Rede von
Prof. Dr.
Rainer
Ortleb
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin in dieser Stunde vermutlich der Dritte, der zu Ihnen im Rahmen seiner letzten
Dr. Rainer Ortleb
Rede im Deutschen Bundestag spricht. Ich habe 1990 in der ehemaligen DDR die Aufgabe, Abgeordneter der Volkskammer zu werden, mit Dankbarkeit als Auftrag angenommen. Ich halte es heute genauso wie damals: Ich möchte meine Redezeit nicht überstrapazieren. Die Frau Präsidentin möge mich sonst bitte darauf hinweisen. Ich halte hier nicht etwa mein Redemanuskript in der Hand, sondern ich werde es wie in der alten Volkskammer machen: Ich war bekannt dafür, von einer Briefmarke zu reden. Die habe ich heute nicht mit. Ich habe nur das alte Protokoll der Sitzung der Volkskammer der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vom 17. Juni 1990.
Manchmal habe ich den Eindruck, daß mein Leben - ich bin vor wenigen Tagen 54 Jahre alt geworden - nur aus 17. Junis bestanden hat. So will ich meine Rede gliedern. Ich werde einen ersten, einen zweiten und einen dritten 17. Juni schildern: Der 17. Juni 1953 - der eigentliche - war der erste, den es geben konnte. Damals war Rainer Ortleb neun Jahre alt. An diesem Tage wurde in Dresden verbreitet - dort wohnten meine Eltern -, daß es im zentralen Kaufhaus in der Innenstadt Bettwäsche gäbe. Daraufhin bin ich mitgegangen. Denn damals war die Regel: Es wird soviel Bettwäsche ausgeteilt, wie Hände ausgestreckt werden. Also war ich als Kind verpflichtet, dieser Aufgabe nachzukommen. An der Hand meiner Mutter fuhr ich, neunjährig, mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Zirka vier, fünf Haltestellen vor der Innenstadt blieb die Straßenbahn stehen. Das waren wir damals gewöhnt: Stromsperre usw. Nur die Kette der Straßenbahnen gab zu denken. Dann kam ein älterer Mann und sagte zu meiner Mutter: „Junge Frau" - das war sie damals -, „gehen Sie mit Ihrem Kind heim! Es wird geschossen." Und dann haben wir schon die Schüsse gehört. Meine Mutter war kriegserfahren; es war ja erst 1953. Sie wußte genau, was man tun muß, wenn so etwas passiert. - Das war mein erster 17. Juni.
Jetzt rede ich über den zweiten. Ich habe schon angekündigt: Das war Sonntag, der 17. Juni 1990. - Liebe Frau Präsidentin, Sie waren damals Gast der Volkskammer. Das steht jedenfalls so im Protokoll: Begrüßung der Bundestagspräsidentin, Frau Prof. Dr. Süssmuth, und des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Dr. Vogel. - So ist das damals gewesen.
Ich sehe in die Runde. Ich habe mir die Liste genau angesehen. Leider treffe ich nicht alle Kollegen, die damals geredet haben. Bitte, verzeihen Sie mir: Der einzige von damals, der auch heute hier ist, ist Herr Maleuda. - Nein, jetzt ist er wieder weg. Fürchterlich ärgerlich!
Dann ist etwas Seltsames passiert. Ich lese vor:
Die Volkskammer beschließt mit Mehrheit, den Antrag der Fraktion der DSU an den Ausschuß Deutsche Einheit federführend, den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Verfassung und Verwaltungsreform zu überweisen.
Welcher Antrag war das? - Es war der Antrag, sofort,
am 17. Juni, nach Art. 23 beizutreten. Damals hat der
Abgeordnete Rainer Ortleb, damals Fraktionschef,
anders votiert - Rainer Eppelmann, du warst dabei, du kannst dich gut erinnern -, weil wir damals keine Einheit mit Hast haben wollten. Wir sind damals dieser Überzeugung gewesen. Da gibt es einen Satz von mir, den ich zitieren darf:
Er ist die Konsequenz aus dem gewesen, daß für lange Nachbesserungen, Veränderungen und andere Dinge nicht mehr die Zeit ist, nachdem die Ereignisse und die Dynamik des Prozesses so gelaufen sind.
Das war damals die Situation. Und trotzdem! Ich hatte formuliert:
Vernunft hat uns bisher davon abgehalten, das sofort und unter Ausschaltung des Denkwerkes zu tun.
Das war eine Formulierung von damals.
Und dann gab es noch eine etwas ulkige Geschichte. Herr Schulz ist auch hier. Herr Schulz, wir hatten einen kleinen Disput, und der ging wie folgt. Ich hatte formuliert - wegen der Frage Einheit -:
Drum prüfe, wer sich ewig bindet!
Aber ich hatte dann hinzugefügt:
... der Spruch heißt nicht:
Drum prüfe ewig, wer sich bindet.
Und da haben Sie mich gefragt, ob ich geheiratet hätte, und ich habe wörtlich geantwortet:
Nein, nein, Herr Schulz, ich hatte schon.
Das war für mich der 17. Juni Nummer zwei. Es war ein spannender Tag. Herr Schulz, Sie geben mir sicherlich recht - und da unsere Parteien normalerweise total über Kreuz sind: wenn ich Sie als Zeugen benenne, weiß jeder, daß es ehrlich gemeint ist -: Es war eine spannende Zeit, die wir als Laien mühsam gemeinsam bewältigt haben. Ich danke Ihnen auch ganz persönlich dafür. Und unsere Wortspiele waren ja in der Volkskammer bekannt.
Jetzt komme ich - noch in diesem Teil, ehe ich zu dem anderen übergehe - auf etwas, was mich damals sehr betroffen gemacht hat. Frau Lengsfeld, ich bin - das erkläre ich Ihnen - ein geborener Feigling. Ich habe in der DDR versucht, das Beste aus der Geschichte zu machen, die damals war. Ich habe mich in kein Gefängnis begeben, aber wenn Sie meine Studenten aus Rostock oder Dresden fragen: Ich habe immer ein offenes Ohr für Probleme gehabt und habe immer meine Flügel ausgebreitet, wenn es sein mußte. Trotzdem: Ich bin ein geborener Feigling. Ich erkläre das.
Warum erkläre ich das jetzt? Weil ich bei aller Aufarbeitung von Vergangenheit eines wohl nicht vergessen werde - ich berufe mich wieder auf das Protokoll -: Ein Abgeordneter Opitz erklärte sich dann: Haben Sie Zweifel, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands in Ordnung sei? Damit wurde ein Abgeordneter Modrow angesprochen. Dieser Abgeordnete Opitz hat dann wenige Wochen später ein
Dr. Rainer Ortleb
schlimmes Schicksal erfahren: Man hat ihn verdächtigt, Zuträger der Staatssicherheit gewesen zu sein. Weil der Name Opitz in Deutschland nun weiß Gott kein ungewöhnlicher Name ist, hat er Wochen und Monate gebraucht, bis er rehabilitiert war.
Also, bei aller Aufarbeitung: Gerechtigkeit muß auch sein!
Jetzt komme ich zum dritten und letzten 17. Juni, und das ist der heutige. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß ich ausgerechnet an diesem Tag, dem 17. Juni, hier in diesem Bundestag reden kann.
Ich streife das ganze Publikum. Frau Enkelmann, seien Sie mir nicht böse, wenn ich mir jetzt einen Scherz erlaube: Sie sind praktisch das Nationalste, was wir haben; Sie laufen immer in Schwarzrotgold.
Sie wissen, worauf ich angespielt habe.
Ich gehe die Runde durch: Ich danke Herrn Hilsberg, Herrn Vergin; ich will keine weiteren Namen nennen; Sie wissen alle, daß Sie angesprochen sind.
Gerd Poppe, wir haben uns zusammengerauft, und das war ziemlich gut; Werner Schulz, Gerald Häfner, auch wir waren nicht schlecht als Truppe.
Ich darf mich auch gegenüber der CDU verneigen. Mein Verbindungsmann dort ist insbesondere Rainer Eppelmann gewesen, ein Pfarrer, den ich als meinen persönlichen immer gerne gehabt hätte.
Und dann bedanke ich mich bei meinen eigenen Freunden. Ich darf mich verabschieden.
Vielen Dank.