Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5971
(A) (C)
(B) (D)
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Dr. Bartsch, Dietmar PDS 4.11.99
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.11.99
Böttcher, Maritta PDS 4.11.99
Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 4.11.99 **
Bury, Hans Martin SPD 4.11.99
Caesar, Cajus CDU/CSU 4.11.99
Fischer (Frankfurt),
Joseph
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.11.99
Friedhoff, Paul K. F.D.P. 4.11.99
Gebhardt, Fred PDS 4.11.99
Goldmann, Hans-Michael F.D.P. 4.11.99
Haack (Extertal),
Karl-Hermann
SPD 4.11.99
Hartnagel, Anke SPD 4.11.99
Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 4.11.99 *
Hovermann, Eike SPD 4.11.99
Dr. Kenzler, Evelyn PDS 4.11.99
Knoche, Monika BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.11.99
Kolbow, Walter SPD 4.11.99
Dr. Leonhard, Elke SPD 4.11.99
Ost, Friedhelm CDU/CSU 4.11.99
Dr. Paziorek, Peter SPD 4.11.99
Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 4.11.99
Schily, Otto SPD 4.11.99
Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
CDU/CSU 4.11.99
Schreiner, Ottmar SPD 4.11.99
Schröder, Gerhard SPD 4.11.99
Schröter, Gisela SPD 4.11.99
Schüßler, Gerhard F.D.P. 4.11.99
Schwanhold, Ernst SPD 4.11.99
Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 4.11.99
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.11.99
Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.11.99
Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 4.11.99
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Dr. von Weizsäcker,
Ernst Ulrich
SPD 4.11.99
Dr. Wieczorek, Norbert SPD 4.11.99
Zierer, Benno CDU/CSU 4.11.99 *
—————
**) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
**) für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den
Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetz-
lichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000
– GKV-Gesundheitsreform 2000 – (Tagesord-
nungspunkt 3)
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das aus meiner
persönlichen Sicht als Ärztin Regelungen enthält, die ich
in ihrem Ansatz und/oder den Methoden ihrer Durchfüh-
rung für falsch halte. Dazu zähle ich die deutliche Ab-
schwächung der Naturheilverfahren und die sogenannte
Qualitätssicherung, die meines Erachtens gerade in ihrer
Methodik das außer acht läßt, was Kern jedes ärztlichen
Handelns sein sollte: individuelle Therapie für jeden
Patienten. Dazu zähle ich weiterhin die Regelungen der
Krankenhausfinanzierung und des Globalbudgets und
die deutliche Einflußstärkung der Kassen.
Für mich geht der vorliegende Gesetzestext in man-
chen strukturellen Fragen dagegen nicht weit genug. Es
ist ein medizinischer Grundsatz, dem Übel an die Wur-
zel zu gehen und nicht nur an Symptomen zu kurieren.
Wir behandeln aber nur die Symptome, wenn wir nicht
verhindern, daß Bund und Länder sich immer mehr aus
ihrer Verantwortung für ein solidarisches Gesundheits-
wesen zurückziehen und den gesamten Gesundheitsbe-
reich zunehmend zu einem einzig monetär geprägten
Feld werden lassen.
Da in einem demokratischen Entscheidungsprozeß
Minderheiten – in diesem Fall die Grünen – Mehrheiten
– hier der SPD – unterliegen, finden sich nur wenige der
wirklich wichtigen, von mir gewünschten Anliegen in
diesem Gesetz entsprechend wieder. Da diese wenigen
aber enormes Gewicht haben, wie beispielsweise die
Prävention als Standard, die Unterstützung der Selbsthil-
fegruppen, die Stärkung einzelner bisher benachteiligter
Fachgebiete und ganz besonders die Entschuldung der
Ostkrankenkassen, habe ich meine bisherige Meinung,
diesem Gesetz nicht zustimmen zu wollen, revidiert. Es
ist wichtig, diese Anliegen schnell umzusetzen. Daher
stimme ich trotz meiner ablehnenden Haltung gegen die
5972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
(A) (C)
(B) (D)
im ersten Absatz genannten Punkte diesem Gesetz heute
zu. Ich erwarte allerdings von Regierung und Koalition,
daß die vorhandene fundierte Kritik Anlaß sein wird,
noch in dieser Legislatur zu entsprechenden Änderungen
des Gesetzes zu kommen.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg),
Monika Heubaum, Hans-Ulrich Klose und
Lothar Mark (alle SPD) zur Abstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der ge-
setzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr
2000 – GKV-Gesundheitsreform 2000 – (Tages-
ordnungspunkt 3)
Bei der Abstimmung werden wir uns der Stimme ent-
halten. Wir erkennen grundsätzlich die Notwendigkeit
einer Reform der Gesundheitspolitik an, können dem
vorliegenden Gesetzentwurf jedoch nicht zustimmen,
weil die angestrebten Ziele in der Gesundheitspolitik –
auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der
Budgetierung / den Richtgrößen im Jahr 1999 – so nicht
erreicht werden. Wir werden aber nicht gegen das Ge-
setz stimmen, da wir nicht gegen die Koalition stimmen
wollen.
Als äußerst problematisch sehen wir die Einführung
eines Globalbudgets an. Vor dem Hintergrund sowohl
der medizinischen Fortschritte als auch angesichts der
demographischen Entwicklung ist ein erhöhter Aufwand
im Gesundheitswesen zukünftig unabdingbar. Ein Glo-
balbudget liefe damit zwangsläufig auf eine Rationie-
rung medizinischer Leistungen hinaus; das ist unserer
Meinung nach ethisch nicht vertretbar.
Die geplanten gesetzlichen Regelungen führen
zwangsläufig zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand,
insbesondere durch die deutlich erweiterten Regelungs-
befugnisse der Krankenkassen, durch die erhebliche
Ausweitung der Zuständigkeit des Medizinischen
Dienstes und durch die Einführung direkter Patienten-
betreuungsstellen neben den bereits bestehenden Schieds-
stellen. Diese verwaltungskostentreibenden Maßnahmen
finden im Rahmen des Globalbudgets statt. Vermehrte
Verwaltungskosten gehen damit zwangsläufig zu Lasten
der medizinisch-therapeutischen Versorgung.
Das mit dem Vorschaltgesetz zum 1. Januar 1999
eingeführte Verordnungsbudget trägt in keiner Weise
der Tatsache Rechnung, daß die Arzneimittelausgaben
die Summe von höchst individuellen Einzelverordnun-
gen und damit nicht vorhersehbar oder durch Gesetz
normierbar sind. Die kollektive Haftung der Ärzte bei
Überschreitung erscheint verfassungsrechtlich in höch-
stem Maße bedenklich. Zudem ist der Qualitätsverlust
der Behandlung – insbesondere durch Rationierung –
auch weiterhin zu befürchten, wie dies die Praxis nach
Einführung der Budgetierung / den Richtgrößen im Jahr
1999 bereits eindrucksvoll gezeigt hat.
Grundsätzlich erkennen wir die Notwendigkeit ent-
sprechender Leistungskontrollen an. Für rechtlich pro-
blematisch halten wir in diesem Zusammenhang aller-
dings, daß der Medizinische Dienst als Teil der Kran-
kenkassen für die Qualitätsprüfung zuständig sein soll.
Im Klartext bedeutet dies, daß sich der Geldgeber, die
Krankenkassen, selbst kontrolliert. Aus unserer Sicht
sollten Qualitäts- und Finanzmanagement zwingend
voneinander getrennt werden.
Wir möchten an dieser Stelle ausdrücklich darauf
hinweisen, daß die im System vorhandenen Finanzreser-
ven überhaupt nicht freigesetzt werden können, wenn
das Problem des Chipkartenmißbrauchs nicht angegan-
gen wird.
Aus den genannten Gründen können wir dem vorlie-
genden Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform der gesetzlichen Krankenversicherung
ab dem Jahr 2000 – GKV-Gesundheitsreform
2000 – (Tagesordnungspunkt 3)
Regina Schmidt-Zadel (SPD): Ich kann natürlich
verstehen, daß Sie sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen, die fehlerhafte Beschlußvorlage für ein ordent-
liches Spektakel zu nutzen. Wer inhaltlich nichts zu
bieten hat, greift besonders gerne zu, wenn sich Ge-
schäftsordnungsdebatten und Diskussionen über techni-
sche Details des Gesetzgebungsverfahrens anbieten.
Sie sollten folgende Dinge aber nicht vergessen:
Erstens. Es gibt einen eindeutigen Beschluß der Ko-
alitionsfraktionen, die besagten Änderungsanträge zu-
rückzuziehen. Das können Sie im Ausschußprotokoll
nachlesen; dazu stehen wir auch. Tun Sie jetzt also nicht
so, als wollten wir Ihnen etwas unterjubeln.
Zweitens. Der Gesetzentwurf an sich wird durch
die Panne mit den Änderungsanträgen ja nicht plötzlich
ein anderer. Die Inhalte sind nach wie vor dieselben,
und über die Inhalte sollten wir hier auch debattieren.
Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, mit wel-
chen Konzepten Regierung und Opposition die not-
wendige Reform des Gesundheitswesens angehen. Das
ist bei den Menschen von Interesse, nicht die Frage, wer
wann in welcher Ausschußsitzung welche Anträge
gestellt und zurückgezogen hat. Also lassen Sie uns
zur Tagesordnung zurückkehren und eine Sachdebatte
über die Inhalte des vorliegenden Gesetzentwurfs füh-
ren.
Die Regierungskoalition hat mit der heute zur Ver-
abschiedung anstehenden Gesundheitsreform 2000 ein
Reformwerk vorgelegt, das unser bewährtes System der
gesetzlichen Krankenversicherung besser für die Her-
ausforderungen der Zukunft wappnet. Die Gesundheits-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5973
(A) (C)
(B) (D)
versorgung der gesetzlich Versicherten, also für weit
über 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, soll damit
auch in dem jetzt anbrechenden neuen Jahrhundert auf
hohem Niveau garantiert und vor allem ihre Bezahlbar-
keit gesichert werden. Hohe Versorgungsqualität und
stabile Krankenversicherungsbeiträge sind die zentralen
Punkte dieses Reformprojektes.
Die notwendigen Maßnahmen zur Konsolidierung der
Gesundheitsausgaben – auch das ist das Bemerkens-
werte an dieser Reform – werden bei uns nicht zu Lasten
der gesetzlich Versicherten gehen. Die notwendigen und
längst überfälligen Veränderungen, um unser Gesund-
heitssystem fit für die Zukunft zu machen, werden nicht
den Patientinnen und Patienten durch erhöhte Zuzahlun-
gen oder weitere Leistungsausgrenzungen zugemutet.
Das war Ihr Rezept. Das unterscheidet diese Reform von
den zahlreichen Reformversuchen, die unsere Vorgänger
in den vergangenen 16 Jahren in diesem Haus verab-
schiedet haben und die ja samt und sonders ohne große
Wirkung verpufft sind.
Die Hauptursache für die Wirkungslosigkeit beim
Versuch, die Kosten innerhalb der gesetzlichen Kran-
kenversicherung in den Griff zu bekommen, liegt in
dem zweiten wesentlichen Unterschied zwischen unse-
rer Reform und denen unserer Vorgänger begründet:
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Reform der
stationären Versorgung in den Mittelpunkt. Denn wenn
aus dem Scheitern der Reformbemühungen der Vor-
gängerregierung eine Lehre zu ziehen ist, dann vor allem
diese: Ohne die Einbeziehung der Krankenhäuser ist
jede Gesundheitsreform sinnlos. Es gehört zu den
großen Versäumnissen und Fehlern der Ära Blüm bis
Seehofer, sich fahrlässig um die notwendigen struk-
turellen Änderungen im Bereich der stationären Ver-
sorgung herumgedrückt zu haben – trotz der Chancen,
die der Konsens von Lahnstein geboten hat, der ja
heute schon dauernd bemüht wurde. Hätten Sie seiner-
zeit nicht alle Opfer den Versicherten – und dabei
vor allem den Kranken – aufgebürdet, sondern auch die
Leistungserbringer in die Pflicht genommen, dann wäre
der Druck, der Ausgabenentwicklung auch bei der
stationären Versorgung entgegensteuern zu müssen,
heute längst nicht so groß. Sie haben damals keinen Mut
und keine Konzepte gehabt. Heute haben Sie zwar den
Mut zur Kritik, aber immer noch keine Konzepte, die
Sie uns entgegenhalten könnten.
Die Notwendigkeit, das Krankenhaus in den Mittel-
punkt der Reformbemühungen zu stellen, ist unbestritten
– übrigens auch bei Ihnen. Die gesetzliche Krankenver-
sicherung muß ein Drittel ihrer Ausgaben für den statio-
nären Bereich aufwenden. Allein von 1991 bis 1998 sind
die Ausgaben der GKV für die Krankenhausbehandlung
um 44 Prozent, von 59 Milliarden DM auf 85 Milliarden
DM, gestiegen. Bezogen auf 1980 haben sich die Aus-
gaben sogar verdreifacht.
Die durchschnittliche Verweildauer in deutschen
Krankenhäusern ist bei uns im Vergleich zu unseren eu-
ropäischen Nachbarn außergewöhnlich hoch. 11,9 Tage
verbringt der Versicherte im Durchschnitt in bundes-
deutschen Klinikbetten, während es in den Niederlanden
lediglich 9,9 und in Frankreich sogar nur 5,9 Tage sind.
Wer die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversiche-
rung stabil halten will, wer ein Ansteigen der Beiträge
und eine Verteuerung der Lohnzusatzkosten vermeiden
will, der kann einer solchen Entwicklung nicht tatenlos
zusehen. Der Ansatzpunkt des vorliegenden Gesetzent-
wurfs ist es daher den Krankenhäusern Anreize zu bie-
ten, wirtschaftlicher als bislang zu arbeiten. Dazu dienen
im wesentlichen drei Elemente: erstens die Budgetie-
rung der Ausgaben im Rahmen des Globalbudgets,
zweitens eine grundlegende Reform des Vergütungssy-
stems mit stufenweiser Einführung der Monistik, drit-
tens eine bessere Verzahnung zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung.
Die Erfahrung zeigt, daß Wirtschaftlichkeitsreserven
nicht erschlossen werden können, daß Anreize zum Spa-
ren nicht genutzt werden, Unsinniges und Überflüssiges
nicht abgebaut wird, wenn der Gesetzgeber keinen kla-
ren Kostenrahmen vorgibt. Die Krankenkassen verwal-
ten die Gelder der gesetzlich Versicherten. Die Kran-
kenhausversorgung im Rahmen der GKV kann sich im-
mer nur danach richten, wieviel Geld im System GKV
vorhanden ist. Mehr kann nicht ausgegeben werden. Die
Lösung, die Beitragssätze anzuheben, um mehr Geld ins
System zu pumpen, hat sich ebenso als Irrweg herausge-
stellt wie eine weitere Belastung der Versicherten durch
Anhebung der Zuzahlungen. Es wäre gesundheitspoli-
tisch naiv zu glauben, eine Stabilisierung oder gar Redu-
zierung der Ausgaben zu erreichen, ohne den Leistungs-
erbringern klare Vorgaben zu machen. Insofern ist die
Kritik der Union die sich ja im wesentlichen gegen die
Budgetierung richtet, völlig unverständlich: Erstens
kann ich mich an keine Reform von der rechten Seite
dieses Hauses erinnern, die ohne Budget auskam. Zwei-
tens ist doch die entscheidende Frage, wie ich eine Bud-
getierung im einzelnen gestalte: mit dem bekannten,
biederen Ansatz eines starren, sektoralen Budgets, wie
wir ihn aus Ihrer Zeit kennen, oder eben als Globalbud-
get, bei dem die starren Grenzen vor allem zwischen der
ambulanten und stationären Versorgung endlich aufge-
hoben sind und sich auch für Krankenhäuser zum Bei-
spiel durch die Öffnung für die ambulante Versorgung
ganz neue Perspektiven ergeben.
Wir haben außerdem den BAT-Ausgleich der Jahre
1998 und 1999 noch in das Budget für 2000 genommen,
um deutlich zu machen, daß die Reform zwar die
Krankenhäuser in die Pflicht nimmt, aber nicht auf dem
Rücken und zu Lasten der Beschäftigten.
Die Gesundheitsreform 2000 bietet eine Fülle von
neuen, innovativen Ansätzen – gerade im Bereich der
stationären Versorgung. Sie bietet den Krankenhäusern
eine Vielzahl von Möglichkeiten, wirtschaftliches Ar-
beiten mit innovativen, pfiffigen Ideen zu verbinden.
Häuser, die diese Reform als Chance begreifen, werden
um ihre Zukunft nicht bangen müssen.
Ich appelliere an die Opposition: Begreifen auch Sie
diese Reform als Chance, unser bewährtes System der
gesetzlichen Krankenversicherung weiterzuentwickeln,
bezahlbar zu halten und auf die Zukunft auszurichten.
Bislang haben Sie nur die Chance genutzt, notwendige
Reformen zu blockieren, ohne den Bürgerinnen und
Bürgern zu sagen, wie Sie sich die Reform des Gesund-
5974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
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(B) (D)
heitswesens eigentlich vorstellen. Außer ein paar alten
Kamellen wie Zuzahlungserhöhungen und Leistungs-
einschränkungen haben Sie sowohl in den Ausschuß-
beratungen wie in der öffentlichen Debatte bislang aber
auch gar nichts geboten. Kehren Sie zu einer sachlichen
Zusammenarbeit zurück!
Dr. Hans-Georg Faust (CDU/CSU): Die Patienten
ahnen es, Ärzte und Schwestern in den Krankenhäusern,
niedergelassene Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Physio-
und Ergotherapeuten und alle anderen in Gruppe der so-
genannten Leistungserbringer wissen es, und auch die
Krankenkassen sprechen es zunehmend aus: Dieses Ge-
setz verletzt die Interessen der Patienten, dieses Gesetz
darf nicht kommen!
Bis vor vier Wochen waren es noch vornehmlich die
Inhalte des Gesetzes – Globalbudget mit der Drohung
der Rationierung, Krankenhausplanung in der Hand der
Krankenkassen, monistische Krankenhausfinanzierung
ohne Geld zur Gegenfinanzierung, Positivliste mit Ein-
schränkung der Therapiefreiheit und das neue Hausarzt-
system –, die den Beteiligten Bauch- und Kopfschmer-
zen und schlaflose Nächte bereiteten. Jetzt ist es auch
noch die Hektik des Verfahrens, die uns Angst macht.
Sie, Frau Ministerin, haben sich entgegen unseren
Ratschlägen mit der Befristung des Solidaritätsstär-
kungsgesetzes und dem unverantwortlichen Terminplan
selbst, Ihr Ministerium und uns unter einen unverant-
wortlichen Druck gesetzt, unter dem nichts Gutes zu-
stande kommen kann. Und als wäre das noch nicht ge-
nug, verstärken Sie den Druck durch die notfallmäßige
Einbeziehung der Finanzprobleme der Krankenkassen in
den neuen Ländern zusätzlich.
Frau Ministerin, hinter den Zielen Ihrer jetzt in
Scherben gehenden Gesetzgebung stehen wir auch.
Hinter dem Ziel, eine qualitativ hochwertige, zweckmä-
ßige und wirtschaftliche Gesundheitsversorgung inner-
halb des solidarischen Krankenversicherungssystems zu
sichern. Wir unterstützen auch das Ziel, einen effizien-
ten Einsatz der Finanzmittel in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung zu gewährleisten. Entscheidender Feh-
ler Ihres Gesetzes ist die Forderung nach einem weitge-
hend starren Globalbudget. Wie soll vor dem Hinter-
grund einer zunehmenden Zahl älterer Menschen, der
steigenden Lebenserwartung unserer Bevölkerung, des
gestiegenen Gesundheitsbewußtseins sowie als Hauptar-
gument des exponentiell wachsenden medizinischen und
medizinisch-technischen Fortschritts dieses Gesund-
heitssystem allein aus Rationalisierungsreserven finan-
ziert werden?
Ihre Methode ist: Deckel drauf und Druck auf das Sy-
stem geben; der ausgepreßte Extrakt bietet schon Sub-
stanz genug, die unabweisbare Weiterentwicklung zu
speisen. Und das sagen Sie, obwohl Sie schon mit dem
Solidaritätsstärkungsgesetz die Kosten für die Kranken-
kassen erhöht haben. Obwohl Berechnungen selbst der
AOK ergeben, daß es mit der Umsetzung des Gesund-
heitsreformgesetzes erst mal teurer wird und obwohl
Einsparungen aus dem Bereich, den Sie als besonders
saftig angesehen haben, nämlich dem Krankenhausbe-
reich, erst ab dem Jahr 2003 zu erwarten sind. Hier ist
Ihre Presse entscheidend fehlkonstruiert.
Sie ist auch deshalb entscheidend fehlkonstruiert,
weil unter dem Gesamtdeckel viele kleine Pressen in
den einzelnen Sektoren unseres Gesundheitssystems
wirken sollen: im Sektor der niedergelassenen Ärzte, im
Sektor der Arzneimittel und im Sektor der Krankenhäu-
ser. Und allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz,
die Überlaufkanäle zwischen den einzelnen Töpfen sind
nicht so ausgebildet, daß ein Austausch von Reserven
stattfinden könnte. Um es gesetzestechnisch zu sagen,
die Grenzen der sektoralen Budgets sind nicht durchläs-
sig genug und da, wo neue Ansätze möglicherweise Ab-
hilfe schaffen könnten, stehen wir erst an einem be-
scheidenen Anfang. Nein, diese Mechanismen werden
nicht funktionieren und bringen unser Gesundheits-
system in eine gefährliche Situation!
Auch die CDU/CSU bestreitet nicht, daß es Ratio-
nalisierungsreserven in unserem Gesundheitssystem
gibt und daß wettbewerbliche Anreize und intelligente
Steuerungsmechanismen dazu führen können, diese
Reserven zu mobilisieren. Betrachten wir zum Beispiel
den Krankenhaussektor: Wichtige Eckpunkte waren
die kommunale Verantwortung für die Sicherstellung
einer flächendeckenden Krankenhausversorgung ver-
bunden mit dem Anspruch auf Bürgernähe; weiterhin
die Forderung nach einer zeitgemäßen medizinischen
und pflegerischen Betreuung. Aus diesen Komponenten
ergab sich die zweigeteilte finanzielle Verantwortung:
die der Länder für die Finanzierung der Investitionen
und die der Krankenkassen für den laufenden Kranken-
hausbetrieb.
Wenn das Gesetz Wirklichkeit wird, verändern sich
die Rahmenbedingungen für die bundesdeutschen Kran-
kenhäuser grundlegend: Erstens soll ein neues pauscha-
lierendes Entgeltsystem dazu führen, daß unter einem
landesweiten Gesamtbetrag für die Krankenhäuser ein-
heitliche Preise für vergleichbare Diagnosen oder Ope-
rationen und Eingriffe gezahlt werden. Auf den ersten
Blick ein begrüßenswerter Schritt, stellt er doch die
Vergleichbarkeit von Krankenhausleistungen her und
erhöht damit die Transparenz. Die ersten Bedenken
kommen bei einem Blick auf das Kleingedruckte: Das
Budget, der Geldbetrag, mit dem Krankenhäuser gemäß
ihrer jetzigen Struktur heute und in den nächsten drei
Jahren rechnen können, wird danach schrittweise auf
den Betrag aus dem neuen Entgeltsystem angeglichen –
nach unten versteht sich, wenn das neu errechnete Bud-
get niedriger liegt, nicht unbedingt nach oben, wenn das
neue Budget höher liegt. Dann sind die neuen Beträge
nämlich nur „Höchstpreise“.
Und es zeigen sich einfache Ungerechtigkeiten und
praktische Probleme, wie jeder weiß, der im Kranken-
haus gearbeitet hat, zum Beispiel das Problem der soge-
nannten Mindestbesetzung: Zur Besetzung einer Kran-
kenhauspforte, häufig verbunden mit der Telefonzen-
trale, sind rund um die Uhr fünf Mitarbeiter notwendig.
Das ergibt sich aus Vertretungszeiten, Sonn- und Feier-
tagsarbeit und Urlaub. Die Kosten dafür sind in einem
100-Betten-Krankenhaus im wesentlichen genau so hoch
wie in einem 1 000-Betten-Krankenaus, auch wenn hier
der Pförtner während seines Dienstes sicher mehr zu tun
hat. Die anteiligen Kosten pro Fall oder pro Fall-
pauschale sind aber in dem großen Krankenhaus nur ein
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5975
(A) (C)
(B) (D)
zehntel, so daß sich hier für das große Krankenhaus
deutlich bessere Wettbewerbsbedingungen zeigen. Das
gleiche gilt für den Operationsbereich, das Labor oder
die Röntgenabteilung.
Zweitens soll die Finanzierung der pauschalen För-
dermittel, das sind Mittel beispielsweise zur Anschaf-
fung eines EKG- oder Beatmungsgerätes, die bisher
vom Land gezahlt werden, in Zukunft schrittweise in die
Zuständigkeit der Krankenkassen übergehen. Ich betone
ausdrücklich Zuständigkeit, denn eine Möglichkeit der
Gegenfinanzierung ist für die Krankenkassen bei dem
Grundsatz der Beitragssatzstabilität nicht gegeben. Und
um die sogenannte monistische Krankenhausfinanzie-
rung – das heißt alles aus einer Hand – komplett zu ma-
chen, sollen die Krankenkassen ab dem Jahr 2008 auch
für die Finanzierung der bisher vom Land bezahlten
Einzelinvestitionen zuständig sein. Das sind im wesent-
lichen große Maßnahmen wie Neubauten oder Ersatz-
bauten. Die Frage stellt sich also, wo die Mittel im Inve-
stitionsbereich der Krankenhäuser in Zukunft herkom-
men sollen.
Die Antwort ist, wenn auch etwas verschlüsselt, im
Gesetz: Die Krankenhäuser sollen aus ihren Rationali-
sierungsreserven das Geld selbst erwirtschaften, sich wie
Münchhausen selbst am Zopf aus dem Sumpf herauszie-
hen. Das geht nicht ohne Schließen von Krankenhaus-
abteilugen und ganzen Krankenhäusern. Ein Rechenbei-
spiel des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen aus
Niedersachsen weist aus, daß bei einer immer noch sehr
niedrigen Investitionsquote von 7,6 Prozent des gegen-
wärtigen Budgetvolumens dann 10 Prozent der Kran-
kenhausbetten abgebaut werden müßten. Bei einer öko-
nomisch wünschenswerten Quote von 15 Prozent somit
fast das Doppelte. Damit ginge ein entsprechender Ab-
bau von Arbeitsplätzen im Krankenhaus einher, und das
dürfen wir nicht zulassen.
Kein Wunder also, daß den Verantwortlichen und den
Mitarbeitern in den bundesdeutschen Krankenhäusen
angst und bange wird angesichts dieses Gesetzesvorha-
bens, das hier auf einen kalten Verdrängungswettbewerb
setzt. Denn um auch die planungsrechtlichen Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, sollen die Kompetenzen der
Länder ausgehöhlt werden. Sie wären in Zukunft dann
nur noch für die Rahmenplanung in einer Region ver-
antwortlich.
Weil aber die Letztverantwortung dann doch bei den
Ländern bleiben soll, wird auch den Krankenkassen
angst und bange. Aufgrund der unzulänglichen, mehr-
fach korrigierten Ausgestaltung des Gesetzes befürchten
sie, mit der finanziellen Gesamtverantwortung belastet
zu werden, aber ohne ausreichende Steuerungsmöglich-
keiten ohnmächtig zusehen zu müssen, wie die Kosten-
entwicklung landesweit den in ihrer Verantwortung ste-
henden Gesamtbetrag übersteigt. Hier zeigen sich die
Webfehler eines Gesetzes, das Budgetverantwortung
und Budgetsteuerung nicht zusammenführt.
Probleme bekommen die kleinen Krankenhäuser, die
bisher gerade in den Flächenländern entscheidend an der
Versorgung beteiligt waren. Das sind die typischen klei-
nen Krankenhäuser in kommunaler oder kirchlicher
Trägerschaft, die kleinen Krankenhäuser mit den Haupt-
abteilungen Chirurgie und Innere, Gynäkologie und Ge-
burtshilfe und einer HNO-Belegabteilung. Jeder hat sol-
che Krankenhäuser in seinem Wahlkreis. Diesen Kran-
kenhäusern droht das Aus, wenn sie ihre internen
Strukturen, auch die Tarifstrukturen nicht grundlegend
ändern und nicht in der Lage sind, sich in einer Region
mit Schwerpunktbildung in einem größeren Verbund zu
halten.
Begünstigt werden durch diese Entwicklung die Pri-
vatisierung von Krankenhäusern, was in einem gesunden
Trägermix sicher nicht schädlich ist, die Entwicklung
von Zentrenmedizin in Ballungsgebieten, die Entwick-
lung von Fachkliniken und das insbesondere in Klinik-
ketten. Ich sehe hier die Gefahr von Krankenhausver-
sorgung weit ab vom Wohnort unserer Patienten, Rosi-
nenpickerei und Patiententourismus.
Wer das alles will, kann das mit den Gesetzen des
Marktes und einer notwendigen Konkurrenz im Kran-
kenhausbereich und im Gesundheitswesen allgemein
begründen. Nur sind das ökonomische Ansätze, die das
Wohl des Patienten außer acht lassen und die wie vieles
andere einen Griff in eine Kiste darstellen, aus der auch
amerikanische Kostendämpfungsökonomen ihre Instru-
mente holen. Und wenn ich das Gesetz so betrachte,
fallen mir viele Parallelen zu amerikanischen Gesund-
heitssystemen auf. Der Hausarzt als Lotse, im amerika-
nischen „managed-care“-System als „gatekeeper“, der
den Patienten in nachgeordnete Versorgungssysteme
einschleust, die Verpflichtung auf Leitlinien, die ne-
ben einer medizinischen Hilfestellung in Amerika als
„guidelines“ auch wirtschaftliche Gesichtspunkte be-
inhalten, und der Einstieg in eine integrierte Versorgung,
wo Kassen und Ärzte in direkte Vertragsbeziehungen
treten und das bisherige System der Sicherstellung durch
die kassenärztliche Vereinigung tendenziell im Sinne
eines Einkaufsmodells verändert wird.
Ich betrachte es als einen Treppenwitz der Medizin-
geschichte, daß gerade eine SPD-geführte Bundes-
regierung versucht, mit den Instrumenten eines gesund-
heitsökonomischen Profitsystems wesensfremde Ele-
mente einzuführen, ohne die Folgen auf unser soziales
System abzuschätzen. Sicher sind wir dazu aufgeru-
fen, die einzelnen Sektoren miteinander zu verzahnen,
sicher muß es eine Diskussion um die Einnahmeseite in
unserem Gesundheitssystem geben, sicher müssen wir
auch noch mehr als bisher die Rationalisierungsreser-
ven nutzen. Dennoch entbindet uns das alles nicht
von der Pflicht, das bisherige bewährte System in
seinen Grundgedanken zu bewahren und weiterzuent-
wickeln.
Der Ansatz in Ihrem Gesetz, Frau Ministerin, tut ge-
nau das nicht. Das Globalbudget mit seinen katastro-
phalen Auswirkungen, die sich wie klebriger Kleister in
allen Spalten des Gesetzes finden lassen, führt zusam-
men mit den ungeeigneten Instrumenten und den fal-
schen Anreizsystemen zu einer Verschlechterung der
Patientenversorgung und zu einer Demotivierung der
Leistungserbringer. Vermeidung von Leistungen, Ratio-
nierung und letztendlich eine Zweiklassenmedizin wer-
den die Folgen sein. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sor-
gen, daß dieses Gesetz nicht kommt.
5976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
(A) (C)
(B) (D)
Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg) (SPD): Wir
alle wissen, Abbau von Arbeitslosigkeit und Sicherung
einer angemessenen Altersversorgung sind die Themen,
denen die Bevölkerung eine überragende politische Be-
deutung zumißt.
Danach allerdings können bereits die Gewährleistung
einer flächendeckenden, leistungsfähigen gesetzlichen
Krankenversicherung oben anstehen. Das ist mögli-
cherweise in West und Ost identisch. Wen kann es also
verwundern, daß in den neuen Ländern die Sorge
wächst, daß das Leistungsniveau der GKV in ihren Bun-
desländern hinter dem Niveau der alten Bundesländer
zurückbleibt?
Tatsache ist, daß die Ausgaben der gesetzlichen
Krankenversicherung je Versicherten im Osten deutlich
unter den entsprechenden Aufwendungen in den alten
Bundesländern liegen. Derartige Unterschiede nähren
logischerweise Zweifel in bezug auf die Gewährung ei-
nes gleichen Versorgungsniveaus. Zugleich kann nie-
mand die Menschen in den neuen Bundesländern davon
überzeugen, daß wachsende Ansprüche an das Gesund-
heitssystem deshalb mit weniger Geld finanziert werden
können, weil eine Grundlohnsumme von 1997 auf 1998
um rund 0,5 Prozent abgenommen hat, wenn zur glei-
chen Zeit eine positive Grundlohnsumme im Westen zu
einer Vergrößerung der finanziellen Spielräume in der
GKV führt.
Wer dies ändern will, muß etwas tun. Es kann und
darf nicht gewartet werden, bis die ursprünglich festge-
legte Zielmarke – 90prozentige Angleichung der Löhne
und Gehälter – erreicht wird. In erster Linie muß den
Menschen in den neuen Bundesländern in 10 Jahren
nach der Wende die Gewißheit vermittelt werden, daß
sämtliche auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenver-
sicherung noch bestehenden Rechtsunterschiede im Ver-
sicherten-, Beitrags-, Vertrags- und Leistungsrecht zu
einem möglichst frühen Zeitpunkt beseitigt werden. Al-
so keine billige Polemik, ob der Risikostrukturausgleich
als ein Rechtsanspruch zu sehen sei oder als Almosen
für die schwächeren Länder, vielmehr Beseitigung
sämtlicher Rechtsunterschiede, was heißen soll: Rechts-
angleichung!
Meine persönliche Überzeugung ist: Nicht die
schrittweise Einführung eines uneingeschränkten ge-
samtdeutschen Risikostrukturausgleiches ist begrün-
dungspflichtig, sondern vielmehr die Beibehaltung ge-
trennter Rechtskreise Ost-West. Denn: Genauso wie der
RSA als Ausgleich von Einkommensunterschieden zwi-
schen München und dem Emsland Sinn macht, macht er
Sinn zwischen West und Ost. Logischerweise wird der
Abbau der Sozialmauer nicht zum Nulltarif zu haben
sein. Natürlich kann ein vollständiger gesamtdeutscher
RSA nur stufenweise verwirklicht werden, um Verwer-
fungen zu Lasten der alten Bundesländer zu vermeiden.
Dabei wird die Beseitigung der Unterschiede bei der
Versicherungspflicht und der Beitragsbemessungsgrenze
Menschen mit höheren Verdiensten zugunsten der
Finanzkraft der Krankenkassen nicht unerheblich be-
lasten. Das gleiche gilt für alle Versicherten, wenn die
Unterschiede bei den Zuzahlungs- und Härtefallregelun-
gen aufgehoben werden. Deswegen noch einmal in aller
Deutlichkeit: Zum Nulltarif wird der Abbau der soge-
nannten Sozialmauer nicht zu haben sein. Denn zu-
sammen mit einer schrittweisen Herstellung eines voll-
ständigen gesamtdeutschen RSA stellen die genannten
Maßnahmen gleichwohl notwendige Bedingungen für
die dauerhafte Gewährleistung eines in Ost und West
gleichen Versorgungsniveaus dar.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ein paar
Gedanken zur Problematik der einmaligen Entschul-
dungsaktion der Ostkassen, insbesondere der AOK-Ost.
An anderen Stellen wurde heute bereits mehrfach über
die entstandenen Schulden gesprochen. Diese Schulden
können nicht insgesamt dem AOK-System angelastet
werden. Sie sind auch keineswegs – wie von interes-
sierter Seite behauptet wird – etwa aufgrund unterlasse-
ner Beitragsanhebungen oder anderer Formen eines
„Mißmanagements selbstverschuldet“. Die AOKen in
den betreffenden Bundesländern liegen und lagen mit ih-
ren Beitragssätzen ohnehin an der ungeliebten Spitze der
Beitragssätze aller Krankenkassen. Eine „frühzeitige“
Anhebung dieser Beitragssätze hätte demzufolge das
Ziel der Vermeidung von Defiziten nicht realisiert, son-
dern einen beschleunigten Verlust von Mitgliedern be-
wirkt und damit die Existenzfähigkeit dieser Kassen
nachhaltig in Frage gestellt. Übrigens: Die Ausgangssi-
tuation der AOK in meinem Bundesland – Mecklen-
burg-Vorpommern – ist denkbar schlecht gewesen.
Gleich nach der Wende mußte unsere AOK einen Bei-
tragssatz von 14,9 Prozent erheben.
Zur Situationsschilderung ein paar unwiderlegbare
Zahlen aus meinem Bundesland: Die AOK Mecklen-
burg-Vorpommern hat 25 Prozent ihrer Mitglieder ver-
loren. Zugleich ist der Anteil der Härtefälle von 26 Pro-
zent auf 34 Prozent der Versicherten gestiegen. 80 Pro-
zent aller Diabetiker nehmen die Leistungen der AOK in
Anspruch. Insgesamt kann bzw. muß festgestellt wer-
den: Die Mitglieder der AOK weisen eindeutig ein er-
höhtes Morbiditätsrisiko auf. Wer in dieser Situation
einen Solidarbeitrag verweigern will, muß wissen, daß
die Schließung auch nur einer einzigen AOK in den
neuen Bundesländern den Ersatzkassen weit höhere
Kosten verursachen würde.
Man könnte auch die Frage stellen: Was passiert,
wenn nichts passiert? Das muß uns allen klar sein: An-
hebung der Beitragssätze, Exodus der Mitglieder, die
Aufsicht schließt die Kasse, hin zu den Ersatzkassen.
Das AOK-System allein schafft es nicht. Wichtig und
notwendig ist ein Blick nach vorn. Mit der angeführten
Hilfeleistung allein ist es freilich nicht getan. Wer die
Folgen von Wettbewerbsverzerrungen im Verhältnis der
Kassen untereinander vermeiden will, muß bereit sein,
die Ursachen zu beheben, die zu diesen Verwerfungen
führen. Weder die Armut noch die Morbidität der Ver-
sicherten dürfen das Konkurrenzverhalten der Kranken-
kassen beeinflussen, wenn die gesetzliche Kranken-
versicherung in Deutschland auch in Zukunft auf dem
Prinzip der Solidarität fußen soll. Dies gilt im übri-
gen für den Westen nicht weniger als für den Osten,
nur daß die Folgen von erfolgreichen Risikoselektio-
nen zur Zeit im Osten deutlicher als im Westen hervor-
treten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5977
(A) (C)
(B) (D)
Meine Bitte oder besser mein Appell – ich spreche
alle Abgeordneten an, insbesondere die Mitglieder der
Opposition aus den neuen Ländern –. Es muß uns gelin-
gen, den Menschen in den neuen Bundesländern ein Si-
gnal zu geben, eine Perspektive, daß wir ernsthafte und
glaubwürdige Schritte unternehmen, noch bestehende
Rechtsunterschiede auf dem so wichtigen Feld der
Krankenversicherung und des Gesundheitswesens abzu-
bauen – möglichst im breiten Konsens.
Ulf Fink (CDU/CSU): Wenn diese Gesundheitsre-
form scheitert – und sie wird scheitern –, bedeutet das
kein Unglück für die Beitragssätze und die Qualität des
deutschen Gesundheitswesens.
Im Gegenteil.
Mit Ausnahme der Hilfe für die notleidenden ostdeut-
schen Krankenkassen besteht keinerlei unabweisbarer
Gesetzgebungsbedarf. Trotzdem erweckt diese Bundes-
regierung permanent den Eindruck als ob nur durch neue
Gesetze und Verordnungen die Dinge geordnet werden
könnten.
Die Bundesregierung verwechselt das deutsche Ge-
sundheitswesen mit dem in Großbritannien, wo alles
vom Staat reguliert wird. Wir haben – Gott sei Dank –
wichtige Teile den Vertragspartnern, also den Kranken-
kassen und den Leistungserbringern, überantwortet. Die
Vertragsbedingungen könnten besser sein, aber es gibt
sie.
Und um in diesem Zusammenhang mit einem weit
verbreiteten Vorurteil aufzuräumen:
Im § 70 SGB V steht:
Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben
eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ent-
sprechende Versorgung der Versicherten zu gewährlei-
sten.
So weit, so gut.
Doch finden wir im SGB V auch etwas zum wichti-
gen Punkt der Beitragssatzstabilität. Im § 71 heißt es
nämlich:
Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben
in den Vereinbarungen über die Vergütung der Leistun-
gen den Grundsatz der Beitragsstabilität zu beachten.
Die Forderung nach Beitragssatzstabilität ist also kei-
ne Erfindung dieser Bundesregierung. Sie steht bereits
im Gesetz.
Diese beiden Forderungen, nämlich medizinischer
Fortschritt für alle und Beitragssatzstabilität, können
miteinander konkurrieren. Es sind die Schiedsämter, die
im Zweifelsfall diesen Konflikt zu lösen haben. Wenn
man der Meinung ist, es müßte etwas Ergänzendes getan
werden, dann müßte man hier ansetzen.
Diesen Konflikt aber durch ein bürokratisches Mon-
strum wie ein Globalbudget, und durch eine ergänzende
Kommission für den medizinischen Fortschritt lösen zu
wollen, sollte allerdings dahin befördert werden, wo sie
hingehörten: In den Papierkorb.
Wie kann es nach dem Scheitern der Gesundheitsre-
form weitergehen?
Die CDU hat unter meinem Vorsitz eine Kommission
eingesetzt, die sich mit der Weiterentwicklung des Ge-
sundheitswesens beschäftigt. Wir werden unsere Vor-
schläge im Laufe des nächsten Jahres vorlegen.
Hierbei lassen wir uns von folgenden Überlegungen
leiten:
Erstens. Es gibt kein Gesundheitswesen in der Welt,
das darauf verzichten kann, daß sich der einzelne Ver-
sicherte auch selber um seine Gesundheit kümmert.
Eigenverantwortung muß deshalb gestärkt und nicht
abgebaut werden. Härte- und Überforderungsklauseln
können für eine notwendige soziale Abfederung sorgen.
Zweitens. Kein Gesundheitswesen in der Welt kann
mit begrenzten Mitteln unbegrenzte Leistungen verspre-
chen. Der der gesetzlichen Krankenversicherung
zugrunde liegende Gedanke der Solidarität heißt, daß
auf der einen Seite die Krankenversicherung für die Ri-
siken aufkommen muß, die der einzelne nicht selber tra-
gen kann. Auf der anderen Seite jedoch muß der einzel-
ne aber für die Risiken, die er selbst tragen kann, auch
selber aufkommen. Es gilt deshalb eine Neudefinition zu
wagen, was künftig kollektiv finanziert und was privat
finanziert werden muß.
Drittens. Es muß geprüft werden, ob man dem einzel-
nen Versicherten nicht mehr Wahlmöglichkeiten eröff-
nen sollte, er ein knappes Leistungspaket zu einem ge-
ringerem Beitrag oder ein größeres Leistungspaket, dann
aber mit einem höheren Beitrag wünscht. Wir schreiben
ja auch sonst niemandem vor, sich zum Beispiel einen
BMW oder Mercedes zu kaufen, wenn er mit einem VW
zufrieden ist.
Viertens. Das Leistungspaket muß ausreichen,
zweckmäßig und wirtschaftlich erbracht werden. Um
dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir nicht mehr staat-
liche Regelungen und Vorgaben, sondern wir müssen
die Rechte der Vertragspartner stärken. Ziel hierbei muß
die Schaffung einer solidarischen Wettbewerbsordnung
auf diesem Feld sein.
Fünftens. Die Finanzierung des Krankenversiche-
rungssystem erfolgt bisher über die Anbindung an den
Lohn. Ich halte dies grundsätzlich für richtig. Mit der
Lohnentwicklung allein werden wir aber den medizini-
schen Fortschritt nicht finanzieren können. Wir müssen
deshalb bereit sein, die Lohnanbindung zu modifizieren
oder zumindest doch zu ergänzen.
Das deutsche Gesundheitswesen zeichnet sich durch
eine Mischung von Elementen aus Staat und Markt aus.
Wir wollen nicht lediglich auf Markt setzen, denn die
Gesundheit ist, da werden wir uns einig sein, ein beson-
ders zu schützendes Gut.
Das marktwirtschaftlich orientierte System der USA
kann also mitnichten ein Vorbild sein, denn für große
Teile der Bevölkerung dort gilt, daß man in den USA
zwar alles werden kann, nur nicht krank. Die Entwick-
lungen in den planwirtschaftlichen Systemen, in denen
man ab einem bestimmten Alter wichtige medizinische
5978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
(A) (C)
(B) (D)
Hilfestellung nicht mehr bekommt, sind so offensicht-
lich inhuman, daß ich hierauf nicht weiter eingehen
möchte.
Wir brauchen also eine ausgewogene Balance zwi-
schen diesen Polen, um unser Gesundheitswesen weiter-
entwickeln zu können. Der vorliegende Gesetzentwurf
dieser Bundesregierung läßt diese Balance jedoch
schmerzlich vermissen. Er ist ein falscher Schritt in
Richtung auf mehr Reglementierung, mehr Planwirt-
schaft und daher hin zur Zwei-Klassen-Medizin.
Wir wollen das nicht. Wir wollen etwas anderes:
Wir wollen weniger Reglementierung, mehr Eigen-
verantwortung, mehr Wettbewerb.
Wenn die Regierungskoalition ihre falsche Richtung
nicht ändert, kann sie unsere Zustimmung nicht bekom-
men.
Für eine Gesundheitsreform in der von mir aufge-
zeigten Richtung kann sie jederzeit auf uns rechnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einbürgerungsver-
fahren human gestalten – Einbürgerungshin-
dernisse beseitigen (Tagesordnungspunkt 10)
Meinrad Belle (CDU/CSU): „Einbürgerungsverfah-
ren human gestalten“, das ist toll, das hört sich gut an.
Das ist eine Zielvorgabe, die wir alle unterschreiben
können. Schwieriger wird es, wenn es an die Ausge-
staltung im einzelnen geht.
Trotzdem, wir waren gar nicht gänzlich abgeneigt, als
uns im Juli die Initiative der SPD-Kollegen, damals be-
schränkt auf den Iran, bekannt wurde. Einfach deshalb,
weil der Iran auch in unseren Augen einen Sonderfall
darstellt. Skeptischer wurden wir, als wir dann erfahren
konnte, daß der Antrag auch auf die verschiedensten Ein-
zelfälle bei jugoslawischen Staatsangehörigen ausge-
weitet werden sollte. Ablehnen mußten wir aber den Ent-
schließungsantrag, als uns der Arbeitsentwurf der Ver-
waltungsvorschriften und das bisherige Abstimmungs-
verfahren zwischen Bund und Ländern bekannt wurde.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien
und die F.D.P. haben das neue Staatsangehörigkeitsge-
setz mit all seinen problematischen Teilregelungen ge-
gen unseren entschiedenen und ausführlich begründeten
Widerstand durchgesetzt. Der vorgelegte Arbeitsentwurf
von Verwaltungsvorschriften zu den staatsangehörig-
keitsrechtlichen Regelungen vertieft in einer Reihe von
Punkten die bedenkliche Tendenz dieses Gesetzes und
erweitert beispielsweise die Ausnahmetatbestände der
Hinnahme von Mehrstaatlichkeit noch darüber hinaus.
Das Ziel Ihres heutigen Entschließungsantrags ist durch
Einführung der länderspezifischen Regelungen für Iran
und Jugoslawien letztlich die vermehrte Hinnahme von
Mehrstaatlichkeit. Mit schönen Erklärungen verbrämt,
täuschen Sie die Öffentlichkeit. Dieses Spiel spielen wir
nicht mit.
1. Selbstverständlich ist natürlich auch für uns, daß
das Einbürgerungsverfahren human zu gestalten ist. Die
Verwaltungsvorschriften dürfen keine unnötigen Er-
schwernisse, Schikanen usw. enthalten. Die bürokrati-
schen Erfordernisse sind auf das geringste Maß zu redu-
zieren. Die Vorschriften müssen bürgerfreundlich ge-
staltet sein. Aber die gesetzlichen Grundlagen müssen
auf jeden Fall umgesetzt werden; sie können und dürfen
aus unserer Sicht nicht durch Verwaltungsvorschriften
aufgeweicht werden.
2. Es ist systemwidrig, ja grundsätzlich falsch, län-
derspezifische Regelungen, die dazu noch auf eine mo-
mentane Ausnahmesituation bezogen sind, in allgemei-
nen Verwaltungsvorschriften aufzunehmen, Verwal-
tungsvorschriften, auch deren Änderungen, bedürfen der
Zustimmung des Bundesrates. Die notwendige Flexibi-
lität ist nicht gegeben, denn es ist nicht möglich, derarti-
ge Regelungswerke kurzfristig an aktuelle politische
Entwicklungen, wie etwa den Kosovo-Konflikt, anzu-
passen. Daher ist es sinnvoll – wie z.B. bisher bei der
Absprache auf Bund-Länder-Ebene zur Einbürgerung
jugoslawischer Staatsbürger – punktuelle Einzelabspra-
chen zu treffen. Sie sind kurzfristig veränderbar. Dieses
Verfahren trägt den Erfordernissen einer flexiblen Ver-
fahrensweise in der Verwaltung in vollem Umfange
Rechnung.
3. Betrachtet man den ursprünglichen Arbeitsentwurf
der allgemeinen Verwaltungsvorschriften – der endgül-
tige Kabinettsentwurf liegt uns ja noch nicht vor – so
wird deutlich, daß Gesetzesbestimmungen abgeschwächt
und unzulässig erweitert ausgelegt werden. Hier ist doch
die Absicht förmlich zu greifen, die Zahl der Einbürge-
rung unter Hinnahme von Mehrstaatlichkeit zu erweitern.
– Die Ermessenseinbürgerung soll bereits nach 6 Jahren
erfolgen, nachdem die Anspruchseinbürgerung min-
destens 8 Jahre Aufenthalt in Deutschland erfordern.
Die Unterbrechung dieses 8-jährigen Aufenthalts in
Deutschland durch längeren Aufenthalt im Heimat-
land soll unschädlich werden.
– Die Möglichkeiten für die Hinnahme der Mehrstaat-
lichkeit werden über den Gesetzestext hinaus ausge-
dehnt. Mehrstaatlichkeit wird nicht nur geduldet,
sondern z.B. durch eine weite Interpretation des Be-
griffs „wirtschaftliche Nachteile“ geradezu gefördert.
(Wenn der Heimatstaat die Veräußerung von Grund-
besitz verlangt, auch wenn der Ausländer dafür den
vollen Gegenwert erhält und transferieren kann.) Ein
anerkannter Asylbewerber soll danach auch dann oh-
ne Verzicht auf seine Staatsangehörigkeit Deutscher
werden können, wenn der Asylgrund längst wegge-
fallen ist.
– Das Bekenntnis zur Verfassung wird zu einer Forma-
lität herabgewürdigt. Eine Regelanfrage beim Verfas-
sungsschutz ist nicht vorgesehen. Eine Prüfung, ob
sich der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindlich
betätigt hat, wird nicht verlangt.
– Die Integrationsanforderungen werden beträchtlich
eingeschränkt. Zum Nachweis deutscher Sprach-
kenntnisse ist weder ein Zeugnis noch eine Prüfung
vorgesehen; ausreichend soll sein, daß sich der Ein-
bürgerungsbewerber „verständlich machen kann“.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5979
(A) (C)
(B) (D)
Mit solchen Zielsetzungen mißbrauchen Sie geradezu
die Grundanforderungen an eine gesetzeskonforme
Verwaltungsvorschrift. Verwaltungsvorschriften sollen
unbestimmte Rechtsbegriffe erläutern, sollen Ermes-
sensentscheidungen ausfüllen und eine bundesweit
gleichmäßige Ausführung des Rechtes sicherstellen. Wir
mußten zur Kenntnis nehmen, daß die bisherigen
Bund/Länder-Gespräche, auch die Gespräche in der
„offenen Arbeitsgruppe“ im Oktober, an denen unter
anderem einzelne Städte und der Städtetag teilgenom-
men haben, in keinem einzigen Punkt eine endgültige
Festlegung und Einigung über Veränderungsvorschläge
erbracht haben. Erwähnenswert ist, daß auf der Arbeits-
ebene die Mehrheit aller Bundesländer und auch die
Vertreter der Kommunen den Arbeitsentwurf für in
hohem Maße verbesserungsbedürftig halten. In diesen
Gesprächen hat sich das Bundesinnenministerium die
Übernahme der Änderungsvorschläge jeweils vorbehal-
ten bzw. von der Zustimmung der Leitung und sonstiger
Entscheidungsträger abhängig gemacht.
Zusammenfassend stelle ich fest: Sie gehen mit die-
sem Arbeitsentwurf der Verwaltungsvorschriften und
mit diesem Entschließungsantrag den falschen Weg. Wir
lehnen daher den Entschließungsantrag heute ab.
Abschließend appelliere ich an die Bundesregierung,
ernsthaft die Einigung über die Verwaltungsvorschriften
mit dem Bundesrat zu suchen. Auch aus unserer Sicht
wäre es keineswegs wünschenswert, das neue Staats-
angehörigkeitsrecht in den einzelnen Bundesländern
nach unterschiedlichen Verwaltungsvorschriften zu voll-
ziehen.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes haben wir
im Frühjahr einen entscheidenden Schritt getan. Wir ha-
ben dem Ius Sanguinis endlich ein würdiges Staatsbe-
gräbnis bereitet und unsere Gesetzgebung dem europäi-
schen Standart angepaßt. Ab dem 1. Januar 2000 werden
Kinder ausländischer Herkunft, die in Deutschland ge-
boren werden, nicht mehr grundsätzlich und automatisch
Ausländer im eigenen Land sein. Ich freue mich über
diese Reform. Ich gebe das hier in aller Offenheit zu.
Denn ich habe selbst erfahren, was es bedeutet, die Hür-
den zur deutschen Staatsangehörigkeit zu überspringen.
Ich weiß, welche Klippen es zu umschiffen gibt, um den
Paß des Landes in Händen zu halten, zu dem man sich
zugehörig und mit dem man sich verbunden fühlt.
Das neue Staatsangehörigkeitsrecht löst viele Pro-
bleme. Ein besonderes Problem löst es jedoch nicht be-
friedigend. Eines, das mit dem Schlagwort Doppelpaß
bekannt geworden ist. Unsere ursprüngliche Intention
bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes war
nicht – wie die Union in ihrer beispiellosen Kampagne
behauptet hat – die Einführung der doppelten Staatsan-
gehörigkeit. Nein, das war sie nicht. Wir wollten und
wollen den Doppelpaß vielmehr für diejenigen ermögli-
chen, denen es durch ihre Ursprungsländer unendlich
schwer gemacht wird, die alte Staatsangehörigkeit ab-
zulegen. Länder wie der Iran, die Türkei oder Jugosla-
wien bauen große Hürden auf. Man kann nicht einfach
zum Konsulat gehen und seinen Paß abgeben – und
schon stellt die deutsche Behörde den deutschen Paß
aus. Ich selbst habe über zwei Jahre auf die Ausbürge-
rung gewartet.
Ich will Ihnen einige Beispiele aus meiner Arbeit
nennen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein iranischer
Staatsangehöriger an meine Tür klopft und um Hilfe
bittet. Der Iran weigert sich standhaft, seine Bürgerinnen
und Bürger aus der Staatsangehörigkeit zu entlassen.
Egal, wie lange diese Menschen schon in Deutschland
sind: 10 Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre. Egal, ob sie Arbeiter,
Ärztinnen oder Studenten sind. Und die deutschen Be-
hörden? Sie bürgern so lange nicht ein, bis der An-
tragsteller oder die Antragstellerin den Nachweis er-
bringt, die ursprüngliche Staatsangehörigkeit verloren zu
haben. Das heißt, sie können in der Regel bis zum St.
Nimmerleinstag warten – als Menschen, die ihre Wur-
zeln schon lange in unserem Land geschlagen haben und
die ihren Beitrag zur Kultur und zum Wohlstand dieses
Landes leisten. Und noch ein Aspekt darf nicht verges-
sen werden: In vielen Fällen ist es eigentlich unzumut-
bar, daß Menschen, die in ihrer Heimat mißhandelt, ge-
foltert oder verfolgt wurden, wieder und wieder zu den
Konsulaten oder Botschaften gehen müssen, um um
Ausbürgerung zu bitten.
Anderes Beispiel: Jugoslawien. Auch hier weigert
sich der Staat, seine Bürgerinnen und Bürger zu entlas-
sen – jedoch nicht aus ideologischen Gründen wie der
Iran. Hier spielt schlichtweg der schnöde Mammon die
Hauptrolle: Jugoslawien entläßt aus der Staatsbürger-
schaft, wenn man nur genug Gebühren bezahlt, mit
einem Wort: sich freikauft.
Hier erlauben Sie mir eine Bemerkung zum Innense-
nator dieser schönen Stadt Berlin. Herr Werthebach ver-
sucht offensichtlich, den Kollegen Beckstein rechts zu
überholen. Ich wundere mich, daß der sich das gefallen
läßt. Aber sei’s drum: Daß diese Gebühren gegen das
Finanzembargo der EU verstoßen, ist klar. Um aber die
doppelte Staatsangehörigkeit – und damit also die Ein-
bürgerung – von Jugoslawen, Serben oder Montenegri-
nern zu verhindern, greift Herr Werthebach zu einem
miesen Trick. Er schöpft nicht die Mittel des Rechts aus,
sondern weist seine Behörden an, Menschen aus Restju-
goslawien nicht mehr einzubürgen. So einfach ist das.
Ich nenne eine solche Politik schlichtweg skandalös und
unmenschlich.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
im Gesetz (§ 87 AusländerG) festgelegt, daß bei unzu-
mutbaren Bedingungen für die Entlassung aus der
Staatsangehörigkeit die Mehrstaatigkeit hingenommen
werden kann. Dies sollte nun auch konsequent in die
Verwaltungsvorschriften übernommen werden.
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, daß die
Intention der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in
den Verwaltungsvorschriften, die von Bund und Län-
dern zur Zeit verhandelt werden, nicht verwässert wird.
Die Bundesregierung kann dabei unseren Rückenwind
gut brauchen.
In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu un-
serem Antrag.
Vielen Dank.
5980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Max Stadler (F.D.P.).: Bei der Reform des
Staatsangehörigkeitsrechts haben wir aus guten Gründen
am Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit fest-
gehalten. Aber: keine Regel ohne Ausnahme! Schon
nach dem alten Staatsangehörigkeitsrecht gab es einige
Fallgestaltungen, bei denen eine doppelte Staatsangehö-
rigkeit hingenommen wurde. Insbesondere war dies
schon immer so, wenn es in Einzelfällen Bewerbern, die
sich in der Bundesrepublik Deutschland einbürgern las-
sen wollten, unzumutbar gewesen ist, ihre alte Staatsan-
gehörigkeit aufzugeben.
Im Gesetzgebungsverfahren war man sich quer über
alle Fraktionen hinweg einig, daß vor allem Einbürge-
rungsbewerber aus dem Iran große Probleme haben, die
Voraussetzung der Aufgabe ihrer bisherigen Staatsange-
hörigkeit zu erfüllen. Es war allgemeine Meinung, daß
die Verwaltungsbehörden in diesen Fällen ausnahms-
weise die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptieren
sollten. Auch die F.D.P. hat dies in ihren Stellungnah-
men zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zum
Ausdruck gebracht.
Übrigens gibt es Analogprobleme auch in anderen
Fällen, die bei der Reform des Staatsangehörigkeits-
rechts nicht im Zentrum der Überlegungen standen. So
haben Deutsche, die etwa als Geschäftsleute oder Wis-
senschaftler in der Türkei tätig sind, große Schwierig-
keiten, weil die deutsche – nicht die türkische! – Gesetz-
gebung ihnen die doppelte Staatsbürgerschaft verwehrt.
Diese Probleme treffen insbesondere auch Frauen.
Da es rechtstechnisch kaum möglich war, Ausnahme-
fälle, die sich auf ein bestimmtes Herkunftsland bezie-
hen, im Gesetz festzulegen, bleibt zunächst nur der Ap-
pell an die Verwaltungsbehörden, das Einbürgerungs-
recht in der Praxis vernünftig zu vollziehen. Dies gilt,
wie sich zwischenzeitlich gezeigt hat, auch in bezug auf
Einbürgerungsbewerber aus der Bundesrepublik Jugo-
slawien. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt da-
her den Appell an die Verwaltungsbehörden, den die
Regierungsfraktionen in dem vorliegenden Antrag for-
muliert haben.
Noch besser als ein Appell wäre freilich der Erlaß
entsprechender Verwaltungsrichtlinien. Dem Verneh-
men nach ist eine Einigung zwischen dem Bund und den
Ländern hierüber jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil:
Manche Bundesländer, wie etwa Bayern, versuchen auf
dem Umweg über die Verwaltungsvorschriften den libe-
ralen Geist des neuen Staatsangehörigkeitsrechts zu
konterkarieren. Die F.D.P.-Fraktion nimmt daher die
heutige Debatte zum Anlaß, diese Länder aufzufordern,
in den Verwaltungsrichtlinien den Absichten des Ge-
setzgebers voll zu entsprechen. Eine unterschiedliche
Verwaltungspraxis in den verschiedenen Bundesländern
kann aus naheliegenden Gründen niemand wollen.
Die Länder müssen als Exekutive den Primat der Ge-
setzgebung anerkennen. Wir wollen nicht die regelmä-
ßige doppelte Staatsangehörigkeit gleichsam durch die
Hintertüre, aber wir wollen die vernünftige und ange-
messene Einzelfallentscheidung, bei der aus Zumutbar-
keitserwägungen heraus als Ausnahme auch die Doppel-
staatigkeit hingenommen wird.
Ulla Jelpke (PDS): Es ist schon etwas eigenartig,
wenn die beiden Regierungsparteien einen Antrag ein-
bringen, in dem sie die von ihnen selbst gestellte Bun-
desregierung um einen Gefallen bitten. Wie viele Anträ-
ge sollen wir hier eigentlich noch behandeln, um Ihren
eigenen Bundesinnenminister zu bändigen? Und wie oft
wollen Sie Innenminister Schily noch bitten, ein von Ih-
nen selbst erst in diesem Sommer verabschiedetes Ge-
setz doch bitte großzügig auszulegen und anzuwenden?
Sicher, da sind auch noch die Unionsparteien. Ganz
offensichtlich sind nun auch die Verwaltungsrichtlinien
zur Durchführung des demnächst in Kraft tretenden neu-
en Staatsbürgerschaftsrechts umstritten. Die Unionspar-
teien wollen ihre Kampagne gegen dieses Gesetz fort-
setzen, indem sie nun auf dem Verwaltungsweg soviel
wie nur irgend möglich zu blockieren versuchen. Und
dem Bundesinnenminister – so verstehe ich jedenfalls
ihren Antrag – ist offenbar mehr an einer Zusammen-
arbeit mit CDU und CSU gelegen als an der mit den
eigenen Regierungsparteien. Das ist schon eine bizarre
Situation.
Ich erinnere daran: Wir haben zu den hier angespro-
chenen Problemen von Menschen aus dem Iran beim
Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft bereits bei der
Beratung Ihres Staatsangehörigkeitsgesetzes im Frühjahr
eine Präzisierung des damaligen Gesetzentwurfes bean-
tragt. Wir hatten beantragt, § 86 des Ausländergesetzes,
der die Fälle von Hinnahme von Mehrstaatlichkeit re-
gelt, so zu präzisieren, daß Menschen, die ohne eigenes
Verschulden länger als ein Jahr auf die Entlassung aus
ihrer alten Staatsbürgerschaft warten und bei denen
sonst kein weiterer Grund gegen die Verleihung der
deutschen Staatsbürgerschaft besteht, diese dann notfalls
eben auch ohne Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit
erhalten. Damals haben Sie unseren Antrag abgelehnt.
Ich finde, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit muß
in Fällen wie den von Ihnen genannten Menschen eben-
so wie bei den Menschen aus Jugoslawien eine Selbst-
verständlichkeit sein. Ich finde es – das will ich hier
auch sagen – einfach skandalös, wenn nun offenbar
einzelne Landesregierungen darangehen, unter Hinweis
auf das Finanz- und Wirtschaftsembargo der EU gegen
Jugoslawien sämtliche Einbürgerungsanträge von Men-
schen aus Jugoslawien zu blockieren. Sollen diese
Menschen jetzt etwa dafür bestraft werden, daß sie aus
Jugoslawien kommen? Wenn ihnen die deutsche Staats-
bürgerschaft verweigert wird, weil sie zur Entlassung
aus der jugoslawischen Staatsbürgerschaft Gebühren
nach Belgrad zahlen müßten, diese Gebühren aber unter
das EU-Wirtschaftsembargo fallen, ist das in meinen
Augen rechtswidrig und inhuman. Das muß sofort auf-
hören.
Im übrigen will ich zum Schluß noch anmerken, daß
die Probleme der Menschen im Zusammenhang mit dem
weitgehenden Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft
nach allem, was ich höre, sehr viel größer sind als die
hier von SPD und Grünen angesprochenen Fälle von
Menschen aus dem Iran und aus Jugoslawien. Die heuti-
ge Debatte wird also ganz sicher nicht die letzte sein, auf
der wir über die Probleme bei der Umsetzung des neuen
Staatsbürgerschaftsrechts sprechen müssen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5981
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
abschließenden Regelung offener Vermögens-
fragen in Bezug auf Wohngrundstücke im Bei-
trittsgebiet (Tagesordnungspunkt 11)
Hans-Joachim Hacker (SPD): Der vorliegende Ge-
setzentwurf der PDS-Fraktion gehört zu mehreren par-
lamentarischen Initiativen, die die PDS in den letzten
Monaten auf den Weg gebracht hat und in denen sie
Probleme in den neuen Ländern aufgreift. Es ist unver-
kennbar, daß die im vorliegenden Gesetzentwurf ange-
sprochenen Probleme zum Zeitpunkt der deutschen Ein-
heit bestanden haben. Trotzdem muß bereits beim ersten
Blick auf den Gesetzentwurf gesagt werden, daß die
PDS-Fraktion keine Lösungen anbietet, die für die Be-
troffenen mehr Rechtssicherheit bringen.
Richtig ist die Kritik am Prinzip Rückgabe vor Ent-
schädigung, das im Zuge der deutschen Einheit unter
der konservativ-liberalen Koalition durchgesetzt wurde.
Dieses Prinzip hat in seiner ideologischen Ausprägung
zu Verunsicherungen bei Grundstücks- und Gebäude-
nutzern in den neuen Ländern geführt. Es war zugleich
eine riesige Investitionsblockade und hat die im Aufbau
befindliche Verwaltung in den neuen Ländern massiv
behindert.
Wie bei anderen Gesetzentwürfen zu Problemen in
den neuen Ländern setzt sich die PDS auch bei diesem
Gesetzentwurf nicht mit den von ihrer Vorgängerpartei
verschuldeten Ursachen auseinander. Die eigentümer-
feindliche Politik in der DDR war es, die dem gesamt-
deutschen Gesetzgeber einen Berg ungelöster Probleme
hinterlassen hat. Diese konnten nicht im Wege einer
populistischen Klientelpolitik gelöst werden, sondern
nach den rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen
Grundsätzen der Bundesrepublik Deutschland. Ich wie-
derhole an dieser Stelle die Kritik an der Politik der
früheren Bundesregierung und der sie tragenden Frak-
tionen, daß die Handlungsspielräume im Interesse des
Schutzes der redlichen Erwerber und Nutzer von
Grundstücken und Gebäuden in den neuen Ländern
nicht optimal und auch nicht zügig ausgeschöpft wur-
den. Dieses bleibt ein dauerhafter Minuspunkt auf dem
Konto der früheren Bundesregierung.
Zur Wahrheit gehört aber auch, daß, obwohl die PDS
die Kritik gegen das Prinzip Rückgabe vor Entschädi-
gung ausspricht, sie dabei verschweigt, daß der erste Re-
stitutionsfall unter der damaligen Verantwortung ihres
Ehrenvorsitzenden Modrow geschaffen wurde. Es han-
delt sich hierbei um die Rückgabe der 1972 in Volksei-
gentum überführten Betriebe mit staatlicher Beteiligung.
Dieses muß der PDS ins Stammbuch geschrieben wer-
den: Unter politischer Verantwortung, für die sie einzu-
stehen hat, sind Rechtssachverhalte geschaffen worden,
die heute nicht in der Weise gelöst werden können, wie
das aus den Gesetzentwürfen und Anträgen der PDS-
Fraktion zu entnehmen ist. Wunsch und Realität liegen
also weit auseinander. Und weiterhin benutzt die PDS-
Fraktion die Vermögensfragen als Spalterthema, wenn
sie behauptet, dieses wäre der reine Konflikt zwischen
Westeigentümern und Ostnutzern. Tatsächlich gibt es
eine Dominanz bei den Restitutionsansprüchen von
Bürgern aus den alten Ländern. Richtig ist aber auch,
daß eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern aus den
neuen Ländern, die von Eigentumseingriffen während
der DDR-Zeit betroffen waren, Rückgabeansprüche ge-
stellt haben.
Ich möchte nun auf einige im Gesetzentwurf enthal-
tene Vorschläge eingehen: Der Gesetzentwurf der PDS
enthält in Art. 1 Vorschläge zur Veränderung des Ver-
mögensgesetzes. Es geht hierbei um eine Neuregelung
des redlichen Erwerbs im § 4 Absatz 2 Vermögensge-
setz. Wer die Historie der Auseinandersetzung über die-
sen Tatbestand kennt, weiß, daß die SPD-Bundestags-
fraktion und insbesondere die Länder Brandenburg und
Sachsen-Anhalt in den zurückliegenden Jahren bei jeder
Gelegenheit eine Verbesserung des Rechtsschutzes der
redlichen Erwerber eingefordert und konkrete Vorschlä-
ge dazu vorgelegt haben. Der jetzige Wortlaut des § 4
Absatz 2 Vermögensgesetz ist das Ergebnis langwieriger
und komplizierter Verhandlungen in den Gremien des
Deutschen Bundestages und des Bundesrates sowie im
Vermittlungsausschuß. Auch uns ging es immer darum,
redliche Rechtsgeschäfte, die bis zum Tag der deutschen
Einheit abgeschlossen worden sind, im Bestand zu
schützen und damit den betroffenen Familien Rechts-
schutz und soziale Sicherheit zu garantieren.
Nicht zu leugnen ist, daß es nach dem Erlaß des so-
genannten Modrow-Kauf-Gesetzes in Tausenden Fällen
Anbahnungen im Grundstückserwerb gegeben hat. Die
Rechtswirksamkeit dieser Handlungen mußte bei der
Gesetzgebung jedoch an Kriterien gemessen werden, die
einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Inso-
fern ist die jetzige Regelung des § 4 Absatz 2 Vermö-
gensgesetz der Versuch, die damaligen Verhältnisse in
der DDR durch neues Recht zu gestalten und dabei auch
die damaligen Lebensrealitäten zu berücksichtigen. Ich
wiederhole mich, wenn ich sage, daß im Einigungsver-
trag und in der Folgegesetzgebung ein weitergehender
Rechtsschutz für die redlichen Erwerber und Nutzer in
den neuen Ländern möglich gewesen wäre. CDU/CSU
und F.D.P. haben das damals blockiert.
Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, die sich auch
auf Rückgabeansprüche nach dem Vermögensgesetz be-
zieht, schließt es aus, heute noch einmal die Stunde Null
zu proben. Dies ist jedoch die Absicht des Vorschlages
im Art. 1 des PDS-Gesetzentwurfes, denn selbst Vor-
verträge und Kaufvereinbarungen sollen als dem Ei-
gentumserwerb gleichgestellt werden. Im Klartext be-
deutet dies, daß nicht rechtswirksam zustande gekom-
mene Grundstücks- und Gebäudekaufverträge nach
nunmehr neun Jahren sanktioniert werden sollen. Ich
frage die PDS, welche Antworten sie auf die sich daraus
ergebenden Fragen gibt:
Erstens: Wie wollen sie die auch nach mehreren Än-
derungen des Vermögensgesetzes unangetasteten Rück-
gaberechte von Alteigentümern behandeln?
Zweitens: Wer soll die finanziellen Folgen tragen,
wenn auf der einen Seite Alteigentümer in verfassungs-
rechtlich fragwürdiger Weise aus Rückgaberechten ge-
5982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
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drängt werden und zugleich das Immobiliengeschäft
nach den damals geltenden Bedingungen – gemeint sind
damit in erster Linie die damals geltenden staatliche ge-
regelten Preise – nachträglich genehmigt werden soll?
Drittens: Wie bewertet die PDS die Tatsache, daß auf
der Grundlage des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes in
Zehntausenden Fällen einvernehmliche Lösungen erzielt
wurden? Sollen die Grundstücksnutzer, die diesen Weg
richtigerweise gegangen sind, schlechter gestellt werden
als jene, bei denen die Zusammenführung von Grund-
stück und Gebäude noch nicht erfolgt ist?
Mir scheint, die PDS hat sich über die Komplexität
des Sachverhaltes nicht genügend Gedanken gemacht.
Zu einem weiteren Regelungskomplex im Gesetz-
entwurf der PDS: Bei den Vorschlägen zu den Überlas-
sungsverträgen ist eine ähnliche Bewertung vorzuneh-
men. Es war sicherlich ein Fehler, daß beim Abschluß
des Einigungsvertrages die Überlassungsverträge nicht
als besonderer Vertragstyp der Eigentumsrechte im Sin-
ne des BGB erfaßt wurden. Aber wir müssen heute da-
von ausgehen, daß im Schuldrechtsanpassungsgesetz ab-
schließende Regelungen zu den Überlassungsverträgen
über Erholungsgrundstücke und Wohngrundstücke ge-
troffen wurden. Diese Regelungen aus dem Jahr 1994
haben die Rechtspositionen des Überlassungsvertragsin-
habers wie auch des Eigentümers des Grundstückes
bzw. Gebäudes klar geregelt. Die Folge ist, daß sich der
Eigentümer auf den Eigentumsschutz des Art. 14 GG
berechtigterweise berufen kann. Auch hier stellt sich die
Frage, ob die PDS allen Ernstes, in offensichtlich ver-
fassungswidriger Form, eine Neuregelung der Rechte
bei Überlassungsverträgen herbeiführen will und zwei-
tens: Welche Antworten gibt sie auf die zwingenden
Folgen bezüglich der Entschädigungsansprüche? Die
PDS verdrängt diese Fragen völlig, sie erweckt den Ein-
druck, perfekte Lösungen anbieten zu können. Es sind
aber keine hilfreichen und befriedigenden Lösungsvor-
schläge, sondern dieses ist eine Politik des Populismus,
weil den Betroffenen so nicht zu helfen ist und ihnen bei
Umsetzung der PDS-Vorschläge Steine statt Brot gege-
ben würden.
Für die SPD bleibt es dabei: Wir streben – wie in den
zurückliegenden Jahren – nach Lösungen, die die Rechte
der redlichen Erwerber und Nutzer in den neuen Län-
dern auf verfassungskonformer Grundlage sichern und
verbessern. Dazu sind im Zusammenwirken zwischen
Bundesregierung und den neuen Ländern Schritte ein-
geleitet worden. Nach Vorlage eines bereits in Arbeit
befindlichen Gutachtens und unter Würdigung von kurz-
fristig zu erwartenden Urteilen des Bundesverfassungs-
gerichtes zu vermögensrechtlichen Fragen werden sich
die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen kon-
kret mit der Abschlußgesetzgebung zu den vermögens-
rechtlichen Fragen in den neuen Ländern befassen.
Wir wissen, daß wir nicht losgelöst von der Gesetz-
gebung der zurückliegenden neun Jahre agieren können.
Für uns bleibt der gerechte Interessenausgleich zwischen
den beteiligten Eigentümern und Nutzern wichtiges Ziel.
Wir verfolgen nicht die eigentumsideologische Politik
der früheren Bundesregierung und werden uns auch
nicht für Populismus im Stile der PDS hergeben.
Rechtsstaatlichkeit und Verfassungskonformität auf
der einen Seite und Schutz der Rechte der redlichen Er-
werber und Nutzer in den neuen Ländern auf der ande-
ren Seite sind für uns kein Widerspruch. Darauf können
sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen.
Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Antrag will die PDS wieder einmal Kernelemente des
Wiedervereinigungsrechtes umgestalten. Teilweise in
einzelnen Punkten, teilweise in völliger Umkehrung der
bisher geltenden Rechtslage sollen Berechtigungen und
Verpflichtungen an Wohngrundstücken neu geregelt
werden. Einleitend ist dabei die Rede davon, die aus
dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ resultieren-
den Ungerechtigkeiten und Rechtsunsicherheiten für
ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR bestünden
fort. Das vom gesamtdeutschen Gesetzgeber verfolgte
Ziel, so heißt es weiter, die in der DDR entstandenen
Eigentums- und Besitzverhältnisse an Wohngrund-
stücken in die Rechtsordnung der Bundesrepublik
Deutschland zu überführen, sei in großer Zahl auf
Kosten von Ostdeutschen und zu Gunsten westdeutscher
„Alteigentümer“ verwirklicht worden.
Nahezu in jedem Ihrer Anträge zum Eigentumsrecht,
meine Damen und Herren von der PDS, intonieren Sie
ihre Forderungen mit dieser Gegenüberstellung. Im Jah-
re 10 nach dem Mauerfall sollten Sie endlich damit auf-
hören, Ost und West mit solchen Bemerkungen gegen-
einander auszuspielen.
Keiner wird ernsthaft dem Einigungsrecht, seinen
vielen Korrekturen und Ergänzungen das Ziel abspre-
chen wollen und können, um einen Interessenausgleich
der jeweils Betroffenen, im vorliegenden Fall von Eigen-
tümer und Nutzer, immer wieder bemüht gewesen zu
sein.
Meine Damen und Herren von der PDS, ich werde
nicht müde werden, Ihnen immer wieder ins Stammbuch
zu schreiben, daß die Angleichung der Lebensverhält-
nisse in Ost und West mit all den auch immer noch be-
stehenden Problemen keine Folgen der Wiedervereini-
gung sind, sondern immer noch die Folgen einer
40jährigen Teilung.
Ich würde es daher als wesentlich zielführender anse-
hen, wenn Sie diese Ausgangsbasis endlich einmal auch
zur Maxime Ihres Handelns machen würden. 40 Jahre
Willkür und Unrecht auch in den Eigentumsfragen wie-
dergutzumachen war und ist nicht nur ein kaum lösbares
Unterfangen, es wird leider auch immer mit Schicksalen
einhergehen, die wir mit rechtlichen Instrumentarien,
aber auch mit finanzieller Entschädigung nicht werden
ausgleichen können.
Schwerpunkt des vorliegenden PDS-Antrages ist es
nunmehr, die sog. Stichtagsregelung in § 4 Abs. 2 des
Vermögensgesetzes (VermG) zu ändern. Nach gelten-
dem Recht hat bekanntlich der Restitutionsanspruch
Vorrang vor dem Erwerbsinteresse eines Käufers, wenn
der Vertrag erst nach dem 18. Oktober 1989 abgeschlos-
sen wurde. Mit dem Entwurf soll diese Rechtsfolge
komplett umgedreht werden; selbst Vorverträge und
handschriftliche Vereinbarungen, die auch nach DDR-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999 5983
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Recht keine Verpflichtungen zur Übereignung begrün-
deten, sollen jedenfalls dazu gut sein, den Restitutions-
anspruch des früheren Eigentümers auszuschließen.
Nach nunmehr neun Jahren Geltungsdauer des Ver-
mögensgesetzes sind nahezu 90 % der Anträge auf Re-
stitution beschieden worden.
Einschließlich der umfangreichen Rechtsprechung
dazu dürften viele Hauptstreitpunkte der offenen Ver-
mögensfragen geklärt sein. Natürlich gibt es immer noch
streitbefangene Fälle, natürlich gibt es auch einzelfallbe-
zogene Folgewirkungen, die aus der subjektiven Sicht
des Betroffenen ungerecht erscheinen, natürlich gibt es
auch noch laufende Verfahren.
Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der
PDS, würden Sie jedoch ein seit fast 10 Jahren ange-
wendetes Recht auch in den Folgen wieder in Frage
stellen. Sie nehmen damit neue und immense Rechtsun-
sicherheiten in Kauf. Insbesondere träfe dies auch für
die von Ihnen geforderte Änderung des § 121 Sachen-
rechtsbereinigungsgesetzes zu.
Für die redlichen Käufer, die nach dem Stichtag sog.
restitutionsbelastete Grundstücke oder Gebäude gekauft
hatten, wurde in § 121 SachenRBerG eine Regelung zur
Behebung von Härten gefunden, die selbst nach einer
Restitution an den früheren Eigentümer eingreift. Diese
Käufer haben, wenn der Vertrag vor der Gemeinsamen
Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen vom
15. Juni 1990 abgeschlossen wurde, einen gesetzlichen
Anspruch zum Ankauf zum halben Bodenwert oder zur
Bestellung eines zinsgünstigen Erbbaurechts erhalten.
Diese Regelung soll – so der Antrag der PDS – wesent-
lich zugunsten der Käufer und zum Nachteil der in ihre
früheren Rechte wieder eingesetzten Eigentümer abge-
ändert werden, indem alle bis zum 3. Oktober 1990 ab-
geschlossenen Verträge solche Ansprüche begründen
sollen.
Schon hieraus wird ersichtlich, daß der Entwurf eine
erhebliche Veränderung des geltenden Rechts zu Gun-
sten der Käufer und zu Lasten der in ihre früheren
Rechte wieder eingesetzten Eigentümer der Grundstücke
enthalten würde. Die geltenden gesetzlichen Regelungen
aus Art. 41 Einigungsvertrag mit VermG, dem Zweiten
Vermögensrechtsänderungsgesetz und dem SachenR-
BerG wären Makulatur. Das Wiedervereinigungsrecht
würde in einem wesentlichen Punkt – ohne Rücksicht
auf seine Grundlagen aus dem Einigungsvertrag, die
durch die fast zehnjährige Anwendung des geltenden
Rechts entstandenen Rechtsverhältnisse und das daraus
entstandene Vertrauen – rückwirkend neu geschrieben
werden.
Diese weitgehende Änderung wird allein damit be-
gründet, daß es ein Rätsel des früheren Gesetzgebers
bleibe, warum gerade der Tag des Rücktritts Honecker
als Stichtag gewählt wurde. Diese Argumentation der
PDS ist nicht ehrlich. Noch in der mündlichen Ver-
handlung vor dem BVerfG zur Stichtagsregelung am 13.
Mai dieses Jahres ist nach meinen Informationen aus-
führlich dargelegt worden, daß der frühe Stichtag in
Nummer 13 der Gemeinsamen Erklärung auf eine Anre-
gung der DDR-Delegation zurückgegangen sei. Man
wollte einen frühen Stichtag, um Forderungen aus dem
Kreis des früheren Runden Tisches entgegenzukommen.
Der frühe Stichtag sei deshalb gefordert worden, weil
viele Vertreter im Staatsapparat, in der NVA und im
MfS den Rücktritt Honeckers als den Beginn des Sinken
des Schiffes der alten Gesellschaftsordnung erkannt und
von da an mit dem als anstößig empfundenen Erwerb
von volkseigenem Vermögen zu extrem günstigen Kon-
ditionen für private Zwecke begonnen hätten.
Ob diese Erwägung auch die Stichtagsregelung, deren
Wirkungen später zum Teil durch das 2. VermRÄndG
und das SachenRBerG abgemildert wurden, zu tragen
vermag, mag streitig sein und der Diskussionsstand in
der juristischen Literatur zeigt es ja auch. Die Behaup-
tung jedoch daß es keine Begründung für den Stichtag
gegeben habe, ist jedoch schlicht unrichtig und wohl nur
damit zu erklären, daß diese Begründung für die Wahl
des Stichtages der antragstellenden Fraktion nicht ge-
nehm sein dürfte.
Des weiteren fordert die PDS die Einbeziehung der
sog. Überlassungsverträge in die Sachenrechtsbereini-
gung. Obwohl diese Verträge ausschließlich schuld-
rechtlicher Natur waren und der Eigentumswechsel nicht
Gegenstand der Vereinbarung waren, sind sie gleich-
wohl unter bestimmten Voraussetzungen bereits in die
Sachenrechtsbereinigung aufgenommen worden.
Die Aufnahme erfolgte in den Fällen, in denen der
Nutzer durch Bebauung des Grundstücks eine schüt-
zenswerte verdinglichte Rechtsposition erworben hatte.
Der Gesetzgeber hat also durchaus auch im Bereich
der Überlassungsverträge eine differenzierte Bewertung
dieser Verträge vorgenommen. Die PDS ignoriert diese
notwendige Differenzierung. Sie will Ungleiches gleich
behandeln.
Aus zwei Gründen möchte ich unsere ablehnende
Haltung zu dem Gesetzentwurf begründen.
Erstens: Der Entwurf läßt das verfassungsrechtliche
Umfeld vollkommen außer acht. Es ist zumindest zwei-
felhaft, ob sich die Vorschläge der PDS noch im Rah-
men des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegen. So-
wohl die Stichtagsregelung als auch die Ausgleichsre-
gelung in § 121 SachenRBerG sind vor das Bundesver-
fassungsgericht gebracht worden:
z Die Stichtagsregelung durch einen Normenkon-
trollantrag der Landesregierung Brandenburgs und durch
Verfassungsbeschwerden der Käufer, deren Erwerb nach
geltendem Recht gescheitert ist,
z die Regelung in § 121 SachenRBerG durch Ver-
fassungsbeschwerden von Alteigentümern, die im Ver-
kaufszwang einen Eingriff in das auf Grund des Eini-
gungsvertrags zurückgegebene Eigentum sehen.
Diese Entscheidungen sollten abgewartet werden. Es
wäre für alle Betroffenen verheerend, wenn der Ge-
setzgeber jetzt wesentliche Änderungen träfe, die nach
den anstehenden Entscheidungen aus Karlsruhe dann
völlig außerhalb des verfassungsrechtlich Zulässigen
lägen.
5984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. November 1999
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Zweitens: Der Entwurf ist schließlich auch inhaltlich
unangemessen. Das geltende Recht ist Ergebnis eines
langen Abwägungsprozesses in mehreren Gesetzge-
bungsverfahren der 12. Legislaturperiode. Dieses basiert
auf einer einfachen Erwägung. Bei den Erwerbsge-
schäften mit staatlichen Stellen über enteignetes Grund-
vermögen in der Endzeit der DDR, die mit dem Rück-
tritt Honeckers begannen, wäre es nicht gerecht, den
Alteigentümer, dem ja beim Entzug seines Eigentums
Unrecht angetan wurde, allein auf die geringe, aus öf-
fentlichen Mitteln zu finanzierende Entschädigung zu
verweisen. Es wäre selbstverständlich aber auch nicht
gerecht, den Nutzer vollkommen leer ausgehen zu las-
sen, der vor der Gemeinsamen Erklärung, die die Ver-
einbarung der Regierungen über die Rückgabe solchen
Grundvermögens enthielt, einen dem Recht der DDR
entsprechenden Vertrag mit einer staatlichen Stelle über
ein solches Grundstück abgeschlossen hatte.
Das Ergebnis war schließlich ein von einer breiten
Mehrheit in Bundestag und Bundesrat getragener Kom-
promiß, der dem Käufer einen gesetzlichen Anspruch
auch gegenüber dem Alteigentümer an die Hand gab,
nach den allgemeinen Konditionen des SachenRBerG
den Ankauf oder die Bestellung eines Erbbaurechts ver-
langen zu können. Die allgemeinen Maßstäbe aus der
Bebauung fremder Grundstücke oder aus dem Erwerb
nur von Gebäuden auf in Privateigentum stehenden
Grundstücken gelten mithin auch in Restitutionsfällen.
Käufer und Alteigentümer sollten weder besser noch
schlechter gestellt werden als Nutzer und Grundstücks-
eigentümer in vergleichbaren Konfliktfällen. Diese Re-
gelung war vom Gedanken der Anerkennung und des
Ausgleichs der Belange beider Seiten getragen. Gründe,
hiervon abzuweichen, zeigt der Entwurf nicht auf, und
dem Erhalt von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden in
einer der schwierigsten gesetzlichen Entscheidungen des
Wiedervereinigungsrechts dient er auch nicht.
Rainer Funke (F.D.P.): Der Entwurf eines Wohn-
grundstücksregelungsgesetzes, der von der PDS vorge-
legt wurde, kann von unserer Seite nicht unterstützt
werden. Allzu pauschal sind die Vorwürfe der PDS, daß
durch das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, Unge-
rechtigkeiten und Rechtsunsicherheiten für die Bürge-
rinnen und Bürger der ehemaligen DDR bestehen wür-
den. Das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung hängt
nun einmal mit unseren bewährten Eigentumsbegriffen
zusammen. Zu Unrecht entzogenes Eigentum von West-
bürgern, aber genausogut von ostdeutschen Bürgern
mußte zurückgegeben werden; dabei muß und wird es
auch bleiben. Eine Neuregelung hinsichtlich der Mo-
drow-Gesetze nach immerhin fast zehn Jahren, in der ja
auch Ausschlußfristen gelten, kann schon wegen des in-
zwischen eingetretenen Vertrauenstatbestandes nicht er-
folgen. Insoweit lehnen wir eine Änderung des Gesetzes
zur Regelung offener Vermögensfragen ab. Auch die
Vorschläge hinsichtlich des Sachenrechtsbereinigungs-
gesetzes, die von der PDS vorgesehen sind, sind derma-
ßen an den Interessenslagen des Nutzers orientiert, daß
hier eine erhebliche Entwertung des Eigentums des so-
genannten Alteigentümers erfolgen wird, wenn man den
Vorschlägen der PDS folgt.
Natürlich verkennen wir nicht, daß es bei Nutzern be-
rechtigt oder unberechtigt zu Verunsicherungen über ih-
re eigene Zukunft gekommen ist. Dem haben die dama-
lige Bundesregierung und der Bundestag durch ent-
sprechende Novellierungen, insbesondere durch das
Wohnraummodernisierungssicherungsgesetz, entgegen-
gewirkt. Dabei ist auch nicht zu verkennen, daß die in
der damaligen DDR entstandenen Unrechtstatbestände
bei der Entziehung des Eigentums und der Neuzuord-
nung von Eigentums- und Besitzverhältnissen ungeheuer
vielfältig gewesen sind. Wenn hier noch einzelne Tatbe-
stände aufzuarbeiten sind und hier nachweisbar Hand-
lungsbedarf besteht, wird sich meine Fraktion Ände-
rungswünschen nicht verschließen, wobei auch zu be-
rücksichtigen ist, daß zehn Jahre nach dem Fall der
Mauer neue Vertrauenstatbestände entstanden sind.
Wichtig scheint mir vor allem, daß offene Vermögens-
fragen, soweit sie immer noch nicht von den Vermögens-
ämtern entschieden sind, aufgelistet werden, damit auch
dem Parlament deutlich gemacht wird, wo im einzelnen
die Schwierigkeiten bei der Regelung offener Vermö-
gensfragen bestehen.
Wir erwarten daher, daß die Bundesregierung unver-
züglich einen entsprechenden Bericht vorlegt. Dann sind
wir gerne bereit, auf der Basis gesicherter Daten, an
einer abschließenden Regelung der Vermögensfragen
mitzuwirken.