Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen. Es ist hier nur noch eine kleine
Runde versammelt. Art, Inhalt und Stil der rechtspoliti-
schen Diskussion über eine Reform des Zivilprozess-
rechts in den letzten Wochen und Monaten sind in großen
Teilen der Bedeutung, dem Umfang und der Gewichtig-
keit der zu lösenden Aufgabe nicht mehr gerecht gewor-
den.
Was dort teilweise abgelaufen ist, wie sich die Diskus-
sion in Teilen der Fachöffentlichkeit entwickelt hat, war
für mich erschreckend. Dies gilt auch für die Reden der
Kollegen Funke und Röttgen heute hier an dieser Stelle.
Der Stil ist teilweise geradezu niveaulos geworden.
Was sich die Bundesministerin der Justiz von Teilen der
Fachöffentlichkeit hat sagen lassen und anhören müssen,
hat das Maß des politisch Erträglichen weit überschritten.
Hier wäre von einigen der lautstärksten Kritiker schon
lange eine Entschuldigung fällig gewesen. Hier war vie-
les rechtspolitisch einfach nicht mehr seriös.
Wenn der Kollege Geis mittlerweile die schwierige Ar-
beit im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages be-
klagt, liegt das zuallererst daran, dass die Unionsparteien
in diesem Haus ihre rechtspolitische Seriosität aufgrund
ihrer immer noch nicht angenommenen Oppositionsrolle
dem kurzatmigen rechtspolitischen Populismus geopfert
haben.
Unstreitig gibt es Reformbedarf. Die unbefriedigenden
Zustände in der Ziviljustiz sind nicht ohne Grund in der
Vergangenheit auch von Anwaltsseite heftig beklagt wor-
den. Wer hier plötzlich behauptet, im Zivilprozess stehe
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2000
Dr. Evelyn Kenzler
13529
alles zum Besten, der macht sich letzten Endes unglaub-
würdig.
Ich frage mich: Warum ist es nicht mehr richtig, was für
alle ernst zu nehmenden Rechtspolitiker bis gestern noch
an Übereinstimmung gegolten hat?
Da sagt Steffen Heitmann im Februar 1997, damals noch
Minister in Sachsen:
Im gerichtlichen Verfahren muss die erste Instanz ge-
stärkt werden. Sie darf nicht länger Durchlaufstation
zum Berufungsgericht sein. Mit einer starken ersten
Instanz kann der Rechtszug auf zwei Instanzen be-
schränkt werden.
Rainer Funke sagte damals bei derselben Veranstal-
tung:
Das heute sehr differenzierte Rechtsmittelsystem
sollte in seiner Gesamtheit überdacht werden.
Und sein damaliger Minister Schmidt-Jortzig sagte auf
dem Deutschen Juristentag in Bremen:
Das zentrale Thema der nächsten Legislaturperiode
wird die Justizreform sein. Wir brauchen eine grund-
legende, eine wirklich große Justizreform.
Dann stellte er sein Modell vor, nämlich das Modell der
Dreistufigkeit, letzten Endes in wesentlichen Punkten so,
wie heute unser Entwurf aussieht. Das ist Ihre Glaubwür-
digkeit.
Professor Goll, Minister in Baden-Württemberg, sagte
noch im November 1998:
Ich bin für eine Umgestaltung der Berufungsinstanz
schrittweise in Richtung einer Rechtsüberprüfungs-
instanz.
Meine Damen und Herren, Sie müssen sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen, was Herr Goll noch im No-
vember 1998 gesagt hat und was heute alles nicht mehr
gelten soll.
Zum Schluss noch der Kollege Scholz, der es als Vor-
sitzender des Rechtsausschusses ja auch nie nötig hat, hier
an den Debatten teilzunehmen. Er sagte in der „FAZ“ am
23. November 1998 – das können Sie alles nachlesen –:
Es muss an den Kern gegangen werden; die Zeit
dafür ist überreif. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit
ist ein dreistufiger Gerichtsaufbau einzuführen. Das
System der Rechtsmittel ist zu ändern; notwendig ist
eine Beschränkung auf eine Tatsachen- und eine
Rechtsinstanz.
Das hat noch 1998, bevor wir unseren Entwurf vorgelegt
hatten, der gute Professor Scholz geschrieben.
Recht haben sie alle, diese ehrenwerten Rechtspoliti-
ker. Ich frage mich nur, warum das, was sie damals gesagt
haben, heute nicht mehr gelten soll.
Dahinter steht reiner rechtspolitischer Populismus. Sie
betreiben Fundamentalopposition auf Kosten der Justiz
und der Rechtssuchenden in diesem Land.
Den Gipfel der Heuchelei leisten Sie sich in dieser Dis-
kussion hier im Deutschen Bundestag. Da muss ich Sie
persönlich ansprechen, Herr Röttgen. Sie haben in einer
wirklich polemischen, bösen Rede am 7. Juli, als wir un-
seren Fraktionsentwurf diskutiert haben, wörtlich gesagt:
Sie verbieten dem Bürger den Mund vor Gericht.
Das ist das Kernanliegen Ihres Vorhabens, das ist Ihr
Kerninstrument. Er soll nichts mehr sagen. Das ist
Rechtspolitik à la Rot-Grün.
Sie beziehen sich darauf, dass wir eine Regelung im Ent-
wurf haben, nach der Berufungen zukünftig ohne münd-
liche Verhandlung zurückgewiesen werden können, wenn
der Senat einstimmig der Meinung ist, das sei ohne Aus-
sicht auf Erfolg.
Sie verschweigen dabei, Herr Röttgen, dass Ihre Frak-
tion am 8. Dezember 1998 in diesem Haus einen Entwurf
eingebracht hat,
der im Januar 1999 diskutiert wurde und der bis heute
noch nicht zurückgezogen worden ist. Darin sehen sie ei-
nen neuen Paragraphen 519 c vor, der wie folgt lautet:
In Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche
Ansprüche, bei denen der Wert des Beschwerdege-
genstandes 60 000 DM nicht übersteigt, ... kann das
Berufungsgericht die Berufung ohne mündliche Ver-
handlung durch einstimmigen Beschluss zurückwei-
sen, wenn die Berufung nach der Berufungsbegrün-
dung keine Aussicht auf Erfolg hat.
Meine Damen und Herren, das ist Ihre Rechtspolitik.
Das heißt also: Der Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit be-
ginnt bei Ihnen erst bei einem Streitwert von über
60 000 DM, weil es sich vielleicht dann auch von den Ge-
bühren her eher lohnt. Herr Röttgen, das ist Ihre Rechts-
politik.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2000
Joachim Stünker
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[SPD]: Peinlich! Doppelzüngigkeit!)
Wenn Herr Geis, der es auch nicht nötig hat, heute hier
zu sein, uns heute Morgen noch über den Ticker mitteilt,
mit der Verstärkung der Einzelrichterentscheidung in
unserem Entwurf sei ein Verlust an Rechtsschutz zu be-
fürchten, dann kann ich Ihnen nur sagen: In die Begrün-
dung des Entwurfs, den ich Ihnen eben vorgehalten habe
und den ich sorgfältig studiert habe, schreiben Sie es sel-
ber auch hinein. Da haben Sie die Steigerung des Einzel-
richtereinsatzes mit 70 Prozent angegeben. Das ist genau
die Zahl, die wir auch erreichen.
Ich komme sofort zum Schluss. Ich bin der letzte Red-
ner heute Nachmittag.
– Herr Repnik, lassen Sie das.
Wir werden daher den mit unserem Reformgesetz ein-
geschlagenen Weg der Modernisierung der ordentlichen
Gerichtsbarkeit fortsetzen: Im ersten Schritt geht es um
die Zivilgerichtsbarkeit, dann um die Strafprozessord-
nung und schließlich um die freiwillige Gerichtsbarkeit.
Machen Sie mit bei diesem Vorhaben; denn es gilt der
Satz, den der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes,
Rainer Voss, gesagt hat:
Es müssen vor allem der Wille und die Kraft vor-
handen sein, aus dem bestehenden System auszubre-
chen, anstatt an diesem ständig herumzuflicken.
Seien Sie sicher: Rot-Grün, diese Reformkoalition, hat
diesen Willen und diese Kraft.
Schönen Dank.