Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion über
die so genannte Justizreform dauert jetzt ziemlich genau
ein Jahr.
In diesem Jahr der intensiven Diskussion hat es, wie das
bei keinem anderen rechtspolitischen oder juristischen
Thema in vergleichbarer Weise festgestellt werden kann,
ein eindeutiges und einhelliges Ergebnis gegeben. So et-
was ist unter Juristen eigentlich gar nicht vorstellbar. Es
hat in der Fachwelt eine flächendeckende und totale Ab-
lehnung gegeben.
Es geht hier nicht um parteitaktische Überlegungen.
– Es geht hier auch nicht um Geld. – Meine Damen und
Herren, nehmen Sie es doch endlich zur Kenntnis: Die
Richter in unserem Land lehnen diese Reform ab.
Die Anwälte in unserem Land lehnen diese Reform ab.
Die Rechtswissenschaft lehnt diese Reform ab.
Der Deutsche Juristentag – die Justizministerin war an-
wesend, ich auch; es waren nur wenige von Ihnen da –
lehnt diese Reform ab.
Die Wirtschaftsverbände lehnen diese Reform ab. Die
Verbraucherverbände lehnen diese Reform ab. Der Bun-
desrat lehnt diese Reform ab.
Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen
ist auch nicht für diese Reform. Die Stellungnahmen aus
der Anhörung liegen vor. Es gibt keinen Sachverständi-
gen, auch nicht von denen, die von Ihnen benannt worden
sind, der sagt: So, wie es vorgelegt ist, wollen wir das. Es
gibt eine flächendeckende, totale Ablehnung dieses Vor-
habens. Nehmen Sie das zur Kenntnis!
Wer ist eigentlich für Ihre Reform? Welche Zeugen aus
der Fachwelt können Sie aufführen? Es geht doch um die
Diskussion in der Fachwelt. Einige von Ihnen waren auf
dem Juristentag. Sind Sie denn taub, meine Damen und
Herren?
Entscheidend ist ja nicht, dass Sie diese Ablehnung er-
fahren haben. Es kann einmal passieren, dass ein Vor-
schlag in der Sache in der Fachwelt eine totale Ablehnung
erfährt. Es geht vielmehr um den neuen Stil in der Rechts-
politik seit 1998; das sage ich sehr ruhig und besorgt auch
im Namen meiner Fraktion. Dieser Stilwandel besteht
darin, das die Bundesjustizministerin noch nicht einmal
im Ansatz dazu bereit ist, auf diese Einwände einzugehen.
Ich bestreite gar nicht, dass Sie diskutieren. Sie diskutie-
ren; aber Sie hören nicht zu und nehmen die Kritik nicht
auf.
Sie erweisen sich als absolut argumentationsresistent.
Bedauerlich ist, dass das nicht nur in diesem Bereich so
ist. Es ist leider typisch für die Rechtspolitik Ihrer Bun-
desregierung; es ist der neue Stil der Rechtspolitik. Sie
peitschen das Gesetz zur Homosexuellenehe durch den
Rechtsausschuss.
Die überwiegende Anzahl der Sachverständigen war da-
gegen, aus unterschiedlichen Gründen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2000
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
13524
Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden ignoriert;
Sie peitschen das Gesetz durch.
Sie schaffen es, eine Mietsrechtsreform vorzulegen,
die sowohl auf den entschiedenen Widerspruch der Mie-
ter wie der Vermieter stößt. Sie schaffen es, ein Urheber-
vertragsgesetz in die Diskussion zu bringen, das sowohl
bei den Autoren wie bei den Verlagen auf Protest stößt. Sie
drohen jetzt damit, das Schuldrecht, ein Herzstück des
Bürgerlichen Rechts, mit einer Generalüberholung übers
Knie zu brechen. Auch in diesem Fall wurde aus der
Rechtswissenschaft starker Widerstand angekündigt.
Es ist bezeichnend, dass das wichtigste justizpolitische
Vorhaben der Bundesjustizministerin am Freitagnachmit-
tag als letzter Tagesordnungspunkt einer langen und an-
strengenden Haushaltswoche platziert wird. Das sagt
doch alles aus.
Sie wollen die Öffentlichkeit meiden. Sie scheuen die Öf-
fentlichkeit und wissen auch, warum: weil Sie schwach in
der Sache sind.
Wenn diese Debatte einen Sinn machen soll, lieber
Herr Hartenbach – da wende ich mich an Sie und Ihre Kol-
leginnen und Kollegen, an die Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie an die
Kolleginnen und Kollegen von der PDS –,
dann besteht sie in dem Appell an Sie: Hören Sie auf da-
mit, nur zu sagen: Wir haben die Mehrheit, ihr die Argu-
mente.
Ich appelliere wirklich – ich sage das in ruhigem Ton, weil
ich es wirklich ernst meine –: Kehren Sie zur argumenta-
tiven politischen Auseinandersetzung in der Rechtspolitik
zurück! Unsere Bitte an Sie ist, diesen Boden wieder zu
betreten.
Ich will jetzt diese Auseinandersetzung in der Sache
führen. Verehrte Frau Justizministerin, ich fand den allge-
meinen Charakter Ihrer Formulierungen ausgesprochen
bemerkenswert. Sie sind gar nicht auf die konkreten
Punkte eingegangen.
All das, was konkret diskutiert wird, haben Sie mit allge-
meinen Formulierungen zu überdecken versucht. Wir
müssen konkret über die Sache reden. Dass Sie das nicht
tun, ist das, was Ihnen vorgeworfen wird. Aber ich werde
es gerne tun.
Die Etikette, mit denen Sie diese Reform versehen, lau-
ten: Bürgernähe, Transparenz und Effizienz. Ich frage Sie
und die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen, ob Sie
der Auffassung sind, dass die Verlagerung der Be-
rufungszuständigkeit an die wenigen, weiter entfernt
liegenden Oberlandesgerichte mehr Bürgernähe bringt.
Ist die Justiz näher bei den Bürgerinnen und Bürgern oder
entfernt sie sich von ihnen, wenn Sie die Zuständigkeit
auf die wenigen, zentralen Oberlandesgerichte in den
Flächenstaaten reduzieren und konzentrieren? Es ist we-
niger Bürgernähe; das ist doch unbestreitbar.
Es macht die Justiz im Übrigen teurer, wie Ihnen alle Lan-
desjustizminister vorgerechnet haben.
Ich frage Sie: Ist es bürgernah, wenn die Berufung als
zweite Tatsacheninstanz grundsätzlich abgeschafft wer-
den soll? Ist es bürgernah, wenn der Bürger seine Sache
nicht mehr mündlich vortragen kann? Ist die Konsequenz,
die dies haben wird, bürgernah, dass man nämlich in der
Berufung nicht mehr über die Sache redet, sondern über
die Formalien, über die Einhaltung des Verfahrens, dass in
der Berufung nicht der Beweis erhoben, sondern darüber
geredet wird, ob er in erster Instanz verfahrensfehlerfrei
erhoben worden ist? Fördert das die Akzeptanz der Justiz
oder ist das Gegenteil der Fall? Das Gegenteil ist der Fall!
Ich frage die Kolleginnen und Kollegen der Koali-
tionsfraktionen: Führt es zu mehr Transparenz im zivilge-
richtlichen Verfahren, wenn zukünftig die Möglichkeit
besteht, dass die Bürger – ohne mündliche Verhandlung –
schriftlich beschieden werden, dass über ihre Sache nicht
mehr verhandelt wird, ohne dass sie die Gelegenheit ha-
ben, in die mündliche Verhandlung zu kommen und für
ihre Sache zu streiten?
Sie bekommen einen schriftlichen Bescheid mit dem In-
halt: Verehrter Bürger, über deine Sache sprechen wir
nicht mehr. – Ist das Transparenz? Ist das Bürgernähe? Es
ist das glatte Gegenteil davon!
Sie von den Grünen, die einmal ein bürgerrechtliches
Selbstverständnis hatten, sollten sich gut überlegen, wie
Sie sich in dieser Frage verhalten.
Ich frage auch: Ist es effizient, wie Sie das Verfahren
organisieren? Sie sehen Folgendes vor: Zuerst kommt die
Berufungssache zum Senat des Oberlandesgerichtes.
Der gesamte Senat muss sich dann mit der Frage beschäf-
tigen, ob er die Berufung zurückweisen muss. Wenn er
dieser Auffassung ist, muss er darüber die einzelnen Par-
teien informieren und den Berufungsführer über die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2000
Norbert Röttgen
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Gründe informieren, warum der Senat gedenkt, diese Be-
rufung zurückzuweisen.
Dann nimmt der Berufungsführer dazu Stellung. Er nutzt
Fristen aus. Es geht also Zeit ins Land. Dann kommt die
Stellungnahme an den Senat zurück. Der Senat muss er-
neut zusammentreten und sich damit beschäftigen. Nach
einem Zeitverlust von mehreren Monaten kommt er dann
zu dem Ergebnis: Die Sache können wir nicht zurückwei-
sen; sie wird dem Einzelrichter übertragen.
Das ist die Effizienzvorstellung, die diesem Gesetzent-
wurf zugrunde liegt. Dies ist absurd, praxisfern und ohne
jede Kenntnis von den Problemen des Justizprozesses. Sie
sollten diese Argumente nicht mit Floskeln übertünchen,
sondern den Menschen reinen Wein einschenken.
Ich frage Sie weiterhin: Ist es bürgernah, wenn Sie mit
diesem Gesetzentwurf den Bürgern das Recht abschnei-
den, mit ihrem Einzelfall vor den BGH zu treten?
Sie sagen: Bürger, du darfst nur noch vor den BGH treten,
wenn du behauptest, deine Sache diene der Rechtsfortbil-
dung.
Was antworten Sie eigentlich dem Bürger auf seine Frage:
„Was heißt hier Rechtsfortbildung? Ich habe doch nichts
mit Rechtsfortbildung zu tun; ich will das Recht nicht
fortbilden; ich will es nur haben?“
Nach dem, was Sie vorhaben, muss ihm dann geantwor-
tet werden: Dann wirst du nicht gehört.
– Lieber Herr Stünker, wissen Sie eigentlich, wie viel Pro-
zent der Revisionsfälle Zulassungsberufungen oder
Streitwertrevisionen sind? 99 Prozent der Fälle beruhen
auf der Streitwert-, auf der Annahmerevision. Die alle
wollen Sie beseitigen. Die kommen nicht mehr vor. Sie
schaffen den Bundesgerichtshof, das oberste deutsche Zi-
vilgericht, als eine Instanz ab, die der Einzelfallgerechtig-
keit dient. Das oberste Prinzip der Justiz ist es, Einzelfall-
gerechtigkeit herzustellen.
Ich stelle als Letztes fest: Die Aushöhlung des Rechts-
mittelsystems – das wird auch gar nicht bestritten; es
wird ja immer gesagt, das alles seien Kröten, die wir
schlucken müssten –
führt nicht nur zur Schwächung der Rechtsmittelinstan-
zen, sondern unweigerlich und notwendigerweise auch
zur Schwächung der ersten Instanz, und zwar aus zwei
Gesichtspunkten: Erstens ist das Vorhandensein einer um-
fassenden effektiven Kontrolle in den oberen Instanzen
ein Instrument der Qualitätssicherung der erstinstanzli-
chen Entscheidung. Richter, die wissen: „Wir haben eine
effektive, umfassende Kontrolle“, bemühen sich auch.
Denn sie wissen, dass da noch einer über ihnen steht und
kontrolliert, was getan worden ist. Das ist ein Instrument
der Qualitätssicherung.
Gemäß Ihrem neuen Modell werden zweitens die An-
wälte – denn die erste Instanz ist ja im Grunde genommen
der einzige Schuss, den man hat, um zum Erfolg zu kom-
men; die Berufung wird in vielen Fällen abgeschnitten,
und die Revision ist gesetzlich gar nicht mehr möglich –,
eine relativ strenge Haftungsrechtsprechung des Bundes-
gerichtshofes im Kopf habend, erstinstanzlich alles vor-
tragen,
weil sie keinen Haftungsfall produzieren wollen. Sie wer-
den alles vortragen; ob dies unbedingt sachdienlich ist, ist
die Frage.
Die Richter werden bemüht sein, ihre Sache beru-
fungsfest zu machen. Sie werden alles dokumentieren.
Denn wenn man nicht dokumentiert, ist die Sanktions-
folge, dass es nicht verfahrensfehlerfrei war, und das ist
das einzige Nadelöhr, um überhaupt in die Rechtsmittel-
instanz zu kommen.
Das wird ohne jeden Zweifel zu einer Aufblähung, zu
einer Verlangsamung des erstinstanzlichen Verfahrens
führen. Sie werden die Amtsrichter mit noch mehr Ver-
antwortung belasten. Alles wird länger dauern.