Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tatsache,
daß der Bundesfinanzminister heute an dieser Debatte
nicht teilnimmt, ist schon ein Stück Unverfrorenheit.
Diese Tatsache reiht sich auch in das Verhalten anderer
Regierungsmitglieder gegenüber diesem Parlament ein.
Gestern bei der Debatte zum Zuwanderungsgesetz war
der Bundesinnenminister in diesem Hause nicht anwe-
send. Zu der heutigen Debatte über die sogenannte
Steuerentlastung ist der Bundesfinanzminister nicht an-
wesend. Das ist eine Mißachtung des Parlaments; das ist
ein Affront gegen das Parlament und macht deutlich,
welchen Stellenwert Ihre eigenen Gesetze in Ihren eige-
nen Reihen haben.
Herr Kollege Poß, Ihre gesamten vollmundigen Äu-
ßerungen zum Steuerkonzept der Bundesregierung und
der Koalitionsfraktionen werden durch auch noch so
lautes Geschrei
und auch durch noch so laut vorgetragene Behauptungen
nicht richtiger.
Es ist nicht so – ich werde Ihnen das beweisen –, daß
mit diesen Vorschlägen, die Sie auf den Tisch gelegt
haben, eine Entlastung der Familien verbunden ist. Es
ist nicht so, daß mit diesen Vorschlägen eine Entlastung
des Mittelstandes verbunden ist.
Es ist schon gar nicht so, daß damit die Investitionskraft
der Unternehmen, also derjenigen, die Arbeitsplätze zur
Verfügung stellen, gestärkt wird. Ich werde Ihnen das
auch im Detail beweisen.
Zunächst aber will ich mich – im Gegensatz zu Herrn
Poß – auf die Tagesordnung konzentrieren. Wir haben
heute über einen Teil eines Gesetzes zu beraten. Dieser
Teil beinhaltet eine Kindergelderhöhung, beinhaltet die
Änderung der Auszahlung des Kindergeldes und bein-
haltet eine minimale Senkung des Eingangsteuersatzes.
Alles zusammen hat ein Volumen von 7,8 Milliarden
DM.
Nun ist die Erhöhung des Kindergeldes eine grund-
sätzlich positive und wünschenswerte Angelegenheit.
Aber sie ist nur dann zu verantworten, wenn sie auch
solide finanziert ist. Die Erhöhung ist eben nicht solide
finanziert.
Ich will es Ihnen auch begründen. Wir entscheiden
heute über die Erhöhung. Die Entscheidung über die Fi-
nanzierung dieser Erhöhung wird nicht heute getroffen;
vielmehr soll die Entscheidung über die Finanzierung
erst im Februar oder März des nächsten Jahres getroffen
werden,
das heißt nach der Hessenwahl, und rückwirkend zum 1.
Januar 1999 gelten. All die Beteuerungen von Ihnen und
von Frau Scheel zu jeder Gelegenheit, bei der Sie öf-
fentlich auftreten, verdeutlichen Ihre Absichten.
Wenn Sie bei den Steuerberatern auftreten, dann wird
gesagt: Es ist noch nicht alles sicher. Wir werden das
schon noch verbessern und ändern. Wissen Sie, das ist
genauso, als wenn Sie Kindern ein Weihnachtsgeschenk
machen, aber die Geschenke nicht bezahlen, sondern
darauf warten, daß ein paar Monate später die Oma oder
der Opa Ihnen das Geld dafür gibt. Vielleicht verlangen
Sie sogar einiges von dem Geld für die Geschenke von
den Kindern zurück. Das tun Sie nämlich gleichzeitig
über die Ökosteuer. Diese Rechnung kann nicht aufge-
hen. So wie Sie das vorhaben, ist es nicht zu verant-
worten.
Ganz abgesehen davon sorgen Sie mit dieser verspä-
teten Entscheidung der Finanzierung, die dann auch
noch rückwirkend gelten soll, für erhebliche Rechtsun-
sicherheit bei allen Steuerpflichtigen, bei den Arbeit-
nehmern genauso wie bei den Unternehmern. Es besteht
keine Kalkulationssicherheit mehr, keine Planungssi-
cherheit mehr. Denn Sie stellen das in den Raum, sagen
dann aber schon wieder: Einiges werden wir noch än-
dern. Das alles soll dann aber rückwirkend zum 1. Ja-
nuar 1999 in Kraft treten. Auch dies ist unverantwortlich
gegenüber den Steuerpflichtigen.
Darüber hinaus geht das Ganze auch noch zu Lasten
der Länder. Gerade bei der Kindergeldfinanzierung
Joachim Poß
688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 12. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1998
(C)
haben die Länder einen verfassungsrechtlichen An-
spruch auf Mitentscheidung. Sie haben dieses Problem
nicht geklärt. Sie ignorieren es einfach. Ich bin gespannt,
wie Ihre eigenen Länder darauf im Bundesrat reagieren.
Ein Weiteres: Die Finanzierung dieser Vorhaben er-
folgt mit den falschen Mitteln. Sie geht nämlich einseitig
zu Lasten der Unternehmen, einseitig zu Lasten derje-
nigen, die für Arbeitsplätze verantwortlich sind. Deshalb
wird das ganze Konzept nicht dazu führen, daß wir mehr
Beschäftigung haben, sondern dazu, daß wir weniger
Beschäftigung haben.
Es wird nicht dazu führen, daß wir weniger Arbeitslose
haben, sondern dazu, daß wir mehr Arbeitslose haben.
Deshalb ist das Gesamtkonzept, das Sie vorlegen, von
uns nicht mitzutragen.
Nun noch zu den Gesamtvorschlägen. Sie sprachen
davon, Herr Poß, daß Sie die Familien entlasten wollen.
Nun, im ersten, plakativen Schritt sieht dies so aus. Den
Familien bleibt aber, wenn Sie alle Ihre steuerlichen
Vorschläge auf den Tisch legen und abwägen, wenn Sie
die Ökosteuer, die Erhöhung der Mineralölsteuer – der
Benzinsteuer, der Heizölsteuer, der Gassteuer –, die Ein-
führung der Stromsteuer einkalkulieren, von dieser Kin-
dergelderhöhung überhaupt nichts mehr. Im Gegenteil:
Sie müssen mehr bezahlen.
Mit Ihrem Gesetz, mit Ihren ganzen Vorschlägen er-
höhen Sie jetzt das Kindergeld, verschlechtern aber mit
der geplanten Gegenfinanzierung die Investitionskraft
der Unternehmen und verschlimmern damit die Proble-
matik auf dem Arbeitsmarkt. Sie erhöhen die Zahl der
Arbeitslosen, und Sie kassieren zusätzlich bei Strom, bei
Gas, bei Heizöl, bei Benzin, um Ihre erhöhten staatli-
chen Ausgaben zu finanzieren. Sie geben etwas in die
linke Tasche hinein, und nehmen das gleiche, ja sogar
noch mehr aus der rechten Tasche heraus. Dadurch, daß
Sie das getrennt machen, daß Sie es zeitlich verschoben
machen, wird dies nicht so deutlich. Aber wir machen es
den Leuten deutlich, und Sie können sicher sein, daß die
Menschen dies auch so verstehen.
Die Menschen im Lande sehen nicht nur das, was heute
verabschiedet wird, sondern das Gesamtkonzept, und
das Gesamtkonzept ist keine gerechte, keine sachge-
rechte und keine ausgewogene Steuerreform, sondern
nichts anderes als eine große Mogelpackung.
Nun sprachen Sie vorhin Punkte der Gegenfinanzie-
rung an. Ich will nur einige wenige herausgreifen; denn
die Maßnahmen, mit denen die Kindergelderhöhung
finanziert werden soll, sind ein einziger Horrorkatalog
zur Geldbeschaffung.
Am gravierendsten ist meines Erachtens die Strei-
chung der sogenannten Teilwertabschreibung. Nun
kann mit dem Wort Teilwertabschreibung nicht jeder
etwas anfangen. Deshalb will ich versuchen, das ein we-
nig zu erläutern. Wenn Sie das tun, was sie hier vorha-
ben, dann greifen Sie in die Besteuerung des Mittelstan-
des, insbesondere des Einzelhandels, des Buchhandels,
der Banken, des gesamten Mittelstandes enorm ein.
– Ich habe nicht gesagt, daß das alles zum Mittelstand
gehört. Vielmehr habe ich bewußt aufgezählt.
Sie ändern die Besteuerung dergestalt, daß Sie nicht
tatsächlich erzielte oder erzielbare Gewinne besteuern.
Sie besteuern Scheingewinne. Sie zwingen diese Unter-
nehmen zu einer falschen Bewertung, nur damit Sie Ihre
Steuereinnahmen erhöhen.
Dies, meine Damen und Herren, würde das Aus vieler
mittelständischer Betriebe bedeuten. Wir setzen dem un-
seren entschiedenen Widerstand entgegen.
Da hilft es Ihnen auch nicht, wenn Sie noch so häufig
sagen: Wir entlasten mit unserer Steuerreform den Mit-
telstand. Denn Sie behaupten das nur und tun das Ge-
genteil. Aber Sie werden nicht an Ihren Worten gemes-
sen, sondern an dem, was in dem Gesetzentwurf steht,
an Ihren Taten. Und diese, meine Damen und Herren,
sind eindeutig so, daß Sie den Mittelstand nicht entla-
sten, sondern belasten.
Gleiche verheerende Auswirkungen werden wir bei
der Begrenzung der Verlustverrechnung bei den so-
genannten aktiven und passiven Einkommen haben.
Dies bringt ein sehr viel komplizierteres Steuerrecht mit
sich. Beispielsweise ist auch noch nicht geklärt, was ge-
schieht, wenn jemand nur passive Einkommen hat.
– Genau: sogenannte passive Einkommen. Diese Re-
gelung betrifft nämlich diejenigen, die besonders viel
Kapital haben. Bei ihnen wollen Sie nicht begrenzen.
Sie wollen beispielsweise da begrenzen, wo sich Men-
Gerda Hasselfeldt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 12. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4. Dezember 1998 689
(C)
(D)
schen im Mietwohnungsbau engagieren. Im Mietwoh-
nungsbau wird eben zunächst einmal mit Verlusten kal-
kuliert, meine Damen und Herren. Das geht nicht an-
ders. Wenn Sie diese Verrechnung begrenzen, wird dies
katastrophale Auswirkungen auf den gesamten Miet-
wohnungsbau des Landes haben, mit Konsequenzen für
alle Mieter.
– Dazu komme ich jetzt, Herr von Larcher. Dieser Punkt
war nicht enthalten, und zwar wohlweislich und aus gut
überlegten Gründen. Lesen Sie das einmal nach. Wahr-
scheinlich ist Ihr Gedächtnis nicht so gut, daß Sie das
noch im Kopf haben. Wenn Sie nachlesen, werden Sie
bestätigt finden: Dieser Punkt war nicht enthalten.
Unsere Vorschläge enthielten durchaus einige Maß-
nahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage,
die auch in Ihrem Entwurf enthalten sind,
so beispielsweise Regelungen bei Abfindungen, bei Be-
triebsaufgaben und einiges andere mehr, allerdings unter
einem ganz anderen Vorbehalt,
– das ist ja gar nicht wahr –, mit einer ganz anderen
Grundidee, nämlich dem Kern unserer Steuerreform: der
drastischen Senkung aller Steuersätze.
Nur dann, wenn Sie alle Steuersätze radikal nach un-
ten ziehen – die Einkommensteuersätze unten und oben,
die Körperschaftsteuersätze sowohl für die ausgeschüt-
teten als auch für die einbehaltenen Gewinne –, können
Sie es auch verantworten, die Bemessungsgrenze zu
verbreitern, nur dann können Sie es verantworten, die
steuerlichen Sondertatbestände, die bei uns zur Zeit ge-
rade wegen der hohen Steuersätze vorhanden sind, ab-
zubauen. Dieser Gesamtzusammenhang fehlt bei Ihnen.
Sie betreiben die Steuersatzsenkung nur halbherzig, Sie
betreiben eigentlich nur Kosmetik und senken die Steu-
ern nicht wirklich.
Deutlich wird dies übrigens auch bei der Senkung
des Eingangssteuersatzes von 25,9 Prozent auf 23,9 Pro-
zent, die ja in dem Gesetzentwurf vorgesehen ist, der
heute verabschiedet werden soll. Selbst in der dritten
Stufe bleibt diese Senkung des Eingangssteuersatzes
noch über dem, was Sie im Wahlkampf versprochen ha-
ben. Mit Ihrer dritten Stufe sind Sie also nicht so weit
gegangen wie in Ihren Wahlkampfversprechungen. Aber
noch entscheidender ist bei diesem Vorschlag, ob damit
überhaupt eine Entlastung verbunden ist. Profitieren die
weniger gut Verdienenden wirklich von dieser minima-
len Senkung des Einkommensteuersatzes? Sie profitie-
ren nicht, meine Damen und Herren.
Wir haben das im Ausschuß besprochen: Die Durch-
schnittssteuerbelastung wird nur minimal weniger sein
als jetzt. Sie ist auf der Grafik praktisch nur mit der
Lupe zu sehen.
Die Grenzsteuerbelastung, das heißt der Steuersatz,
der für jede dazuverdiente Mark gezahlt werden muß, ist
bei den Jahreseinkommen zwischen 20 000 DM und
66 000 DM, also bei den Einkommen der Berufsanfän-
ger, bei den weniger gut Verdienenden, bei den Lei-
stungsträgern, die sich noch im beruflichen Aufstieg be-
finden, sogar noch höher als im jetzigen Steuerrecht.
Dies können wir nicht verantworten. Gerade die Berufs-
anfänger und die Leistungsträger werden von Ihnen be-
trogen.
Ich komme zur Gesamtbewertung, meine Damen und
Herren. Die heute zu entscheidende Kindergelderhöhung
ist zweifellos wünschenswert. Die Probleme bei der Fi-
nanzierung habe ich dargestellt. Aber auch das Gesamt-
konzept ist wirtschaftspolitisch verfehlt: Die Senkung
der Steuersätze fällt viel zu gering aus, es fehlt die Net-
toentlastung, die Unternehmen und andere Leistungsträ-
ger werden einseitig belastet, die Investitionskraft nimmt
ab, und die Arbeitsmarktbedingungen werden ver-
schlechtert. Die geplanten Ökosteuervorhaben führen
noch zu zusätzlichen Belastungen.
Deshalb fordere ich Sie auf, in den weiteren Beratun-
gen der Steuergesetze den Rat nicht nur von uns, son-
dern auch von den Sachverständigen, den Leuten, die
sich beruflich und wissenschaftlich mit diesen Dingen
beschäftigen, immer wieder einzuholen. Das erfordert
aber eine Kursänderung auf Ihrer Seite. Mit dem, was
Sie bisher vorgelegt haben, meine Damen und Herren
von den Koalitionsfraktionen, haben Sie meines Erach-
tens die Riesenchance, die Sie am Anfang Ihrer Regie-
rungszeit gehabt hatten, sogleich verspielt.