beispiel zu nennen, ist nicht zu befürworten, da
weiterhin das Interesse am Schutz der Jugend Vorrang hat.
Da die rechtliche Ausgestaltung einer Besserstellung der
Prostituierten, wie sie die PDS-Fraktion vorschlägt, für
uns nicht akzeptabel ist, lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Margot von Renesse (SPD): Das lateinische Wort
für „Hure“ ist nicht weiblichen noch männlichen Ge-
schlechts, sondern – zur Freude aller Lateinschüler – ein
Neutrum. In der Sprache wie im Recht sind Prostituierte
dementsprechend weniger Personen als Dinge oder
Sachen ohne eigene Rechte, mit denen nach Belieben ver-
fahren werden kann. Mit ihrer Rechtlosigkeit korres-
pondiert ein Freier-, Zuhälter- und Bordellbetreiber-
schutzrecht, das sich ihre Rechtlosigkeit zunutze machen
kann.
SPD und Grüne sind sich darin einig, dass wir die Per-
sonenwürde dieser Menschen dringend wieder herstellen
müssen und sie darum mit Rechten ausstatten sollten,
durch die sie sowohl im Zivil- als auch im Sozialrecht
endlich als Menschen wahrnimmt.
Wie man das macht, ist nun weitestgehend eine tech-
nische Frage. Zwei Lösungen bieten sich an: einmal die
Gleichstellung des Vertrages über sexuelle Dienstleistun-
gen mit anderen Verträgen über marktfähige Güter und
Dienstleistungen, zum anderen die Öffnung der wichtigen
Sozialversicherungen für Alter, Krankheit und Pflegebe-
dürftigkeit sowie die Zuerkennung eines einklagbaren
Anspruchs für geleistete Dienste bei Verzicht auf die Er-
möglichung eines gegenseitig verpflichtenden Vertrages
oder Arbeitsvertrages.
Nun sind sich alle, sogar die PDS, darüber im Klaren,
dass die sexuelle Dienstleistung anders ist als der Dienst
eines Bäckerlehrlings oder einer Friseurin. Irgendwie
muss vermieden werden, dass durch vertragliche
Verpflichtung ein Druck entsteht, der diejenigen, die
nicht, noch nicht oder nicht mehr der Prostitution nachge-
hen wollen, dazu verpflichtet. Da dies bei gegenseitigen
Verträgen aber immer der Fall ist, bei Arbeitsverträgen
sogar noch das Direktionsrecht des Arbeitgebers
hinzutritt, muss der erste Lösungsweg, derjenige der zivil-
rechtlichen Gleichstellung, mit lauter Ausnahmen und
Besonderheiten gegenüber dem geltenden Recht gespickt
werden.
Dies unterstreicht den nicht zu leugnenden Sonder-
charakter des Prostitutionsvertrages in extrem augenfäl-
liger Weise, muss aber sein, denn niemand kann wollen,
dass eine Frau, die Arbeitslosengeld empfängt, eine
Sperrfrist bekommt, wenn sie sich weigert, bei einem
Bordell als Prostituierte zu arbeiten; der Familienrichter
im Prozess über nachehelichen Unterhalt, eine Frau, die
keine Arbeit findet, fragen kann, ob sie es schon einmal
auf dem Strich versucht hat; sich eine unterhaltsberech-
tigte geschiedene Frau, die mit einem Freund zusammen-
lebt, sich auf ihren Unterhaltsanspruch nicht nur den
Gegenwert für häusliche Dienstleistungen, sondern auch
für sexuelle Hingabe anrechnen lassen muss; dass im
Zivilprozess ein Freier wegen Schlechtleistung, Verzug
oder Nichterfüllung seine Gegenleistung mindern oder
Schadensersatz verlangen kann; eine Prostituierte, die aus
ihrem Beruf in einem Bordell aussteigen will, eine Kündi-
gungsfrist einzuhalten hat.
Die vielfältigen Ausnahmen, die mir auf den ersten
Blick als notwendig einfallen, dürften kaum ausreichen,
um unerwünschte wie skurrile Folgen zu vermeiden. Die
Gefahr der Lückenhaftigkeit der Ausnahmeregelungen
liegt auf der Hand.
Darum erscheint es mir sinnvoller, den zweiten Weg zu
gehen. Diese Lösung geht von der nach wie vor zutref-
fenden Vorstellung aus, dass Prostitution etwas prinzipiell
anderes ist als beliebige bezahlte Dienstleistungen an-
derer Art. Trotz gewandelter Auffassungen über Werte
und Sitten scheint dieser Ausgangspunkt immer noch re-
alistisch zu sein. Es gibt eben einiges, was einigen zwar
inzwischen käuflich zu sein scheint, was wir aber nicht
gerade als einen Beitrag zur Dienstleistungsgesellschaft
empfinden: So ist die Leih- oder Mietmutterschaft bei uns
sogar noch strafwürdig.
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Soweit mit dem Antrag der PDS mit der Beseitigung
des Odiums der „Sittenwidrigkeit“ der Prostitution insge-
heim die Absicht verbunden ist, eine spießige
Gesellschaft so richtig zu ärgern und zu entlarven, so ist
das ein Ziel, für die ich mich als alte Frau in einer alten
Partei nicht mehr engagiere. Der Reiz des Leute-Ärgerns
ist nicht mehr meine Sache, so wie ich auch nicht mehr
„Klingelmännchen“ spiele. Wir Sozialdemokraten sind
ernsthaft daran interessiert, die Lage von Prostituierten zu
verbessern, soweit wir das können. Wir sind uns aller-
dings der Tatsache bewusst, dass die von uns angestrebte
rechtliche Verbesserung nichts oder gar nichts für die
Frauen und Männer bringt, die man wie eine Schmuggel-
ware importiert, kauft, verkauft, drangsaliert, erpresst und
schindet. Die eigentliche Not des Milieus erreicht weder
unser Weg noch ein anderer Weg zivilrechtlicher Rechts-
änderung. Hier kann neben der Anwendung von
Strafrecht nur helfen, dass diejenigen, die diese armen
Menschen ge- und verbrauchen, von gesellschaftlicher
Ächtung getroffen werden.
Ilse Falk (CDU/CSU): In der letzte Legislaturperiode
haben wir uns bereits intensiv mit dem Thema „mehr
Rechte für Prostituierte“ befasst. Bereits damals herrschte
breite Übereinstimmung darüber, dass es Zeit ist, endlich
die Doppelmoral zu beenden. Es ist unehrlich zu akzep-
tieren, dass täglich Hunderttausende Männer die Dienste
von Prostituierten in Anspruch nehmen, der Staat von die-
sen Frauen auch Steuern verlangt, ihnen aber gleichzeitig
– mit dem Hinweis auf die Sittenwidrigkeit – annehmbare
rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
verweigert.
Seit der Debatte im Jahr 1997 sind wir der Lösung die-
ses Problems nicht näher gekommen. Die Abwägung,
welche Regelungen notwendig und wünschenswert sind,
ist schwierig. Neuregelungen dürfen die Würde der be-
troffenen Frauen, insbesondere hinsichtlich ihrer sexuel-
len Selbstbestimmung, nicht verletzen, müssen von der
Gesellschaft mitgetragen werden können und sollen
gleichzeitig den Frauen mehr Rechte geben. Die Antwort
auf diese Erfordernisse gleicht in mancher Hinsicht einem
Spagat und wohl auch aus diesen Gründen hat die rot-
grüne Bundesregierung bisher den von ihr angekündigten
Gesetzentwurf noch nicht vorgelegt.
Ist der Gesetzgeber aus den genannten Gründen also
bisher noch nicht tätig geworden, so hat sich in der Ge-
sellschaft ein Wandel in der Einstellung zur Prostitution
vollzogen. Frauen, die sich offen dazu bekennen, als Pros-
tituierte zu arbeiten, werden heute gesellschaftlich nicht
mehr geächtet. Viele Prostituierte treten selbstbewusst auf
und fordern ihre Rechte ein. Dabei werden sie von einem
Großteil der Gesellschaft unterstützt. Frauen wie Felicitas
Weigmann, die in ihrem „Café Pssst“ versucht, ange-
nehme Arbeitsbedingungen für Prostituierte zu schaffen,
gelten als Vorbild, ihr Tun nicht mehr als verwerflich.
Als Gesetzgeber müssen wir nun die Frage beantwor-
ten, ob und gegebenenfalls wie dieser Wandel in der Be-
wertung von Prostitution durch die Gesellschaft auch ge-
setzgeberisch begleitet werden muss. Dazu müssen wir
zunächst einmal klären, wo Regelungsbedarf besteht. Da-
bei will ich mich an dieser Stelle nicht mit den morali-
schen Aspekten der Prostitution befassen oder die Tätig-
keit der Prostituierten einer Wertung zu unterziehen, son-
dern mich mit den Bereichen befassen, in denen
gesetzliche Regelungen nachgefragt werden. Einige
Punkte wären: Die Straffreiheit bei Förderung der Prosti-
tution durch angemessene Arbeitsbedingungen, das Ver-
tragsrecht, der Bereich der Sozialversicherung.
Durch seine Aufsehen erregende Entscheidung, die
Förderung der Prostitution durch angemessene Arbeitsbe-
dingungen nicht mehr als sittenwidrig einzustufen, hat das
Berliner Verwaltungsgericht seine Rechtsprechung an die
geänderte gesellschaftliche Realität angepasst. Im Dezem-
ber 2000 stellte das Gericht in seinem Urteil zum „Café
Pssst!“ fest, dass Prostitution zumindest als Teil unseres
Zusammenlebens akzeptiert werde und daher nicht mehr
gegen die guten Sitten verstoße. Der Klage gegen Ab-
erkennung der Lizenz für das Café, das selbstständig ar-
beitenden Prostituierten zu einem bezahlbaren Preis ange-
messene Räume zur Verfügung stellt, wurde stattgegeben.
Wenn die Rechtsprechung also künftig Prostitution
nicht mehr als sittenwidrig einstuft, so sind auch die zwi-
schen Prostituierten und ihren Freiern geschlossenen
mündlichen Verträge nicht länger sittenwidrig, sondern
rechtsgültig und Ansprüche gegenüber dem Freier ein-
klagbar. Sittenwidrigkeit kann dann in Zukunft auch nicht
länger als Totschlagargument in der rechtlichen Beurtei-
lung von Prostitution verwendet werden. Vielmehr ist die
Justiz einmal mehr aufgefordert, sehr genau hinzusehen,
wo denn tatsächlich wider die guten Sitten verstoßen und
damit ein Straftatbestand erfüllt wird.
Zum Vertragsrecht: Die Einordnung von Prostitution
unter das Dienstvertragsrecht und damit die Möglichkeit,
Arbeitsverträge zwischen Prostituierten und ihren „Ar-
beitgebern“ zu schließen, erschien mit zunächst wün-
schenswert unter dem Aspekt, damit humanere Arbeitsbe-
dingungen und eine bessere sozialrechtliche Absicherung
für Prostituierte schaffen zu können. Intensivere Überle-
gungen zu einer solcher Vertragsgestaltung mit all ihren
Konsequenzen lassen mich allerdings diese Möglichkeit
inzwischen wieder kritische sehen. Wer ist Arbeitgeber?
Wer definiert die sexueller Dienstleistung? Welche Mög-
lichkeit hat die Frau, eine Leistung zu versagen, wenn sie
gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die Menschen-
würde verstößt? Mehr Fragen, als brauchbare Antworten!
Mit der Möglichkeit von Arbeitsverträgen zwischen
Prostituierten und ihren Arbeitgebern würden wir auch
zugleich die Zuhälterei legalisieren, was keiner wollen
kann; denn § 180 a StGB hat eben auch einen Schutz-
zweck. Eine Abschaffung dieses Paragraphen würde die
Prostituierten nach unserer Auffassung in eine nicht ge-
wollte Abhängigkeit zu den Bordellbesitzern bringen.
Bleibt also weiterhin die selbstständig arbeitende Pro-
stituierte im Mittelpunkt der Überlegungen. Wie kann sie
sich gegen Risiken absichern?
Krankenversicherung: Mit dem Argument der Sitten-
widrigkeit haben in der Vergangenheit fast alle Kranken-
kassen die Aufnahme von Prostituierten verweigert. Auch
auf diesem Sektor hat sich etwas verändert. Eine große
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114096
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deutsche Krankenkasse ist seit November 2000 bereit,
Frauen zu versichern, die als Beruf Prostituierte angeben
und das ohne Extravereinbarungen oder höhere Beiträge.
Rentenversicherung: Für selbstständig arbeitende Pros-
tituierte besteht die Möglichkeit, sich privat zu versi-
chern. Das Argument, die Versicherungsbeiträge seien zu
hoch, weil die Versicherten die Arbeitgeber- und Arbeit-
nehmer allein tragen müssen, zieht hier nicht, da es auf
alle selbstständig Tätigen zutrifft.
Arbeitslosenversicherung: Das Argument, dass aus-
stiegswillige Prostituierte ihr Vorhaben oft nicht aus-
führen, weil sie keine Möglichkeit haben, an Umschu-
lungs- und Arbeitsförderungsmaßnahmen teilzuhaben, ist
so nicht schlüssig. Auch heute schon stellen Arbeitsämter
Mittel für Ausstiegs- und Umschulungsprogramme für
Prostituierte zur Verfügung, auch wenn diese keine Leis-
tungen in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben.
Fazit: Die Anerkennung von Prostitution als Beruf
kommt für unsere Fraktion nicht in Frage. Intimbereiche,
die mit dem Kern der Persönlichkeit eng verbunden sind,
zur marktgängigen Ware zu machen, verstößt nach unse-
rer Auffassung gegen die Würde des Menschen. Wir wer-
den uns daher jedem Versuch widersetzen, die Prostitu-
tion als Beruf gesellschaftsfähig zu machen. Eine
Anerkennung dieser Tätigkeit käme unserer Meinung
nach einer Zementierung der mangelnden Gleichberech-
tigung von Frauen gleich.
Vor dem Hintergrund, dass nur etwa 25 Prozent der
Frauen als Prostituierte arbeiten, weil sie das wirklich
wollen, und der Großteil der anderen Frauen in diese
Tätigkeit irgendwie hineingeraten ist – nach einer Tren-
nung/Scheidung, durch Alkohol- oder Drogenabhängig-
keit, durch finanzielle Schwierigkeiten –, sollten wir
unsere Hauptaufgabe darin sehen, zwar die Arbeitsbedin-
gungen so gut es geht zu verbessern, aber eben auch Aus-
stiegswillige über schon bestehende Hilfsprogramme zu
informieren und bei Bedarf neue zu schaffen.
Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass wir
uns im Zusammenhang mit gesetzgeberischen Überle-
gungen in erster Linie mit der Gruppe der Prostituierten
befassen, die organisiert, selbstbewusst und in der Lage
sind, ihre persönliche Situation zu gestalten. Die große
Zahl derer, die als Prostituierte ausgebeutet, unterdrückt
und zum Teil unter unvorstellbaren Zwängen illegal hier
arbeiten müssen, muss aber ebenso in den Blickpunkt
gerückt werden. Alleine ihretwegen müssen wir sehr ge-
nau prüfen, welche Regelungen Schutzwirkungen haben
und erhalten bleiben müssen und wo Veränderungen
tatsächlich sinnvoll sind.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Seit mehr als zehn Jahren setzen sich die Grü-
nen für die Abschaffung der sozialen und rechtlichen Dis-
kriminierung von Prostituierten ein. 1990 legten wir den
ersten Gesetzentwurf vor, 1996 brachten wir das Thema
zum zweiten Mal ins Parlament. In der damaligen Debatte
haben alle Fraktionen erklärt, dass hier dringend Gesetzes-
änderungen notwendig sind, um die eklatante Benachtei-
ligung der Prostituierten zu beenden. Leider kam es we-
gen der zeitlichen Nähe zur Bundestagswahl damals nicht
mehr zu einer interfraktionellen Einigung. Nun wird es al-
lerdings höchste Zeit.
Im Koalitionsvertrag sind wir ja eine entsprechende
Verpflichtung eingegangen. Eine rot-grüne Arbeits-
gruppe, die sich im Ziel einig ist, aber noch Details regeln
muss, steht kurz vor dem Abschluss der Diskussion. Da-
rum finde ich es auch bedauerlich, dass die PDS ihren
Entwurf bereits heute aufgesetzt hat. In vier Wochen hät-
ten wir über die Gesetzentwürfe gemeinsam diskutieren
können; denn einige Vorschläge der PDS gehen in die
richtige Richtung.
Ich finde, es ist eines liberalen Rechtsstaats nicht wür-
dig, dass er einer Personengruppe zwar Pflichten aufer-
legt, ihnen aber alle sozialen Rechte vorenthält. Da nach
ständiger Rechtssprechung Prostitution gegen die guten
Sitten verstößt, haben Prostituierte keine Möglichkeit,
nach geleisteter Arbeit ihren Lohn einzuklagen. Ihnen
steht die gesetzliche Krankenversicherung ebenso wenig
zu wie die gesetzliche Rentenversicherung. Prostituierte
werden von den Behörden in bestimmte Straßen einer
Stadt verbannt. Gehen sie außerhalb dieser Gebiete ihrem
Gewerbe nach, machen sie sich strafbar. Personen, die
Prostituierten gute und sichere Arbeitsbedingungen an-
bieten, können wegen „Förderung der Prostitution“ bis zu
drei Jahren Haftstrafe verurteilt werden. Schon ein geho-
beneres Ambiente, wie zum Beispiel ein Bad mit golde-
nen Wasserhähnen oder das Auslegen von Kondomen, er-
füllt den Straftatbestand der Förderung der Prostitution.
Ein Arbeitgeber jedoch, der ein finsteres Loch zu einer
Wuchermiete anbietet, tut dies unter dem Schutz des Ge-
setzes. Und der Staat ist nicht zimperlich, wenn es darum
geht, Steuern „aus gewerbsmäßiger Unzucht“ zu erheben;
trotz der Sittenwidrigkeit.
Diese Doppelmoral muss nun endlich beendet werden.
Dazu fordert uns im Übrigen auch der Ausschuss gegen Dis-
kriminierung jeglicher Art der Vereinten Nationen auf. In ei-
ner Gesetzesänderung muss es primär darum gehen, die Sit-
tenwidrigkeit der freiwilligen Prostitution zu beseitigen.
Der Reichsgerichtshof hatte im Jahre 1901 das An-
standsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zum
Maßstab für die guten Sitten gesetzt. Die Gerichte sind
diesem Urteil 100 Jahre lang gefolgt. Dabei sagen heute
über 70 Prozent der Bevölkerung, dass sie das anders
sehen. Diesem gesellschaftlichen Wandel muss auch die
Politik folgen.
Bei diesem Vorhaben werden wir von einem kürzlich
erfolgten Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts Berlin
unterstützt, das zum ersten Mal Prostitution als per se
nicht sittenwidrig ansah. Dieses Urteil wurde auf eine
Umfrage bei 50 gesellschaftlich wichtigen Gruppen ge-
stützt. Von der Bischöfin bis zur Industrie- und Handels-
kammer waren sich alle einig: Prostituierte dürfen nicht
länger diskriminiert werden. Dies war jedoch nur ein Ur-
teil. Ein anderes Gericht könnte auch eine andere Ent-
scheidung treffen. Deshalb muss eine Klarstellung im Ge-
setz eindeutig dafür sorgen, dass Vereinbarungen über
sexuelle Dienstleistungen gegen ein Entgelt rechtmäßig
sind. Damit wäre eine wichtige Voraussetzung für einen
sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz gegeben.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14097
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Nach unserer Auffassung müssten Prostituierte aber
auch Arbeitsverträge schließen können. Dies hätte nicht
nur eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zur
Folge, sondern würde auch einen eventuellen Ausstieg er-
leichtern, weil Umschulungsmaßnahmen des Arbeitsam-
tes in Anspruch genommen werden könnten. Auch die
Aufnahme der Prostituierten in eine gesetzliche Kranken-
versicherung hat hohe Priorität. Denn bis heute ist ihr Ge-
sundheitsschutz nicht gesichert. Krankenkassen weigern
sich, Prostituierte aufzunehmen. Verschweigen sie ihre
Tätigkeit oder weichen sie auf eine Notlüge aus, machen
sie sich strafbar und müssen Leistungen zurückzahlen.
Auch das werden wir ändern.
Die rot-grüne Regierungskoalition wird dafür sorgen,
dass Prostituierte nicht länger Bürgerinnen zweiter Klasse
sind. Lassen Sie uns im Ausschuss intensiv darüber dis-
kutieren, welche Regelungen dazu notwendig sind.
Ina Lenke (F.D.P.): Prostituierte werden in Deutsch-
land diskriminiert. Das ist eine Tatsache ebenso wie die
Doppelmoral, mit der die Gesellschaft und der Staat mit
Prostituierten umgeht. Allerdings hat sich gerade in der
letzten Zeit in der Bevölkerung und auch bei Gerichten
und unter Politikern die Einsicht durchgesetzt, dass hier
Handlungsbedarf besteht und besonders das Verdikt der
Sittenwidrigkeit abgeschafft werden muss. Insoweit ist
die Zielrichtung des Gesetzentwurfs der PDS positiv zu
bewerten. Die Diskriminierung von Prostituierten und die
Sittenwidrigkeit müssen abgeschafft werden, der Staat
darf nicht einerseits bei den Einkünften der Prostituierten
abkassieren und ihnen auf der anderen Seite den staat-
lichen Schutz versagen, wenn es um die Geltendmachung
ihres Lohns geht.
Doch wie weit soll und will man gehen? Ich denke, es
ist eine Sache, zu akzeptieren, dass es Prostitution gibt
und heute etwa 1 Million Männer am Tag dieses Gewerbe
in Anspruch nehmen. Es ist jedoch etwas anderes, dieses
gesellschaftlich und moralisch zuwerten. Mit Letzterem
bin ich nicht einverstanden. Man muss sich auch genau
überlegen, welche Folgen es hat, wenn man – wie die PDS
hier – quasi ein Dirnendienstvertragsrecht im BGB ein-
führt. Dies führt zu praktischen Schwierigkeiten: Wie
werden die Gerichtsverfahren aussehen, in denen eine
Schlechtleistung der Prostituierten überprüft werden soll?
Gibt es demnächst Sachverständige dafür? Das alles mu-
tet doch recht seltsam an.
Aber davon abgesehen: Tun wir den Frauen wirklich
einen Gefallen damit? Der Gesetzentwurf der PDS ist ge-
prägt vom Bild der eigenverantwortlichen, selbstbe-
stimmten Prostituierten, die aus freien Stücken dieser
Tätigkeit nachgeht, nicht von einem Zuhälter unterdrückt
wird und für ihre Rechte einstehen und kämpfen kann.
Diese Frauen gibt es selbstverständlich auch, sie dürften
auch nicht unbedingt in der Minderheit sein. Jedoch ist
das Bild der Prostitution in Wirklichkeit wesentlich viel-
schichtiger. Es gibt eben auch in nicht unerheblicher Zahl
die Fälle der Zwangsprostitution, die nach Deutschland il-
legal eingeschleppten Ausländerinnen, die von Zuhältern
gezwungen werden, auf den Strich zu gehen, den Straßen-
strich und das Drogenmilieu. Auch für diese würden die
neuen Regelungen gelten. Der Zuhälter wäre Arbeitgeber
und würde also ganz legal, staatlich legitimiert, Druck auf
seine Arbeitnehmerinnen ausüben dürfen. So stellt sich
die Frage, ob man tatsächlich ausstiegswillige Prostitu-
ierte an Kündigungsfristen binden will oder ob zukünftig
ein Zuhälter über das Arbeitsamt Prostituierte vermittelt
bekommen kann?
Im Übrigen wird es durch die Abschaffung des Straftat-
bestandes der Zuhälterei den Strafverfolgungsbehörden
unglaublich schwer gemacht, gegen sie vorzugehen bzw.
sie überhaupt strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu
können. Die allgemeinen Straftatbestände der Nötigung
und der Erpressung können hier nicht in allen Fällen he-
rangezogen werden.
Ich stimme mit der PDS überein, dass demgegenüber
die Förderung der Prostitution als Straftatbestand abge-
schafft werden muss, damit sich die Bordellbesitzer oder
Bordellbesitzerinnen, die für eine ordentliche Arbeitsum-
gebung in den Bordellen sorgen, nicht strafbar machen.
Kritisch sehe ich aber die vorgesehenen Änderungen im
Ausländergesetz. Eine „Green-Card“ für Frauen, die in
der Bundesrepublik der Prostitution nachkommen wollen,
kann nicht das Ziel sein. Insgesamt ist der vorliegende Ge-
setzentwurf nicht komplett durchdacht, besonders was die
Folgen des vorliegenden Gesetzes betrifft. Es bleiben
noch viele Fragen offen.
Ich bin sehr dafür, die Diskriminierung von Prostitu-
ierten endlich abzuschaffen und bin gerne bereit hier kon-
struktiv mitzuarbeiten. Dies alles muss jedoch innerhalb
eines durchdachten Konzepts und wirklich zum Schutz
der Prostituierten sein.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Senkung des Entgelts
für die Beförderung von Briefsendungen im Gel-
tungsbereich der Exklusivlizenz nach § 51 Post-
gesetz (Tagesordnungspunkt 14)
Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Wir verstehen sehr
gut, wie nötig es die F.D.P. hat, ihr Image als Partei der
Besserverdienenden abzuschütteln. Dazu ist ihr offen-
sichtlich kein Fehlversuch zu peinlich und kein Irrweg zu
abseitig. – Zur Rechtslage wird Staatssekretär Mosdorf
noch sprechen.
Die F.D.P. macht hier gleich einen Doppelfehler, ers-
tens, weil die Regulierungsbehörde auch nach den Worten
ihres früheren Präsidenten Scheurle derzeit in der Por-
tofrage aufgrund der allgemeinen Weisung des Bundes-
wirtschaftsministers nicht handeln kann und zweitens,
weil sie – auch wenn es diese Weisung nicht gäbe – ent-
sprechend der Gesetzeslage wohl kaum irgendwelchen
Aufforderungen aus F.D.P.-Anträgen im Deutschen Bun-
destag folgen würde.
Dazu zwei Bemerkungen: Zum einen: Wir erinnern uns
alle gut an den energischen Kampf von F.D.P. und Union
gegen die Weisung des Ministers. Da gab es die Andro-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114098
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hung von gerichtlicher Überprüfung bis zu Bundesratsbe-
schlüssen, die uns noch eines Besseren belehren würden.
Auf deren Erfolg warten wir noch heute. Also stellen wir
fest: Die Weisung war kein Eingriff in die Selbstständig-
keit der Behörde und rechtlich einwandfrei. – Zum ande-
ren erinnern wir uns gut an das Gerede der F.D.P. vom ord-
nungspolitischen Sündenfall, der in jeder politischen
Einflussnahme auf die Regulierungsbehörde bestehe. In
dem von Union und F.D.P. verfassten Beiratsbeschluss re-
klamierten Sie die „alleinige Zuständigkeit – der RegTP –
für die Genehmigung von Entgelten.
Auch in der derzeit stattfindenden absolut notwendi-
gen Debatte über die mittelfristigen Erfordernisse moder-
ner Regulierung geriert sich die F.D.P. als Gralshüterin
der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde, die wir
überhaupt nicht infrage stellen. Und dann so ein Antrag:
„Der Deutsche Bundestag fordert die Regulierungs-
behörde für Telekommunikation und Post auf ...“.
Hätten Sie lieber die „allgemeine Zuständigkeit“ ak-
zeptiert, dann hätten Sie sich auch die peinliche Begrün-
dung des Antrages erspart.
Da wird wild über Kosten und Preise spekuliert, mit
Zahlen nicht genannter Herkunft hantiert, die EU-Kom-
mission für Positionen in Anspruch genommen, die sie
nicht teilt. Die F.D.P. versucht nichts anderes, als den Deut-
schen Bundestag an die Stelle einer Beschlusskammer der
RegTP zu setzen – und das mit kaum zu überbietendem Di-
lettantismus. Sie weiß noch nicht einmal, dass Rabatte beim
Porto im reservierten Bereich der Preisaufsicht der RegTP
unterliegen und eben nicht der „Marktmacht“ großer, klei-
ner oder mittlerer Geschäftspartner der DPAG.
Auch das auf diesen Fehler aufgebaute Argument, die
Kleinkunden und Mittelständler bezahlten den Börsen-
gang, den Bundeshaushalt und die Marktmacht der Post
AG, geht an der Realität vorbei. Bekanntlich wird das
große Geschäft im Postmarkt mit den Großkunden ge-
macht und bei den Kleinverbrauchern und in der Fläche
eher draufgezahlt. Aus diesem Grund stürzen sich ja die
Wettbewerber der Post AG auch nicht auf Handwerker und
Liebespaare – aus diesem Grund versuchen auch viele,
sich der Bedienung in der Fläche zu entziehen. Nein, alle
stürzen sich auf die Geschäftskunden in Ballungsräumen.
Also: Der derzeitige Einheitstarif und die genehmigten
Entgelte sind eine Mischkalkulation, die auch die Kosten
des Infrastrukturauftrages und der sozialen Verpflichtun-
gen einfließen. Mag sein, dass diese Entgelte mittelfristig
gesenkt werden können. Das werden wir genau dann be-
trachten, wenn es aktuell wird, nämlich nach Ablauf der
Frist für die derzeit genehmigten Entgelte. Derzeit haben
wir entschieden und gut begründet: Wir brauchen Stabi-
lität in Zeiten des Börsengangs und wir brauchen keinen
weiteren Druck zum Abbau des flächendeckenden Ange-
bots, der Kundenfreundlichkeit und der Arbeitsplätze.
Und dann kommt der internationale Vergleich. Angeb-
lich sind wir die teuersten. Aber Vorsicht: Brief ist nicht
Brief, so wie Müller nicht Müller ist und PDS in Deutsch-
land nicht PDS in Italien – auch wenn sie alle gleich
heißen. Der billige Brief in Spanien erreicht den Adres-
saten bzw. die Adressatin nur zu 55 Prozent schon am
nächsten Tag, in Deutschland zu rund 90 Prozent. Selbst
im angeblich vorbildlich liberalisierten Schweden, aber
auch in Frankreich, Portugal und vier weiteren Ländern
muss ein Arbeiter länger fürs Porto arbeiten als bei uns. In
den meisten Ländern Europas wird nur fünfmal pro Wo-
che zugestellt. Aufgrund all dessen, einschließlich der
Kaufkraftparitäten in Rechnung gestellt, belegen wir ei-
nen Mittelplatz bei den Briefgebühren.
Allzu Neugierige warne ich auch vor dem Glauben,
wenn alles liberalisiert ist, werde auf dem Postmarkt alles
billiger. Das schwedische Beispiel weist leider in eine an-
dere Richtung. Wir werden uns daher im Postbereich nicht
von unserem Kurs der berechenbaren, kundenfreundlich
und sozialverträglich flankierten Liberalisierungsschritte
im europäischen Konzert abbringen lassen. Dies haben
wir auch schon im Einzelnen anlässlich der Aktuellen
Stunde am 5. April 2000 ausgeführt.
Für Irrlichterei, billige Showeffekte und Verunsiche-
rungen gegenüber Wettbewerbern, Kunden und Beschäf-
tigten der gesamten Branche ist dabei kein Platz. Wenn
die F.D.P. in der Wirtschaftspolitik einmal wieder ernst
genommen werden will, muss sie auf solche Anträge wie
den heute vorliegenden verzichten. Solange das nicht ge-
schieht, werden wir sie ablehnen müssen.
Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Wegen des
rechtswidrigen Eingriffs des Bundesministers für Wirt-
schaft und Technologie, Dr. Werner Müller, im März 2000
in die Regulierung ermittelt die EU-Kommission in einem
Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik
Deutschland.
Die Bundesregierung hat vor zehn Monaten durch die
Weisung an die Reg-TP verhindert, dass die Regulie-
rungsbehörde mit Wirkung ab 1. September 2000, also
vor 4 Monaten, niedrigere Preise im Monopolbereich der
Post festsetzt.
Zu Recht hat ein Sachverständiger bei der Anhörung
zur Postpolitik im letzten Jahr formuliert: „Die Regierung
nimmt die Postkunden in Geiselhaft.“
Da die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
nen von SPD und Grünen aber auch rechtzeitig durch die
gegen unsere Stimmen im November 1999 verabschiedete
Post-Universaldienstleistungsverordnung – PUDLV –
Vorsorge getroffen haben, dass die betroffenen Postkun-
den nicht mit Rechtsmitteln gegen überhöhte Preise vor-
gehen können, liegt das Ganze also nun in Brüssel.
Man muss das nochmals betonen: Diese Bundesregie-
rung verhindert, dass der Postkunde Rechtsmittel gegen
solche Entscheidungen einleiten kann. Als Verbraucher
hat er nur die Möglichkeit, sich schriftlich bei der Regu-
lierungsbehörde zu beschweren.
Wer nun gehofft hatte, dass die demnächst anstehende
Postdienstleistungsverordnung – PdLV – im Bereich der
Leistungsentgelte etwas präziser sei, sieht sich erneut ent-
täuscht: Dort findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf
– was das Mindeste wäre –, dass die Kunden ein Anspruch
darauf haben, dass die Entgelte den Bestimmungen des
§ 20 PostG entsprechen müssen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14099
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Die derzeitige Regelung soll festlegen, dass das Porto
in der so genannten Exklusivlizenz, also dem Postmono-
pol, bis Ende des Jahres 2002 gelten soll. Eine Änderung
im Portobereich muss also sowieso noch in dieser Legis-
laturperiode festgelegt werden.
Ich darf dabei einmal voraussagen, dass bei der anste-
henden Portorunde die Post sicherlich keinen Einzelan-
trag stellen wird. Sie erwartet vermutlich das, was sie mit-
hilfe der Deutschen Postgewerkschaft durch Intervention
im Januar 2000 beim Bundeskanzler verhindert hat: näm-
lich die Berechnung nach dem so genannten Preiscap-
Verfahren.
Dabei habe ich zunehmend den Eindruck, dass bei vie-
len die Mechanismen des anwendbaren Preiscap-Verfah-
rens nicht begriffen worden sind. Denn nach diesem
Verfahren geht es nicht um die Anordnung eines Einze-
lentgeltes, also zum Beispiel für den Brief bis 20 Gramm,
sondern um einen Preiskorb aus Rationalisierungsfort-
schritten sowie Lohn- und Inflationsentwicklung, was
dann zu Preisveränderungen in einer vorgegebenen Pro-
zentzahl über die ganze Breite der Produkte führt.
Natürlich gilt auch dann für das Einzelprodukt die ef-
fiziente Preisleistung. Natürlich wäre dabei im letzten
Jahr eine Senkung des Standardbriefes unausweichlich
gewesen. Und ich behaupte einmal, die Post hätte ihrem
Image einen fast unbezahlbaren Dienst erwiesen, wenn
sie das Porto angepasst hätte. Mit ihrer Weigerung einer
Portosenkung haben Bundesregierung und Post AG aber
selbst dazu beigetragen, dass sich inzwischen der Ein-
druck gefestigt hat: Ohne Beibehaltung des Monopols,
ohne weiteren staatlichen Schutz ist das Unternehmen
Post AG nicht in der Lage im Wettbewerb zu bestehen.
Der Bundesfinanzminister verstärkt diesen Eindruck
durch seine diversen Briefe an die Fachaufsicht. Er
glaubt, nur durch staatliche Eingriffe kann er den Aktien-
wert erhalten, was nichts anderes heißt, als dass der Bund
durch künstliche Spitzenpreise auf Kosten der Verbrau-
cher Kasse macht.
Denn es war schon bezeichnend, dass der Bundeswirt-
schaftsminister in einem Interview als Grund für seinen
Griff in die Portokasse der Bürger angegebenen hatte, vor
einem Börsengang müsse man dafür sorgen, dass das Un-
ternehmen ausreichenden Gewinn ausweise. Es ging also
nicht um den günstigeren Portotarif für den Verbraucher,
sondern um die Zusage an die Aktionäre auf einen satten
Gewinn.
Nach dem EWG-Vertrag sind die Mitgliedstaaten un-
ter anderem verpflichtet, die missbräuchliche Ausnutzung
der marktbeherrschenden Stellung von Unternehmen zu
verhindern und sie nicht noch zu fördern. Vor allem aber
sind Bundesregierung und Post sowohl nach dem Postge-
setz als auch nach EU-Recht verpflichtet, die Preise der
Post im Monopolbereich an den Kosten für effiziente Leis-
tungsbereitstellung zu orientieren; und nach Ansicht aller
wichtigen Marktbeobachter ist das Porto für Standard-
briefe zu hoch.
In diesem Zusammenhang darf ich nochmals auf einen
unannehmbaren Sachverhalt hinweisen: Dass die Post zum
Jahresanfang eine neue teure Spitzenkraft eingestellt hat,
nämlich die ehemalige EU-Kommissarin Wulf-Mathies,
deutet darauf hin, dass sie die Vorwürfe vielfacher Rechts-
verstöße viel ernster nimmt, als sie öffentlich zugibt.
Als einen regelrechten Skandal empfinde ich es aber
nach wie vor, dass Frau Wulf-Mathies nicht nur mit ihrem
Insider-Wissen als ehemalige EU-Kommissarin der Post
zu Diensten ist, sondern gleichzeitig auch noch der Bun-
desregierung als Beraterin zur Verfügung steht, und dies,
wo doch gleichzeitig die Brüsseler Verfahren nicht nur ge-
gen die Post, sondern auch gegen die Bundesregierung ge-
richtet sind. Ich empfinde dies bis heute als eine uner-
trägliche Interessenverquickung, die eigentlich schwerer
wiegt als das, was man Herrn Bangemann vorgeworfen
hatte.
Die Regierung sollte zweierlei tun: Sie sollte erstens
der Regulierungsbehörde unmittelbar die Möglichkeit ge-
ben, das unterbrochene Preisverfahren zu Ende zu führen,
was zu verbraucherfreundlicherem Porto führen würde
und sie sollte sich zweitens nicht hinter den Staaten ver-
stecken, die das Postmonopol möglichst noch lange bei-
behalten möchten. Der Ablauf des Postmonopols Ende
2002, wie es im Postgesetz der alten Regierung steht,
kann nicht durch EU-Recht verhindert werden.
Wie sagte doch vor wenigen Tagen der neue Vorsit-
zende der Monopolkommission in einem Interview im
Handelsblatt – ich zitiere –: „Ohne Wettbewerb bleibt das
Briefporto noch lange hoch.“
Der Vorstandsvorsitzende der Post AG, Dr. Zumwinkel,
hat Recht, wenn er öffentlich erklärt, dass die Postlibera-
lisierung nur vorankommt, wenn Deutschland weiterhin,
wie unter der alten Regierung, Vorreiter der verbraucher-
freundlichen Liberalisierung bleibt. Inzwischen sind wir
in Europa längst nicht mehr Vorreiter, sondern allenfalls
im Mittelfeld der Reformstaaten zu finden.
Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Liberalisierung des Postmarktes in Europa ist ins
Stocken gekommen. Die EU-Staaten konnten sich bisher
nicht auf einen gemeinsamen Zeitplan zur weiteren Öff-
nung des Postmarktes einigen. Das bedeutet, dass das Un-
gleichgewicht der Marktöffnung in Europa weiter besteht.
Deutschland hat im Unterschied zu anderen Ländern
der EU in der Öffnung des Postmarktes schon gute Er-
gebnisse erzielt. Dass diese Marktöffnung noch nicht weit
genug geht, darin sind wir uns sicherlich einig. Bei einem
gegenwärtigen Marktanteil der privaten Unternehmen
von unter 2 Prozent im lizenzierten Bereich müssen wir
noch große Schritte gehen. Wir sind zu diesen Schritten
bereit besonders, wenn man sich Bereiche ansieht, in de-
nen der Wettbewerb für die Kunden erhebliche Fort-
schritte gebracht hat.
Ein gutes Beispiel für die positiven Folgen des Wett-
bewerbs im Postwesen ist der Kurierbereich. In nur weni-
gen Jahren haben flexible Wettbewerber eine Vielzahl von
innovativen Dienstleistungen hervorgebracht. Das hat
auch das Unternehmen Post beflügelt und hat geholfen,
Verkrustungen aufzubrechen. Wer von Ihnen vor einigen
Jahren versucht hat, eine Sendung innerhalb eines Tages
an einen beliebigen Ort Deutschlands zu befördern, weiß
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114100
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um den Fortschritt. Diese breite Auswahl an Dienstleis-
tungen und Wettbewerbern brauchen wir auch in anderen
Bereichen des Postmarktes.
Wir stoßen aber dort auf Probleme, wo wir den ande-
ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union weit voraus
sind. Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, alle
diese Länder wollen den Postmarkt nicht in dem Maße li-
beralisieren, wie wir das vorhaben. Dort wird versucht, an
der alten Staatspost festzuhalten und Wettbewerber mög-
lichst vom Markt fernzuhalten. Wir sind aber darauf
angewiesen, in gleichen Schritten wie unsere europä-
ischen Nachbarn vorzugehen. Ein Ungleichgewicht in der
Marktköffnung der Staaten birgt die Gefahr eines Un-
gleichgewichtes auf dem deutschen Markt. Unternehmen
aus Ländern, die ihren Markt noch nichtliberalisiert ha-
ben, können mit ihren üppigen Monopolgewinnen auf den
Märkten konkurrieren, auf denen bereits ein funktionie-
render Markt entsteht. Wir sehen dieses Beispiel heute auf
dem Energiemarkt, auf dem die französische EDF ihre
Monopolgewinne dazu nutzt, sich auf dem liberalisierten
deutschen Energiemarkt zu positionieren. Deutsche Un-
ternehmen haben diese Gewinne nicht und können in
Frankreich auch nicht in den Wettbewerb um den End-
kunden eingreifen. Es ist daher wichtig, die Öffnung des
Postmarktes im Einklang mit der europäischen Entwick-
lung fortzuführen.
Wir müssen aber der Motor der weiteren Liberalisie-
rung der Postmärkte in Europa sein. Daher ist es unsere
Aufgabe, auf einen europaweit verbindlichen Termin zum
Auslaufen des Postmonopols hinzuarbeiten. Dadurch
werden auch die Länder in Zugzwang gebracht, die sich
auf ihren bisherigen Liberalisierungsschritten ausruhen
wollen.
Der Termin für die europaweite Marktöffnung im
Postbereich darf nicht erst 2009 sein. Dadurch würde
wertvolle Zeit verschenkt, während weiter Monopol-
preise gezahlt werden müssen und aufkommende Wettbe-
werber vom Markt ferngehalten werden. Alle Mitglieds-
länder müssen schon früher dazu gebracht werden, echte
Schritte zur Marktöffnung zu unternehmen. Dazu gehört
auch die europaweite Öffnung des Marktes für Briefpost
unterhalb 350 Gramm.
Es macht sich natürlich sehr gut, wenn die sehr geehr-
ten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. die Senkung
des Briefportos verlangen. Aber das allein reicht nicht. Ich
hätte wirklich gedacht, dass gerade Sie als Mitglieder ei-
ner wirtschaftsliberalen Partei den gesamten Hintergrund
berücksichtigen könnten und sich nicht in einfachen po-
pulären Forderungen ergingen.
Rainer Funke (F.D.P.): Ich gratuliere zunächst der
Post AG zu dem erfolgreichen Börsengang. Die Post AG
hat nicht nur den beabsichtigten Betrag emittieren kön-
nen, sondern hat offensichtlich auch einen richtigen Aus-
gabekurs gefunden. Die Post AG ist eines der ganz selte-
nen Unternehmen in der Welt, die privatisiert sind und
ihren Aktionären aufgrund einer Monopolrente einen
Gewinn bescheren kann, der niemals zustande gekommen
wäre, wenn die Dienstleistungen der Post im Wettbewerb
stehen würden. Das ist für unser marktwirtschaftliches
System schon eine Ausnahmeerscheinung – um nicht zu
sagen: ein Skandal!
Realistischerweise betrüge bei Wettbewerbsverhältnis-
sen der Preis für die Beförderung eines Normalbriefes bis
20 Gramm 90 Pfennig. Mit diesem überhöhten Porto von
1,10 DM finanziert die Post AG den Umbau zu einem
weltweiten Logistikunternehmen. Ich will nicht missver-
standen werden: Der Zug, Mehrwertdienstleistungen auf
dem Gebiet der Logistik zu erwirtschaften, ist richtig. Die
Finanzierung aber, über den überhöhten Portopreis auf-
grund der Monopolstellung, ist falsch, weil auf diese
Weise privaten Wettbewerbern, die nicht über solche
Monopolstellungen verfügen, im Wettbewerb Vorteile
zugeschanzt werden, die in einem fairen Wettbewerb
nicht möglich wären. Dasselbe gilt natürlich auch für den
Bereich des Paketdienstes. Durch entsprechende Quer-
subventionierung werden private Wettbewerber am Markt
weggebissen.
Die F.D.P.-Fraktion wird sich vehement gegen die Ver-
längerung des Postmonopols wehren. Dieses Monopol
verfälscht den Wettbewerb auch auf Drittmärkten. Das
Argument, man müsse im europäischen Geleitzug das
Monopol nach und nach, möglichst erst in acht bis zehn
Jahren, aufheben, ist verlogen. Wir müssen nicht die
Fehler zum Beispiel unserer französischen Nachbarn
übernehmen. Uns hat der Wettbewerb für unsere Volks-
wirtschaft nur genutzt. Das gilt nicht nur für die Telekom-
munikation, wo wir Vorreiter in Europa für die Öffnung
der Märkte gewesen sind, übrigens sehr zum Nutzen un-
serer Verbraucher und unserer Wirtschaft. Dies sollte auch
für die Post AG gelten; denn nur ein wettbewerbsfähiges
Unternehmen ist fit und nicht fett.
Gerhard Jüttemann (PDS): Die PDS-Fraktion hatte
beantragt, in die heutige Debatte um den vorliegenden An-
trag der F.D.P. auch einen Gesetzentwurf der PDS-Frak-
tion zur Änderung des Postgesetzes einzubeziehen. Die
F.D.P. hat das abgelehnt mit der Begründung, die beiden
parlamentarischen Initiativen hätten angeblich nichts mit-
einander zu tun. Ich will den Zusammenhang erklären.
Die Begründung unserer Ablehnung des F.D.P.-Antrages
ergibt sich daraus.
Diejenigen, die uns erklären, Postleistungen könnten
billiger als heute erbracht werden und deshalb Portosen-
kungen verlangen, spekulieren auf zweierlei: Erstens da-
rauf, dass die Post weiter ihr Personal reduziert und damit
die Arbeitslosenzahlen nach oben treibt, und zweitens,
dass für die verbliebenen Mitarbeiter die sozialen Stan-
dards, vor allem die Einkommen, weiter reduziert werden.
Diese Entwicklung hat besonders zu Beginn dieses
Jahre geradezu beängstigende Formen angenommen.
Mehr als 19 000 Beschäftigte der Deutschen Post AG
müssen in diesem Jahr Gehaltseinbußen zwischen 7 und
30 Prozent hinnehmen. Betroffen von diesem Lohnraub
sind alle Beschäftigten mit befristeten Verträgen und sol-
che, die ab 1. Januar oder später neu eingestellt werden.
Hintergrund dessen, dass sich die Gewerkschaft darauf
eingelassen hat, sind die Erpressungsversuche der Deut-
schen Post AG, die mit Ausgliederung verschiedener
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14101
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Bereiche und Fremdvergabe an Billiganbieter gedroht
hatte. Allerdings gehören diese Billiganbieter meist zum
eigenen Konzern. Denn die Deutsche Post AG hat sich
nach der Privatisierung zu einem unübersehbaren Ge-
flecht von Logistikunternehmen gewandelt, die zu einem
erheblichen Teil mit Scheinselbstständigen und Men-
schen in prekären Arbeitsverhältnissen agieren.
Die so genannten Wettbewerber der Deutschen Post
AG, die auf nichts sehnlicher als die totale Marktöffnung
warten, arbeiten fast ausschließlich ebenfalls mit Schein-
selbstständigen und Menschen in prekären Beschäfti-
gungsverhältnissen. Und eines ist völlig klar: Wenn der
Markt eines Tages zu 100 Prozent geöffnet sein wird, dann
sind auch die Tarife der Stammbelegschaft der Deutschen
Post AG nicht mehr zu halten.
Dieser katastrophale Abbau sozialer Standards im
Postbereich ist das Ergebnis von Privatisierung, Liberali-
sierung und Förderung des Wettbewerbs. Der Antrag der
F.D.P. zur Portosenkung dient nichts anderem als der Be-
schleunigung dieses Prozesses und damit des Sozialraubs.
Gleichzeitig wird er die Arbeitslosigkeit im Postbereich
verstärken, nachdem die Post schon heute ihre Beschäf-
tigtenzahl infolge der Privatisierung um 150 000 reduziert
hat.
Ziel des Gesetzentwurfs der PDS hingegen, über den
die F.D.P. nicht reden will, über den hier aber trotzdem
noch geredet werden wird, ist die Ausdehnung der ge-
fährdeten, aber noch vorhandenen sozialen Privilegien
der Stammbelegschaft der Deutschen Post AG auf die an-
deren Beschäftigten der Branche.
Siegmar Mosdorf (SPD): Bereits im April vergange-
nen Jahres ist auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion,eine
Aktuelle Stunde mit dem Ziel einer Briefportosenkung
veranstaltet worden. Der F.D.P.-Antrag will diese alte
Diskussion neu aufnehmen. Aber nur durch ihre bloße
Wiederholung werden Forderungen nicht besser. Statt-
dessen müssten neue Argumente vorgetragen werden; die
sind jedoch nicht zu erkennen.
Damals wie heute vertritt die Bundesregierung die
Auffassung, dass die Weisung zur Fortführung des Brief-
portos bis zum 31. Dezember 2002 wirtschaftspolitisch
geboten und rechtlich zulässig war. Denn: Es besteht ein
innerer Zusammenhang zwischen der Laufzeit der Exklu-
sivlizenz der Deutschen Post AG und der Geltungsdauer
bestehender Genehmigungen, auf die im Postgesetz Be-
zug genommen wird.
Mittlerweile bezweifelt auch kein Mensch mehr, dass
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ge-
genüber der Regulierungsbehörde ein gesetzlich verbrief-
tes Weisungsrecht hat. Damit ist auch keinesfalls die
immer wieder zu Recht betonte und vom Wirtschafts-
minister gewahrte Unabhängigkeit der Regulierungsbe-
hörde für Telekommunikation und Post tangiert worden.
Diese besteht selbstverständlich, bezieht sich jedoch auf
förmliche Verfahren bei den einzelnen Beschlusskam-
mern. Ein solches förmliches Verfahren zur Neufest-
setzung des Briefportos war letztes Jahr jedoch nicht ein-
geleitet worden.
Nun, nachdem seit dem 1. September 2000 die Geneh-
migungen für die Briefentgelte fortbestehen, fordert der
vorliegende Antrag die Regulierungsbehörde auf, das
Porto zu senken. Da Sie fair die Begründung dieses An-
trags das Postgesetz heranziehen, frage ich Sie, auf wel-
cher postgesetzlichen Grundlage das Porto denn jetzt ge-
senkt werden soll? Es gibt dafür nämlich keine! Und
deshalb ist Ihr Antrag auch unseriös: Sie fordern etwas,
was sich zwar wunderbar fordern lässt, wofür es aber
keine Mittel zur Durchsetzung gibt.
Der von Ihnen angeführte § 20 des Postgesetzes ist
zwar richtig zitiert. In Verbindung mit § 24 des Postgeset-
zes ist er jedoch nicht einschlägig. Die Regulierungs-
behörde kann Briefentgelte nur dann nachträglich über-
prüfen, wenn entweder Preisunterbietungen zu vermuten
sind oder eine Diskriminierung einzelner Kunden vor-
liegt. Beides ist nicht der Fall. Deshalb läuft Ihr Antrag
und seine Begründung ins Leere.
Die Deutsche Post AG stellt sich bereits seit mehreren
Jahren auf die zukünftigen wirtschaftlichen Herausforde-
rungen der Brief-, Transport- und Logistikmärkte ein. Mit
teilweise großen Aufwendungen verbessert sie ihre inne-
ren Betriebsstrukturen und steigert damit auf längere
Sicht ihre Effizienz. Dass dieser Weg erfolgreich ist, zeigt
der im letzten Herbst bei insgesamt schwierigem Börsen-
umfeld gelungene Börsenstart der Deutschen Post AG.
Sowohl Privatanleger als auch institutionelle Investoren
setzen in die Leistungsfähigkeit der Deutschen Post AG
großes Vertrauen.
Eine weiterhin solide wirtschaftliche Entwicklung der
Deutschen Post AG wird dann die Voraussetzung dafür
bilden, dass eine Senkung des Briefportos nach dem Aus-
laufen der bestehenden Genehmigungen Ende 2002 mög-
lich ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat auf diesen Zu-
sammenhang bereits vor einigen Wochen hingewiesen.
Über Art und Höhe der dann vorzunehmenden Tarifver-
änderung im Briefbereich wird dann selbstverständlich
die Regulierungsbehörde in einem förmlichen Verfahren
zu entscheiden haben.
Ich bitte Sie deshalb, den gestellten Antrag abzulehnen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Personenstandsgesetzes (Tagesordnungspunkt 22)
Harald Friese (SPD): Als sich die junge Mutter ver-
zweifelt beim Frauennotruf im bayerischen Amberg mel-
dete, war sie auf der Suche nach einer Bleibe für ihr un-
gewolltes Baby, das sie in wenigen Stunden zur Welt
bringen würde. Niemand durfte es wissen, niemand ihren
Namen kennen, aber das Kind sollte es gut haben. „Wir
treffen uns“, sagte die Beraterin am Notruftelefon rasch,
„Sie können uns ihr Baby übergeben, der Name spielt
keine Rolle, es wird gut versorgt.“
Doch damit war der Anruferin noch nicht geholfen. Sie
hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte, wenn die We-
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hen einsetzten. Zu Hause würde die Geburt bemerkt, im
Krankenhaus registriert. „Wo soll ich denn hin?, fragte sie
weinend. Die Sozialarbeiterin schwieg lange. „Ich kann
Ihnen nicht helfen“, sagte sie. „Gehen Sie irgendwohin,
wo Sie Wasser haben, am besten zum Klo.“...
Diese geheimen Geburten in öffentlichen Toiletten,
Hinterzimmern und Kellerverschlägen machten ihr Angst –
vor allem das Wissen darum, was Mutter und Kind dabei
passieren kann: dass etwa manchem Neugeborenen, wenn
es plötzlich schreit, in Panik doch noch ein Kissen aufs
Gesicht gedrückt wird.“
So der „Spiegel“ vom 16. Oktober 2000.
Nur eine Geschichte, die zu Herzen geht? Ein Einzel-
fall? Leider nein!
Etwa zwei Dutzend getötete Neugeborene findet man
jährlich in Deutschland – mehr oder weniger zufällig. Die
Dunkelziffer getöteter Neugeborener soll mindestens
vierzigmal so groß sein, also tausend Babys im Jahr, die
nach der Geburt umgebracht werden.
Und dies sind alles Kinder von Müttern, die nicht in ei-
nem Krankenhaus, nicht zu Hause mit einer Hebamme,
sondern im Verborgenen und in der Regel allein entbin-
den: in einer öffentlichen Toilette, in einem Kellerraum,
jedenfalls anonym und unerkannt. Die Frauen befinden
sich in ausweglosen Situationen und verheimlichen des-
halb Schwangerschaft und Geburt.
Ich will heute nicht der Frage nachgehen, warum es in
unserem Sozialstaat zu solchen Lebenssituationen kommt.
Wir würden von viel menschlichem Leid erfahren: Ent-
scheidender ist, was der Gesetzgeber tun kann, um schwan-
geren Frauen, die um jeden Preis anonym bleiben wollen,
eine humane Geburt zu ermöglichen. Nur dadurch sichern
wir den geborenen Kindern eine Chance zum Leben.
Unser geltendes Personenstandsrecht steht aber so ge-
nannten anonymen Geburten entgegen. Die §§ 16 ff. des
Personenstandsgesetzes bestimmen, dass eine Geburt bin-
nen einer Woche anzuzeigen ist, und zwar von denen, die
bei der Geburt anwesend waren. Bürgerschaftliche Initia-
tiven, wie der Verein Sterni Park e.V. in Hamburg, sichern
mit so genannten Babyklappen zwar das Überleben eines
Neugeborenen, aber nicht dessen Geburt unter humanen
und medizinisch einwandfreien Bedingungen. Der Sozi-
aldienst katholischer Frauen in Amberg ermöglicht im
dortigen Krankenhaus anonyme Geburten. Die Beteilig-
ten begehen dann aber eine Ordnungswidrigkeit und kön-
nen mit der Festsetzung eines Zwangsgeldes angehalten
werden, den Namen der Mutter preiszugeben.
Es bleibt also festzuhalten: Anonyme Geburten sind in
Deutschland rechtswidrig. Wenn man sie will, muss das
Personenstandsgesetz geändert werden.
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion versucht, mit einer
Verlängerung der Anzeigefrist das enge zeitliche Korsett
des Personenstandsgesetz zu sprengen. Bestehen bleibt
aber weiterhin die Verpflichtung, danach den Namen der
Mutter offen zu legen. Das löst aber das Problem nicht.
Die SPD-Fraktion hält auch aus anderen Gründen den Ge-
setzentwurf der CDU/CSU-Fraktion für problematisch.
Er ist so nicht zustimmungsfähig. Wir sind uns aber im
Ziel einig, Müttern in ausweglosen Situation zu helfen
und damit den Kindern zu helfen. Denn man kann ein
Kind nur mit der Mutter, nicht aber gegen die Mutter
schützen.
Ich will nicht verhehlen: Eine Änderung des Perso-
nenstandsgesetzes begegnet einer Fülle rechtlicher Be-
denken. Zunächst verfassungsrechtliche: Nach einer Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. Ja-
nuar 1989 ist das Recht auf Kenntnis auf eigene Abstam-
mung Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes
nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Ist dieses
mit der Legalisierung anonymer Geburten vereinbar? Es
gibt völkerrechtliche Bedenken: Art. 7 der UN-Kinder-
konvention bestimmt, dass jedes Kind das Recht hat,
seine Herkunft zu kennen. Eine Änderung des Personen-
standsgesetzes könnte zudem gegen Art. 8 Abs.1 der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, wo-
nach von Geburt an die Integration des Kindes in seine
Familie ermöglicht werden muss.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ver-
weist dabei auf den Grundsatz „mater semper certa est“.
Dieser Satz atmet denselben Geist wie das Personen-
standsgesetz, das sich auch heute kaum von seiner Ur-
sprungsfassung aus dem Jahre 1875 unterscheidet, näm-
lich die Verdrängung sozialer Realität aus dem rechtlichen
Bewusstsein.
Wir werden über vieles diskutieren müssen, auch darü-
ber, ob die Möglichkeit anonymer Geburten von, Müttern
missbraucht werden kann. Ich glaube es nicht, aber wir
müssen die Erfahrungen im Ausland, insbesondere in
Frankreich, sorgfältig prüfen und auswerten.
In der Güterabwägung zwischen dem Recht auf Kennt-
nis der eigenen Abstammung und dem Recht auf Leben
unter Verzicht auf Kenntnis der eigenen Abstammung fällt
mir aber die Entscheidung leicht: Sie muss zugunsten des
Lebens falten.
Zum weiteren Verfahren möchte ich einen Vorschlag
machen: Es wäre dem Thema angemessen, im Rahmen ei-
ner interfraktionellen Arbeitsgruppe gemeinsam nach Lö-
sungen zu suchen. Dazu lade ich Sie herzlich ein.
Renate Diemers (CDU/CSU): Politisch fühle ich
mich immer dann in besonderer Weise gefordert, wenn
sich hinter einem nüchtern und trocken klingenden Ge-
setzentwurf lebensentscheidende Rahmenbedingungen
für Menschen in unserem Land verbergen. Ich bin sicher,
dass viele Menschen mit dem Begriff Personenstandsge-
setz erst einmal gar nichts verbinden. Aber es handelt
sich in der Tat um ein lebenswichtiges, ein sehr emotio-
nales Thema und ich freue mich, dass die zuständigen
Kollegen aus dem innenpolitischen Bereich mir als Fa-
milienpolitikerin die Gelegenheit geben, dazu Stellung
zu nehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf zum Personenstands-
gesetz beinhaltet, die Anzeigefrist der Schwangerenbera-
tungsstellen für Geburten von einer Woche auf 10 Wochen
zu verlängern. Mütter in Konfliktsituationen sollen sich
an eine geeignete Schwangerenberatungsstelle wenden
können und sollen zunächst – das heißt bis 10 Wochen
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nach der Geburt – anonym bleiben können. Die Bera-
tungsstellen hätten durch eine verlängerte Anzeigefrist
mehr Zeit, den betroffenen Frauen einen Weg aus ihrer
Notlage aufzuzeigen. Die Zahl der Kindesaussetzungen
und andere Panikreaktionen würden mit Sicherheit ver-
ringert. Außerdem wird damit dem ordnungsrechtlichen
Auftrag, den das Personenstandsgesetz regelt, auch
Genüge getan. Denn es dient ja auch dem Zweck, die Her-
kunft eines Menschen zu dokumentieren. Somit wird
zunächst einmal sichergestellt, dass Kinder in der Regel
ihre Wurzeln kennen und ihre Interessen zum Beispiel in
Bezug auf Erbansprüche gewahrt werden. Eine Verlänge-
rung der Anzeigefrist ist somit auch im Interesse der Kin-
der, wenn sich eine Mutter erst nach etlichen Wochen ent-
schließt, zu ihrem Kind zu stehen. Voraussetzung
allerdings ist, dass umfassend über die Bedeutung der An-
zeigefrist informiert wird.
In letzter Zeit wurde in der Öffentlichkeit sehr viel über
Babyklappen diskutiert, die in vielen Städten inzwischen
eingerichtet wurden. Dadurch wird zumindest sicherge-
stellt, dass die ausgesetzten Kinder umgehend medizi-
nisch versorgt werden und sich die Mütter nicht strafbar
machen. Hier muss möglichst rasch der gesetzliche Rah-
men geschaffen werden, um allen Beteiligten die notwen-
dige Rechtssicherheit zu geben. Aber die Babyklappen –
wie auch die Beratungsstellen – werden nicht von allen
verzweifelten Frauen genutzt werden.
Findelkinder und Kindesaussetzung bis hin zu Kindes-
tötungen aus totaler Verzweiflung hat es leider schon
immer gegeben. In Deutschland hat sich die Zahl der Aus-
setzungen in den vergangenen Jahrzehnten erfreulicher-
weise verringert – sicherlich auch eine Folge der verbes-
serten Verhütungsmöglichkeiten und der Hilfsangebote –
und sich bei etwa 40 bis 50 Kinder pro Jahr eingependelt.
Aber auch die gering erscheinende Zahl macht schmerz-
haft deutlich, dass wir eine gewisse Anzahl von Frauen in
Notlagen trotz aller Beratungsmöglichkeiten und Hilfsan-
gebote, trotz Anzeigefrist und Babyklappen einfach nicht
erreichen können.
Eine Frau, die nicht zu ihrer Schwangerschaft und
ihrem Kind steht bzw. stehen kann, ist in einer enormen
Stresssituation. Frauen reagieren auf verschiedenste
Weise darauf, mit Schwangerschaftsabbruch, Aussetzung
oder gar Tötung von Neugeborenen. Und genau hier müs-
sen wir ansetzen und hinterfragen. Gibt es nicht noch an-
dere Hilfsangebote für Frauen, über die wir sprechen soll-
ten? Daher rege ich über die heutige Debatte hinaus an,
gemeinsam über eine gesetzliche Regelung für anonyme
Geburten zu sprechen.
Diese Möglichkeit würde für diese kleine Gruppe der
Frauen bestehen, jene 40 bis 50 pro Jahr, die so verzweifelt
sind, dass sie eine Schwangerschaft verheimlichen, sich kei-
nem Arzt anvertrauen und auf keinen Fall den Weg in die
Beratungsstellen finden. Wie verzweifelt muss man sein,
wenn man monatelang derartige körperliche und seelische
Belastungen aushält! Zu wissen, auf die unwürdigste Weise,
zum Beispiel auf einer öffentlichen Toilette, auf die die mei-
sten Menschen noch nicht einmal zum Händewaschen ge-
hen würden, ein Kind zur Welt zu bringen und anschließend
auf ebenso unwürdige Art wegzugeben! Von anderen Pani-
kreaktionen wie Kindestötungen ganz zu schweigen.
Aber auch den Aspekt der gesundheitlichen Schädi-
gungen des Kindes und auch der Frau aufgrund der feh-
lenden medizinischen Versorgung dürfen wir nicht außer
Acht lassen.
Spricht es für eine kinderfreundliche Gesellschaft,
wenn wir diesen Frauen und ihren Kindern ärztlichen Bei-
stand während der Schwangerschaft und der Geburt quasi
verweigern? Wäre es wirklich ein finanzielles Problem,
wenn 40 bis 50 Frauen pro Jahr in Deutschland anonym
entbinden würden? Wäre es nicht vielmehr eine kinder-
freundliche und solidarische Gesellschaft, wenn Frauen
sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden
und stattdessen ein Kind anonym zur Welt bringen könn-
ten, das heißt mit ärztlicher Hilfe? Und das wäre der Un-
terschied zur bereits praktizierten Babyklappen-Lösung.
Ich persönlich plädiere und werbe daher für die Mög-
lichkeit, dass Frauen in einem Krankenhaus oder mithilfe
einer Hebamme zu Hause anonym und mit entsprechender
medizinischer Nachsorge entbinden können, um das Kind
anschließend zur Adoption freizugeben. Die Belastungen
für diese Frauen wären auch diesen neuen Bedingungen
nach wie vor enorm; das sollten wir nicht vergessen.
Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Thema in
nächster Zeit sehr ernsthaft diskutieren würden, und ich
wünsche mir im Interesse der Frauen und Kinder, dass ein
fraktionsübergreifender Konsens möglich sein wird. Mir
ist allerdings auch bewusst, dass bis zu einer entsprechen-
den gesetzlichen Regelung noch großer Beratungsbedarf
besteht und viele Fragen abzuklären sind. Aus diesem
Grunde bitte ich Sie, unserem Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Personenstandsgesetzes zuzustimmen, weil auch
die Verlängerung der Anzeigefrist ein weiterer wichtiger
Schritt zum Wohle der Kinder und der Frauen sein wird.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
In der Schule gezeugt,
in Panik verschwiegen,
in Lügen verstrickt,
im Keller geboren,
im Müll entsorgt.
So beschreibt sehr eindeutig eine Initiative des Sterni
Parks die Situation der ausgesetzten, häufig tot aufgefun-
denen Neugeborenen. In Deutschland werden jährlich
40 ausgesetzte Säuglinge gefunden. Die Hälfte von ihnen
ist tot. Die genaue Zahl der ausgesetzten und getöteten
Säuglinge, die niemals gefunden werden, ist mit Sicher-
heit deutlich höher. In einer Notsituation verheimlichen
die meist sehr jungen Frauen Schwangerschaft und Ge-
burt. In ihrer Verzweiflung kann es zu Kurzschlussreak-
tionen kommen. Sie setzen die Säuglinge aus. In Extrem-
fällen kommt es sogar zur Tötung.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, legen uns einen Gesetzentwurf vor, der auf diese
Problematik eingeht. Aber Ihr Vorschlag ändert an der
Problematik, dass die jungen Frauen während der Geburt
bisher nicht auf Hilfe hoffen können – eine Ausnahme bil-
det die Klinik in Sulzbach –, nichts. Kein Kind, das bis-
her gefunden wurde, wurde in einer Klinik geboren. Für
uns bleiben einige entscheidende Fragen offen. Sie wol-
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len die Frist für die Anzeigepflicht für eine Geburt auf
zehn Wochen verlängern.
In dieser Zeit soll die Schwangerenberatungsstelle auf
die Mutter einwirken, um eine heimliche Geburt doch
noch zu verhindern; denn wie sollte es sonst verstanden
werden, dass in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs
steht, dass die Frau zunächst ihre Anonymität wahren
kann. Ich glaube, dass der Druck, der ja eigentlich von den
Frauen genommen werden soll, damit wieder erhöht wird.
Erhöht werden würde mit dem vorliegenden Entwurf
auch die Verantwortung der Beratungsstellen. Sie sollen
nach dem Gesetzentwurf für die Anzeigepflicht verant-
wortlich sein. Ich glaube, das ist problematisch.
Ich glaube, wir sind uns in dem Ziel einig, dass wir die
Gesundheit der verzweifelten Frauen und das Leben der
Neugeborenen schützen wollen. Aber wir müssen uns
doch fragen, wie die Hilfe aussehen muss, damit diese
Frauen sie auch annehmen können; denn ansonsten schaf-
fen wir eine Lösung, die an den Problemen vorbeigeht. Ist
es nicht besser, Frauen, die sich in einem existenzgefähr-
denden Konflikt befinden, tatsächlich in Ausnahmefällen
die anonyme Geburt in einem Krankenhaus anzubieten?
In diesem Fall wäre das Krankenhaus in Zusammenarbeit
mit einer entsprechenden Stelle für die Anmeldung des
Kindes verantwortlich. Ich sehe keinen sachlichen Grund,
die Anzeigepflicht bei einer anonymen Geburt allein auf
die Beratungsstellen zu verlagern.
Derzeit gibt es bereits einige mutige Projekte, die die
anonyme Geburt ermöglichen. Dazu gehören eine Klinik
in Bayern, in der Mütter ihre neugeborenen Kinder
zurücklassen können wie auch das Hamburger Findel-
kind-Projekt. Ein Blick über die Grenzen kann uns viel-
leicht bei der Lösung helfen. In Frankreich sind anonyme
Geburten bereits seit 1941 möglich. Diese Möglichkeit
wurde damals geschaffen, um Frauen, die während des
Krieges beispielsweise von ausländischen Soldaten uner-
wünscht schwanger wurden, die Chance zu geben, ano-
nym zu entbinden.
Diese Regelung dient noch heute dem Schutz des Kin-
des bei einer anonymen Geburt. Circa 500 bis 700 Kinder
werden dort als „anonym“ registriert. Allerdings wurden
dort bis jetzt auf sämtliche Abstammungsnachweise ver-
nichtet. Inzwischen hat das Kabinett aber beschlossen,
dass Kinder auf Antrag Kontakt zu ihren leiblichen Eltern
herstellen können.
Wir müssen auch bedenken, wie dem Recht des Kin-
des, die eigene Abstammung zu erfahren, Rechnung ge-
tragen werden kann.
Lassen Sie uns möglichst gemeinsam nach einer Lö-
sung suchen, die die Frauen, die sich in einer akuten Not-
lage befinden, in ihrem Konflikt mit niedrig schwelligen
Beratungs- und Hilfsangeboten unterstützt, die das Leben
der Kinder schützt und Möglichkeiten schafft, freiwillig
die eigene Abstammung zu erfahren, und Kinderhandel
ausschließt. Zur Lösung dieser Konflikte ist der vorge-
legte Gesetzentwurf nicht ausreichend. Darum schlage
ich vor, dass wir all diese Fragen mit Vertretern von den
entsprechenden Initiativen und Fachleuten aus Wissen-
schaft in einer Anhörung erörtern. Vielleicht gelingt es
uns sogar, einen gemeinsamen neuen Antrag zu verab-
schieden.
Ina Lenke (F.D.P.):Der Antrag der CDU/CSU zur Än-
derung des Personenstandsgesetzes ist erst auf den zwei-
ten Blick ein Thema, mit dem sich der Bundestag drin-
gend beschäftigen muss. Ich selbst war in Vorbereitung
dazu.
Ich würde mir wünschen, dass wir während der Bera-
tungen in den Ausschüssen zu einem gemeinsamen An-
trag und gemeinsamer Beschlussfassung kommen, um
schwangeren Frauen, die in ihrem persönlichen Umfeld
und in ihren Familien nicht gut aufgehoben sind, eine
Möglichkeit zu eröffnen, ihr Kind auch anonym zur Welt
zu bringen.
Die Zielrichtung dieses Antrages ist positiv: Schwan-
geren Frauen in einer Notsituation soll geholfen werden,
ihr Kind unter ärztlicher Betreuung anonym zur Welt zu
bringen. Rechtlich ist das derzeit nicht möglich. Ärzte,
Hebammen und Klinikleitungen befinden sich nicht auf
legalem Boden, wenn sie Leben und Gesundheit schützen
wollen. Mit gesetzlichen Änderungen können wir verhin-
dern, dass jedes Jahr circa 40 bis 50 Frauen unter unwür-
digen Zuständen und in gefahrvollen Situationen für Mut-
ter und Kind ein Kind zur Welt bringen.
Was soll getan werden, um zu verhindern, dass Säug-
linge ausgesetzt werden und zu Tode kommen? Die so ge-
nannten „Babyklappen“ sind eine Art der Hilfestellung,
eine andere ist der vorliegende Antrag. Den Ansatz,
Schwangerenberatungsstellen einzuschalten, sehe ich posi-
tiv. Schon jetzt kann die Beratung anonym erfolgen. Das
soll nun über den Zeitpunkt der Geburt ausgedehnt werden.
Der Vorschlag des CDU/CSU-Antrages, die Frist zur
Anzeige einer Geburt nach § 16 Personenstandsgesetz
von eine auf zehn Wochen auszudehnen, gibt der Mutter
Gelegenheit, sich für das gemeinsame Leben mit ihrem
Kind zu entscheiden. Ein Problem der Regelung ist, dass
das Recht des Kindes, seine Herkunft zu erfahren, mit
der anonymen Geburt stark eingeschränkt wird: Dazu hat
ein Verband aus Hamburg den Abgeordneten Vorschläge
gemacht, die mit in die parlamentarischen Beratungen
einbezogen werden sollten, mit dem Ziel, verfassungs-
rechtliche Bedenken auszuräumen und somit das Recht
des Kindes, seine Herkunft zu erfahren, beizubehalten.
Neben gesetzlichen Änderungen muss ein Ausbau von
Hilfsangeboten erfolgen. Die Babyklappe als letzte Ret-
tung von Findelkindern oder Einrichtungen wie das Kin-
derhaus im brandenburgischen Schwinau, das ausgesetzte
Kinder aufnimmt, sind niedrig schwellige Angebote, die
helfen, Leben zu retten. Wenn sich der Bundestag zu ei-
ner Novellierung des Personenstandsgesetzes entschließt,
sollten auch Regelungen gefunden werden, die die ano-
nyme Geburt im Krankenhaus – wie sie in Süddeutsch-
land von einem Krankenhaus bereits durchgeführt wird –
gesetzlich absichern und gleichzeitig Klarheit über ver-
fassungsrechtliche Fragen und andere, wie beispielsweise
die Kostenträgerschaft, schaffen.
Ich würde mich freuen, wenn wir zu einem gemeinsa-
men Antrag aller Fraktionen im Deutschen Bundestag kä-
men und werde mich dafür einsetzen.
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Heidemarie Lüth (PDS): Welcher formale Akt, wel-
che persönliche Tragik, welches Leid, welche Demüti-
gung, aber auch welche Chance verbergen sich hinter die-
sem Gesetzentwurf? Seit Jahrhunderten bemühen sich
Frauen, ja kämpfen Frauen, um die Selbstbestimmung.
Dies schließt die Beantwortung der Frage ein, ob sie ein
Kind austragen oder wann sie ein Kind gebären und ob sie
mit ihm leben können.
Nicht alle betroffenen Frauen lösen diesen schwierigen
Konflikt aus den unterschiedlichsten Gründen selbstbe-
stimmt und selbstbewusst. Aus Scham, allein gelassen, un-
ter dem Druck der eigenen Familie, den Gesetzen ausge-
setzt, die nicht immer bekannt sind, entscheiden sich
Frauen zum Äußersten. Wir alle wissen das. Muss die Frau
illegal gebären, sind oft Gefahren für Mutter und Kind der
Preis. Noch schwerer wiegen psychische Belastung und
Angst! Ein Findelkind – die Weltliteratur hält Zeugnisse be-
reit – kann ebenso ein Problem der Frau von nebenan sein.
Eine Möglichkeit, den in dieser Not geborenen Kindern
eine Chance zu geben, sind die „Babyklappen“. Dies ist
eine nicht geringe Chance für diese Kinder, die Chance auf
Leben! Nach den heute geltenden gesetzlichen Regelun-
gen verlieren sie jedoch das Recht, je ihre Herkunft zu er-
fahren. Die abgebenden Mütter haben keine Aussicht, je zu
erfahren, was aus dem Leben, zu dem sie trotz alledem ver-
holfen haben, geworden ist. Adoptiveltern, die den Kin-
dern Vater und Mutter werden, leben mit diesem Konflikt.
Wer erlaubt uns, die wir nicht betroffen sind, diese sen-
sible Frage zu entscheiden, zu entscheiden, ob ein Adoptiv-
kind wissen darf, wer die leiblichen Eltern sind, ob die
leibliche Mutter nach Jahren erfahren darf, wo und wie das
Kind lebt? Wer erlaubt uns nicht zuletzt zu entscheiden,
wie die Adoptiveltern das Problem bewältigen? Eine
sechsfache unterschiedliche Sicht! Was darf, was muss
rechtlich für alle Seiten wirklich geregelt sein? Welche vor
allem auch zeitlichen Spielräume sollen gegeben werden?
Kann überhaupt zwischen den Schutzgütern der am Kon-
flikt beteiligten Parteien abgewogen werden? Was soll
primär sein? Dies sind Fragen, die einen nicht loslassen!
Sollen diese Kinder eine Chance haben und die abge-
benden Mütter freier entscheiden können, dann bedarf es
nicht noch mehr Regelungen! Dann bedarf es eines
ganzen Bündels von Hilfsangeboten, die entkriminalisie-
ren, vor Babyhändlern schützen, Frauen in der Schwan-
gerschaft und bei der Geburt die notwendige gesundheit-
liche Betreuung ermöglichen, den Kindern eine Chance
geben, ihre Herkunft zu erfahren, so sie denn wollen, und
die den Adoptiveltern, die nun Eltern der Kinder sind, hel-
fen, gemeinsam mit ihren Kindern die komplizierte Si-
tuation zu meistern.
Nicht zu vergessen die erheblich schwerwiegendere
Position der Frauen, für die das Ausländergesetz ent-
scheidet. Der vorliegende Entwurf ist ein scheinbarer
Aufschub, bietet letztlich keine wirkliche Lösung. Der
anonymen Beratung und der anonymen Geburt folgt letzt-
lich doch die staatliche Sanktion: die Meldepflicht, und
zwar nicht von den Frauen direkt; vielmehr werden die
Schwangerenberatungsstellen meldepflichtig. So bleibt
den Frauen auch dieser psychische Druck nicht erspart.
Eventuell wird momentan eine Panikreaktion verhindert;
die Lösung ist es in keiner Weise. Wir sollten gemeinsam
mit den Vereinen, Verbänden und den Selbsthilfegruppen
überlegen, welche Wege geboten und gangbar sind.
Nicht alles, was rechtlich geregelt ist, ist hilfreich,
schon gar nicht in einem Bereich, in dem es um das
Schicksal und Entscheidungen geht, die einen in der Tat
ein Leben lang begleiten!
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes und der
Bundespflegesatzverordnung (DRG-Systemzu-
schlags-Gesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 8)
Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist gut,
dass wir das zentrale Reformvorhaben, eine neue Vergü-
tungsstruktur nach Leistung für die Krankenhäuser einzu-
führen, heute ein tüchtiges Stück voranbringen:
Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn in
Zukunft die Leistung im Krankenhaus nicht mehr nach dem
belegten Bett, sondern nach der tatsächlichen Leistung,
nach dem tatsächlichen Aufwand in D-Mark bezahlt wird.
Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn wir der
Rosinenpickerei mit der Selektion der günstigsten Krank-
heitsfälle durch die Einführung der DRGs ein Ende berei-
ten. Es ist tatsächlich ein riesiger Reformsprung, wenn wir
durch Abschläge oder Zuschläge die Mehr- oder Minder-
kosten von Krankenhäusern für ihre strukturbedingten Auf-
gaben gerecht bewerten. Dies ist ein wichtiger Wertewan-
del unter dem Motto: Das Geld muss der Leistung folgen.
Erfreulich ist, dass die Deutsche Krankenhausgesell-
schaft und die Krankenhausgesellschaften der Länder die-
sen Reformschritt nun aufgeschlossen und konstruktiv
gefördert haben. Das Ziel der ersten Etappe ist also zeit-
gerecht erreicht.
Die Vereinbarung in der Selbstverwaltung wird von al-
len Beteiligten positiv bewertet, denn die AR-DRGs sind
das medizinisch zeitgerechteste DRG-System.
Drei wichtige Aufgaben sind jetzt zu leisten: Erstens.
Die AR-DRGs müssen an die deutschen Behandlungsver-
hältnisse angepasst werden. Zweitens. Das Klassifikati-
onssystem muss jährlich an medizinische Veränderungen
angepasst werden. Drittens. Die Bewertungsrelationen
müssen auf der Grundlage tatsächlicher Kosten deutscher
Krankenhäuser kalkuliert werden.
Diese Aufgabenstellung ist nach unserer Auffassung
weder vom Staat, sprich: vom BMG, noch von privaten
Einrichtungen zu erfüllen. Wir setzen nicht auf staatliche,
wir setzen nicht auf private, wir setzen auf die Selbstver-
waltung. Wir reden nicht über Selbstverwaltung, sondern
wir bauen und vertrauen auf die Selbstverwaltung. Die
Selbstverwaltung braucht aber zur Umsetzung der ge-
nannten drei Punkte einen neuen, wichtigen Baustein;
denn nur so können diese zentralen Aufgaben erfüllt wer-
den. Dieser neue Baustein heißt: DRG-Institut.
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Die Selbstverwaltung hat sich darauf verständigt, die-
ses Institut einzurichten. Das DRG-Institut wird die er-
forderlichen Aufgaben übernehmen. Ohne eine solche,
hochqualifiziert arbeitende Einrichtung geht es nicht. Das
belegen die Erfahrungen vieler Länder.
Dass die Erfüllung nicht zum Nulltarif geht, wissen wir
von den Ländern, die mit DRGs arbeiten. Wenn sie Leis-
tungen sehr korrekt abbilden sollen, dann müssen Fach-
leute dicke Bretter bohren. Vergessen wir nicht: Es geht
nicht um ein Rechnungsvolumen von 100 Millionen DM,
sondern um ein Volumen von 100 Milliarden DM, für das
wir eine neue leistungsbezogene Vergütung einführen
wollen.
Die geschätzten 5 Millionen DM für Institut und wis-
senschaftliche Aufträge – 3,5 Millionen DM für das Insti-
tut und 1,5 Millionen DM für die Aufträge –, sind sicher
nicht überzogen hoch. Trotzdem können diese 5 Milli-
onen DM nicht von der Selbstverwaltung, vor allem aber
nicht von den Krankenhausgesellschaften, aus der Porto-
kasse bezahlt werden. Dies kann die Selbstverwaltung aus
eigener Kraft nicht schaffen.
Wir schaffen mit dem DRG-Systemzuschlags-Gesetz die
rechtliche Grundlage für die Finanzierung. Dazu wollen wir
einen einfachen, schnell begehbaren Weg herstellen. Dieser
Weg heißt Systemzuschlag. Die Kosten für das DRG-Insti-
tut sollen über einen Systemzuschlag finanziert werden.
Dieser Zuschlag ist von den Krankenhäusern zu entrichten.
Der Systemzuschlag beträgt 30 Pfennig pro Krankheitsfall.
Damit sind die 5 Millionen DM finanzierbar.
Dabei wollen wir das einzelne Krankenhaus nicht über-
fordern. Die 30 Pfennige pro Krankheitsfall werden die
Budgets der Krankenhäuser nicht belasten. Diese Kosten
werden nicht zulasten des Krankenhauses gehen. Das heißt,
die Krankenhaus-Kollekte findet außerbudgetär statt.
Aber wir verkennen nicht: Durch diese „Aus-
deckelung“ haben wir auch den Rahmen für die Zustim-
mung erweitert und das Gesetzgebungsverfahren be-
schleunigt. Dies hat dazu geführt, dass im Bundestag die
Mehrheit klar ist; auch aus dem Bundesrat – gleich, aus
welcher Richtung – wird Zustimmung signalisiert.
Die Selbstverwaltung hat sich auf diese Lösung ver-
ständigt. Damit können wir nicht nur der Selbstverwal-
tung zeitgerecht zu einem großartigen Baustein verhelfen.
Wir bleiben auch noch im Zeitplan, um zeitgerecht die
D-DRGs, in Deutschland einzuführen. Das D steht für die
deutschen DRGs.
Eines möchte ich noch unbedingt klarstellen: Die Rege-
lung des DRG-Systemzuschlags-Gesetzes ist nicht als Prä-
zedenzfall zu verstehen. Sie wird hier ausnahmsweise ge-
troffen und ist gerechtfertigt wegen des außerordentlichen
Umfangs und der Dauerhaftigkeit des Vorhabens.
Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Wir beschäfti-
gen uns heute mit dem Entwurf der Regierungsfraktionen
für ein DRG-Systemzuschlags-Gesetz. Dieses Gesetz ist
zweifelsohne wichtig, es ist aber bei den notwendigen
Veränderungen für die Einführung eines neuen Entgelt-
systems im stationären Sektor nur der kleinste Baustein.
Krankenhäuser, Selbstverwaltung und Fachgesell-
schaften haben sich angestrengt, die ihnen vom Gesetz-
geber übertragenen Aufgaben in einem zeitlich eng
gesteckten Rahmen zu bewältigen. Die rot-grüne Bundes-
regierung lässt indes nicht erkennen, dass auch sie ihre
Hausaufgaben macht.
Die rot-grüne Regierungskoalition hat mit der GKV-
Gesundheitsreform 2000 zwar die Weichen für die Ein-
führung eines neuen pauschalierten Entgeltsystems im
stationären Sektor gestellt. Aber Rot-Grün verkennt, dass
in Deutschland die erforderlichen Daten für eine zuver-
lässige, flächendeckende Kalkulation der in deutschen
Kliniken behandelten Fälle und ihrer Aufwendungen erst
erstellt werden müssen.
Zwar hat Rot-Grün der DRG-Einführung eine Vorbe-
reitungsphase vorangestellt, jedoch ist diese zeitlich viel
zu knapp bemessen. Noch im Jahr 2000 sollten die Leis-
tungs- und Diagnosekataloge erarbeitet, Krankenhäuser
repräsentativ ausgewählt und die Kalkulationsregeln er-
stellt werden. Die Daten des Jahres 2001 sollen pro-
spektiv erfasst und zur Berechnung der Relativgewichte
herangezogen werden, um dann im Jahr 2002 Basisfall-
preise zu ermöglichen.
Dieser Zeitplan ist nicht zu halten. Auch deshalb ist die
rot-grüne Bundesregierung aufgefordert, die Anpassungs-
phase für die Krankenhäuser zu verlängern und nicht be-
reits zum 1. Januar 2003 die stationären Leistungen scharf
nach dem DRG-System abzurechnen. Geschieht dies
nicht, droht die Einführung des neuen Finanzierungssys-
tems ein Flop zu werden – jedoch nicht, weil die Selbst-
verwaltung ihre Hausaufgaben nicht erledigt hätte, son-
dern weil die Regierung nicht angemessen auf die
Situation reagiert hat.
Neben der Verlängerung der Anpassungsphase bis zum
Jahr 2006 ist es dringend erforderlich, sowohl das Kran-
kenhausfinanzierungsgesetz als auch die neue Entgeltver-
ordnung noch in diesem Jahr zu novellieren. Die ord-
nungspolitischen und finanziellen Rahmenbedingungen
für die Systemumstellung und die Konvergenzphase müs-
sen schnell geschaffen werden.
Anpassungsbedarf besteht auch bei der Verschlüsse-
lung der Daten. Erst zum 1. Januar 2000 ist der ICD-10
eingeführt worden. Dieser kann aber nicht 1:1 auf den
australischen Schlüssel, der für das DRG-System gilt,
umgesetzt werden. Der derzeit geltende Prozeduren-
schlüssel enthält nur wenige diagnostische Maßnahmen
und ist damit als Grundlage des neu aufzubauenden deut-
schen Kataloges ungeeignet.
Noch kritischer als die jahrelang versäumte Kataloger-
stellung wirkt sich indes die inhaltliche Abstimmung aus.
Der Widerspruch wird hier besonders dadurch deutlich,
dass es noch gar keine definierten Grundlagen für die
DRGs gibt, jedoch heute schon prophylaktisch der diffe-
renzierte Inhalt reduziert wird. Mit dem reduzierten Kata-
loginhalt sollen dann aber bereits in diesem Jahr die Leis-
tungen dokumentiert und die Relativgewichte kalkuliert
werden. Ziel ist es, in 2002 für das Jahr 2003 eine kosten-
homogene Fallgruppe zu bilden und die zutreffende Höhe
des Basisfallpreises zu ermitteln.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14107
(C)
(D)
(A)
(B)
Wenn die rot-grüne Bundesregierung glaubt, mit die-
sem vorgegebenen Verfahren Gewinne zu erzielen – etwa
in Form einer baldigen Kostenreduktion im Kranken-
haussektor –, dann irrt sich diese Bundesregierung. Die
Einführung von DRG – das zeigen internationale Erfah-
rungen – ist bislang nicht mit einer Kostenreduktion ver-
bunden gewesen. So hat beispielsweise in Frankreich die
Einführung der „Groupes homogenes de malades“ circa
3 Milliarden Francs gekostet. In Österreich und in Italien
sind die Kosten je Fall bei Einführung der DRG um 5 bzw.
3,9 Prozent gestiegen. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass
mit der Einführung der DRG unmittelbar eine Kostenre-
duktion im stationären Sektor einhergehen wird. Vielmehr
ist davon auszugehen, dass die Einführung des neuen pau-
schalierten Entgeltsystems zwischen 3 und 5 Prozent der
Krankenhausbudgets verbrauchen wird.
Unredlich ist die Aussage von Rot-Grün in dem Gesetz-
entwurf, dass durch dieses Gesetz eine Erhöhung der Ein-
zelpreise, des allgemeinen Preisniveaus und insbesondere
des Verbraucherpreises nicht zu erwarten ist. Denn die er-
hoffte Verbesserung der Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus
wird nicht unmittelbar einsetzen, sondern erst eine Folge
von Jahren, wenn nicht gar von Jahrzehnten sein.
Vielleicht hofft die rot-grüne Bundesregierung darauf,
dass die Mehrausgaben der Krankenkassen in den oh-
nehin angekündigten Beitragssatzsteigerungen unterge-
hen.
Völlig ungeklärt ist die Situation bei den Privatversi-
cherten. Denn sie sollen laut Gesetzentwurf mit 0,30 DM
pro Krankenhaustag an den Kosten der Entwicklung, Ein-
führung und laufenden Pflege des DRG-Fallpauschalen-
systems beteiligt werden. Im Interesse der Privatversi-
cherten hat die rot-grüne Bundesregierung zu klären, ob
die Privatversicherer – ebenso wie die gesetzlichen Kran-
kenkassen – bereit sind, sich an diesen Kosten zu beteili-
gen.
Die rot-grüne Bundesregierung ist aufgerufen, die
Rahmenbedingungen im Krankenhaussektor so auszuge-
stalten, dass die Einführung des neuen pauschalierten Ent-
geltsystems möglichst reibungslos funktionieren kann.
Dazu ist der vorgelegte Gesetzentwurf ein erster Schritt,
allerdings der kleinstmögliche. Und es bleiben viele Fra-
gen offen.
Katrin Göring-Eckart (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):Wir stehen vor einer grundlegenden Reform in der
Krankenhausfinanzierung und einer entscheidenen Um-
setzung und Fortführung des Gesundheitsreformgesetzes.
Mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 hatte die Bun-
desregierung die Spitzenverbände der Krankenkassen und
die Deutsche Krankenhausgesellschaft beauftragt, bis
zum 1. Januar 2003 ein DRG-Fallpauschalensystem für
die Vergütung von voll- und teilstationärer Krankenhaus-
leistung einzuführen. Bereits jetzt bestehen die Vergütun-
gen im Krankenhausbereich zu 25 Prozent aus Fallpau-
schalen und Sonderentgelten. Damit haben wir gute
Erfahrungen gemacht und wollen es deshalb fortführen.
Die Einführung des Fallpauschalensystems bedeutet
für mich vor allem zweierlei: Transparenz und Patienten-
orientierung. Dafür stehen wir Grünen. Das Fallpauscha-
len-Vergütungssystem im Krankenhausbereich bedeutet,
dass wir die gleiche Leistung, unabhängig von der jewei-
ligen Region, gleich vergüten werden. Eine einheitliche
Vergütung bedeutet mehr Gleichheit und mehr Transpa-
renz. Eine solche Vergütung nach Fallpauschalen wird of-
fenlegen, wer wo und welche Kosten verursacht und ob
die Erträge die Kosten decken. Das wird den Kranken-
häusern eine notwendige Basis bieten, strategische Ent-
scheidungen zu treffen. So werden wir auch Qualitätsde-
fizite und Wirtschaftlichkeitsreserven genauer benennen
können. Wir werden damit Schluss machen, dass wirt-
schaftliche Verhaltensweisen noch belohnt werden, die
nicht zum Wohle des Patienten geschehen. Wir geben ein
Drittel der beitragsfinanzierten Ausgaben im Gesund-
heitswesen für den Krankenhausbereich aus. Es ist not-
wendig und möglich, in diesem Bereich zu sparen.
Wir Grüne haben uns zum Ziel gesetzt, die Beiträge
stabil zu halten. Das gilt für die gesetzliche Rentenversi-
cherung, die Arbeitslosenversicherung, die Pflegeversi-
cherung, aber auch gerade für die gesetzliche Kranken-
versicherung. Wir sind an der Grenze der zumutbaren
Belastung von Sozialabgaben für die junge Generation
angelangt. Das DRG-Fallpauschalensystem trägt dazu
bei, die Beitragssatzstabilität zu gewährleisten.
Neben der Beitragssatzstabilität kämpfen wir für Qua-
lität im Gesundheitswesen und Patientenrechte. In Zu-
kunft kann es nicht nur darum gehen, Krankheiten zu be-
handeln, sondern der Mensch muss mit seiner gesamten
sozialen Umwelt und seinen Problemen im Mittelpunkt
der medizinischen Versorgung stehen. In Zukunft kann es
also nicht darum gehen, den Menschen in einem hoch spe-
zialisierten Fachbetrieb eines Krankenhauses zu behan-
deln. Das Krankenhaus muss durchlässig werden und eine
Versorgungsstruktur geschaffen werden, in dem sta-
tionäre und ambulante Fachdienste eng vernetzt sind und
auch Dienste der allgemeinen Lebenshilfe und Selbsthil-
fegruppen mit einschließt. Gesundheitszentren sollten
den örtlichen Mittelpunkt bilden und die vor- und nach-
gelagerten Leistungsbereiche koordinieren. Der Mensch
darf in Zukunft nicht nur von einer medizinischen Instanz
zur nächsten weitergereicht werden, sondern muss in ei-
ner gut abgestimmten Einzelfallbetreuung über die ein-
zelnen Instanzen hinweg begleitet werden.
Die notwendige Anpassung an die australische
AR-DRG Klassifikation wird mit der einhergehenden An-
passung an die Besonderheiten der Vergütungssysteme
der Bundesrepublik, der Kalkulation der allpauschalen
und deren Einführung sowie ständige Anpassung an den
medizinisch technischen Fortschritt, die Einstellung von
Personal und Schaffung neuer institutioneller Strukturen
Kosten verursachen. Das Gesetz sieht vor, den DRG-
Systemzuschlag pro Krankenhausfall zusätzlich abzu-
rechnen. Die Krankenhäuser werden die Beträge an die
Selbstverwaltungspartner weiterleiten. Bund, Ländern
und Gemeinden werden keine zusätzlichen Ausgaben ent-
stehen.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf des DRG-
Systemzuschlags regeln wir klar die Zuständigkeiten für
die entstehenden Kosten der Umstellung. Wir schaffen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114108
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(D)
(A)
(B)
damit eine weitere wichtige Grundlage, das DRG-System
zu realisieren. Bitte stimmen Sie dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zu und tragen Sie mit dazu bei, unser Ge-
sundheitswesens zu modernisieren.
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Mit der GKV-Gesund-
heitsreform 2000 hat die Koalition die Einführung eines
diagnosebezogenen Fallpauschalsystems beschlossen.
Die für die Einführung zugrunde gelegten Fristen sind da-
bei viel zu kurz bemessen. Ich hätte erwartet, dass in ei-
nem Gesetz zur Änderung des Krankenhausfinanzie-
rungsgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung diese
Fristen zumindest um drei Jahre nach hinten geschoben
werden, weil bereits jetzt absehbar ist, dass in der Kürze
der Zeit ein seriöses Implementieren des neuen Systems
nicht möglich ist. Die Gefahren, die für die Kranken-
hausversorgung der Bevölkerung damit verbunden sind,
wenn zu schnell gehandelt wird, sind viel zu groß. Ganz
abgesehen davon steht die Rahmensetzung für das neue
System nach wie vor aus. Auch dies hätte im Zuge einer
Gesetzesänderung geklärt werden müssen. Die Kranken-
häuser müssen wissen, unter welchen Bedingungen sie
zukünftig arbeiten werden. Die alte Bundesgesundheits-
ministerin Frau Fischer hat anlässlich des Deutschen
Krankenhaustages verkündet, dass sie ein „echtes Preis-
system“ wolle. Völlig ungeklärt ist zur Zeit, ob das die
SPD auch so sieht. Zudem wäre es auch höchst interessant
gewesen, in Gesetzesform gegossen vorzufinden, was
diese Koalition unter einem „echten Preissystem“ ver-
steht. Ein Budget macht in einem solchen System keinen
Sinn, genauso wenig wie starre, prospektiv festgelegte
Leistungsmengen. Die duale Finanzierung heutiger Prä-
gung, die detaillierte staatliche Krankenhausplanung sind
ebenfalls mit einem Preissystem nicht kompatibel. Der
vorgelegte Gesetzentwurf greift deshalb entschieden zu
kurz. Ohne Zweifel müssen die Kosten, die durch den
Aufbau und die Pflege eines Fallpauschalsystems entste-
hen. getragen werden. Aber ob das nun unbedingt über ei-
nen Krankenhauspfennig erfolgen muss, oder ob es nicht
andere, effizientere Lösungen gibt, wird in den weiteren
Beratungen zu klären sein. Zudem fallen Kosten nicht nur
den neu zu schaffenden Gremien an, sondern auch in den
Krankenhäusern, die nun mit der Umstellung beginnen
müssen. Auch hierfür müssen Lösungen gefunden wer-
den.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Zu den Veränderungen für
den Krankenhausbereich, die mit der Gesundheitsreform
2000 beschlossen wurden, gehört der vollständige Über-
gang zu einer Vergütung von Krankenhausleistungen
durch Fallpauschalen. Inzwischen haben sich die beauf-
tragten Selbstverwaltungsgremien darauf festgelegt, dem
zu erstellenden Katalog solcher Fallpauschalen eine in
Australien bereits angewendete Diagnosen-Klassifikation
zugrunde zu legen. Das verlangt ihre Anpassung an die
deutschen Verhältnisse sowie weitere umfangreiche Vor-
bereitungsarbeiten. Zu diesen gehören die Entwicklung
entsprechender Kodierregeln, die Kalkulation der Pau-
schalen bzw. die Ermittlung von Bewertungsrelationen,
die Schaffung eines Systems von Zu- und Abschlägen und
anderes mehr. In der Folgezeit wird dazu auch die stän-
dige Berücksichtigung der künftigen Entwicklungen in
Diagnostik und Therapie sowie der laufenden Verände-
rungen der ökonomischen Rahmenbedingungen der
Krankenhäuser zählen. Aus diesem Grunde sollen jetzt
neue institutionelle Strukturen entstehen, die bisher nicht
erforderliche finanzielle Aufwendungen verursachen.
Der vorliegende Gesetzentwurf zielt darauf, durch die
Neueinführung eines so genannten DRG-Systemzu-
schlags je Krankenhausfall die rechtlichen Grundlagen
für die Bereitstellung der zusätzlich benötigten Mittel zu
schaffen. Da die anfallenden Kosten noch nicht genauer
zu beziffern sind, werden zunächst einmal jährlich 5 Mil-
lionen DM veranschlagt. Nach allen Erfahrungen dürfte
sich diese Summe künftig weiter erhöhen. Auch wenn es
sich dabei – gemessen an den Gesamtkosten der Kran-
kenhäuser – nicht um systemsprengende Größenordnun-
gen handelt, bleibt dennoch bemerkenswert, dass die Re-
gierungskoalition ohne weiteres bereit ist, Geld der
Versicherten zusätzlich und sogar außerhalb der Budget-
grenzen für neue bürokratische Institutionen auszugeben.
Für die eigentlichen medizinischen Versorgungsaufgaben
hält sie dagegen an einer Budgetierungspolitik fest, die in
ihrer Rigorosität und Undifferenziertheit nach wie vor nur
als hochgradig verfehlt bezeichnet werden kann.
Schwerwiegender sind nach unserer Auffassung aller-
dings die Gefahren, die mit der Einführung des DRG-Sys-
tems generell für eine humane und an den Interessen der
Patienten sowie der Beschäftigten orientierte Arbeit in
den Krankenhäusern einhergehen. Zu befürchten ist, dass
die neue Vergütungsform die schon heute einseitige Öko-
nomisierung der Arbeit in den Krankenhäusern weiter be-
schleunigt. Zugleich wächst die Gefahr, dass es zwischen
den Krankenhäusern noch stärker zu ungesundem Kon-
kurrenzverhalten kommt und dass sich der Trend zu un-
vertretbarem Bettenabbau und Privatisierung sowie der
Druck auf die Flächentarifverträge verstärken. Gerade
deshalb treten wir auch weiterhin entschieden für den Er-
halt des staatlichen Sicherstellungsauftrages ein, der be-
kanntlich auf eine flächendeckende, stationäre Versor-
gung auch in strukturschwachen Gebieten gerichtet ist.
Nach unserer Auffassung lässt sich nur so soziale Verant-
wortung mit ökonomischer Vernunft verbinden. Erfah-
rungsgemäß können DRGs darüber hinaus bewirken, dass
stationäre Leistungen reduziert werden und die Qualität
der Behandlung für den einzelnen Patienten leidet. Mehr
noch: Besonders chronisch kranke Menschen können zu
so genannten schlechten Risiken werden, was ihre Ver-
sorgung insgesamt infrage stellt. Unseres Erachtens hat
die Regierung hier die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass
es weder zu Qualitätsdumping noch zu Risikoselektion
kommt. Zugleich steht sie in der Verantwortung, Qua-
litätssicherungssysteme zur Anwendung zu bringen, die
in ihrer Wirksamkeit deutlich über das bisher Konzipierte
hinausgehen. In diesem Zusammenhang wird es immer
wichtiger, dass auch die Personalbemessungen vor allem
von den notwendigen Qualitätsstandards abgeleitet wer-
den. Nach unserer Auffassung ist ein weiterer Perso-
nalabbau in den Krankenhäusern völlig unzumutbar. Im
Gegenteil: Wie auch internationale Vergleiche zeigen, be-
steht in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet noch im-
mer Nachholbedarf.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2001 14109
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(D)
(A)
(B)
Im Übrigen ist die flächendeckende Installierung ei-
ner Krankenhausvergütung nach Fallpauschalen im
Maßstab eines ganzen Landes ein völliges Novum. Das
hat die Regierung allerdings nicht daran gehindert, Zeit-
spannen für ihre Bewältigung vorzugeben, die – trotz
erster Verlängerungen – noch immer zu knapp sind.
Schwerwiegende Fehlentwicklungen auf Kosten der
Patienten und des Krankenhauspersonals sind so gera-
dezu vorprogrammiert. Damit wird die DRG-Ein-
führung zu einem Feldexperiment ohne Beispiel. Auch
der vorliegende Gesetzentwurf steht für uns in diesem
Kontext.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 200114110
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(D)
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Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin