Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schwerwiegende Menschenrechtsprobleme in vielen Ländern der Welt und einige herausragende Jahrestage sind Anlaß genug, eine der letzten inhaltlichen Debatten des Bundestages in dieser Legislaturperiode dem Thema Menschenrechte zu widmen.
Die Debatte ist ein Beitrag des deutschen Parlaments zum 50. Jahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sie findet auf den Tag genau 45 Jahre nach dem 17. Juni 1953 statt, dem Tag, an dem die Menschen in Ostdeutschland für ihre politischen und bürgerlichen, aber insbesondere auch für ihre sozialen Menschenrechte auf die Straße gegangen sind, und fünf Jahre nach der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz, auf der ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Menschenrechte verabschiedet worden ist - alles wichtige Ereignisse auf dem Weg zur Durchsetzung der Menschenrechte.
Der Rückblick zeigt, daß eine Reihe erheblicher Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte erreicht worden ist. - Der Kollege Volker Neumann wird dies näher ausführen. - Ein Blick auf die reale Situation macht allerdings sofort deutlich, was und wieviel noch zu tun ist, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Heute morgen hat Amnesty International unter dem Titel „Proklamiert - nicht realisiert" seinen Jahresbericht 1998 vorgelegt und aufgezählt, in wie vielen Staaten es zu extralegalen Hinrichtungen, „Verschwindenlassen", Folter und Mißhandlungen, unfairen Gerichtsverhandlungen, Gefangennahmen gewaltlos politisch Agierender, Haft ohne Anklage, Freiheitsentzug in Arbeitslagern, Vollstreckung und Verhängung der Todesstrafe, Geiselnahmen, Folter und Morden an Zivilisten durch bewaffnete politische Gruppen gekommen ist. Als Tendenzen hinter diesen Zahlen wird aufgezeigt, daß die Anzahl der politisch Gefangenen leicht und kontinuierlich zurückgehe, dagegen politische Morde und „Verschwindenlassen" zunähmen und Folter unverändert häufig angewendet werde.
Wahrlich, Zeit zu handeln. Aufgabe der Politik ist es, die Mißstände nicht nur zu beschreiben und zur Kenntnis zu nehmen, sondern immer wieder aufs neue Anläufe zu unternehmen, die Lage zu verbessern, wobei Bemühungen zur Durchsetzung der Menschenrechte immer auch ein Bemühen zur Verbesserung der Welt sind. Es sollte uns schon zu denken geben, daß in Deutschland das Wort „Weltverbesserer" eher einen utopistisch-idealistischen und ironisch-negativen Beigeschmack hat und fast wie ein Schimpfwort gebraucht wird. Eigentlich sollte es eine Ehrenbezeichnung sein.
Zur Bestandsaufnahme der Lage der Menschenrechte gehört neben der Darstellung des Ausmaßes der Verletzung der zivilen und politischen Menschenrechte auch eine Darstellung der Defizite bei der Umsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Hier geht es darum, wie viele Menschen in Armut leben, wie viele ihre elementaren Grundbedürfnisse an Essen, Trinken, Wohnung und Bildung nicht befriedigen können. Es geht um Arbeitslosigkeit, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Sklavenarbeit und Kinderarbeit. Eine stärkere Einbeziehung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte in die Debatte zur Menschenrechtspolitik, auch hier im Bundestag, ist dringend geboten.
Zwar wird verbal immer wieder betont, daß alle Menschenrechtsbereiche gleichberechtigt seien, tatsächlich liegt in der praktizierten Menschenrechtspolitik jedoch ein eindeutiges Schwergewicht auf den bürgerlichen und politischen Menschenrechten. So wichtig es ist, daß Individuen „frei von Angst" leben können, so gehört zur Verwirklichung der Menschenrechte doch auch, daß sie „frei von Not" leben können. Auch in Deutschland ist es bisher kaum üblich, Defizite im sozialen und wirtschaftlichen Bereich als nicht realisierte Menschenrechte anzusehen und zu diskutieren. Bei der Durchsetzung von Menschenrechten denkt man mehr ans Ausland und reduziert das Thema auf die Durchsetzung der individuellen Freiheitsrechte. Dies geschieht im Be-
Rudolf Bindig
wußtsein, daß die letzteren im Inland durch die demokratische Grundordnung und die Rechtsordnung garantiert und umgesetzt seien. Soziale Probleme als Menschenrechtsfragen zu behandeln heißt - dies ist politisch sicherlich eher unbequem -, einzusehen und einzugestehen, daß es auch in unserem Land erhebliche Defizite bei der Durchsetzung sozialer Menschenrechte gibt.
Neben dem gleichberechtigten Einsatz für alle Menschenrechtsbereiche sollte die Menschenrechtsfrage auch stärker mit der Globalisierungsdebatte verbunden werden. Globalisierung wird uns immer wieder dargestellt als ein quasi technisch ablaufender Prozeß, dem man sich schicksalhaft anpassen müsse, wobei die Anpassung im Abbau erreichter wirtschaftlicher und sozialer Standards liegt. Globalisierung so dargestellt führt zu einer Beeinträchtigung oder Bedrohung sozialer Menschenrechte.
Globalisierung kann neben den Gefahren einer rein wirtschaftlich orientierten Anpassungsglobalisierung aber auch Chancen für eine umfassendere Realisierung der Menschenrechte eröffnen. Neben einer Globalisierung der Kommunikation, einer Globalisierung der Wirtschaft und einer Globalisierung der Finanzen hat auch die Globalisierung von Ideen über gute Lebensbedingungen, gutes Leben und die menschliche Entwicklung begonnen.
Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten und in den internationalen Menschenrechtsverträgen konkretisierten Menschenrechte sollten dabei als Maßstab der ethischen Fundierung der Globalisierung gelten. Das internationale Menschenrechtssystem ist der breiteste Set von Standards und vertraglichen Verpflichtungen, der existiert. Es ist ein universeller Konsens, den die Staatengemeinschaft für den Schutz von Menschen erreicht hat, auch wenn dies von einzelnen Regierungen im Interesse des eigenen Machterhalts und unter dem Vorwand kultureller Eigenheiten manchmal bestritten wird. Die Menschenrechte bilden faktisch ein globales Ethos.
Politisch gilt es, mehrere Diskussionsstränge, die sich in den letzten Jahren weltweit herausgebildet haben, zusammenzuführen: Aus der ökologischen Perspektive heraus ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung entstanden; aus der entwicklungspolitischen, sozialen und humanitären Perspektive ist - vor allem ausgehend vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP - das Konzept des Index für die menschliche Entwicklung entstanden, und im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen existiert seit längerem das Leitbild des freien Handels, des freien Dienstleistungs- und Finanzverkehrs. So wie auf nationaler Ebene wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte im Leitbild der ökosozialen Marktwirtschaft auf der Basis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zusammengeführt werden, müssen auch die international entstandenen Leitbilder auf eine Wertbasis gestellt werden. Diese Aufgabe können die bürgerlichen und politischen, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte übernehmen, wie sie im Weltmenschenrechtssystem entstanden sind.
Ein solchermaßen integriertes Leitbild für nationale und internationale Entwicklungen kann auch der Bundesregierung die Richtung für ihre Menschenrechtspolitik weisen. Für die wertorientierte Zielsetzung bedeutet dies, daß die Bundesregierung ihr Engagement stärker als bisher auf die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte ausrichten muß. Um sich in allen Bereichen aktiv für die Menschenrechte einsetzen zu können, muß sie ihre operativen Möglichkeiten ausbauen. Konkrete politische Menschenrechtsarbeit ist eine komplizierte Aufgabe; ihr Rahmen muß organisatorisch und institutionell so gestaltet werden, daß ein vielfältiges Instrumentarium eingesetzt werden kann. Die traditionelle diplomatische Demarche oder die Teilnahme an Konferenzen und Sitzungen internationaler Gremien macht nur einen Teil dieser Arbeit aus. Daneben tritt die Notwendigkeit, beratende Dienste durchzuführen, Menschenrechtsfeldoperationen vorzunehmen, menschenrechtsorientierte Projekte zu konzipieren und zu realisieren, Präventivmaßnahmen einzuleiten und dafür geeignetes Fachpersonal zu rekrutieren. Zur Wahrnehmung all dieser Aufgaben reicht das bisher existierende Instrumentarium der deutschen Menschenrechtspolitik nicht aus.
Wir haben die Bundesregierung deshalb schon mehrmals darauf hingewiesen, daß sich in vielen Politikbereichen - von der Entwicklungspolitik über die Forschungspolitik und Sozialpolitik bis hin zur Umweltpolitik - Systeme aus Beiräten, Institutionen oder spezialisierten Durchführungsorganisationen gebildet haben. Wir haben gefordert, daß eine ähnliche Umfeld- und Vorfeldentwicklung im Bereich der Menschenrechte angestrebt werden sollte. Wenn die Bundesregierung in der Menschenrechtsarbeit wirklich einen Schwerpunkt sieht, muß sie ihre operativen Möglichkeiten verbessern.
In diesem Zusammenhang ist unser Vorschlag zu sehen, ein unabhängiges deutsches Institut für Menschenrechte nach dem Vorbild anderer europäischer Länder einzurichten. Bereits in der 12. Wahlperiode hatten wir hierzu erste Überlegungen angestellt. In der 13. Wahlperiode ist sorgfältig an der Konkretisierung der Idee gearbeitet worden. Gemeinsam haben wir eine Anhörung durchgeführt. Obwohl Konsens darüber besteht, daß die national und international gewachsene Dimension des Politikbereichs Menschenrechte sowohl eine organisatorische Stärkung als auch eine engere Vernetzung der bestehenden Strukturen erfordert, sind die Koalitionsfraktionen jetzt leider nicht bereit, den Antrag auf Errichtung eines Menschenrechtsinstituts mitzutragen. Dies ist bedauerlich.
Die Koalitionsfraktionen haben nunmehr in einem eigenständigen Antrag die Schaffung eines deut-
Rudolf Bindig
schen Koordinierungsrates für Menschenrechte gefordert. Der vorgeschlagene Koordinierungsrat kann aber den Bedarf nicht abdecken und die Funktionen nicht wahrnehmen, welche das Menschenrechtsinstitut erfüllen soll. Wenn der Koordinierungsrat all die im Antrag genannten Aufgaben wahrnehmen soll, braucht er zudem eine institutionelle Grundlage, das heißt, er braucht einen kleinen Apparat und damit eine Organisationsstruktur sowie eine Finanzierungsgrundlage. Damit liegt er dann schon wieder in der Nähe des von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Menschenrechtsinstituts.
Unserer Meinung nach ist der Vorschlag der Koalitionsfraktionen nicht hinreichend durchdacht, mit ihm bleiben sie auf halbem Wege stehen. Wir laden die jetzigen Koalitionsfraktionen schon jetzt dazu ein, noch die andere Hälfte des Weges zurückzulegen und sich dann der neuen Mehrheit im Bundestag anzuschließen.
Was die Menschenrechtspolitik in der nächsten Legislaturperiode angeht, so fordert das Forum Menschenrechte eine konkrete Verpflichtung der deutschen Menschenrechtspolitik auf die Beachtung folgender Zieldefinition:
Von jeder Regierung ist eine konsistente, nicht selektive, transparente, nicht instrumentalisierende, und umfassend ressortübergreifende Menschenrechtspolitik nach innen wie nach außen zu verlangen, die sich unabhängig von anderen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder geostrategischen Erwägungen gleichermaßen intensiv für die unteilbaren und in gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Menschenrechte einsetzt.
Dies ist eine anspruchsvolle Zieldefinition. Der Deutsche Bundestag und die neue Bundesregierung werden sich anstrengen müssen, diese Forderung umzusetzen. In Anlehnung an Willy Brandt möchte ich sagen: Wir wollen uns bemühen.
In dieser Debatte halten - zum Teil ist das schon geschehen - einige Kollegen, welche seit Jahren im Menschenrechtsbereich arbeiten, Staatsminister Schäfer, der Kollege Graf von Waldburg-Zeil und der Kollege Lummer, ihre letzte Bundestagsrede. Über Differenzen in Einzelfragen hinweg haben wir gemeinsam für die Durchsetzung der Menschenrechte gekämpft. Ich möchte den Kollegen Dank für ihre Arbeit und Respekt für ihr Engagement aussprechen. Ich wünsche Ihnen für Ihre private Zukunft alles Gute. Bleiben Sie weiter im Kreis der Weltverbesserer!