Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche zum Waldschadensbericht. Es besteht leider die Gefahr, daß dieser wichtige Bericht und die parlamentarische Debatte darüber in diesem Hause zu einem ungeliebten Ritual werden. Das dürfte nicht passieren; denn die Realität schreit - entgegen manchen Aussagen, die hier getroffen worden sind - nach Abhilfe.
So schlimm wie in diesem Jahr war es noch nie. Große Teile der Kronen werden nicht mehr ausschlagen.
Das ist nicht, wie Sie vielleicht glauben, eine Feststellung von aufgeregten Umweltschützern, sondern das sagte mir ein Forstamtsleiter im Nordschwarzwald bei einem Waldbegang im Dezember 1997, ein Mann, der sein Revier genau kennt, und die begleitenden Kollegen aus den Nachbarbezirken pflichteten ihm bei. Einer fügte hinzu, man habe bei der Standortkartierung vor kurzem einen pH-Wert von 3,42 ermittelt. „Der Waldboden ist saurer als Essig", war sein bitterer Kommentar.
So sieht es aus. Alle Beruhigungspillen nützen nichts. Auch das Feilschen um Prozentpunkte führt nicht weiter. 2 Prozent Verbesserung bei Fichten und Kiefern, 3 bis 4 oder 5 Prozent Verschlechterung bei Laubbäumen - das sind papierne Spielchen. Faktum
ist leider: Jede zweite Eiche ist schwer krank; fast jede zweite Tanne und jede dritte Buche ebenfalls. Das ist wahrlich kein Grund zum Jubeln.
Noch erschreckender sind meines Erachtens die Ergebnisse des Waldbodenberichts; denn nahezu 80 Prozent der Waldböden sind durch den Eintrag von Luftschadstoffen versauert. In den Humusauflagen befinden sich hohe Schwermetallkonzentrationen, zum Beispiel von Blei und Kupfer.
Noch einmal unser Forstmann:
Der Boden ist unser Kapital. Wenn er das Regenwasser nicht mehr filtern kann, dann schlägt die Säure auch ins Trinkwasser durch.
In diesem Boden tickt eine Zeitbombe.
Es ist also Faktum: In unseren Wäldern vollzieht sich eine schleichende Tragödie, die auch nicht dadurch gemildert wird, daß man kaum mehr davon spricht. Der Countdown läuft.
Vor mehr als 15 Jahren war das Waldsterben das erste deutliche, Alarmsignal dafür, daß ein ganzes Ökosystem außer Kontrolle geraten kann, ins Wanken geraten kann. Dies hat damals einen Aufweckeffekt, aber leider noch keinen Umkehreffekt erzeugt. Wir verschmutzen weiterhin das Wasser, den Boden, die Luft, rotten gnadenlos 70 Tier- und Pflanzenarten pro Tag aus und überlasten den Naturhaushalt derart, daß das gesamte System nicht mehr funktionsfähig ist.
Waldschäden sind Systemschäden. Man kann das nicht oft genug betonen.
Sie sind ein untrügliches Symptom für ein falsches, nicht nachhaltiges, unverantwortliches Wirtschaften und Konsumieren. Wälder sind eben nicht nur Holzläger. Wir brauchen das Holz; darüber ist viel gesagt worden. Sie sind aber zugleich Vorratskammern für die Artenvielfalt. Sie regulieren den Wasserhaushalt. Sie schützen gegen Bodenerosion, und sie sind nach den Ozeanen die größten Kohlenstoffspeicher der Erde. Ohne Waldschutz wird Klimaschutz keinen Erfolg haben - das müssen wir uns klarmachen -, denn die Kohlenstoffsenke Wald ist unverzichtbar.
Zum Klimaschutz tragen nicht nur die tropischen Regenwälder bei, sondern auch die Wälder in den gemäßigten und in den nördlichen Breiten. Es ist daher nicht erlaubt, mit dem Finger ständig auf die Tropenländer zu zeigen, wenn es um die Walderhaltung geht. Auch die nördlichen Industrieländer sind verpflichtet, zuerst zu Hause das Nötige zur Erhaltung ihrer Wälder zu tun. Das gilt auch für uns.
Natürlich bleibt unbestritten, daß seit Beginn des Waldsterbens eine Menge geschehen ist. Das ist uns allen bekannt; das wird keiner leugnen. An dieser Stelle mögen Stichworte genügen: Großfeuerungsanlagen-Verordnung, Einführung des Katalysators, TA Luft usw. Allerdings muß ich Sie, Herr Staatssekretär Hinsken, daran erinnern, daß die Großfeuerungsanlagen-Verordnung noch von der
Dr. Liesel Hartenstein
Bundesregierung unter Helmut Schmidt beschlossen worden ist.
Das wird von Ihnen gerne unterschlagen.
Die Erfolge sind nicht ausgeblieben, zum Beispiel bei der deutlichen Reduzierung des Schwefeldioxids und damit bei der Reduzierung des sauren Regens. Dennoch gibt es keinerlei Anlaß, die Hände in den Schoß zu legen. Die Verluste durch Waldschäden gehen mittlerweile in die Milliarden. Für den Schwarzwald ist von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Freiburg ein Schaden von 131 DM pro Hektar und Jahr errechnet worden.
Ich muß daran erinnern: Schon vor zehn Jahren gab es ein höchstrichterliches Urteil, das den Waldbesitzern, und zwar den kommunalen und den privaten - Herr von Schorlemer, in diesem Punkt gibt es zwischen uns keinen Streit -, ein Entschädigungsrecht zugesprochen hat. Die Gemeinden drängen sehr stark darauf, eine Regelung zu finden. Aber bis heute hat die Bundesregierung keinen Finger gerührt. Ich finde das nicht in Ordnung.
Abwehrerfolge zur Schadensminderung sind das eine, Vorsorge zur Schadensvermeidung wäre das andere. Aber hier herrscht bei der Bundesregierung Fehlanzeige. Im Grundsatz hat sich die Industriegesellschaft überhaupt nicht verändert. Sie ist weiterhin eine Verschwendungs- und Wegwerfgesellschaft geblieben - zu Lasten der Natur, zu Lasten unserer natürlichen Lebensgrundlagen und auch zu Lasten des Waldes. Ich will dies an zwei Beispielen illustrieren.
Erstes Beispiel. Heute wird jeder Hektar Wald mit 30 bis 40 kg Stickstoff überfrachtet. Das ist das Zwei- bis Fünffache dessen, was die Bäume für ihr Wachstum tatsächlich benötigen und was die Waldböden verkraften können. Die Folge ist, wie wir schon gehört haben, eine galoppierende Versauerung.
Mehr als die Hälfte der Stickoxide stammt aus den Auspufftöpfen unserer Pkw und Lkw. Aus diesem Abgasgemisch entsteht übrigens auch das waldschädigende Ozon. Wenn Sie Ihre Zahlen bezüglich der Reduzierung der NOx-Emissionen vorlegen, Herr Hinsken, dann dürfen Sie nicht nur von den Industriefeuerungen sprechen. Hier ist infolge der Großfeuerungsanlagen-Verordnung tatsächlich eine Reduzierung eingetreten, nicht aber beim Verkehr. Wir wissen, daß der motorisierte Straßenverkehr der Waldzerstörer Nummer eins ist. Hier fehlt eine nationale und erst recht eine handfeste europäische Strategie zum Umsteigen auf umweltfreundlichere Verkehrssysteme.
In diesem Bereich hat die Bundesregierung keine Konzepte. Sonntagsreden helfen da nicht weiter.
Wir brauchen ein europäisches Schnellbahnnetz; wir brauchen den rascheren Ausbau der ÖPNV-Systeme; wir brauchen die Verlagerung des Schwerlastverkehrs auf die Schiene. Alles schon lange gefordert
- ich weiß -, aber alles nicht realisiert. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
- Sie haben es gar nicht erst probiert, Herr Hornung. Sie sollten nicht immer mit dem Finger auf die Grünen zeigen.
Zweites Beispiel: Nicht nur der Straßenverkehr explodiert - ich will noch ein anderes Beispiel bringen -, sondern auch die Papier- und Zellstoffverschwendung. Daran möchte ich ebenfalls erinnern: Die Industrieländer insgesamt sind Weltmeister bei der Verschwendung von Papier und Zellstoff. Seit den 50er Jahren ist der Verbrauch in der Bundesrepublik in bezug auf Zeitungen, Zeitschriften, Werbebroschüren, Kataloge, Büropapiere und Hygienepapier um das Siebenfache gestiegen. Hinzu kommt die Zunahme des Verpackungsluxus.
Auf den bundesdeutschen Markt kommen allein jährlich 10 Milliarden Verpackungseinheiten auf Papierbasis. Darunter befinden sich 200 000 Tonnen Getränkekartons für Milch, Säfte usw. Der größte Teil davon landet nach einmaligem Gebrauch im Abfall. Dabei ließe sich der Einsatz von frischem Zellstoff schon heute durch moderne technische Methoden und durch die Steigerung des Einsatzes von Altpapier um die Hälfte vermindern, wenn man nur darangehen würde.
Sie fragen wahrscheinlich: Was hat dieser Papierhunger mit den Entwicklungsländern zu tun? Der Teufelskreis ist offensichtlich. - Wenn Sie ein bißchen Geduld haben - meine Redezeit ist nämlich gleich zu Ende -, dann sage ich das noch.
Je mehr Zellstoff nachgefragt wird, desto stärker wird der Anreiz, diesen möglichst rasch und zu einem möglichst niedrigen Preis bereitzustellen. Dafür werden nicht nur die letzten Urwaldriesen zermahlen, sondern auch immer mehr Primärwaldflächen abgebrannt und in Plantagen mit schnellwüchsigen Bäumen umgewandelt. Denn das verspricht raschen Gewinn. Bei uns dagegen - darin gebe ich Ihnen recht - bleibt das Schwachholz, das sich zur Papierherstellung eignen würde, aus Kostengründen liegen.
Meine Damen und Herren, Verschwendung bei uns und Raubbau in den armen Ländern hängen eng zusammen. Insofern haben auch die schrecklichen Waldbrände in Indonesien und Malaysia, soweit sie von profitgierigen Holzkonzernen gelegt worden sind, mit dieser exzessiven Wegwerf- und Verschwendungsmentalität zu tun.
Ein Planet ohne Wälder ist nicht lebensfähig. Die Wälder können nur erhalten werden, wenn wir endlich den Imperativ von Rio ernst nehmen, das heißt, die Nachhaltigkeit unserer Wirtschafts- und Konsum-
Dr. Liesel Hartenstein
weise als oberstes Gebot nehmen und es tatsächlich realisieren.
„Wir werden uns alle für das zu verantworten haben, was wir in Rio versäumen", hat die damalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland gesagt. Daß in Rio keine internationale Waldkonvention zustande kam, war das größte Versäumnis dieser Mammutkonferenz. Deshalb muß das schleunigst nachgeholt werden.
Die Bewahrung unserer Wälder wird zum Testfall für eine Überlebenspartnerschaft zwischen Nord und Süd und sogar zwischen Mensch und Natur werden. Wir haben den Schlüssel dafür in der Hand. Es bedarf nur des ernsthaften politischen Willens, und diesen vermisse ich bei Ihnen.
Danke schön.