––––––––––
**) Anlage 6**) Der Redetext lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2545
(A) (C)
(B) (D)
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Bernhard, Otto CDU/CSU 25.3.99
Carstens, (Emstek),
Manfred
CDU/CSU 25.3.99
Diemers, Renate CDU/CSU 25.3.99
Dr. Fink, Heinrich PDS 25.3.99
Fischer (Frankfurt),
Joseph
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
25.3.99
Friedrich (Altenburg),
Peter
SPD 25.3.99
Hasenfratz, Klaus SPD 25.3.99
Dr. Kolb,
Heinrich L.
F.D.P. 25.3.99*
Lennartz, Klaus SPD 25.3.99
Maaß (Wilhelmshaven),
Erich
CDU/CSU 25.3.99
Neuhäuser, Rosel PDS 25.3.99
Rauber, Helmut CSU/CSU 25.3.99
Schröder, Gerhard SPD 25.3.99
Schütze (Berlin),
Diethard
CDU/CSU 25.3.99
Schuhmann (Delitzsch),
Richard
SPD 25.3.99
Streb-Hesse, Rita SPD 25.3.99
Dr. Struck, Peter SPD 25.3.99
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
25.3.99
Verheugen, Günter SPD 25.3.99
Willner, Gert CDU/SU 25.3.99
Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 25.3.99*
–––––––––––* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
von Vorschriften über parlamentarische Gre-
mien (Tagesordnungspunkt 9)
Dieter Wiefelspütz (SPD): Ich freue mich, daß wir
heute die Beratung zum Gesetz über parlamentarische
Gremien abschließen können. Ich freue mich, weil es
uns gelungen ist, ein Gesetz zu erarbeiten, das eine
breite Mehrheit von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN, F.D.P. und CDU/CSU gefunden hat. Regelungs-
gegenstand ist die Kontrolle der Nachrichtendienste des
Bundes durch den Bundestag. Wenn es um die Rechte
des Bundestages geht, tun wir gut daran, einen breiten
Konsens anzustreben. Das ist geschehen. Vor allem in
Hinblick auf die gesetzgeberischen Bemühungen der
letzten Legislaturperiode möchte ich hervorheben, daß
es uns gelungen ist, durchaus im Zusammenwirken mit
der Bundesregierung, zu einem vernünftigen Ergebnis
zu kommen. Der Bundestag hat einen Anspruch auf um-
fassende Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes.
Diesem Anspruch trägt dieses Gesetz Rechnung. Ich
verweise hier insbesondere auf den § 2 des vorliegenden
Gesetzes. Dieser umfassende Kontroll- und Informati-
onsanspruch wird ausschließlich begrenzt durch den ver-
fassungsrechtlich geschützten Kernbereich der Exekuti-
ve und die Verfügungsbefugnis der Nachrichtendienste.
Wir haben lange um hinreichend präzise Formulierun-
gen gerungen. Ich denke, die jetzigen Fassungen sind
von einer angemessenen Klarheit geprägt.
Bereits in der letzten Legislaturperiode ist die dama-
lige Bundesregierung der Parlamentarischen Kontroll-
kommission entgegengekommen.
Dieses Entgegenkommen ist jetzt nicht mehr vom
Wohlwollen der Bundesregierung abhängig, sondern ge-
setzlich verbrieft. In diesem Gesetz finden sich nicht alle
Vorschläge wieder, die in den vergangenen Jahren von
Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission
erarbeitet wurden. Zum Beispiel haben wir nicht aufge-
griffen, daß sich das parlamentarische Kontrollgremium
gutachterlich zur Auswahl des Leiters eines Nachrich-
tendienstes äußern kann. Wir haben auch nicht berück-
sichtigt, daß das parlamentarische Kontrollgremium un-
angemeldet den Nachrichtendienst aufsuchen darf. Ich
bin der Überzeugung, daß diese Forderungen nicht zur
Verbesserung der Kontrolle der Dienste beitragen wür-
den. Alles in allem kann sich das vorliegende Gesetz se-
hen lassen. Wir sollten noch in dieser Legislaturperiode
bereit sein, zu prüfen, ob die Erwartungen, die wir mit
diesem Gesetz verbinden, von der Wirklichkeit eingelöst
werden.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
a) zum Gesetzentwurf zur Änderung des Strafge-
setzbuches – Graffiti-Bekämpfungsgesetz –
b) zum Gesetzentwurf zum verbesserten Schutz
des Eigentums
(Tagesordnungspunkt 10)
Hermann Bachmaier (SPD): Wir sind uns darüber
einig, daß es nicht hingenommen werden kann, wenn öf-
fentliche oder private Gebäude, Fahrzeuge oder sonstige
Einrichtungen ohne Zustimmung der jeweiligen Eigen-
tümer großflächig bemalt oder besprüht werden.
2546 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
Diese Sprühaktivitäten haben an manchen Orten ein
zum Teil unerträgliches Ausmaß angenommen. Bei der
Beratung der vorliegenden Gesetzentwürfe und dem
wohl in Kürze ebenfalls zu beratenden Entwurf des
Bundesrates geht es ausschließlich um die Frage, ob eine
Erweiterung des Straftatbestandes der Sachbeschädi-
gung der richtige Weg ist, den Auswüchsen der Graffiti-
Sprühereien angemessen zu begegnen. Das Strafrecht ist
eben nicht das Allheilmittel, das wir dann immer heran-
ziehen können, wenn uns andere Lösungswege zu be-
schwerlich erscheinen. Strafrecht ist und sollte, worauf
heute in der „Süddeutschen Zeitung“ mit Recht hinge-
wiesen wird, Ultima ratio, also letztes Mittel, bei schwe-
ren Rechtsverstößen bleiben. Vor allem aber sollten wir
uns vor Strafvorschriften hüten, die in der Praxis wenig
bringen – dafür aber eine Fülle neuer Probleme für die
Strafjustiz mit sich bringen:
Bereits Mitte der 80er Jahre hat sich der Bundestag
schon einmal mit einem ähnlichen Vorstoß der damali-
gen Koalition befaßt. Damals sollte die sogenannte Ver-
unstaltung von Gebäuden, Wegen oder Plätzen mit einer
Geldbuße bis zu 10 000 Mark belegt werden. Nachdem
sich herausstellte, daß die ehemalige DDR wenige Jahre
zuvor eine ähnliche Vorschrift in ihr Ordnungswidrig-
keitenrecht aufgenommen hatte und nachdem sich hefti-
ger öffentlicher Protest geregt hat, wurde das Vorhaben
wieder zu den Akten gelegt. Im abschließenden Bericht
des Rechtsausschusses hieß es wörtlich:
Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. ließen
sich bei ihrer Entscheidung … von den Bedenken
leiten, daß der Begriff des „sonstigen Verunstal-
tens“ nicht eindeutig auszulegen sei. Vor allem aber
hält man die zivilrechtlichen Ansprüche des durch
eine Verunstaltung Betroffenen und das Satzungs-
gebungsrecht der Kommunen für ausreichend, um
diejenigen Verunstaltungen zu bekämpfen, die
nicht mehr unter die Tatbestandsvoraussetzungen
einer Sachbeschädigung fallen.
Diese recht zutreffenden Sätze aus dem Jahre 1986
sollten wir auch heute noch beherzigen. Die damaligen
öffentlichen Diskussionen und parlamentarischen Bera-
tungen haben – leider heute vielfach vergessen – sicht-
bar gemacht, daß die Auslegung des Begriffes „Verun-
staltung“ erhebliche Schwierigkeiten, ja, auch erhebliche
Gefahren und Risiken in sich birgt. Diese schon im Be-
reich des Bußgeldrechtes sich ergebenden Probleme bei
der Interpretation des Begriffes „Verunstaltung“ stellen
sich natürlich erst recht dann, wenn dieser schillernde,
unbestimmte und auslegungbedürftige Begriff in das
Strafgesetzbuch aufgenommen wird. Wollen wir denn
Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern in Zukunft
zumuten, darüber zu entscheiden, ob Graffiti an einer
Gebäudewand oder einem Eisenbahnwagen verunstal-
tender Natur ist oder nicht?
Die CDU/CSU-Gesetzesinitiatoren machen es sich
allzu leicht, wenn sie in der Begründung ihres Entwurfes
meinen kategorisch feststellen zu können, daß es nur
darauf ankomme, ob der Eingriff mit oder ohne Zu-
stimmung des jeweiligen Eigentümers erfolgt ist – nicht
aber, ob die Graffiti-Besprühung verunstaltender Natur
ist oder nicht. Da die Auslegung des Begriffes der „Ver-
unstaltung“, wie ja die gesamte Rechtsprechung und
Rechtslehre zum Bauordnungsrecht belegt, gerade auch
eine ästhetische Bewertung beinhaltet, wird es der
Strafjustiz nicht erspart bleiben, diese Bewertung eben-
falls vorzunehmen. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichtes geht es beim Begriff
der „Verunstaltung“ im Bauordnungsrecht darum, soge-
nannte ästhetische Mißgriffe abzuwehren, wobei, so
wörtlich, „das Empfinden jedes für ästhetische Ein-
drücke offenen Betrachters …, also des sogenannten ge-
bildeten Durchschnittsmenschen“, als maßgeblich ange-
sehen wird. Mit der Prüfung dieser Fragen sollen sich
also in Zukunft unsere Strafverfolgungsorgane herum-
schlagen, wenn die Polizei der meist jugendlichen Täter
überhaupt habhaft wird. Unsere Strafjustiz, ohnehin
überbelastet, wird sich für dieses neue Beschäftigungs-
programm herzlich bedanken. Bis es eine einigermaßen
gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffes
„Verunstaltung“ gibt, werden Jahre vergehen. Hochdif-
fizile Fragen der ästhetischen Bewertung – bis hin zum
Vorwurf der Zensur – werden Eingang in unsere Amts-
gerichtssäle finden. Unsere Strafrichterinnen und Straf-
richter sind aber nicht dazu da, umfassende ästhetische
Bewertungen vorzunehmen und höchst auslegungsbe-
dürftige unbestimmte Rechtsbegriffe zur Anwendung zu
bringen, sondern unter klaren gesetzlichen Vorgaben
strafwürdiges Unrecht zu ahnden.
Weiter hilft da eher ein sehr abgewogenes Urteil des
Oberlandesgerichtes Düsseldorf vom 10. März 1998. Die-
ses Urteil geht davon aus, daß schon nach der gegenwär-
tigen Rechtslage eine Sachbeschädigung durch Graffiti-
Aktionen im Sinne des § 303 StGB in aller Regel gegeben
ist – es sei denn, es handele sich lediglich um einen ge-
ringfügigen Eingriff in die Substanz der betroffenen Ob-
jekte. In den übrigen Fällen dürften die zivilrechtlichen
und öffentlich-rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten nach
wie vor ausreichend sein. Sind die Täter gefaßt, kommt es
doch wohl entscheidend darauf an, von ihnen eine Besei-
tigung des Schadens zu erlangen.
Wir sollten ein gemeinsames Interesse daran haben,
das Strafgesetzbuch nicht immer weiter mit unbe-
stimmten Rechtsbegriffen zu überladen, die unabsehbare
Auslegungsprobleme mit sich bringen und damit ein er-
hebliches Maß an Rechtsunsicherheit zur Folge haben.
Das Strafrecht ist kein Allheilmittel zur Bewältigung
von Problemen, für die man glaubt, keine sonstigen Lö-
sungen anbieten zu können.
Dr. Elke Leonhard (SPD): Wer sich in den Städten,
vor allem in den Großstädten, umschaut, kann es nicht
übersehen: besprühte Hauswände, Mauern und Gara-
gentore, Graffiti-übersäte Eisenbahnwaggons, U-Bahn-
Wagen, und Straßenbahnen – kurz: Jedes öffentlich zu-
gängliche Objekt ist potentiell betroffen.
Die Frage, wie das Übel zu bekämpfen sei, setzt vor-
aus, Ursachen und Gründe zu analysieren. Denn: Nur
bei richtiger Diagnose ist eine angemessene Therapie
möglich, und es ist zumindest äußerst fraglich, ob Straf-
recht hier weiterhelfen kann. Das sogenannte „Graffiti-
Unwesen“ ist keine deutsche, vor allem keine typisch
deutsche Erscheinung, sondern ein weltweites Phäno-
men.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2547
(A) (C)
(B) (D)
„Die Mauern sollen durch Bilder leben“, sagt die
Sprayer-Szene, die sich als Gegenbewegung zur Beton-
welt und Betonwüste der Großstädte versteht. Zukunfts-
angst, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und
Unwirtlichkeit der Städte sind der Motor dieser Bewe-
gung. Die Gesellschaft ist ohnmächtig. Lösungsansätze
werden gesucht.
Wir beschäftigen uns heute mit Entwürfen zu einer
Gesetzesnovelle – mit Entwürfen zur Änderung des
Strafgesetzbuches. Eine vergleichbare Diskussion wurde
schon Mitte der 80er Jahre geführt, damals im Rahmen
der Novelle des Ordnungswidrigkeitengesetzes. Ergeb-
nis: Der geplante § 118a des Ordnungswidrigkeitenge-
setzes wurde aus der Novelle herausgenommen. „Zum
verbesserten Schutz des Eigentums“ bzw. zur „Graffiti-
Bekämpfung“ liegen Anträge der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. vor. Und auch das Land Ber-
lin hat eine entsprechende Initiative im Bundesrat einge-
bracht.
Was sollen die geplanten Änderungen der Paragra-
phen 303 und 304 StGB – der Sachbeschädigung bzw.
der gemeinschädlichen Sachbeschädigung – explizit
unter Strafe stellen? Die Verunstaltung einer Sache oder
– so der F.D.P.-Entwurf – eine Verunstaltung, die nur
mit größerem Aufwand beseitigt werden kann. Begrün-
dung: Das sogenannte „Graffiti-Unwesen“ könne auf
diese Weise, so wörtlich, „eindeutig strafrechtlich er-
faßt“ werden.
Ich möchte an dieser Stelle nicht nochmals die juristi-
sche Argumentation wiederholen, aber auf einige wich-
tige Punkte verweisen. Die Hinweise der Gesetzentwür-
fe auf die Strafbarkeit und die Eindeutigkeit sind zu-
gleich Haupteinwände gegen die Initiativen. Was die
Strafbarkeit anbelangt, so ist die Rechtslage eindeutig:
Als Sachbeschädigung strafbar sind Graffiti immer
dann, wenn eine Substanzverletzung vorliegt, wenn also
die Beseitigung mit nicht unerheblichem Aufwand ver-
bunden ist. Mehr noch: Strafbar ist bereits eine „belang-
reiche Veränderung der äußeren Erscheinung“ eines Ge-
genstandes, ohne daß die eigentliche Sachsubstanz ver-
letzt ist. Worin, so frage ich angesichts dessen, liegt das
Mehr an strafrechtlicher Effektivität, das die vorliegen-
den Gesetzentwürfe erreichen wollen? Auch das Argu-
ment hohen Ermittlungsaufwands zur Feststellung, ob
eine Substanzverletzung vorliegt, trägt angesichts dieser
Rechtsprechung nicht.
Die Gesetzentwürfe sprechen ferner von mehr Ein-
deutigkeit und führen zugleich – wie schon in den 80er
Jahren – den Begriff der „Verunstaltung“ ein. Ganz un-
bestreitbar ist dieser Begriff nachgerade das Gegenteil
von Eindeutigkeit: Auch wenn die Gesetzesbegründung
auf objektive Kriterien abzustellen versucht – und dabei
im Kern die zitierte gegenwärtige Rechtsprechungspra-
xis aufnimmt –, so ist letztlich maßgebend, was im Ge-
setzestext steht. Dabei käme man um den unbestimmten
Begriff der „Verunstaltung“ nicht herum, und letztlich
entstünden ohne jede Frage Auslegungsprobleme aller-
erster Güte, entstünde nicht mehr Klarheit, sondern mehr
Unsicherheit, entstünde eine Situation, die zu ästheti-
schen Urteilen führen könnte – und diese wäre notwen-
dig subjektiv. Ist dagegen intendiert, mit „Verunstal-
tung“ jede „belangreiche Veränderung der äußeren Ge-
stalt“ einer Sache zu bezeichnen, dann wäre zum einen
der Begriff der „Verunstaltung“ unzutreffend, zum ande-
ren wäre dies bereits jetzt ausreichender Grund für straf-
rechtliche Ahndung.
Strafrecht ist das schneidenste Schwert unserer
Rechtsordnung. Doch ist es in diesem Falle auch das ge-
eignete Mittel? Ohne Zweifel: Nein. Das Interesse der
Betroffenen – und das sind die durch Graffiti und deren
Beseitigung in materieller Hinsicht Geschädigten – be-
steht vorrangig gerade nicht in einer Bestrafung der Tä-
ter, die sich ohnehin schon nach geltendem Recht straf-
bar machen, sondern vielmehr im Ersatz des materiellen,
geldwerten Schadens, also auf zivilrechtlicher Ebene.
Wenn es überhaupt eine angemessene „Strafe“ in einem
Bereich gibt, dessen Ursachen weit eher in sozialen
Schieflagen als in krimineller Energie zu suchen sind,
dann ist dies die zivilrechtliche Schadensersatzforde-
rung. Das eigentliche Problem der Justiz jedoch liegt
– im straf- wie im zivilrechtlichen Bereich – in man-
gelnder Aufklärung von Straftaten bzw. Tatbeständen,
die zivilrechtliche Relevanz haben, in anderen Worten:
bei der Ermittlung der Täter.
Die vorgeschlagenen Änderungen der Paragraphen
303 und 304 StGB könnten und würden daran nicht das
Geringste ändern. Zu glauben, durch diese Änderungen
könne auch nur ein einziger Fall von Sachbeschädigung
verhindert werden, wäre geradezu naiv – vergleichbar
mit dem Versuch, die Zahl von Autounfällen zu vermin-
dern durch ein neues Zeichen der Straßenverkehrsord-
nung mit der Aufschrift: „Verkehrsunfälle verboten“.
Die unbestreitbare Vielzahl von Sachbeschädigungen
durch Graffiti ist, wie eingangs festgestellt, in erster Li-
nie Symptom sozialer Probleme, und ein Teil des Rei-
zes, den das Sprayen offenkundig für viele, zumeist Ju-
gendliche hat, liegt gerade darin, sich der Gefahr poli-
zeilicher Ermittlung und strafrechtlicher Verfolgung
auszusetzen – oder vielmehr: erfolgreich zu entziehen.
Die Rechtslehre hat dies erkannt. So schreibt der Berli-
ner Rechtslehrer Uwe Wesel „Der ,psychische Vanda-
lismus‘“, und er meint damit nicht nur die Betonwüsten
zahlreicher Städte, sei „durchaus eine Realität. Und die-
jenigen, die sich über Graffiti empören, oder diejenigen,
die darüber juristisch entscheiden, müssen das mitbe-
denken. Vielleicht auch mal über Verbesserungen in
dieser Richtung.“
Die Gesetzentwürfe zur „Graffiti-Bekämpfung“ bzw.
zum „Schutz des Eigentums“ sind zweifellos kein
Schritt in „diese Richtung“. Selbstverständlich muß es
Sanktionen geben, und die Möglichkeiten dazu bieten
sowohl das Strafrecht in jetziger Fassung als auch der
zivilrechtliche Schadensersatzanspruch. Um jedoch die
Ursachen von Sachbeschädigungen durch Graffiti wirk-
sam zu bekämpfen, um wirkliche Prävention zu ge-
währleisten, müssen psychologische Faktoren berück-
sichtigt werden: eine angemessene Städteplanung, in-
takte soziale Beziehungen und vor allem Zukunftsper-
spektiven für Jugendliche. Das sind die eigentlichen
Herausforderungen, vor denen wir stehen und die durch
eine Strafrechtsänderung mit Sicherheit nicht gemeistert
werden können.
2548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Das Beschmieren
von öffentlichen und privaten Gebäuden durch soge-
nannte Graffitis hat in den letzten Jahren stark zuge-
nommen und in manchen Städten ein unerträgliches
Ausmaß erreicht. Berlin und Hamburg etwa sind davon
ganz besonders betroffen:
Die von der Berliner Polizei eingerichtete 30 Mann
starke „Ermittlungskommission Graffiti“ ermittelte in
beiden Teilen der Stadt 84 Sprayer-Gruppen mit insge-
samt 1 818 Mitgliedern. Am 13. Januar dieses Jahres
durchsuchte sie in einer bislang einmaligen Aktion
83 Wohnungen in Berlin, zwei Wohnungen in Branden-
burg und drei Geschäfte für Sprayerbedarf. In 74 Fällen
fanden sie nicht nur Beweismaterial wie Farbdosen,
sondern auch Beweismaterial für körperliche Gewalt-
taten: Baseballschläger, Gaspistolen und Messer. Der
Berliner Polizeipräsident interpretierte dies als enge
Verknüpfung zwischen jugendlichen Graffiti- und Ge-
waltszenen.
Die beschmierte Fläche bei den Zügen der Bahn AG
in Berlin beträgt bereits 15 Quadratkilometer und ver-
ursacht einen Schaden von 5,7 Millionen DM jährlich.
Die Säuberung eines S- oder U-Bahn-Waggons kostet
30 000 DM. In Hamburg gibt die Hochbahn AG jährlich
über 1 Million DM für die Beseitigung von Farbschäden
aus. Oft genug freilich handelt es sich hierbei um eine
Sisyphusarbeit, denn schon bald nach der Beseitigung
werden die Waggons erneut beschmiert.
Allein diese Zahlen zeigen, daß es sich bei den Graf-
fiti-Unwesen nicht etwa um Bagatellfälle handelt. Aller-
dings ist leider festzustellen, daß die Täter häufig kei-
nerlei Unrechtsbewußtsein haben. Dies verwundert frei-
lich nicht, wenn man die teilweise unverhohlene Sym-
pathie auf der Linken für die Sprayerszene sieht. Wahr-
scheinlich erinnern sich manche Alt-68er immer noch
mit feuchten Augen an die Zeit, da sie selbst Parolen an
Hauswände und Zäune gesprüht haben. Heute freilich
haben die Sprayer nicht einmal mehr politische Bot-
schaften in der Dose, sondern betreiben nur noch bloße
Verunstaltung.
CDU und CSU wollen dem Überhandnehmen des
Graffiti-Unwesens nicht tatenlos zusehen, sondern den
Schutz des Eigentums verstärken: Dazu gehören nach un-
serer Auffassung nicht nur Präventivmaßnahmen, sondern
auch eine konsequente Durchsetzung zivilrechtlicher
Schadensersatzansprüche. Auch ein direkter Täter-Opfer-
Ausgleich würde das Unrechtsbewußtsein durchaus schär-
fen: Täter sollten bei der Beseitigung der von ihnen verur-
sachten Schmierereien herangezogen werden.
Vor allem aber ist die konsequente strafrechtliche
Ahndung dieser Eigentumsverletzungen unerläßlich;
dies im übrigen auch deshalb, weil straflos bleibende
Graffiti-Schmierereien Ausdruck von Rechtlosigkeit
sind und als Vorläufer für weitere Zerstörungen und
Vandalismus angesehen werden. Dies führt bei den
rechtstreuen Bürgern zu einer Beeinträchtigung des Si-
cherheitsgefühls und damit zur Verunsicherung über das
Funktionieren der Rechtsordnung.
Effektiver strafrechtlicher Schutz gegen Graffiti-
Schmierereien ist derzeit aber nicht gewährleistet. Nach
ständiger Rechtsprechung des BGH liegt eine Sachbe-
schädigung nur vor, wenn die Sache in ihrer Substanz
verletzt ist. Es muß im Einzelfall festgestellt und nach-
gewiesen werden, daß die Schmiererei oder deren Be-
seitigung den Untergrund verletzt. Nicht ausreichend ist
nach der Rechtsprechung hingegen, daß der Instandset-
zungsaufwand erheblich ist.
Die daraus resultierende Straflosigkeit einschlägiger
Handlungen kann nicht länger hingenommen werden.
Diese Rechtsprechung hat außerdem einen hohen Er-
mittlungsaufwand zur Folge, da die Substanz der Sache
und der Erhaltungszustand genauestens untersucht wer-
den müssen. Dies steht in keinem vertretbaren Verhält-
nis zu der zu erwartenden Ahndung.
Es muß deshalb im Strafgesetzbuch eindeutig zum
Ausdruck gebracht werden, daß die rechtswidrige Graf-
fiti-Schmiererei als solche eine Sachbeschädigung ist.
Der von CDU und CSU eingebrachte Gesetzentwurf
sieht vor, die Defizite des geltenden Rechts dadurch zu
beheben, daß die §§ 303 und 304 StGB jeweils um das
Merkmal des Verunstaltens ergänzt werden. Das Merk-
mal des Verunstaltens erfaßt Veränderungen des äuße-
ren Erscheinungsbildes der Sache. Unrechtskern ist der
rechtswidrige Eingriff in die durch den Berechtigten
gewählte Gestaltung von einigem Gewicht. Dies ent-
spricht übrigens der Rechtslage in Österreich, wo das
Verunstalten im Rahmen der Sachbeschädigung bereits
heute strafbar ist.
Durch unseren Entwurf ist auch klargestellt, daß es
nicht darauf ankommt, wie Dritte die Veränderung be-
urteilen. Der Tatbestand ist nämlich auch dann erfüllt,
wenn die Veränderung dem ästhetischen Empfinden
eines Beobachters unter Umständen mehr entgegen-
kommt als die ursprüngliche Gestaltung. Damit bleibt
für ,,Kunstdiskussionen“ kein Raum. Denn der Eigen-
tumsschutz beinhaltet, daß niemandem eine „Verschöne-
rung“ seiner Sache aufgezwungen werden darf. Die in
unserem Gesetzentwurf vorgeschlagene Tatbestandsfas-
sung bietet andererseits Auslegungsspielräume, um ba-
gatellhafte Veränderungen auszugrenzen. Eine „Verun-
staltung“ ist tatbestandlich erst bei einer ins Gewicht
fallenden Veränderung gegeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Union greift die
von Bayern im Bundesrat hierzu gemachten Vorschlä-
ge auf, die erfreulicherweise im Bundesrat eine Mehr-
heit gefunden haben. Angesichts der Zustimmung eini-
ger SPD-geführter Landesregierungen im Bundesrat
sehen wir mit großem Interesse dem Abstimmungsver-
halten von Rotgrün zu dieser Frage hier im Bundestag
entgegen.
Dr. Ing. Dietmar Kansy, (CDU/CSU): Allein der
Bund hat für die Städtebauförderung bis einschließlich
1998 etwa 15 Milliarden DM bereitgestellt, Länder,
Gemeinden und Private haben zusätzlich etwa das Acht-
fache an Mitteln aufgebracht. Ein erheblicher Teil davon
floß in die Erneuerung unserer Innenstädte. Während es
einerseits ermutigende Fortschritte gibt, insbesondere
– aber nicht nur – die Innenstadtbereiche so umzuge-
stalten, daß sich die Menschen dort wohlfühlen, gibt es
andererseits zunehmende Verwahrlosung.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2549
(A) (C)
(B) (D)
Die Frage vom konsequenten Bekämpfen von Graffi-
ti-Schmierereien ist deshalb für uns Wohnungs- und
Städtebaupolitiker nicht nur eine Frage des Schutzes des
Eigentums, und zwar sowohl des privaten als auch des
öffentlichen Eigentums, sondern auch eine Frage, wie
wir unsere öffentlichen Räume schützen.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte deshalb schon in der
letzten Legislaturperiode mit ihrem Antrag „Politik zur
Erhaltung und Stärkung der Innenstädte“ einen Bundes-
tagsbeschluß herbeigeführt, in dem unter anderem die
Entkriminalisierung sogenannter Bagatelldelikte, wie
Graffiti-Schmierereien, verurteilt wird und politisches
Handeln dagegen eingefordert wird.
Natürlich machen wir nicht allein damit öffentliche
Räume wieder attraktiver. Weitere Städtebauförderung,
für die wir eine Verstärkung der Mittel in diesen Haus-
haltsberatungen beantragt haben, Verstärkung der Nut-
zungsvielfalt und neue Urbanität, neue städtebauliche
Instrumente, eine Veränderung der Kriterien des sozia-
len Wohnungsbaus zur Vermeidung von einseitiger Be-
legung oder moderne Verkehrskonzepte gehören u.a.
dazu.
Aber alles dies allein wird nicht ausreichen, herunter-
gekommene öffentliche Räume wieder attraktiv zu ma-
chen oder sicherzustellen, daß weitere Bereiche unserer
Städte nicht herunterkommen, wenn sich die Menschen
dort nicht gleichermaßen angeregt wie geborgen fühlen.
Deshalb muß der öffentliche Raum auch subjektiv ange-
nehm empfunden werden. Und wiederum deswegen ist
die Diskussion über „Null-Toleranz“ gegenüber allem,
was die öffentlichen Räume schädigt, eine verständliche
Reaktion einer großen Mehrheit der Bevölkerung.
Ohne mutige Schritte gegen die Verlotterung und Be-
sudelung unserer Städte werden wir nicht weiterkom-
men. Dazu gehört auch, daß wir Klartext reden. Wer be-
sudelt und beschmiert, ist kein Opfer gesellschaftlicher
Unzulänglichkeiten, sondern ist Täter und soll bestraft
werden. Dies ist auch aus städtebaulichen Gründen der
Grund unseres Gesetzentwurfs.
Aus der Diskussion auch mit Vertretern anderer Par-
teien weiß ich, daß hier Ansätze eines neuen Konsenses
spürbar sind. Oft aber wird einem dagegengehalten – das
gilt auch für die Graffiti-Schmierereien –, die wahren
Ursachen seien gesellschaftlicher Natur, die man mit
Gesetzen, wie unserem Graffiti-Bekämpfungsgesetz,
nicht lösen könne. Ich halte diese Einstellung für falsch,
was die Schlußfolgerungen betrifft.
In der zentralen Frage der Attraktivitätssteigerung un-
serer öffentlichen Räume, die von den Menschen in un-
serem Land schlicht und ergreifend wieder als ange-
nehmes Umfeld empfunden werden wollen und müssen,
in denen es Spaß macht, sich aufzuhalten, müssen Kri-
minalität, Zerstörungswut und Schmierereien auch ohne
vorherige Lösung schwieriger gesellschaftlicher Pro-
bleme bekämpft werden. Dies muß parallel dazu erfol-
gen und darf nicht zur Voraussetzung dafür gemacht
werden, daß wir gegen die Verunstaltung unserer Städte
und Gemeinden angehen.
Dieser Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetz-
buches, das Graffiti-Bekämpfungsgesetz, ist deswegen
mehr als ein Ansatz zum verbesserten Schutz von pri-
vatem und öffentlichem Eigentum und zur Vermeidung
hoher volkswirtschaftlicher Schäden. Es ist ein Gesetz-
entwurf, der das Leben in unseren Städten wieder ein
Stückchen lebenswerter machen soll.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das grassierende Bemalen oder auch Beschmieren von
Wänden und Gebäuden wird auch von meiner Fraktion
keineswegs verharmlost. Die Renovierungskosten, die
durch das unerlaubte Besprühen privater und öffentli-
cher Flächen entstehen, sind für die Betroffenen teilwei-
se immens. Auch der volkswirtschaftliche Schaden ist
beträchtlich. Da gibt es nichts zu beschönigen.
Mitte der 80er Jahre ist die Graffiti-Welle aus den
USA zu uns übergeschwappt. Da war auch noch künstle-
rische Kreativität im Spiel. Seitdem haben die Graffitis
insbesondere in den Großstädten mittlerweile ein Aus-
maß – aber auch einen Qualitätsabfall – erreicht, das
man selbst als weltoffener Kunstfreund nicht mehr allein
mit dem Argument der Kunstfreiheit zu begrüßen ver-
mag.
Beide vorgelegten Entwürfe zum Problem des soge-
nannten Graffitiunwesens sind kriminalpolitisch ver-
fehlt. Das von der Opposition erwünschte Präventions-
ziel wird so nicht erreicht. Im übrigen besteht angesichts
der bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung
ohnehin kein Handlungsbedarf für den Gesetzgeber.
Bedarf es zur Verhinderung unerlaubter Graffitis ei-
ner Ausweitung des Tatbestandes der Sachbeschädigung
durch das Merkmal „Verunstalten“? Angeblich soll die
Neufassung des Tatbestandes für Rechtssicherheit sor-
gen. Diese Rechtssicherheit ist jedoch schon gegeben.
So verurteilt die weitaus überwiegende Anzahl von
Strafgerichten bereits jetzt auf Grundlage des § 303
Strafgesetzbuch. Die für das Merkmal der „Beschädi-
gung“ maßgebliche Substanzverletzung wird in den
meisten Fällen bereits deshalb angenommen, weil die
Häuserwand schon durch die spätere Beseitigung des
Lack- oder Farbanstrichs nicht unerheblich in Mitleiden-
schaft gezogen wird. Das OLG Düsseldorf hat richtig
festgestellt: Farbsubstanzen aus Sprühdosen wirken der-
art massiv auf den Untergrund ein, daß es regelmäßig
besonderer Lösungsmittel bedarf, um die aufgesprühte
Farbe zu beseitigen. Dies gelinge, so das Gericht, aber
nur unzulänglich, sei es, weil sich die Farbe nicht gänz-
lich beseitigen lasse, oder aber weil die Lösungsmittel
das zugrunde liegende Material angegriffen haben. Auch
der 3. Strafsenat des BGH bejaht ohne ein Wort des
Zweifels bei Farbsprühaktionen das Vorliegen einer
Sachbeschädigung. Ausgenommen von einer Strafbar-
keit werden lediglich völlig unerhebliche Beeinträchti-
gungen, deren Beseitigung üblicherweise überhaupt un-
terbleibt oder ohne ins Gewicht fallenden Aufwand
möglich wäre. Hierfür besteht aber zu Recht kein Straf-
bedürfnis.
Im übrigen würde das Merkmal des „Verunstaltens“
selbst zu einer Rechtsunsicherheit für die Rechtspre-
chung führen. Als Beweis hierfür genügt bereits ein
Blick in die präsentierten Gesetzentwürfe: Im CDU-
Papier ist davon die Rede, daß das „Beschmutzen“ die
2550 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
„Strafbarkeit überspannen“ würde. Nach Auffassung der
F.D.P. ist das Beschmutzen und das Beschmieren von
dem Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung umfaßt.
Was ist nun richtig? Schließlich erhoffen sich Union und
F.D.P. von einer Gesetzesänderung ein präventives Si-
gnal. Hier haben wir wieder Ihren naiven Glauben, man
brauche nur ein neues Gesetz zu beschließen und schon
würden die Täter in sich gehen und von ihrem schändli-
chen Tun ablassen. Das wird dem Phänomen des Graffi-
ti-Unwesens in keiner Weise gerecht. So zeigen ein-
schlägige Befragungen der zumeist jugendlichen Täter,
daß für sie gerade im Verbotenen der Reiz, der besonde-
re „Kick“ der Tat besteht. Den Sprayern ist also schon
heute bewußt, daß ihr Handeln nicht erlaubt ist.
Ich möchte noch auf folgendes hinweisen: Graffiti-
Tätern drohen gegenwärtig nicht nur Strafe oder Geld-
buße wegen einer Ordnungswidrigkeit – § 118 OWiG:
Belästigung der Allgemeinheit –, sondern auch zivil-
rechtliche Regreßansprüche. Für die besteht dreißig Jah-
re lang Haftung. So steht manchem gefaßten Sprayer
bevor, daß er noch als Erwachsener für seine Jugend-
sünden zahlen muß. Mancher hat schon Schulden von
über 250 000 Mark.
Um das Unrechtsbewußtsein der Täter zu schärfen,
forderte man deshalb vor einiger Zeit selbst aus der
CDU Berlin – so der Parl. Geschäftsführer CDU-
Fraktion Berlin, Dieter Hapel –: Stärkung zivilrecht-
licher Schadensersatzansprüche und Förderung des di-
rekten „Täter-Opfer-Ausgleichs“. Die Parteifreunde der
CDU/CSU-Fraktion in der Hauptstadt Berlin waren we-
nigstens an diesem Punkt näher am wirklichen Leben. In
der Tat: Wenn die Jugendlichen die Schmierereien selbst
beseitigen müssen, dann hat das wirkliche Lerneffekte.
Will man Unrechtsbewußtsein fördern, so muß man hier
ansetzen. Die vorgelegten Entwürfe sind dagegen reine
Papiertiger. Ich fasse zusammen: Ein Handlungsbedarf
des Gesetzgebers besteht nicht. Deshalb ist auch ein
ähnlicher Entwurf des Bundesrates verfehlt.
Der jetzige Wortlaut des § 303 StGB reicht zur erfor-
derlichen strafrechtlichen Ahndung der Taten aus, wie
die entsprechenden Gerichtsentscheidungen unterstrei-
chen. Die heute vorgelegten Gesetzentwürfe bringen
kriminalpräventiv nichts. Sie sind reine Show-Veran-
staltungen.
Rainer Funke (F.D.P): Es ist sicherlich nicht leicht,
an einem Tag wie heute, wo die Gedanken sich mit
Krieg und Frieden beschäftigen, über Sachbeschädigung
zu sprechen. Denn in der Tat, der Entwurf der F.D.P.
zum verbesserten Schutz des Eigentums beinhaltet, daß
das unerlaubte Graffiti-Sprühen klar und deutlich zu
Sachbeschädigung erklärt wird.
Das unerlaubte Graffi-Sprühen hat in den letzten Jah-
ren große Ausmaße angenommen. Betroffen sind davon
private und öffentliche Gebäude, Verkehrsmittel, etwa
S-Bahnen, sowie Autobahnbrücken. Nichts ist eigentlich
vor den Graffiti-Sprühern sicher.
Natürlich weiß ich, daß insbesondere bei jüngeren
Leuten dieses Sprühen als Kult, ja zum Teil sogar als
Kunst verstanden wird.
Das ändert aber nichts daran, daß es sich hierbei um
eine Schädigung des Eigentums handelt, denn nicht je-
der Eigentümer empfindet diese Kunst- oder Kulthand-
lung als Bereicherung. Vielmehr wird er bestrebt sein,
seine Wände und Flächen zu säubern und in seinem Sin-
ne zu gestalten. Die Kosten hierfür gehen in Zigtausende
und sind dem Eigentümer der Flächen nicht zuzumuten.
Dennoch ist die Rechtsprechung zum Teil dazu über-
gegangen, das Besprühen von Wänden nicht als Sachbe-
schädigung anzusehen, weil nicht in die Substanz des
Hauses und der Fläche eingegriffen werde. Ich will diese
Rechtsprechung hier nicht beurteilen.
Der Sinn unseres Gesetzes ist, hier eine Klarstellung
vorzunehmen, die feststellt, daß schon das Verunstalten
von Wänden, Flächen und Gebäuden eine Sachbeschä-
digung darstellt und so die zum Teil nicht ganz ver-
ständliche Rechtsprechung obsolet wird.
Unser Gesetzentwurf zielt daher darauf ab, das er-
laubte Graffi-Sprühen eindeutig als Unrecht zu qualifi-
zieren. Dies verlangt auch der Schutz des Eigentums
gemäß Art. 14 des Grundgesetzes.
Natürlich soll auch dieser Gesetzentwurf auf die häu-
fig jugendlichen Täter präventiv wirken und auch deut-
lich machen, daß die Freiheit eines jeden dort endet, wo
die Grundfreiheiten eines anderen Bürgers verletzt wer-
den können.
Sabine Jünger (PDS): Zunächst ein Wort zum
CDU/CSU-Entwurf: Er ist ein Aufschrei einer verständ-
nislosen Generation, der nichts anderes einfällt als
Druck, wenn die lieben Kinder nicht spuren. Allerdings
entlarvt Ihre Sprache den Entwurf. Graffiti werden per
se als „Schmiererei“ bezeichnet. Der kreative Ausdruck
einer bestimmten Jugendkultur wird pauschal als „Un-
wesen“ verunglimpft. Politische und andere Parolen,
Tags, großflächige Bilder, die sogenannten Pieces, und
sogar Plakate werden in einen Topf geschmissen und für
grundsätzlich rechtswidrig erklärt. Der CDU/CSU geht
es doch nur um eines: um billigen Populismus. Sie will
sich mal wieder als Hüter der inneren Sicherheit auf-
spielen, und deshalb erklärt sie Jugendliche zu Vanda-
len!
Untersuchungen haben ergeben, daß Menschen über
30 Jahre Graffiti eklatant anders sehen und bewerten als
Menschen unter 30. Der Entwurf der CDU/CSU doku-
mentiert also in erster Linie das Durchschnittsalter der
Einreicher. Vielleicht sollten sie sich mal mit Jugend-
lichen unterhalten. Aber das nutzt ja wohl doch nichts.
Nun zum F.D.P.-Entwurf: Er wendet sich ausdrück-
lich gegen das unerlaubte Sprühen. Allerdings: Ich habe
mich schon gewundert, daß die Kollegen Funke und
Schmidt-Jortzig für diesen Gesetzentwurf mitverant-
wortlich sind. Herr Funke hat im Juni 1996 – damals
noch als Parlamentarischer Staatssekretär unter Bun-
desjustizminister Schmidt-Jortzig – auf die schriftliche
Frage des CDU/CSU-Abgeordneten Teise erklärt – ich
zitiere: „Nach Auffassung der Bundesregierung“, also
CDU/CSU und F.D.P., „reichen die Strafmaßnahmen
des geltenden Rechts aber grundsätzlich aus, um die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2551
(A) (C)
(B) (D)
durch ‚Graffiti-Sprayer‘ begangenen Sachbeschädigun-
gen wirksam verfolgen und angemessen ahnden zu kön-
nen.“
Als die Damen und Herren von CDU/CSU und
F.D.P. hier noch das Sagen hatten, fanden sie die
Rechtslage ausreichend. Kaum sind sie in der Oppositi-
on, sehen sie eine Bedrohung des Eigentums und des Si-
cherheitsempfindens und spielen in der Öffentlichkeit
den Retter in der Not. Das zeigt doch schon, was von ih-
ren Entwürfen zu halten ist, zumal wir uns hier sowieso
noch einmal mit dem Thema befassen müssen, weil der
Bundesrat dazu bereits letzten Freitag einen Gesetzent-
wurf verabschiedet hat.
Sprayer sind größtenteils männliche Jugendliche zwi-
schen 12 und 18. Wenn sie beim Sprühen erwischt wer-
den, dann hat das schon jetzt ziemliche Folgen für die
Jungs: Verhöre, Hausdurchsuchungen und der vorpro-
grammierte Ärger mit den Eltern, Beseitigung der Graf-
fiti, persönliche Haftung für den Schaden und damit ein
Schuldenberg. Je nach Sachlage kommt womöglich
noch eine Anklage wegen Sachbeschädigung hinzu. Das
wissen die Sprayer, so etwas spricht sich ja rum. Die
Konsequenz daraus ist doch aber, sich nicht erwischen
zu lassen.
Was also wollen Sie mit der Erfindung eines dubio-
sen Straftatbestands wie den der „Verunstaltung“ errei-
chen? Daß die jährlichen Zahlen der Jugendkriminalität
steigen und Sie wieder den Verfall von Recht und Ord-
nung anprangern und Jugendliche als kleine Monster
darstellen können?
Graffiti sind eine Antwort auf unsere oftmals ge-
sichtslosen Städte. Sie sind eine Antwort auf die phanta-
sielose Stadtplanung und Stadtentwicklung. Selbst in
den wenigen Fällen, in denen Bürgerinnen und Bürger
einbezogen werden, bringt diese Planung zum Aus-
druck, was sie in der Praxis vom kreativen Potential und
den Anregungen von Kindern und Jugendlichen hält,
nämlich nichts.
Graffiti sind eine Form der Selbsthilfe gegen Tristes-
se und Monotonie im Stadtbild. Sie sind bunt, und sie
sind originell – manche mehr, manche weniger. Und sie
signalisieren: Wir sind hier, und wir akzeptieren Eure
Dominanz nicht. Graffiti sind der Ausdruck eines Le-
bensgefühls. Sie stehen für Kreativität und Power. Mit
Graffiti eignen sich Jugendliche den öffentlichen Raum
an, der ja an sich sowieso für alle da sein sollte.
Das Problem ist, daß Kinder und Jugendliche nicht
einbezogen werden in die Gestaltung ihrer Umwelt und
in andere Entscheidungen, die auch sie betreffen. Das
Problem ist auch, daß Jugendkulturen vom Rest der
Gesellschaft oder doch von weiten Teilen immer als
Bedrohung und nicht als Ausdruck einer Bevölke-
rungsgruppe und damit als Bereicherung empfunden
werden.
Setzen Sie doch ruhig weiter auf Ihre kulturelle und
politische Dominanz! Behelfen Sie sich in ihrer Hilf-
losigkeit gegen Jugendphänomene weiter mit der Geset-
zeskeule. Aber ich sage Ihnen, Sie werden verlieren, und
das ist gut so!
Solange Sie Jugendlichen keine besseren Angebote
machen, ihre Kreativität, ihre Suche nach Authentizität
und ihr Lebensgefühl auszuleben, müssen Sie sich wohl
damit abfinden, daß Sie der Attraktivität der Spraydose
nichts entgegensetzen können.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Rede
zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungs-
punkt 12)
Simone Violka (SPD): Die Entschädigung von
Zwangsarbeitern der NS-Zeit ist mit Sicherheit eines der
sensibelsten Themen der heutigen Zeit. Viele Frauen
und Männer haben vor über 54 Jahren durch die
Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen ihr Leben
verloren. Diejenigen, die überlebt haben, erlitten oft
körperliche, vor allem aber seelische Wunden. Um so
wichtiger ist es, daß dieses Thema nach langen Jahren
des Stillschweigens und Ignorierens endlich hier im
Deutschen Bundestag behandelt wird. Bisher schien das
nicht möglich gewesen zu sein.
Der Gesetzentwurf der PDS, der beinhaltet, daß
betroffene Unternehmen ihre Zahlungen an den
Zwangsarbeiterentschädigungsfonds nicht mehr steuer-
lich absetzen können, ist auf den ersten Blick in morali-
scher Hinsicht durchaus nachvollziehbar. Und es ist si-
cherlich richtig, daß die Unternehmen, die damals
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt
haben und daraus einen erheblichen Vorteil hatten, die
Entschädigungszahlungen nicht dazu nutzen dürfen, um
ihre Jahresbilanz zu verschönern. Aber dafür sind diese
Fondseinzahlungen auch nicht gedacht. Vielmehr sollen
endlich die Opfer einen Ausgleich für ihre Arbeit erhal-
ten, die sie unter Verletzung ihrer Menschenwürde ge-
zwungen verrichten mußten.
Allerdings sollte die PDS-Fraktion wissen, daß Zah-
lungen der Unternehmen in den Zwangsarbeiterentschä-
digungsfonds trotz des internationalen Drucks freiwillig
geschehen, und es stellt sich in dieser Hinsicht die Fra-
ge, inwieweit Unternehmen ihre moralische Pflicht zur
Zahlung der Entschädigung wahrnehmen werden, wenn
deren steuerliche Absetzbarkeit nicht mehr gewährleistet
ist. Dies kann sich dann in der Höhe der Zahlungen be-
merkbar machen oder gar in der Einstellung von Zah-
lungen.
Dieses Risiko ist aus meiner Sicht nicht zu vertreten.
Die ehemaligen Zwangsarbeiter haben ein Anrecht auf
eine möglichst großzügige Ausstattung des Fonds, und
das Verbot der steuerlichen Abziehbarkeit wäre ein fal-
sches Signal, weil es zumindest die Gefahr von Kompli-
kationen birgt und das Verfahren unvertretbar hinaus-
ziehen kann.
Die Zahlungen in den Fonds haben auch nichts mit
strafrechtlichen Sanktionen gegen damalige Unterneh-
mer zu tun, die von der Arbeit der Zwangsarbeiter pro-
fitieren. Die heute einzahlenden Unternehmen sind in
2552 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
den meisten Fällen Rechtsnachfolger, die eine Beschä-
digung des nationalen und internationalen Ansehens von
ihren jetzigen Betrieben abwenden wollen.
Da diese Zahlungen, wie vorhin schon erwähnt, frei-
willig erfolgen, halte ich es für äußerst bedenklich, diese
Leistungen mit Geldbußen, Verwarnungsgeldern, Zinsen
auf hinterzogene Steuern und Schmiergeldern steuerlich
gleichzusetzen. Denn diese von mir aufgezählten Aus-
gaben dürfen den Gewinn nicht mindern, und die PDS-
Fraktion möchte mit ihrem Antrag diese Reihe durch die
Entschädigungszahlungen ergänzen.
Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt, der gegen
diesen PDS-Antrag spricht. Viele Unternehmen, die
Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen beschäftigten,
sind heute gar nicht mehr existent. Wenn man aber will,
daß trotzdem alle Betroffenen einen angemessenen Be-
trag erhalten, ist man auf eine große Beteiligung der
noch in Frage kommenden angewiesen. Eine Versagung
des Betriebsausgabenabzuges würde dazu führen, daß
man, wenn überhaupt, nur seine eigenen moralischen
Verpflichtungen erfüllt und damit eine angemessene
Fondsausstattung sehr schwierig wird.
Abgesehen also von der immensen Rufschädigung
deutscher Unternehmen im Ausland und der damit ein-
hergehenden Belastung der internationalen Märkte wäre
die Folge eine Schwemme von Zivilprozessen der Opfer
gegen die betroffenen Konzerne, deren Ausgang von
hier aus nicht bewertet werden kann. Auf jeden Fall aber
würde es noch mehr Zeit verschlingen, bis auch nur die
ersten ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsar-
beiter das bekommen, was ihnen zusteht. Der Gesetz-
entwurf der PDS würde demnach nur sekundär die Kon-
zerne und Unternehmen treffen, die im Zweiten Welt-
krieg Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter be-
schäftigt haben, vor allem aber die Opfer der Zwangsar-
beit, und das können die Kolleginnen und Kollegen von
der PDS nun wirklich nicht wollen.
Derzeit können nach völkerrechtlichen Grundsätzen
und der deutschen Gesetzeslage keine Rechtsansprüche
ehemaliger ausländischer Zwangsarbeiter auf Entschä-
digungsleistungen für kriegsbedingte Zwangsarbeit ge-
gen Privatunternehmen geltend gemacht werden. Ob-
wohl dazu noch ein höchstrichterliches Grundsatzurteil
aussteht, halte ich es im Interesse der Betroffenen und
der schon zu weit fortgeschrittenen Zeit eher für vertret-
bar, nicht auf dieses Urteil zu warten, sondern endlich zu
handeln. Unter dem Aspekt der temporären Dringlich-
keit und der Verhinderung einer Rufschädigung der
deutschen Unternehmen sollte man deshalb die Zahlun-
gen auch als Betriebsausgaben abziehbar zulassen.
Bei dem Gesetz geht es uns doch nicht um die Maxi-
mierung des Betriebsgewinns oder um bessere Jahres-
bilanzen für die Konzerne, wie Sie vielleicht vermuten
mögen. Es geht hier einzig und allein um die Menschen
und deren durch großes Leid verdiente Entschädigung.
Im übrigen halte ich es für ziemlich populistisch, wenn
sie bei einem so sensiblen Thema mit der ihnen eigenen
Klassenkampfphilosophie argumentieren.
Nur eine Beibehaltung des § 4 Abs. 5 des Einkom-
mensteuergesetzes in der jetzigen Form sorgt für mög-
lichst hohe Entschädigungen für Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter, und das ist es doch, was Sie sicher
wollen.
Allerdings möchte ich hier noch einmal sehr explizit
und sehr eindringlich an die Unternehmen appellieren,
ihre Zahlungen nicht in erster Linie nach wirtschaft-
lichen, sondern nach moralischen Größenvorstellungen
zu leisten. Diese Entschädigung kann vielleicht den ent-
gangenen Lohn und die daraus entgangenen Zinsen
abgelten, niemals aber das körperliche Leid und den
psychischen Druck, dem diese Menschen ausgesetzt wa-
ren und den sie ertragen haben. Zeigen wir diesen Men-
schen endlich unseren Respekt und unsere Achtung, und
hören wir auf, ihre Ansprüche durch solche Anträge für
parteiliche Profilierungen zu mißbrauchen. Das verfehlt
das Ziel nämlich um einiges und hilft keinem, vor allem
nicht den Opfern.
Daher lehnt die SPD-Fraktion den Antrag der PDS-
Fraktion ab, die Entschädigungszahlungen für Zwangs-
arbeiter nicht mehr gewinnmindernd abziehen zu kön-
nen, und appelliert an die Unternehmen, freiwillig den
Fonds so großzügig auszustatten, daß ihre Achtung und
ihr Respekt vor den Betroffenen auch darin zum Aus-
druck kommt und nicht nur als moralisches Feigenblatt
angesehen werden muß.
Christine Scheel (Bündnis 90/Die Grünen): Wir hal-
ten es für richtig, daß Zahlungen der Unternehmen in
den geplanten Entschädigungsfonds nach § 4 Abs. 4
EStG gewinnmindernd in Abzug gebracht werden. Hier-
zu gilt folgendes zu sagen: Wenn es der neuen Regie-
rung nun nach Jahrzehnten endlich gelingt – anders als
ihren Vorgängern –, die Industrie dazu zu bewegen, in
einen Industriefonds oder – wie wir es als Bündnisgrüne
noch besser fänden – in eine zu gründende Bundesstif-
tung einzuzahlen, dann halten wir es für sinnvoll, daß
Unternehmen diese Ausgaben steuerlich gewinnmin-
dernd geltend machen können.
Es werden laut öffentlicher Ankündigung eine Reihe
von Firmen in den Industriefonds einzahlen, die selbst
keine Zwangsarbeiter beschäftigt haben, zum Beispiel
die Deutsche Bank oder Versicherungen. Diese würden
ihre Zusage wahrscheinlich rückgängig machen; andere
Firmen, die wir zu Zahlung unbedingt noch gewinnen
wollen, würden gar nicht mehr daran denken, etwas in
diese Stiftung einzuzahlen.
Der Abzug von Betriebsausgaben kann nicht beliebig
eingeschränkt werden. Dem geltenden Einkommensteu-
errecht liegt das Prinzip zugrunde, daß Gegenstand der
Besteuerung nur sie Rein- oder Nettoeinkünfte sind
– Überschuß oder Gewinn – und daß grundsätzlich alle
Erwerbsaufwendungen als Werbungskosten oder Be-
triebsausgaben abziehbar sind, sogenanntes objektives
Nettoprinzip. Das Bundesverfassungsgericht läßt jedoch
bei Vorliegen gewichtiger Gründe Abweichungen vom
Nettoprinzip zu.
Die Nichtabziehbarkeit von Betriebsausgaben ist in
§ 4 Abs. 5 EStG geregelt. Die meisten Einschränkungen
des § 4 Abs. 5 EStG sollen Mißbräuche bei solchen Be-
triebsausgaben verhindern, die regelmäßig die private
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2553
(A) (C)
(B) (D)
Lebensführung berühren. Gewichtige Gründe für die
Versagung des Betriebsausgabenabzugs im vorliegenden
Sachverhalt sind nicht ersichtlich: Es geht nicht um eine
steuerliche Begleitung strafrechtlicher Sanktionen gegen
die damaligen Unternehmensleitungen oder Unterneh-
menseigner, sondern um Aufwendungen zur Schadens-
abwehr infolge der Unternehmensidentität bzw. Rechts-
nachfolge bei schon im Zweiten Weltkrieg existierenden
deutschen Unternehmen. Auch aus Sicht der betroffenen
Zwangsarbeiter, die Interesse an einer möglichst groß-
zügigen Ausstattung des Fonds haben, wäre das Verbot
der steuerlichen Abziehbarkeit ein falsches Signal des
deutschen Steuergesetzgebers, da dies zu einer Vermin-
derung der – freiwilligen – Unternehmensleistungen
führen würde. Das Hauptproblem besteht zudem nicht in
der Entschädigung der Zwangsarbeiter, die in noch exi-
stierenden deutschen Unternehmen gearbeitet haben,
sondern derjenigen, die in Unternehmen eingesetzt wa-
ren, die nicht mehr bestehen. Auch diese Überlegung
spricht gegen den Vorschlag, durch die Versagung des
Betriebsausgabenabzugs den Fonds für deutsche Unter-
nehmen unattraktiv zu gestalten.
Gisela Frick (F.D.P.): Für die F.D.P. muß ich schon
meiner Verwunderung Ausdruck geben, daß gerade die
PDS diesen Antrag zur Abstimmung stellt.
Der Begründung des Antrages kann ich entnehmen:
„Kosten, die im Zusammenhang mit Verbrechen gegen
die Menschlichkeit stehen, sind mit ‚Betriebsausgaben‘
nicht vereinbar und dürfen steuermindernd nicht geltend
gemacht werden.“ Daß gerade Sie als Nachfolgepartei der
SED diesen Antrag stellen, ist deshalb so bemerkenswert,
weil ja unter dem Regime der SED wahrhaftig viele Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Als
Stichworte nenne ich hier nur: Mauermorde, menschen-
unwürdige Haftstrafen, Stasi-Bespitzelung, Ausreisever-
bote und Verfolgung politisch Andersdenkender.
Daß Sie sich auch durch das Vermögen der SED
einen erheblichen Startvorteil in den neuen Ländern ver-
schafft haben, möchte ich nur am Rande bemerken.
Sie sollten sich sehr viel mehr darüber freuen, daß die
Unternehmen – wenn auch sehr spät – der Bildung eines
solchen Fonds zur Entschädigung der Zwangsarbeiter
zugestimmt haben. Das, was Sie jetzt verlangen, näm-
lich die Entschädigungszahlungen an einen solchen Ent-
schädigungsfonds für Zwangsarbeiter nicht als Betriebs-
ausgaben abzugsfähig zu machen, wäre eine zusätzliche
Bestrafung der Unternehmen, die sich zur Entschädi-
gung bereit gefunden haben.
Die von Ihnen beantragte Aufnahme einer neuen
Nr. 11 in den Absatz 5 des § 4 EStG würde die Bereit-
schaft dieser Unternehmen über die eigentliche Zahlung
hinaus zusätzlich strapazieren. Dabei ist es keine Frage,
daß es sich bei solchen Entschädigungszahlungen um
echte Betriebsausgaben im Sinne des § 4 Abs. 4 handelt,
nämlich um Aufwendungen, die durch den Betrieb ver-
anlaßt sind. Diese zu den nichtabziehbaren Betriebsaus-
gaben des Absatzes 5 zu zählen ist systematisch nicht zu
rechtfertigen. Insbesondere ist in den Entschädigungs-
zahlungen auch keine Strafe, wie z. B. die in Ziffer 8 des
Absatzes 5 aufgeführten Geldbußen, Ordnungsgelder
und Verwarnungsgelder, zu sehen.
Den heutigen Entscheidungsträgern in den Unter-
nehmen ist aus der Beschäftigung von Zwangsarbeitern
natürlich kein persönlicher Vorwurf mehr zu machen.
Für die F.D.P. sage ich jedenfalls: Wir freuen uns, daß
eine Lösung dieser sehr sensiblen Frage gefunden wor-
den ist, und möchten die beteiligten Unternehmen nicht
noch zusätzlich belasten.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
zum Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion PDS: Ermäßigter Mehrwert-
steuersatz für arbeitsintensive Leistungen (Ta-
gesordnungspunkt 13)
Dieter Grasedieck (SPD): Es gibt in der Politik nur
eine Todsünde: Handeln ohne Ziel.
So schlug die CDU/CSU-Fraktion vor zwei Wochen
den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für das Gast- und
Hotelgewerbe vor, obwohl der ehemalige CDU/CSU-
Staatssekretär Hauser noch am 30. September 1997 sagte:
Die Einführung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes
von 7% auf die Abgabe von Speisen und Getränken
ist EG-rechtlich nicht zulässig. Die Besteuerung der
Beherbergungsumsätze wird wegen der Steuermin-
dereinnahmen von rund 1,4 Milliarden DM abge-
lehnt.
Genau anderthalb Jahre später stellt die CDU/CSU-
Fraktion den Antrag. Wo bleibt da die Glaubwürdigkeit?
Heute schlägt die PDS den ermäßigten Mehrwert-
steuersatz für arbeitsintensive Leistungen vor. Diese
Steuerausfälle werden auf 20 Milliarden DM geschätzt.
Sie stellen diesen Antrag, obwohl Sie wissen, daß in
den nächsten 2 Jahren unsere Bundesregierung die Fa-
milien noch weiter entlasten will. Die Koalition will die
Familie mit rund 20 Milliarden DM fördern.
Was hätten Sie denn gern? In einer vernetzten, glo-
balisierten Welt greift die Methode „Wünsch dir was“
nicht.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
handeln ohne ein Konzept und ohne Verantwortung, frei
nach dem Motto: Opposition ist die Kunst, etwas zu ver-
sprechen, was die Regierung nicht einlösen kann.
So soll die Mehrwertsteuer bei Renovierungs- und
Reparaturarbeiten bei Freizeitparks und Pflegeleistun-
gen reduziert werden. Sind Anbauten für Einlieger-
wohnungen, Wintergärten oder Dachausbauten auch
Renovierungsarbeiten? Dürfen die Kosten 200 000 DM
oder 400 000 DM überschreiten?
Wo grenzen Sie diese Renovierungsarbeiten ab? Frei-
zeitparks gehören in Ihrem Antrag auch zu arbeitsinten-
siven Dienstleistungen. Gehört der Warner Park in Bot-
trop mit 10 Kinos, 25 Gaststätten, Cafés und über 2 000
2554 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
Mitarbeitern dazu? Oder zählt der Einzelschausteller mit
seiner 90 m hohen Riesenradattraktion dazu?
Fragen über Fragen, die zu komplizierten Gesetzes-
abgrenzungen führen. Wo bleibt die Gesetzesklarheit,
wo die Vereinfachung? So sagte vor ein paar Tagen der
Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Hand-
werks, Dieter Philipp, im Handelsblatt:
Wir halten den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für
den falschen Weg. Das gibt nur Abgrenzungspro-
bleme. Welcher Betrieb ist arbeitsintensiv, welcher
nicht? Wir sind skeptisch.
Skeptisch, meine Damen und Herren, ist auch der
Ecofin-Rat. So schreibt die Kommission:
Es ist nicht sicher, daß die ermäßigte Mehrwert-
steuer Arbeitsplätze schafft.
Schwierig ist auch, ein Verzeichnis für Dienstlei-
stungen aufzustellen. Wie wollen Sie die Abgrenzungs-
probleme überprüfen? Unsere Finanzämter sind heute
schon überfordert. Die Finanzgerichte überschreiten ihre
Grenzbelastung. Durch den PDS-Antrag wird die Erlaß-
flut weiter aufgebläht. Eine exakte Kontrolle ist kaum
möglich. Sie öffnen damit nur neue Steuerschlupflöcher.
Nein, zu einer glaubwürdigen Steuerreform gehört eine
konsequente Bekämpfung der Steuerhinterziehung.
Im übrigen sind die Versuchsanträge bei der EU
äußerst schwierig durchsetzbar. Viele Kriterien müssen
erfüllt werden, und alle EU-Mitglieder müssen zustim-
men.
Nein, meine Damen und Herren, die Bundesregierung
und die Koalition werden unsere Handwerksbetriebe
fördern und unterstützen. Im deutschen Handwerk ar-
beiten über 6 Millionen Menschen in fast 700 000 Be-
trieben. 40% der Auszubildenden werden im Handwerk
ausgebildet. Dafür können wir als Politiker nur dankbar
sein.
Hauptsächlich sichern und schaffen unsere Klein- und
Mittelbetriebe neue Arbeitsplätze. Das Handwerk be-
reichert den Wirtschaftsstandort Deutschland. 5,5 Mil-
liarden DM Entlastung. Unsere Steuerreform war der
1. Schritt. Deshalb benötigen wir ein Steuergesamtkon-
zept für Industrie und Handwerk.
Nur durch eine neue Unternehmensteuer fördern wir
unser gemeinsames Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Unsere Kleinunternehmer und der Mittelstand richten
neue Arbeitsplätze ein. Wir Politiker müssen die positi-
ven Rahmenbedingungen bieten. Unser Bundeskanzler
und die Regierungskoalition erarbeiten bis zur Sommer-
pause den neuen Gesetzentwurf. Politiker, Handwerker
und Industrie beeinflussen diesen Entwurf im Bündnis
für Arbeit. In der Zukunft benötigen wir mehr Gemein-
samkeit und zielgerichtete Diskussion.
Handeln mit Ziel ist angesagt.
Heinz Seiffert (CDU/CSU): Der Antrag der PDS, den
Mehrwertsteuersatz für sogenannte arbeitsintensive Lei-
stungen zu ermäßigen, ist ja nicht ganz neu. Und die Idee
hört sich – das gebe ich gerne zu – ja auch ganz gut an.
Man schöpft bei der PDS nun neue Hoffnung aus
dem Regierungswechsel und bezieht sich außerdem auf
einen Vorschlag der EU-Kommission vom Februar die-
ses Jahres. Die EU-Kommission bezieht sich auf die
Strategievorschläge des Wiener EU-Gipfels vom De-
zember 1998, der die Schaffung von Arbeitsplätzen als
oberste Priorität der EU-Politik bezeichnet hatte. Dieses
Ziel war und ist ja völlig unstrittig. Nur: Ob das mit die-
sem Versuch – nämlich durch die Ermäßigung der
Mehrwertsteuer Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewer-
be und im Handwerk zu schaffen – erreicht wird, steht
auf einem anderen Blatt.
Auch die Kommission scheint sich da nicht ganz si-
cher zu sein, denn eine endgültige Entscheidung soll erst
nach einer dreijährigen Versuchsphase erfolgen. Der zu-
ständige Kommissar Monti machte auch kein Hehl dar-
aus, daß der Vorschlag längst nicht den Beifall und die
Zustimmung aller EU-Partner fand. Es ist auch keines-
wegs sicher, daß der Vorschlag die Zustimmung des
EU-Ministerrates finden wird.
Nicht nur die EU-Kommission, sondern auch wir se-
hen das Hauptproblem bei diesem sicher gut gemeinten
Vorschlag in der Einordnung der zu fördernden Dienst-
leistungen. Da liegt tatsächlich der Haken: nämlich bei
der Einordnung und mehr noch bei der Abgrenzung.
Die EU-Kommission sieht folgende Kriterien für die
in Frage kommenden Dienstleistungen vor: sie müssen
arbeitsintensiv sein; sie müssen sich direkt an den End-
verbraucher/Kunden wenden; sie müssen sich vornehm-
lich im lokalen Umfeld bewegen und nicht den Wettbe-
werb verzerren; und die Anwendung ermäßigter Mehr-
wertsteuersätze auf diesem Gebiet darf sich nicht als ne-
gatives Vorzeichen für den gemeinsamen Markt heraus-
stellen.
Eines ist ganz deutlich: Die EU-Kommission schließt
negative Auswirkungen auf die europäischen Harmoni-
sierungsbemühungen in der Steuerpolitik und auf den
gemeinsamen Markt nicht aus. Und dieses Problem se-
hen auch wir.
Die Gründe, warum wir in Deutschland diesen Vor-
schlag der EU auch nicht mal probeweise umsetzen
sollten, haben sich seit der letzten Sitzung im März
1998, als ein ähnlicher PDS-Vorschlag abgelehnt wurde,
nicht wesentlich geändert.
Da ist zum einen der zu erwartende Steuerausfall von
rund 20 Milliarden DM. Sicherlich kann man – wie die
Handwerksverbände argumentieren – nicht gänzlich
ausschließen, daß es durch mehr Aufträge zu wachsen-
den Gewerbesteuereinnahmen kommt. Und auch die
Lohnsteuer der zusätzlich beschäftigten Arbeitnehmer
kann zu einem gewissen Ausgleich innerhalb des Steu-
ersystems führen. Dabei darf man allerdings nicht über-
sehen, daß die Mehrwertsteuer nur einen Bestandteil der
hohen Stundensätze der Handwerker ausmachen. Eine
Ermäßigung der Umsatzsteuer von 16 Prozent auf
7 Prozent würde zwar bei einem Stundensatz von
60 DM brutto eine Reduzierung auf 55 DM bringen. Das
wäre schon ein beachtlicher Schritt. Aber der Konkur-
rent vieler Handwerker – gerade im Bereich der Repa-
raturarbeiten – ist doch der Schwarzarbeiter, und der
macht es für 20 oder 25 DM pro Stunde.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2555
(A) (C)
(B) (D)
Ein größeres Problem für den Handwerker sind mei-
nes Erachtens die zu hohen Lohnnebenkosten. Ein
Schritt, der weit eher erfolgsversprechend scheint, wäre
es, wenn diese spürbar gesenkt werden könnten – aber
nicht durch eine neue Erhöhung indirekter Steuern, son-
dern durch Einsparungen. Ich fürchte also, daß die An-
bieter in der Schattenwirtschaft kaum durch eine Halbie-
rung der Mehrwertsteuersätze veranlaßt wirken, ihre
Dienstleistung legal anzubieten.
Ich finde, eine vernünftige Politik der Senkung der
Lohnnebenkosten und eine konsequente Senkung der
Steuersätze wären gerade für das Handwerk ein viel
probateres Mittel. So – und nicht durch neue Steuern
wie die Ökosteuer oder gar eine Erhöhung der Mehr-
wertsteuer – könnten die Rahmenbedingungen für alle
Dienstleister spürbar verbessert werden.
Ein weiteres Argument gegen die Ermäßigung der
Mehrwertsteuersätze in diesem Bereich ist mir Wichtig.
Es ist die Schwierigkeit der Abgrenzung. Welche
Dienstleistung ist arbeitsintensiv? Das wird nicht leicht
einvernehmlich zu entscheiden sein. Gerade beim Hang
der Deutschen, auch Kleinigkeiten vor Gericht klären zu
lassen, käme wohl eine Lawine von Protesten und Kla-
gen auf die betroffenen Behörden zu.
Und wie behandelt man den Handwerker, der nicht
nur vor Ort repariert, sondern zum Beispiel ein neues
Ersatzteil mitbringt, das er dem Kunden verkauft? Muß
er für Transport und Einbau eine Rechnung erstellen und
eine zweite für das Ersatzteil? Eine solche Regelung
würde zu einer weiteren Verkomplizierung des Steuer-
rechts führen, und die Kontrolle würde einen erhebli-
chen Aufwand verursachen. Das wäre wahrhaftig kein
Beitrag zur Entbürokratisierung – das käme vom büro-
kratischen Ausmaß her gleich nach den jüngsten Steuer-
gesetzen!
Dieses Argument muß auch die Dienstleister über-
zeugen, die wie das Handwerk den ermäßigten Mehr-
wertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen fordern.
Auch sie wären durch noch mehr Bürokratie belastet.
Ich bin sicher, ein guter Teil der Mehrwertsteuer-
Ersparnis würde beim Handwerk durch die Mehrkosten
der Bürokratie aufgezehrt. Das steht doch in klarem Wi-
derspruch zum Ziel, den Staat und die Bürokratie zu
verschlanken.
Und ein Weiteres ist mir wichtig: Wenn wir hier eine
Tür für den Dienstleistungsbereich öffnen würden, so
wären Weiterungen absolut unvermeidlich. Dann käme
der Wunsch nach dem ermäßigten Steuersatz für Arz-
neimittel, für Kinderkleider und, und, und. Wer wollte
da noch Einhalt gebieten? Für niedrigere Steuersätze
– auch bei der Mehrwertsteuer – gibt es tausend gute
Gründe.
Ich nehme die Argumente gerade auch der Handwer-
kerverbände nicht auf die leichte Schulter. Dennoch bin
ich ziemlich sicher, daß eine Ermäßigung der Mehrwert-
steuersätze bei arbeitsintensiven Dienstleistungen in
Deutschland nicht weiterhelfen würde.
Es gibt für uns allerdings eine Ausnahme, die ich hier
durchaus ansprechen will: das Beherbergungsgewerbe.
In diesem klar abgrenzbaren Bereich würde es durchaus
Sinn machen, mit einer Senkung des Mehrwertsteuersat-
zes etwas mehr Chancengleichheit im internationalen
Wettbewerb um Übernachtungsgäste zu schaffen. 12
von 15 EU-Staaten, also vier Fünftel der EU, nutzen die
Möglichkeit der ermäßigten Steuersätze. Hier sollten wir
nachziehen. Bisher haben die unmittelbaren EU-
Nachbarn kräftig von ihrem Vorteil gezehrt, denn in
Österreich liegt die Umsatzsteuer im Beherbergungsbe-
reich bei 10 Prozent, in Belgien und den Niederlanden
bei 6 Prozent, in Frankreich bei 5,5 Prozent und in Lu-
xemburg sogar bei 3 Prozent. Das macht sich bei einem
auch weltweit immer heftiger werdenden touristischen
Wettbewerb bemerkbar – ganz besonders im grenznahen
Bereich.
Es ist unbestritten: Deutschland hat gerade bei Besu-
chern aus Übersee, die sich einmal einen Teil von Euro-
pa anschauen wollen, einen Standortnachteil gegenüber
den europäischen Nachbarn. Dasselbe gilt für internatio-
nale Konferenzen. Wenn dieser Wettbewerbsnachteil
durch eine Ermäßigung der Mehrwertsteuersätze auf
7 Prozent wenigstens zu einem Teil ausgeglichen wer-
den könnte, wäre dem Beherbungsgewerbe zumindest in
diesem Teilaspekt geholfen. Die Steuermindereinnah-
men wären jedenfalls schon mit knapp 25 Prozent höhe-
ren Umsätzen ausgeglichen. Das wäre einen Versuch
wert. Bei allen anderen Dienstleistungen jedoch ist eine
Ermäßigung – wie dargelegt – eher kontraproduktiv.
Die PDS weiß sehr genau, daß ihr Antrag, die Mehr-
wertsteuersätze für arbeitsintensive Leistungen zu sen-
ken, voraussichtlich keine Mehrheit finden wird. Es ist
ein reiner Show-Antrag. Und ihr Vorgehen hat natürlich
Methode: Sie stellen sich gerne als David dar, der gegen
den bösen Goliath, sprich: die Parteien der alten Bundes-
republik, zu Felde zieht. Es geht ihnen weniger um die
Sache und schon gar nicht um den sogenannten ,,kleinen
Handwerker“. Wenn Sie – als PDS – den Handwerkern,
den Dienstleistern und dem Mittelstand wirklich hätten
weiterhelfen wollen, dann hätten Sie im Bundesrat die
Steuergesetze der Regierung und den Murks bei den
630-DM-Gesetzen verhindern können. Das wäre eine
echter Beitrag für weniger Bürokratie gewesen. Was Sie
aber heute beantragen, würde das Gegenteil bewirken.
Wir lehnen jedenfalls diesen Antrag der PDS erneut ab.
Klaus Wolfgang Müller (Kiel) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mal was anderes zu später Stunde! Ging es
in den letzten Tagen immerzu um eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer, so geht die PDS auch hier den revolu-
tionär anderen Weg: heute steht also die Senkung der
Mehrwertsteuer auf der Tagesordnung – oder zumindest
die Einführung eines ermäßigten Satzes auf arbeitsinten-
sive Leistungen. Aber wenn es auch etwas anderes ist,
etwas Neues ist es natürlich nicht. Einen fast identischen
Antrag brachten Sie ja bereits in der letzten Legislatur-
periode ein.
Genausowenig neu und überzeugend wie Ihr Antrag
ist, daß sich das finanzpolitische Konzept der PDS mal
wieder auf die Mehrwertsteuer beschränkt. Sie denken,
durch mannigfaltige Variationen der Mehrwertsteuersät-
ze und Ausnahmen könnten Sie alle denkbaren Proble-
2556 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
me lösen. Wofür soll die bei Ihnen nicht alles herhalten,
für Arbeitsförderung und Ökologisierung durch den
vorliegenden Antrag, für soziale Gerechtigkeit durch
eine Luxuskomponente in der Mehrwertsteuer, für Ge-
sundheitspolitik durch eine Senkung des Mehrwertsteu-
ersatzes für apothekenpflichtige Medikamente. Das ist
für eine finanzpolitische Grundlinie etwas dürftig.
In dem Regierungswechsel sehen Sie eine Chance,
daß Deutschland auf europäischer Ebene sich nun doch
für die Einführung eines ermäßigten Satzes auf arbeits-
intensive Dienstleistungen einsetzt. Das wundert mich,
denn so lange ist die letzte Beratung Ihres Antrags noch
nicht her. Bereits am 5. März des letzten Jahres war
auch bei den jetzigen Regierungsfraktionen keine Sym-
pathie für Ihren Antrag zu spüren. Schon vor einem Jahr
warf Ihnen meine Kollegin Scheel zu Recht vor, sie
würden populistische Nebelwerferei statt ernsthafter Fi-
nanz- und Wirtschaftspolitik betreiben. Sie nennen eini-
ge Argumente für die Einführung eines ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Leistungen.
Es sind die gleichen wie vor einem Jahr – und die glei-
chen Argumente sprechen auch heute noch dagegen.
Darum bitte ich Sie, Kolleginnen und Kollegen von
der PDS, die entsprechenden Passagen im Plenarproto-
koll 13/222 nachzulesen, insbesondere den Redebeitrag
meiner Kollegin Scheel. Sie geht dort, wie die meisten
anderen Rednerinnen und Redner auch, auf Fragen der
Abgrenzungsproblematik ein, die kaum zu lösen wären.
Auch wurde Ihr Argument, der ermäßigte Mehrwert-
steuersatz verringere merklich die Schwarzarbeit, wi-
derlegt. Wichtiger Einwand war auch, daß Ihr Vorschlag
keineswegs zur Durchschaubarkeit beitragen würde.
Durchgängiger Tenor in allen Beiträgen der Fraktionen
vor einem Jahr! Unverändert richtig.
Sie wollen Arbeitsplätze schaffen und das Steuersy-
stem ökologisieren. Das wollen wir auch. In zweierlei
Richtung mag da Ihr Antrag durchaus hilfreich sein: Ar-
beit wird so sicherlich geschaffen. Der Entwurf schreit
ja geradezu nach gerichtlichen Auseinandersetzungen,
um die anstehenden Abgrenzungsfragen zu klären. Das
ist ja wohl nicht Sinn der Sache. Sie gehen davon aus,
daß durch die Begünstigung von Reparaturleistungen
sich die Lebensdauer von Produkten erhöhen wird. Bei
Ihrem Antrag ist Ihnen das ja schon gelungen, herzli-
chen Glückwunsch.
Aber Spaß beiseite! Zur Förderung von Arbeit und
Ökologie ist der Vorschlag völlig ungeeignet. Natürlich
muß Arbeit preiswerter werden. Warum aber in einem
so komplizierten Verfahren und nur beschränkt auf so
schwer abgrenzbare Leistungen? Warum soll denn Ar-
beit bitteschön bei der Reparatur eines Fensters preis-
werter sein als die Arbeit einer Krankenschwester in der
Klinik? Wir denken der richtige Weg ist, die Lohnne-
benkosten ganz allgemein zu senken.
Ressourcenverbrauch wollen wir auch senken. Der
Hinweis auf die Szenarien aus der Studie unseres
Fraktionskollegen Reinhard Loske „Zukunftsfähiges
Deutschland“ zur Drosselung des Energie- und Roh-
stoffverbrauches sind sehr wichtig, aber nicht zur Be-
gründung Ihres Antrages. Einzelfallregelungen, wie Sie
sie hier vorschlagen, helfen nicht weiter. Ressourcen-
verbrauch, insbesondere Energieverbrauch muß teurer
werden.
Unser Weg, Arbeitslosigkeit abzubauen und das
Steuersystem ökologischer zu gestalten, liegen in der
ökologischen Steuerreform. Dort schlagen wir zwei
Fliegen mit einer Klappe: Steigende Energiepreise füh-
ren zu sparsamem Umgang mit vielen Ressourcen, sin-
kende Lohnnebenkosten werden zu Beschäftigungs-
wirkungen führen. Die erste Stufe der Reform wird am
1. April in Kraft treten. Weitere Schritte werden fol-
gen.
Im Gegensatz zu Ihrem Vorschlag unter dem Tenor
„ach, jetzt probieren wir mal drei Jahre und dann sehen
wir weiter“ wollen wir: Eine Korrektur des Steuersy-
stems – dauerhaft und für alle Bereiche.
Gisela Frick (F.D.P.): Mit Ihrem Antrag verfolgen
Sie das Ziel, die Regierung aufzufordern, „die Anwen-
dung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf ar-
beitsintensive Dienstleistungen auf europäischer Ebene
erneut anzuregen.“ Wie Sie in Ihrem Antrag richtig be-
merken, wurde die Anwendung eines ermäßigten Mehr-
wertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen
durch die alte Regierungskoalition abgelehnt. Wie das
Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin beim
Bundesminister für Finanzen vom 12. Januar 1999 – Fi-
nanzausschußdrucksache Nr. 43 – zeigt, will auch die
neue Regierung die Einführung eines ermäßigten Mehr-
wertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen
nicht unterstützen. Die Gründe, die dafür aufgeführt
sind, waren im wesentlichen auch schon die Beweg-
gründe für die Ablehnung dieser Regelung durch die alte
Regierung. Die Ansicht der F.D.P. hat sich in diesem
Punkt nicht geändert.
Eine Abgrenzung, was „arbeitsintensive Dienstlei-
stungen“ sind, ist kaum möglich. Die Regelung würde
zu einer weiteren Komplizierung des Steuerrechts füh-
ren, ihre Kontrolle einen außerordentlichen Aufwand
verursachen.
Es ist zu bezweifeln, daß ein ermäßigter Mehrwert-
steuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen tat-
sächlich zu neuen Arbeitsplätzen und einer Reduzie-
rung der Schattenwirtschaft führt. Die Umsatzsteuer ist
nur ein Preisbestandteil unter vielen. Ob der Unter-
nehmer den steuerlichen Vorteil an seine Kunden wei-
tergibt, kann von staatlicher Seite nicht beeinflußt wer-
den. Aus Sicht der Bundesregierung, die auch von der
Europäischen Kommission geteilt wird, ist zum Bei-
spiel eine Senkung der Lohnnebenkosten ein wesent-
lich effektiveres Instrumentarium zur Stimulation des
Arbeitsmarktes.
Da die Senkung der Umsatzsteuer nicht zwangsläufig
zu einer Reduzierung des Preises führt, ist nicht zu er-
warten, daß es zu einer größeren Nachfrage der Konsu-
menten und damit zu mehr Arbeitsplätzen kommt. Die
Erfahrung zeigt, daß Steuerreduzierungen durch die
Unternehmen nicht ohne weiteres weitergegeben wer-
den.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2557
(A) (C)
(B) (D)
Es besteht die Gefahr, daß die Regelung zum „Steuer-
schlupfloch“ wird, da die Voraussetzungen gestaltbar
sind. Eine derartige Regelung würde Unternehmen pro-
vozieren, arbeitsintensive Bereiche auszulagern.
Eine Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf ar-
beitsintensive Dienstleistungen würde zu erheblichen
Steuermindereinnahmen führen, die derzeit nicht ver-
kraftbar sind.
Die durch die Steuerermäßigung verursachten Haus-
haltsausfälle müßten kompensiert werden. Eine Kom-
pensation im Bereich der direkten Steuern wäre gegen-
läufig zur notwendigen Reform der Einkommensbe-
steuerung und scheidet daher aus. Eine Kompensation
innerhalb der Umsatzsteuer wäre wohl unvermeidbar.
Höhere Umsatzsteuern würden insbesondere die Einzel-
handelsunternehmen belasten mit der Gefahr des Verlu-
stes von Arbeitsplätzen in diesem Bereich.
Ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsinten-
sive Dienstleistungen müßte – wenn überhaupt – obli-
gatorisch in der EU eingeführt werden. Eine fakultative
Einführung – mit oder ohne Möglichkeit, unterschiedli-
che ermäßigte Steuersätze anzuwenden – würde für Un-
ternehmen eines Mitgliedstaates, der den allgemeinen
Steuersatz anwendet, zu Wettbewerbsnachteilen – insbe-
sondere in Grenzregionen – führen.
Darüber hinaus müssen wir auch bei der Umsatzsteu-
er zu einem einfacheren, transparenteren und damit ge-
rechteren System finden. Das bedeutet bei der Umsatz-
steuer – genau wie bei der Einkommensteuer – eher eine
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und damit die
Abschaffung von Sondertatbeständen und nicht die
Schaffung von neuen Ausnahmeregelungen. So ließe
sich auch der Mehrwertsteuersatz in Deutschland auf
niedrigem Niveau halten. Dieser Gedanke sollte auch
Eingang in die Überlegung derjenigen finden, die in der
Regierungskoalition ständig über eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer diskutieren.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zu dem Entwurf eines Gesetzes über die allge-
meine und die repräsentative Wahlstatistik bei
der Wahl der Abgeordneten des Europäischen
Parlaments aus der Bundesrepublik Deutsch-
land (Zusatzpunkt 6):
Barbara Wittig (SPD): Von 1953 und bis 1990 ver-
fügte die Bundesrepublik Deutschland über ein statisti-
sches Verfahren, das weltweit als vorbildlich geschätzt
wurde – die repräsentative Wahlstatistik. Diese zeigte
ein zuverlässiges Bild der politischen Partizipation in-
nerhalb der Wahlbevölkerung, nämlich die unterschied-
liche Wahlbeteiligung und die Differenzierung im
Wahlverhalten zwischen Frauen und Männern in den
verschiedenen Altersgruppen.
Seit 1994 mußten wir darauf verzichten, denn sie
wurde per Gesetz ausgesetzt – 1998 gab es die Initiative
zur endgültigen Abschaffung –, der Datenschutz und das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurden zur
Begründung ins Feld geführt. Gezweifelt wurde vor al-
lem daran, ob die repräsentative Wahlstatistik mit dem
§ 51 Abs. 2 BWG eine ausreichend präzise Rechts-
grundlage besitze.
Dazu ist festzustellen: In all den vielen Jahren der
Durchführung dieses statistischen Verfahrens sind nie
Verletzungen des Wahlgeheimnisses bekanntgeworden.
Der Bundesrat hatte in seinen Entschließungen vom
23. September 1994 und 10. Juli 1998 sein Bedauern
über die Aussetzung der repräsentativen Wahlstatistik
zum Ausdruck gebracht und deren Wiederaufnahme ge-
fordert.
Nun, nach dem Regierungswechsel, können wir han-
deln. Erfreulicherweise hat sich auch die Fraktion der
CDU/CSU der Initiative der Koalitionsfraktionen ange-
schlossen.
Warum halten wir die repräsentative Wahlstatistik für
unverzichtbar? Die repräsentative Wahlstatistik ist eine
der wichtigsten Datenquellen der empirischen Wahlfor-
schung. Als einziges Instrument der Wahlforschung er-
laubt sie langfristig angelegte sozialstrukturelle Analy-
sen. Die Ergebnisse sind sowohl für politische Parteien
und wissenschaftliche Einrichtungen als auch für Parla-
ment, Regierung und Behörden von Bedeutung. Sie
kann nicht durch demoskopische Umfragen ersetzt wer-
den. Ihre Ergebnisse sind genauer als diejenigen der
Wahlforschungsinstitute, denn sie beruht auf der tat-
sächlichen Stimmabgabe der Wähler und arbeitet mit
großen Stichproben. Zudem braucht die Demoskopie die
von der repräsentativen Wahlstatistik gelieferten Anga-
ben über das tatsächliche Stimmverhalten der Wähler,
differenziert nach Geschlecht und Alter, um darauf ihre
Berechnungen aufzubauen.
Gehen wir der Frage nach, inwieweit die neuen Re-
gelungen den Bedenken der Skeptiker Rechnung tragen.
Hier ist auf die Prüfkriterien für die Qualität einer
Rechtsgrundlage mit statistischem Bezug hinzuweisen,
die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur
Volkszählung 1983 deutlich gemacht hat – Erforderlich-
keit, Geeignetheit, Normenklarheit, mildestes Mittel.
Im einzelnen heißt das: An der Fortführung der reprä-
sentativen Wahlstatistik besteht Allgemeininteresse. Da-
zu habe ich bereits Ausführungen gemacht. Das vorge-
schlagene Verfahren ist geeignet, das aufgestellte Ziel
zu erreichen. Zur Stärkung des ohnehin strafrechtlich
geschützten Wahlgeheimnisses werden unter anderem
die schon bisher praktizierten Schutzmaßnahmen ge-
setzlich festgeschrieben. Hierzu zählen insbesondere die
Festlegung einer Mindestzahl von Wahlberechtigten für
die Stichprobenwahlbezirke, eine Zusammenfassung der
Geburtsjahrgänge, die keine Rückschlüsse auf das
Wahlverhalten einzelner Wähler ermöglicht, die Tren-
nung der für die Stimmauszählung und für die statisti-
sche Auswertung zuständigen Stellen, das Verbot der
Zusammenführung von Wählerverzeichnis und gekenn-
zeichneten Stimmzetteln, eine strenge Zweckbindung
für die Statistikstellen hinsichtlich der ihnen zur Aus-
wertung überlassenen Wahlunterlagen. Weiterhin wer-
den die Wählerinnen und Wähler nahezu nicht belastet,
2558 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
und der begrenzte Umfang der Stichprobenauswahl ge-
währleistet einen geringen Mittelaufwand bei gleichzei-
tig hoher Ergebnissicherheit. Die neue Rechtsgrundlage
ist zudem eindeutig und transparent, indem die zu erhe-
benden Tatbestände aufgeführt sind, die Abläufe ver-
deutlicht werden und die Veröffentlichung der Ergebnis-
se geregelt ist. Durch öffentliche Bekanntmachung soll
zudem die Akzeptanz der repräsentativen Wahlstatistik
weiter gefestigt werden.
Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt also alle Anfor-
derungen und Prüfkriterien.
Ich bedaure es, daß F.D.P. und PDS die repräsentati-
ve Wahlstatistik im Ausschuß abgelehnt haben. Die von
ihnen vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Beein-
trächtigung eines Grundrechtes lassen sich zerstreuen:
Gegen die im Grundgesetz, Art. 38, zugesicherten Prin-
zipien des Wahlrechts wird nicht verstoßen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch ein Wort zum
weiteren Verfahren sagen: Auf Grund der tendenziell
ansteigenden Zahl der Briefwähler erscheint die künftige
Berücksichtigung dieser Wählergruppe zur Sicherung
genauer statistischer Ergebnisse geboten. Hierfür sind
mehrere Modelle denkbar, die zunächst sorgfältig ge-
prüft werden müssen. Dies wäre in der Kürze der bis zur
Europawahl am 13. Juni 1999 verbleibenden Zeit nicht
mehr möglich.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die
Prüfergebnisse so rechtzeitig im Innenausschuß des
Deutschen Bundestages vorzustellen, daß noch vor der
nächsten regulären Wahl auf Bundesebene nach der
Europawahl 1999 darüber entschieden und ein gegebe-
nenfalls erforderliches Änderungsgesetzgebungsverfah-
ren abgeschlossen werden kann.
Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wir beraten heute
in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf von
SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über
die allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei
der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl
der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes aus der
Bundesrepublik Deutschland.
Der federführende Innenausschuß hat in diesem Ent-
wurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
CDU/CSU-Fraktion seine Zustimmung erteilt. Meine
Fraktion ist sich darüber einig, daß auf diesem Gebiet
dringender Handlungsbedarf besteht, da ohne ein neues
Gesetz bei der Europawahl im Juni diesen Jahres die
Wahlstatistik auf der alten rechtlichen Basis durchge-
führt werden müßte, da sie lediglich ausgesetzt, nicht
aber abgeschafft war.
Hierzu ist folgendes anzumerken: In der Bundesrepu-
blik wurde erstmals bei der Bundestagswahl 1953 eine
repräsentative Wahlstatistik durchgeführt. Dazu wurden
in etwa 2 700 von den 80 000 Wahlbezirken Daten er-
hoben, die Aussagen zur Wahlbeteiligung sowie über
die Stimmabgabe nach Alter und Geschlecht erlaubten.
In dieser Form ist die repräsentative Wahlstatistik seit-
her praktiziert worden.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am
3. Oktober 1990 wurde die repräsentative Wahlstatistik
erstmalig bei der Bundestagswahl 1990 auch in Berlin
und den neuen Bundesländern eingeführt. Für die Wahl
zum 13. Deutschen Bundestag 1994 sowie auch im
letzten Jahr bei der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag
hatten wir auf der Grundlage eines gemeinsamen Ge-
setzentwurfes der damaligen Koalitionsfraktionen aus
CDU/CSU und F.D.P. diese amtliche Wahlstatistik kurz-
fristig ausgesetzt. Es waren damals Zweifel aufgekom-
men, ob die Rechtsgrundlage ausreichend präzise sei
und beispielsweise das Wahl- und Statistikgeheimnis
ausreichend gewahrt werde. Die Bedenken richteten sich
unter anderem gegen die Teilnahme an der Wahl mit
einem nach Alter und Geschlecht gekennzeichneten
Stimmzettel.
Da jedoch in der gesamten Zeit keine Verletzungen
des Wahlgeheimnisses bekannt geworden sind und nun,
nach intensiver Prüfung der Rechtsgrundlage, keine
durchgreifenden verfassungs-, wahl- oder datenschutz-
rechtlichen Einwände erkennbar sind, ist die CDU/CSU-
Fraktion der Ansicht, daß es gegen die Fortführung der
repräsentativen Wahlstatistik keine berechtigten Ein-
wände gibt. Ich möchte jedoch betonen, daß wir durch-
aus Verständnis für die Argumente der F.D.P. haben; die
von ihr vorgetragenen Bedenken halten wir jedoch nicht
für berechtigt.
Zur Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfes ist
als erstes anzumerken, daß er den in der Vergangenheit
vorgetragenen Bedenken Rechnung trägt: Zusammen-
fassung der Geburtenjahrgänge, so daß keine Rück-
schlüsse auf das Wahlverhalten einzelner Wähler mög-
lich ist – höchstens zehn Geburtsjahresgruppen, in denen
jeweils mindestens drei Geburtsjahrgänge zusammenge-
faßt sind –; Trennung der für Stimmauszählung und
Statistik zuständigen Stellen; kein Zusammenführen von
Wählerverzeichnissen und gekennzeichneten Stimmzet-
teln; strenge Zweckbindung; Mindestgröße für die
Stichprobenwahlbezirke – höchstens 5% der gesamten
Wahlbezirke des Bundesgebietes bzw. höchstens 10%
der Wahlbezirke eines Landes, mindestens 400 Wahlbe-
rechtigte –; Veröffentlichung nur auf Bundes- und Lan-
desebene, Ergebnisse einzelner Wahlbezirke dürfen
nicht bekannt gegeben werden.
Aus diesem Grunde bejaht die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion den vorliegenden Gesetzentwurf. Eine wei-
tere Aussetzung der repräsentativen Wahlstatistik würde
die Kontinuität der erhobenen Daten völlig zerstören,
Trendanalysen und Entwicklungstendenzen könnten
nicht mehr aufgestellt werden. Die Unterbrechung der
jahrelangen Erhebungen und die somit entstehende Lük-
ke ließe dann auch keine Vergleiche oder Kohortenana-
lysen dieser Jahrgänge mehr zu. Auch die F.D.P. sollte
anerkennen, daß an einer Fortführung der repräsentati-
ven Wahlstatistik ein erhebliches Interesse der Allge-
meinheit besteht.
Namhafte Sozial- und Politikwissenschaftler sowie
Vertreter von Wahlforschungsinstituten haben uns über-
zeugend versichert, daß das mit der repräsentativen
Wahlstatistik erhobene Datenmaterial die wichtigste
Quelle der gesamten empirischen Wahlforschung und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999 2559
(A) (C)
(B) (D)
Demographie darstellt. Die Demoskopie alleine kann die
repräsentative Wahlstatistik nicht ersetzen. Nur mittels
dieser Datenquelle und damit dem Instrument der reprä-
sentativen Wahlstatistik ist eine langfristig angelegte
Analyse der Sozial- und Wählerstruktur in sinnvoller
Weise möglich. Unstrittig ist, daß die Erkenntnisse aus
der empirischen Sozialforschung nicht nur für wissen-
schaftliche Einrichtungen, sondern auch für die politi-
schen Parteien, das Parlament und die Regierung von
erheblicher Bedeutung sind.
Gerade deshalb kann sich die repräsentative Wahlsta-
tistik nicht allein auf demoskopische Umfragen stützen;
die tatsächliche Stimmabgabe der Wähler und der we-
sentlich größere Stichprobenumfang bei einer Wahl las-
sen genauere und somit wertvollere Ergebnisse zu.
Dr. Max Stadler (F.D.P.): Die F.D.P. lehnt das
Wahlstatistikgesetz ab, weil es auf eine entscheidende
Frage keine befriedigende Antwort enthält. Diese Frage
lautet: Was geschieht, wenn ein Wahlberechtigter sein
Stimmlokal aufsucht, dieses Stimmlokal für die Erhe-
bung der amtlichen Wahlstatistik ausgewählt ist, der
Wahlberechtigte demnach den für die Statistik gekenn-
zeichneten Stimmzettel erhält und sich dann weigert,
einen solchen Stimmzettel zu verwenden? Nach dem
Gesetzentwurf kann in diesem Beispielsfall der Wahlbe-
rechtigte sein Wahlrecht nicht ausüben.
Dies ist für uns ein völlig unerträgliches Ergebnis.
Das Wahlrecht zählt zu den herausragenden Grund-
rechten einer jeden Demokratie. Die Ausübung dieses
Grundrechtes darf nicht davon abhängig gemacht wer-
den, ob der Wahlberechtigte bereit ist, sich an einer sta-
tistischen Erhebung zu beteiligen.
Ich gebrauche bewußt das argumentum ad absurdum:
Niemand käme auf die Idee, einem Bürger, der sich bei-
spielsweise an einer Demonstration beteiligen will, vorzu-
schreiben, daß er erst soziologische Merkmale wie Alter,
Geschlecht, Beruf und ähnliches registrieren lassen müß-
te. Es wäre doch offenkundig eine nicht akzeptable Be-
schneidung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit,
wenn die Ausübung dieses Grundrechts von der Mitwir-
kung an einer – amtlichen! – Statistik abhängig gemacht
werden würde, selbst wenn es vielleicht ein berechtigtes
Interesse der Politikwissenschaft gibt, genaue Daten dar-
über zu sammeln, welche Personen- und Altersgruppen
sich an welcher Demonstration beteiligen.
Auf die Idee, das Demonstrationsrecht im Dienste der
Forschung einzuschränken, ist zum Glück noch niemand
gekommen. Genau um dieselbe Problematik geht es aber
beim Wahlstatistikgesetz. Das Interesse an der Wahlfor-
schung ist zweifellos anerkennenswert. Die Erkenntnisse
der Wahlforschung sind nicht nur für die Gesellschafts-
wissenschaftler, sondern auch für die Parteien äußerst
nützlich. Wenn hierfür die von den privaten Meinungs-
forschungsinstituten etwa im Wege der sogenannten
„Nachfrage“ ermittelten Zahlen das Wählerverhalten
nicht präzise genug wiedergeben, ist es auch verständ-
lich, wenn eine Auswertung authentischer Stimmzettel
durch die amtliche Wahlstatistik gewünscht wird.
Unverständlich bleibt unter dem Aspekt der Wahrung
der Grundrechte aber der Zwang, sich an dieser Statistik
beteiligen zu müssen. Wir halten es für richtig, wenn
denjenigen – erfahrungsgemäß wird sich die Zahl ohne-
hin in Grenzen halten –, die keinen gekennzeichneten
Stimmzettel verwenden wollen, sondern wie Millionen
andere Wahlberechtigte auch den völlig neutralen
Stimmzettel bevorzugen, eine Ausweichmöglichkeit ge-
boten wird. Vorschläge hierfür haben wir im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens schon in der letzten Legisla-
turperiode gemacht. Man könnte diese Wahlberechtigten
etwa nachträglich zur Briefwahl zulassen. Genau dies
wollen die Initiatoren des jetzt vorliegenden Gesetzent-
wurfs nicht. Vielmehr soll künftig auch die Briefwahl in
die Wahlstatistik mit einbezogen werden.
Damit gibt es die von uns verlangte Ausweichmög-
lichkeit nicht, so daß das Gesetz – bei allem Wohlwollen
für die Interessen der Wahlforschung – in dieser Form
nicht zustimmungsfähig ist. Man kann uns entgegen
halten, daß unsere Auffassung kleinlich und stur sei. Mit
diesem Vorwurf können wir gut leben, denn es ist um-
gekehrt geradezu geboten, bei der Verteidigung von
Grundrechten kleinlich und stur zu sein. Dieses Wahl-
statistikgesetz beeinträchtigt Wahlberechtigte bei der
Ausübung ihres Wahlrechts. Als Liberale können wir
eine solche Einschränkung eines Grundrechtes nicht
mittragen.
Roland Claus (PDS): Die PDS-Fraktion stimmt dem
Gesetz nicht zu, weil die im Gesetz vorgesehene Erfül-
lung einer staatlichen Aufgabe – Wahlstatistik – über die
Wahrung individueller Freiheitsrechte – Wahlrecht – ge-
stellt wird.
2560 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. März 1999
(A) (C)
(B) (D)
Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn
53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44
20