Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Werter Herr Kollege, Ihre
„dynamische Rede“ läßt nur einen Schluß zu: Schon im
Anfang ist bei Ihnen nichts als Durcheinander – dynami-
sches Durcheinander. Dies gilt für viele Bereiche der
Politik: für die Steuerpolitik, für die Haushaltspolitik
und jetzt auch für die Ausländerpolitik. Die Kennzei-
chen sind: Lösungsuntauglichkeit, Abkehr von
Wahlaussagen und Widersprüche.
Wie oft, meine Damen und Herren der SPD und der
Grünen, haben Sie bis zum heutigen Tag eigentlich ein
Zuwanderungsgesetz gefordert? Wie oft haben Sie ei-
gentlich gesagt, das Asylrecht sei verfassungswidrig?
Wie oft wollten Sie eigentlich die Öffnung des Auslän-
derrechtes für mehr Zuwanderung? Wie oft haben Sie
eigentlich gesagt, Deutschland sei ein Einwanderungs-
land? Zehnmal, zwanzigmal oder noch öfter?
Als die SPD die Eckpunkte für ein Zuwanderungsge-
setz vorstellte, haben Sie, so erinnere ich mich, ausge-
führt, wir als Union begingen einen schweren Fehler,
wenn wir unsere Blockadehaltung gegen mehr Zuwan-
derung weiter fortsetzten. Sie haben uns ein Verkennen
der Realität vorgeworfen, bis hin zu dem absurden Vor-
wurf der Ausländerfeindlichkeit.
Jetzt sagt Herr Schily genau das Gegenteil:
„Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten.“ Sicher-
lich, Herr Bundesinnenminister, diese Aussage ist rich-
tig. Die Union ist im Gegensatz zur SPD seit langem
dieser Meinung. Was wäre eigentlich gewesen, meine
Damen und Herren der SPD, wenn wir die Theorie „Das
Boot ist übervoll“ so ausgesprochen hätten? Wie hätten
Sie geschrien!
Das Problem ist: Die Schlußfolgerungen, die Sie dar-
aus ziehen, Herr Bundesinnenminister – er ist nicht an-
wesend; vielleicht ist er begründet verhindert, ich weiß
es nicht –, sind falsch, genauso wie die Aussagen der
Grünen, die immer noch behaupten, wir könnten auf ein
Einwanderungsgesetz nicht verzichten. Dies ist zwar,
was die Grünen anbetrifft, in sich konsequent – im Ge-
gensatz zur SPD –, aber auch falsch, gewissermaßen
konsequent falsch. Ich bin gespannt, Herr Kollege, wer
sich in diesem Widerstreit der Koalition zwischen falsch
und konsequent falsch wird durchsetzen können.
Herr Bundesinnenminister, nicht populistische Wen-
demanöver in diesem sehr ernsten Gebiet, sondern eine
klare Haltung in der Ausländerpolitik, eine klare Hal-
tung in der Zuwanderungspolitik sind geboten, keine
populistischen Äußerungen.
Unsere Position ist so klar wie eindeutig. Sie ist von
zwei Grundpositionen geprägt. Erstens. Wir wollen die
Integration der rechtmäßig bei uns lebenden Ausländer.
Integration bedeutet, daß beide Seiten aufeinander zuge-
hen, bedeutet Toleranz für andere Lebensarten einerseits
und das Bemühen, sich einzufügen, andererseits. Es be-
deutet, im Kindergarten damit anzufangen und es in der
Schule, im Sportverein und bei der Berufsförderung
fortzusetzen, es bedeutet Sprachhilfe, das Nahebringen
unserer Werte und unserer Kultur.
Zweitens gilt: Wir müssen den Zuzug aus Staaten
außerhalb der Europäischen Union begrenzen, nicht
weil wir Ausländer nicht wollten, sondern weil unseren
Integrationsmöglichkeiten bei mehr als 1 Million aus-
ländischer Sozialhilfeempfänger Grenzen gesetzt sind.
Das ist das Problem.
Es ist richtig: Die Grenze der Belastbarkeit ist er-
reicht. Wir haben dies seit langem gesagt – im Gegen-
satz zur SPD und auch im Gegensatz zur F.D.P., Herr
Kollege Westerwelle, von den Grünen ganz zu schwei-
gen.
Aber, Herr Bundesinnenminister, nicht an Ihren
Worten, sondern an Ihren Taten werden Sie gemessen.
Da bezweifle ich, daß eine rotgrüne Regierung bereit
und in der Lage ist, eine realistische Ausländerpolitik zu
betreiben. Sie wollen – das haben Sie in Ihren Koaliti-
onsvereinbarungen festgeschrieben – eine Altfallrege-
lung. Das bedeutet doch, daß Zigtausende von Auslän-
dern hierbleiben dürfen, obwohl sie das Asylrecht miß-
braucht haben, obwohl sie abgelehnt worden sind, ob-
wohl sie illegal eingewandert sind.
Wir sind – das wissen Sie – im Einzelfall selbstver-
ständlich für Generosität; das ist keine Frage. Aber ge-
nerelle Altfallregelungen fördern den Mißbrauch. Sie
begünstigen den, dem eine Rückkehr in die Heimat
möglich und zumutbar ist. Deswegen ist eine solche Lö-
sung falsch.
Zu einem erheblichen Mehr an Zuwanderungen führt
auch die Einführung der generellen doppelten Staats-
bürgerschaft. Dieser Doppelpaß für Millionen bedeutet
eben keinen Anreiz für Integration, sondern bedeutet vor
allem Familiennachzug in sehr großem Stil. Wie verträgt
sich das, Herr Bundesinnenminister, mit der Aussage –
ich wiederhole sie – „Die Grenze der Belastbarkeit ist
überschritten“, wenn Sie diese Regelungen einführen?
Zur F.D.P., Herr Kollege Westerwelle, auch Ihr Ge-
setzentwurf ist nicht geeignet, die aktuelle Zuwanderung
zu begrenzen. Deswegen sagen wir dazu nein. Ob Sie
das Einwanderungsgesetz oder Zuwanderungsbegren-
zungsgesetz nennen, spielt keine Rolle. Ihr integrati-
onspolitischer Ansatz, Sprach- und Eingliederungskur-
se vorzunehmen, ist sicherlich zu begrüßen. Aber ich
meine, Ihr Gesetz ist undurchführbar, erfolglos und
deswegen überflüssig.
610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998
(C)
Das Gesetz ist überflüssig, weil es nicht möglich ist,
eine Höchstzahl von Zuwanderern festzulegen, ohne
nationales und internationales Recht zu ändern. Das wis-
sen Sie doch, Herr Kollege Westerwelle. Denn nach
dem derzeitigen Asylgrundrecht nach Art. 16a kann
doch niemand die Zahl derer wissen und beschränken,
die zu uns kommen. Das ist doch die erste Unsicherheit.
Die zweite Unsicherheit: Auch Artikel 116 des
Grundgesetzes erlaubt keine beliebige Begrenzung des
Ausländerzuzugs, Herr Kollege Westerwelle. Wenn Sie
diese Zahlen der Ausländer beliebig herabsetzen wollen
– das wollen ja manche –, so halte ich dies nicht für ge-
rechtfertigt.
Ich will daran erinnern, daß gerade die Aussiedler
wegen der Verbrechen in der Nazizeit, wegen der Ver-
brechen dieses Regimes ein furchtbares Schicksal haben
erleiden müssen. Sie hatten am längsten unter den Fol-
gen des Zweiten Weltkriegs zu leiden, nur weil sie
Deutsche waren. Wer sich zur aktiven Menschenrechts-
politik bekennt, der muß hier eine besondere Verant-
wortung tragen. Wir stehen zu den Aussiedlern, meine
Damen und Herren.
Und weiter, Herr Kollege Westerwelle: Ihr Gesetz ist
erfolglos, weil Sie den Familiennachzug nicht begren-
zen können, Ihr Gesetz ist erfolglos, weil Sie EG-Recht
nicht verändern können. Hier herrscht Freizügigkeit.
Niemand kann auch wissen, wie viele Bürgerkriegs-
flüchtlinge zu uns kommen. Wir haben 300 000 aufge-
nommen. Das ist eine großartige menschliche Leistung;
das soll auch in Zukunft geschehen. Wäre der Bundesin-
nenminister hier gewesen, hätte ich ihm gesagt: Herr
Bundesinnenminister, ich hätte in meiner ersten Rede
dem Kollegen Dietmar Schlee für seine Leistung, eine
humane Rückführung durchzuführen, gedankt. Ich dan-
ke dem Kollegen Schlee für seine hervorragende Lei-
stung an dieser Stelle ausdrücklich.
Noch etwas, Herr Kollege Westerwelle: Sie lassen die
Zahl der nicht abgeschobenen Asylbewerber völlig un-
berücksichtigt. Sie geht in die 100 000. Die rotgrünen
Regierungen schieben die abgelehnten Asylbewerber
nicht ab. Die Leute bleiben hier, und das bedeutet erneut
mehr Zuwanderung. So bleiben mehrere 100 000 Men-
schen in Deutschland.
Wenn Sie, Herr Kollege Westerwelle, eine Zuwande-
rungsquote festlegten, wäre diese Zuwanderungsquote
stets Null: Jetzt Null und auf Jahre Null. Deswegen ist
Ihr Gesetz unbrauchbar. Es ist reine Makulatur.
Wer den Willen hat, Zuwanderung zu beschränken,
nicht populistisch, sondern ernsthaft, nicht mit untaugli-
chen Mitteln, nicht zaghaft, sondern wirkungsvoll, der
öffnet sich unseren Alternativen.
Dies heißt erstens eine konsequente Anwendung und
keine Erweiterung des Ausländergesetzes, keine neuen
Altfallregelungen, keine generelle doppelte Staatsbür-
gerschaft.
Dies heißt zweitens Aufnahme der Diskussion zur
Änderung von Artikel 6 und 16a sowie anderer Be-
stimmungen des Grundgesetzes. An dieser Stelle müssen
Sie ansetzen, sonst hat es, meine ich, keine Wirkung.
Dies heißt drittens auch Burden-sharing in Europa.
Das ist wahr. Das haben die Innenminister, die im Amt
waren, wirklich versucht, aber dies wird, Herr Bundes-
innenminister, schwierig genug sein. Warum ist das
schwierig? Es ist schwierig, weil die Europäer sagen: Ihr
Deutsche müßt euer Recht ändern. Ihr Deutsche müßt
eure Leistungen zum Beispiel an Asylbewerber zurück-
schrauben. Solange wir das nicht tun, wird eine Eini-
gung nicht möglich sein.
Meine Damen und Herren, unser Ziel bleibt:
Deutschland soll auch in Zukunft eine nach innen und
außen offene, tolerante und zugleich stabile Gesellschaft
bleiben. Das geht nur mit einer realistischen Ausländer-
politik und nicht mit unbrauchbaren Gesetzen – ich sage
es noch einmal, Herr Westerwelle – auf diesem sehr
sensiblen Gebiet. Das geht schon gar nicht mit wider-
sprüchlichen Aussagen und populistischen Äußerungen,
wie sie der Bundesinnenminister gemacht hat.
Zum Schluß meine Empfehlung, meine Damen und
Herren von der SPD: Schlag nach bei der Union! Oder
besser noch: Schlag nach bei Manfred Kanther.
Herzlichen Dank.