Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Kollege Lafontaine, Sie haben im Schlußteil Ihrer Rede einige Anmerkungen eher flüchtiger Art zu dem Aufbau Ost gemacht.
Daß das so ausfallen mußte, haben Sie dann mit der Feststellung bestätigt, daß die CDU überall mit der PDS zusammenarbeite. Das würden nicht einmal Ihre sozialdemokratischen Kollegen im Freistaat Sachsen behaupten, die nämlich - im Unterschied zu denen in Sachsen-Anhalt - auch nicht mit der PDS zusammenarbeiten wollen.
Beide Parteien im Freistaat Sachsen sind der Meinung, die beste Methode, sich mit der PDS erfolgreich auseinanderzusetzen, bestehe darin, den Aufbau Ost zum Erfolg zu führen;
denn nur aus wirklichen oder vermeintlichen Mißerfolgen hat sich die PDS bisher politisch gestärkt gefühlt.
Sie haben davon gesprochen, daß es Unterschiede gebe. Wir sind unter dem Gesichtspunkt der anstehenden Wahlentscheidung dafür dankbar, daß diese Unterschiede heute deutlich geworden sind. Daß sie in der Vergangenheit nicht immer so deutlich wurden, Herr Kollege Lafontaine, hängt damit zusammen, daß sich Herr Stollmann des öfteren geäußert hat. Den haben Sie inzwischen allerdings stillgelegt, so daß Sie jetzt wieder von den Unterschieden sprechen können, auf die es Ihnen ankommt.
Herr Stollmann redet eine ganz andere Sprache. Nachdem Herr Kollege Schröder noch einmal ausdrücklich versichert hat, daß er an dieser Nominierung festhalten werde, wird es Ihnen nach der Wahl, falls Sie überhaupt in die Situation kommen, eine Regierung zu bilden, außerordentlich schwerfallen, das zu praktizieren, was Sie vorhin in einer durchaus geistreichen Passage über die Tatsache gesagt haben, daß man innerhalb der Parteien den Zusammenhalt wahren müsse. Ich habe den Eindruck, daß Sie das in den letzten Wochen des Wahlkampfs in der Weise tun wollen, daß nur noch Sie reden. Deshalb ist es gerechtfertigt, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. ,
Ich möchte schließlich nur noch zwei Vorbemerkungen machen, weil mir das gerade im Blick auf den Aufbau Ost wichtig ist. Sie haben mit Ihrer Kritik an der Infragestellung des Bund-Länder-Finanzausgleichs zweifellos Bayern und Baden-Württemberg gemeint, die mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht den Versuch unternehmen, die verfassungsrechtliche Vertretbarkeit des jetzigen Finanzausgleichs unter den Ländern und des vertikalen Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern prüfen zu lassen.
Ich habe dieser Initiative der beiden Länder ausdrücklich zugestimmt, weil sie nicht gegen den Aufbau Ost gerichtet ist.
Ich habe vielfältig - auch im Landtag des Freistaates Sachsen - Gelegenheit genommen, darauf hinzuweisen, daß wir diese Klärung für notwendig halten.
Erstens. Eine solche Klage wird wahrscheinlich die Bereitschaft der Länder zu einer einvernehmlichen Klärung der Probleme erhöhen. Wir haben es auch in früheren Zeiten erlebt, daß die Einreichung einer Klage den Willensbildungsprozeß unter den Ländern gefördert hat, so daß am Ende Klagen überflüssig geworden sind. Hessen hat zum Beispiel in diesem Sinne Entscheidungen unter den Ländern bewirkt, indem es zunächst geklagt hat.
Zweitens. Herr Kollege Lafontaine, wir sollten darauf hinweisen, daß sich dieser Initiative von Bayern und Baden-Württemberg inhaltlich auch Hessen angeschlossen hat und daß sich Nordrhein-Westfalen außerordentlich interessiert daran zeigt. Das ist verständlich; denn diese vier Länder sind diejenigen, die den großen Teil des Finanzausgleichs tragen, während die anderen Länder vom Finanzausgleich profitieren. Ihr Land, das Saarland, profitiert nicht nur vom Finanzausgleich, sondern auch vom Solidarpakt, in dem eine Zuweisung an das Saarland und Bremen vorgesehen ist, was ich ja durchaus für richtig halte. Nur, wenn Sie jetzt diese Art von Kritik
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üben, dann sollten Sie den Sachverhalt richtig darstellen.
Es hat keinen Zweck - und dagegen möchte ich mich auch ausdrücklich verwahren -, daß Sie jetzt durch solche Formulierungen zur West-Ost-Spaltung beitragen.
Denn nichts anderes, Herr Kollege Lafontaine, ist das.
Baden-Württemberg und Bayern sind unsere Partnerländer, und diese beiden Länder haben in den letzten acht Jahren enorme Leistungen für den Aufbau im Freistaat Sachsen erbracht, für den ich im Bundesrat und auch hier sprechen kann. Diese Leistungen dürfen jetzt nicht durch den Verdacht in Frage gestellt werden, diese beiden Länder wendeten sich gegen den Aufbau Ost. Das möchte ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen.
Wenn Sie, Herr Kollege, die Unterlagen der Klage und alles, was dazu von den Ländern, von mir, von Ministerpräsident Bernhard Vogel und anderen, geäußert wurde, lesen würden, würden Sie feststellen, daß das nicht der Fall ist. Bernhard Vogel ist der gleichen Auffassung wie ich. Was sollte uns als arme Länder veranlassen, etwas zu unterstützen, wenn es gegen uns gerichtet wäre?
Das zweite betrifft Ihre Bemerkung zu Rückgabe vor Entschädigung. Ich halte auch diese Formulierung für sachlich falsch und zum jetzigen Zeitpunkt für geeignet, neue Konfrontationen auszulösen, statt zur Einheit des Landes beizutragen.
Es gibt niemanden im politischen verantwortlichen Bereich, der das Problem der Bodenreform wieder aufrollen will. Das, was hier diskutiert wird, ist die Frage, ob die zwischen 1945 und 1949 Enteigneten das Recht haben sollen, aus dem Bestand, der jetzt vom Bund verwaltet wird, zurückzukaufen, und zwar ehe man das Grundstück anderen anbietet; es geht also um eine gewisse Präferenz in bezug auf den Erwerb - nicht auf die Rückgabe - der Ländereien, die der Bund im Zuge der Privatisierung des enteigneten Landes ohnehin verkaufen will. Dabei sind auch noch großzügigere Einschränkungen vorgesehen. Man will die Pachtverträge, auch die langfristigen Pachtverträge, eben nicht in Frage stellen. Alle anderen Äußerungen hierzu stützen weder die Sozialdemokraten noch die Christdemokraten, noch die deutsche Einheit, sondern nur die PDS. Ich denke, das haben Sie nicht vor.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mit meinem Beitrag in dieser Debatte den Versuch machen, noch etwas zu den Grundlagen beizutragen, auf denen wir die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aufbauen. Herr Kollege Lafontaine, Sie haben die Unterschiede betont, und das ist sicher gut. Denn die Menschen wollen ja wissen, zwischen welchen unterschiedlichen Positionen sie entscheiden und was die reale Alternative ist. Der wichtigste Unterschied - das hat mir Ihre Rede bestätigt - ist der Unterschied in der Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Das ist das Kernproblem der Auseinandersetzung. Wenn ich von einer Wirklichkeit ausgehe, wie sie Herr Kollege Lafontaine und wie sie die Sozialdemokraten in Publikation nach Publikation, unterstützt durch einen Teil der Medien, darstellen, und diese Wirklichkeit zur Grundlage von Politik mache, muß diese Politik scheitern, weil sie etwas zu gestalten versucht, was es gar nicht gibt.
Die Grundlage für jede Politik ist eine realistische Einschätzung der jeweiligen Situation, die man politisch gestalten will. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, Herr Kollege Lafontaine, wie Sie es in Ihrem Buch zusammen mit Frau Christa Müller beschrieben haben. - Das aber wird von Ihnen nicht gemacht.
Ich will jetzt meine Sicht der Wirklichkeit Ihrer gegenüberstellen. Sie sprechen von einem Land, das - wenn die Wirklichkeit so wäre, wie Sie sie beschreiben - eigentlich daran verzweifeln müßte. Das Gegenteil ist aber richtig. Ich möchte folgendes dazu sagen, obwohl es von vielen Menschen in diesem Saal, aber nur von einer Minderheit in Deutschland als Provokation verstanden werden kann: Es ist den Deutschen zwischen Rhein und Oder noch nie so gut gegangen wie heute.
Das beziehe ich ausdrücklich nicht nur - obwohl das „nur" hier fehl am Platz ist - auf den Umstand, daß wir eine begründete Aussicht haben, auf lange Zeit weiter in Frieden leben zu können. Das ist etwas, was zum Beispiel die Generation meines Vaters nicht hatte.
Das begründe ich nicht nur damit, daß wir Deutschen in Freiheit und mit Zustimmung unserer Nachbarn die Wiedervereinigung erreichen konnten; vielmehr begründe ich das ausdrücklich auch mit der wirtschaftlichen Situation.
In der Rede des Kollegen Lafontaine gab es viele bemerkenswerte Aperçus und viele sicherlich legitime Angriffe, aber es gab sehr wenige Fakten. Lassen Sie mich deshalb einige nachliefern. Die Wohlstandsentwicklung in Westdeutschland dokumentiert sich wie folgt. Seit 1982, also seit der Übernahme der Regierung durch die CDU, die CSU und die F.D.P. unter Führung von Helmut Kohl, ist das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner - es schließt die durch Zuwanderung gewachsene Einwohnerzahl in Westdeutschland ein - real um 34 Prozent gestiegen, somit in 16 Jahren um ein Drittel. Das ist eine unglaubliche Leistung.
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Das Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen ist auf Grund der Arbeitsproduktivität um 38 Prozent gestiegen. Das Bruttoarbeitseinkommen ist real um 15 Prozent gestiegen. Das eigentliche Problem ist also nicht der Zuwachs des Bruttoeinkommens, einschließlich der Arbeitnehmeranteile, sondern die wachsende Belastung der Arbeit.
Das führt nämlich dazu, daß die Nettoarbeitsentgelte nur um 1,4 Prozent gestiegen sind. Darin gründet sich die von der Opposition ebenso wie von uns vertretene Überzeugung, daß die Belastung der Arbeit verringert werden muß.
Das ist völlig richtig. Insofern gibt es einen, wie ich meine, wichtigen Konsens, der auch gar keinen Anlaß bietet, „die Pferde zu wechseln". Das verfügbare Einkommen der Privathaushalte pro Einwohner in Deutschland ist real um 25 Prozent gestiegen. Das schließt die Transfereinkommen und die Vermögenseinkommen ein. Die Nettovermögen der Privathaushalte pro Einwohner sind um 37 Prozent gestiegen; die Sozialhilferegelsätze für den Einpersonenhaushalt sind real um 14 Prozent gestiegen. Ich glaube nicht, daß es viele Länder in der Welt gibt, in denen sich die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung so dramatisch verbessert hat wie in Deutschland in den letzten 16 Jahren.
Nun wird in diesem Zusammenhang immer wieder die Vermögensbildung kritisiert. Der pauschale Vorwurf der ungleichen Vermögensverteilung ist unzutreffend. Beim internationalen Vergleich - wir müssen ja Vergleichsmaßstäbe haben, wenn wir solche Behauptungen aufstellen, an denen man sich orientieren kann - ergibt sich, daß die Vermögen bei uns bemerkenswert gleichmäßig verteilt sind. Das gilt insbesondere für den Besitz von Immobilien. Schon 1993 - das gilt für ganz Deutschland - hatte nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes jeder zweite Haushalt in Westdeutschland - Einpersonenhaushalte eingeschlossen - Immobilienvermögen von durchschnittlich 423 000 DM. In Ostdeutschland hatte jeder vierte Haushalt, genau 28 Prozent, ein Vermögen von im Durchschnitt 210 000 DM. Das sind beachtliche Vermögen. Alle diese Werte haben sich inzwischen wesentlich verbessert. Nimmt man nur die Zwei- und Mehrpersonenhaushalte in Westdeutschland, so ist festzustellen, daß zwei Drittel Immobilienvermögen haben. Die abhängig Beschäftigten haben einen wesentlichen Teil dieses Vermögens gebildet.
Betrachtet man das Geld- und Betriebsvermögen, so ergibt sich, daß die Verteilung ungleicher ist. Aber diese ungleiche Vermögensverteilung darf nicht betrachtet werden, ohne zu berücksichtigen, daß 10 Prozent der Bevölkerung, die nicht Arbeitnehmer sind, ihre Lebensrisiken durch Kapitalbildung abdecken müssen. Ein wesentlicher Teil der Vermögensbildung in den Nichtarbeitnehmerhaushalten dient der Alterssicherung und der Sicherung vor anderen Risiken, die in den Arbeitnehmerhaushalten durch die kollektiven Systeme abgedeckt werden. Deshalb ist eine Vermögensverteilungsdebatte nur dann ehrlich, wenn man die Rentenansprüche der Erwerbsbevölkerung in die Vermögensverteilung einbezieht.
Da wir davon ausgehen, daß diese Ansprüche eigentumsähnlichen Charakter haben, ist es völlig unerträglich und für die Arbeitnehmerhaushalte selbst auch unzutreffend, wenn man diese Vermögensbildung ausklammert.
Um welches Vermögen handelt es sich? Würde man die Zahlungen, die die Arbeitnehmerhaushalte in die Rentenversicherung leisten, so behandeln, als hätten sie der Vermögensbildung gedient und als wären sie mit jeweils 4 Prozent verzinst worden, dann würde jemand aus dem Geburtenjahrgang 1960 ein Vermögen von knapp 800 000 DM durch die Beiträge, die er über 35 Jahre zahlt, gebildet haben, ein Mitglied des Geburtenjahrgangs 1970 nach 35 Erwerbsjahren eines von knapp 1 Million DM und ein Mitglied des Geburtenjahrgangs 1980 nach 35 Jahren eines von ungefähr 1,2 Millionen DM. Diese Beträge - selbst wenn ich sie ohne Verzinsung rechne, sind es immer noch rund 400 000 bis rund 600 000 DM - sind Sicherungen der Arbeitnehmer im Sinne Ludwig Erhards: Vermögensbildung als Sicherung der Freiheit und der Unabhängigkeit des einzelnen.
Die Aufforderung, die Arbeitnehmer sollten mehr Vermögen bilden, ist nur dann realistisch, wenn die Vermögensbildungsfähigkeit der Arbeitnehmerhaushalte nicht durch immer höhere Beiträge für die Sozialsysteme eingeschränkt wird. Im Augenblick können sie praktisch kein zusätzliches Vermögen bilden oder jedenfalls nur sehr wenig. Die wenigen Versuche, eine Entlastung vorzunehmen, die wir bisher auf Grund der politischen Mehrheitsverhältnisse machen konnten, wollen Sie, Herr Lafontaine, aber alle wieder rückgängig machen. Das heißt, die Voraussetzungen für Ihre Forderung „Mehr Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" wollen Sie wieder aufheben, indem Sie die Arbeitnehmerhaushalte durch höhere Beiträge und im übrigen auch durch höhere Mehrwertsteuern - auch in Ihrem Buch ausführlich dargestellt, und zwar im Sinne der Entlastung der Arbeitnehmer - zusätzlich belasten. Diese Widersprüchlichkeit zeigt, daß Ihr Konzept nicht durchdacht ist. Es kann nicht aufgehen.
Bisher haben Sie zwar viel von Vermögensbildung gesprochen, de facto aber jeden Schritt in Richtung der individuellen Vermögensbildung erschwert oder behindert. Ihre jüngsten Vorschläge, nun durch Beiträge einen Kapitalstock in der Rentenversicherung zu bilden, aber nicht in Form von individuellem Vermögen, sondern von Kollektivvermögen, führen ebenfalls in die Irre. Das bedeutet nur, daß riesige Kapitalvermögen angesammelt werden, die vor
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politischer Intervention zu schützen fast unmöglich ist.
Wir haben aber nicht nur einen gewaltigen Anstieg des Wohlstandes in Deutschland in der erfaßten Ökonomie. Zur Wirklichkeit in Deutschland gehört auch der Blick auf die Schattenwirtschaft. Die Deutsche Bundesbank hat festgestellt, daß die Wertschöpfung in der Schattenwirtschaft inzwischen auf 560 Milliarden DM angestiegen ist. Diese Wertschöpfung entspricht der Arbeit von 6 Millionen abhängig Beschäftigten in der gleichen Zusammensetzung wie bei den gesamten Beschäftigten in Deutschland.
Zum größten Teil sind die Teilhaber an der Schattenökonomie Erwerbstätige, zum geringeren Teil sind es Arbeitslose oder solche, die dem Arbeitsmarkt sonst gar nicht zur Verfügung stehen. Würden wir diese Schattenökonomie mit einbeziehen, wäre unser Bruttoinlandsprodukt um ein Sechstel höher als ausgewiesen. Die Schattenökonomie ist schneller gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Das ist in der Tat ein Krankheitssymptom.
Worauf beruht diese Krankheit? Sie beruht auf einer Überforderung der arbeitenden Bevölkerung oder der Bevölkerung insgesamt durch Steuern und Abgaben, angesichts deren sie sich immer mehr durch Ausweichen aus der legalen Ordnung in die Schattenordnung begibt. Das ist ein Massenphänomen, kein Phänomen der Reichen.
Weil es ein Massenphänomen ist, müssen wir uns mit den Ursachen auseinandersetzen. Der Bevölkerung nun einzureden, man könne diese Probleme durch eine stärkere Belastung der Reichen lösen, ist lächerlich.
Schließlich haben wir in Deutschland - auch das übergeht die Opposition bei ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit - einen wachsenden Bereich an Eigenarbeit. Die wachsende, auch finanzielle, Leistungsfähigkeit der Haushalte - gerade auch der Arbeitnehmerhaushalte - hat dazu geführt, daß sie sich in immer stärkerem Maße auch mit den eigenen kleinen Investitionen für Eigenarbeit ausstatten können.
Die Baumärkte gehören zu den erfolgreichsten Geschäftsbereichen in Deutschland, weil die Nachfrage nach Eigenarbeit immer größer wird. Im ländlichen Raum werden bis zu 80 Prozent der Eigenheime in Eigenarbeit und Nachbarschaftshilfe - nicht einmal in der Schattenökonomie - erstellt.
Alles dies sind eindrucksvolle Daten für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes.
Wer diese kaputtredet, nimmt den Menschen im Land die Motivation. Das Schlimmste an dieser Debatte über die irreale Wirklichkeit ist nämlich, daß die Menschen nicht hören: Ihr habt das in den letzten Jahrzehnten und vor allen Dingen in den letzten zehn Jahren hervorragend gemacht, ihr habt die Probleme gelöst, wir haben als Politiker dazu einen Beitrag leisten können. - Vielmehr hören sie ständig, daß das Ergebnis ihrer Anstrengungen unzureichend ist und immer schlechter geworden ist. So kann man eine Bevölkerung in der Demokratie nicht zu weiteren Leistungen anspornen. Aber gerade das wollen Sie doch!
Nun lassen Sie mich in dieser Bestandsaufnahme noch ein Schlußwort zur heutigen Situation sagen.
Das bisherige Wirtschaftswachstum hat dazu geführt, daß wir heute ein Bruttoinlandsprodukt von 45 800 DM pro Kopf der Bevölkerung gemeinsam erwirtschaften. Das ist eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte der Welt. Wenn dieses Bruttoinlandsprodukt real um 2,6 Prozent wächst, dann scheint das relativ wenig. In absoluten Zahlen sieht die Sache ganz anders aus: Wenn das heutige Bruttoinlandsprodukt um 2,6 Prozent wächst, wächst es um fast 100 Milliarden DM oder um etwa 1200 DM pro Kopf der Bevölkerung real oder um etwa 100 DM pro Monat und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir 1998/99 die projizierte Wachstumsrate von 2,7 Prozent erreichen, wächst es wieder um rund gut 100 Milliarden DM. Das heißt, in den zwei Jahren von 1997 bis 1999 ist das Bruttoinlandsprodukt pro Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland in nur einem Jahr um 2700 DM real gewachsen, in zwei Jahren um 5000 DM.
Wenn es uns nicht möglich ist, bei einem solchen Zuwachs unseres Volkseinkommens mit dem auszukommen, was die Bürger uns bisher für staatliches Handeln zur Verfügung stellen, dann müssen wir uns große Vorwürfe machen.
In diesem Zuwachs liegen die Reserven, um die vom Finanzminister angestrebte Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu erreichen und Neuverschuldungen in größerem Umfang zu vermeiden.
Ein Wort noch dazu, weil Sie, Herr Kollege Lafontaine, die Verschuldung angesprochen haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Verschuldung, die in den letzten acht Jahren entstanden ist, etwas deutlicher vor dem Hintergrund der Leistungen würdigen würden, die die westlichen Länder der Bundesrepublik Deutschland in den letzten acht Jahren erbringen mußten. Die Transferleistungen von Westdeutschland nach Ostdeutschland, die ich vor diesem Hohen Hause schon als einen Ausdruck großartiger nationaler Solidarität bezeichnet habe, machen bisher insgesamt 73 000 DM pro Kopf der Bevölkerung in Ostdeutschland aus. Wer eine solche Leistung erbringt und wer gleichzeitig Wachstumsraten zustande bringt sowie in einem wesentlichen Teil dieser Zeit das reale Bruttoinlandsprodukt auf die Höhe führen kann, auf der es heute ist, der hat Respekt
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verdient. Das sind die Deutschen selbst, und das ist die Bundesregierung.
Herr Kollege Lafontaine, ich bin gerne bereit,
mich im nachhinein mit Ihnen darüber zu unterhalten, ob wir vor einiger Zeit die Steuern vielleicht etwas stärker hätten erhöhen oder ob wir uns weniger hätten verschulden müssen. Ich bin aber nicht bereit, mich mit jemandem zu unterhalten, der im Jahre 1990 im Bundesrat den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion abgelehnt hat
und sich damit gerade der Diskussion entzogen hat, die Sie heute - acht Jahre später - einfordern.
- Das sind keineswegs alte Kamellen. Die Leute in Ostdeutschland haben das sehr gut in Erinnerung.
Wenn ich mir den Bericht über den letzten Besuch von Herrn Kollegen Lafontaine in Dresden anschaue, dann erkenne ich, daß das auch heute noch so ist.
Die Bevölkerung sieht das im übrigen ähnlich.
Sie weiß um die Leistungen, die sie erbracht hat. Nach dem „Politbarometer" beurteilt die Bevölkerung in Gesamtdeutschland im August 1998 ihre eigene wirtschaftliche Lage zu 54 Prozent als „gut", zu 37 Prozent als „teils-teils" und nur zu 9 Prozent als „schlecht". So schlecht kann die Politik also nicht gewesen sein.
Ich habe auch die Zahlen von Sachsen. Dort sagen 41 Prozent, die Lage sei gut, 39 Prozent halten sie für mittelmäßig und 13 Prozent für schlecht. Wenn ich bei denjenigen, die „mittelmäßig" angeben, einmal annehme, daß sich die eine Hälfte davon eher für „gut" und die andere Hälfte eher für „schlecht" entscheiden würde, dann sind es weit über 50 Prozent, die die Lage für gut halten. Ich bin ziemlich sicher, daß ein wesentlicher Teil dieser weit über 50 Prozent der Menschen ihre Wahlentscheidung nach diesem Votum abgeben wird.
Lassen Sie mich abschließend noch einiges zu einem zentralen Problem sagen, das auch die Finanzpolitik unmittelbar betrifft, nämlich zu dem Problem der weiteren Entwicklung des Arbeitsmarktes. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nach wie vor außerordentlich hoch. Eine pauschale Behandlung dieser hohen Arbeitslosenzahlen ist als Grundlage für Politik aber falsch. Ich bin sehr glücklich, daß das inzwischen auch maßgebliche Männer und Frauen im Deutschen Gewerkschaftsbund so sehen - unter anderem auch der Vorsitzende der IG-Metall. Ich hatte vor wenigen Wochen die Gelegenheit, mit ihm in einer Veranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung in Hannover über diese Fragen zu diskutieren.
Wenn wir eine vernünftige Politik machen wollen, müssen wir auch in diesem Bereich von der Wirklichkeit ausgehen. Die Wirklichkeit ist - ohne unzulässige Vereinfachung - diese: Ein Drittel der registrierten Arbeitslosen in Deutschland ist weniger als drei Monate arbeitslos. Diese Menschen finden innerhalb von drei Monaten eine neue Tätigkeit. Darin drückt sich nicht ein soziales Elend aus, sondern die Folge einer ungewöhnlich dynamischen Wirtschaft.
In dieser Wirtschaft ändert sich die Zuordnung von Produktionsfaktoren, von Arbeitskräften und von Wissen ständig.
Jetzt darf ich wieder Herrn Kollegen Lafontaine aus seinem Buch zitieren. Er beschreibt dort ausdrücklich diesen Vorgang der ständigen Veränderung der Ressourcenallokation „bis hin zum Verschwinden ganzer Unternehmensbereiche" als notwendige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der hochentwickelten Industrienationen.
Was heißt das denn, wenn ganze Industriezweige verschwinden und andere neu entstehen? Das heißt, wir haben eine große Wanderung von Beschäftigten von bisherigen Tätigkeiten zu neuen Tätigkeiten. Diese Wanderung ist in der Regel mit vorübergehender Arbeitslosigkeit verbunden. Diese Arbeitslosigkeit zu bekämpfen hieße, zu einem statischen Wirtschaftsmodell zurückzukehren. Genau das wäre falsch.
Deshalb ist es unzulässig, dieses Drittel in der Form zu demagogisieren, wie das immer wieder in den pauschalen Arbeitsmarktdebatten geschieht. Für die Überwindung der Arbeitslosigkeit dieses Drittels sollten wir keine öffentlichen Mittel einsetzen, sondern wir sollten allenfalls durch eine richtige Wirtschaftspolitik die Entstehung neuer Unternehmen beschleunigen, damit die Frist nicht drei Monate, sondern nur zwei Monate beträgt.
- Machen wir ja. Kommen Sie nach Sachsen, dann können Sie es sehen. Ich sehe, Sie sind selten dort.
Das zweite Drittel sind die Langzeitarbeitslosen, die mehr als zwölf Monate arbeitslos sind. Wie setzt
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sich die Gruppe dieser Menschen, denen unsere ganze Zuwendung gehört, zusammen? Zwei Drittel von ihnen sind entweder über 55 oder ohne jede Ausbildung oder gesundheitlich beeinträchtigt, und bei zwei Dritteln dieser Gruppe treffen alle drei Kriterien zu. Das heißt, etwa die Hälfte ist in dieser Weise beeinträchtigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der behauptet, man könne dieses Problem durch Makroökonomie, durch Stärkung der Nachfrageseite oder auf andere Weise lösen, führt die Menschen in die Irre. Das ist unmöglich.
Wir haben inzwischen ganz andere Methoden zu entwickeln versucht, und zwar nicht ohne Erfolg. Wir sind der Meinung - ich kann hier nur vom Freistaat sprechen, aber das wird auf der bundespolitischen Ebene genauso gefördert und unterstützt werden -, daß diesen Menschen, etwa einem Drittel, nur in einem hochgradig dezentralen System geholfen werden kann, also auf kommunaler und auf regionaler Ebene.
Wir haben deshalb entsprechende regionale Einrichtungen geschaffen. Wir haben Stiftungen gegründet. Wir haben die Kommunen unterstützt. Wir haben in Leipzig und in Chemnitz inzwischen Organisationen mit bis zu 4 000 Menschen aus diesem Bereich der Langzeitarbeitslosen, die dort jetzt wieder arbeiten. Wir haben einen erstaunlich hohen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt. Aber alles ist nur auf lokaler und regionaler Ebene möglich. Es ist sehr viel mehr der Sozialpolitik als der Makroökonomie verwandt.
Der Kombilohn kann hier hellen; deshalb sind wir für das Experiment. Übrigens beinhaltete § 249h Arbeitsförderungsgesetz auch schon so etwas ähnliches wie den Kombilohn. Das ist gar nicht so neu. Er ist aber aus anderen Gründen nicht so weit, wie wir das wollten, angenommen worden. Wir können diese Dinge weiterentwickeln.
Das letzte Drittel - gut ein Drittel -, das sind die Menschen, die zwischen drei und zwölf Monaten arbeitslos sind. Hier muß die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik einsetzen, um diese Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist auch möglich.