Rede von
Leyla
Onur
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Bundesrepublik gilt bekanntlich das Prinzip: Personen, die gegen Entgelt beschäftigt werden, sind grundsätzlich in der gesetzlichen Sozialversicherung gegen Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit, Krankheit sowie Berufs- und Erwerbsunfähigkeit versichert. Zudem erwerben sie durch ihre Beiträge in die Rentenversicherung einen Rentenanspruch.
Eine Ausnahme - ich wiederhole: eine Ausnahme
- sollten nach dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sein, also die sogenannten 620-DM-Jobs. Um
Leyla Onur
saisonale Schwankungen und Auftragsspitzen abfangen zu können, sollten Betriebe vorübergehend oder für wenige Stunden Arbeitskräfte einstellen können, ohne Beiträge in die Sozialversicherung zahlen zu müssen.
Ich frage Sie: Kann man bei fast 6 Millionen geringfügig Beschäftigten noch ernsthaft von einer Ausnahme reden?
Die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hat sich nach der jüngsten Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in den vergangenen zehn Jahren von 2,8 Millionen auf 5,6 Millionen verdoppelt. Die Zahl steigt von Tag zu Tag weiter.
Tatsache ist, daß das, was einmal als Ausnahme gedacht war, mehr und mehr zur Regel verkommt. Ein Blick in die Lokalzeitung genügt, Unter der Rubrik „Stellenangebote" finden Sie seitenweise Jobs auf 620-DM-Basis. Besonders Frauen sind zunehmend gezwungen, diese 620-DM-Jobs anzunehmen, weil immer weniger sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse angeboten werden. Wie der Kollege Keller von der CSU am 1. Oktober 1997 sehr richtig festgestellt hat, findet
eine massenweise Umschichtung von versicherungspflichtigen Beschäftigungen hin zu den berühmten 610 DM Jobs
statt. Das heißt, versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse werden in 620-DM-Jobs zerstückelt. Die Krönung ist, daß mittlerweile ganze Betriebe nur noch mit 620-DM-Kräften arbeiten. Die Landesversicherungsanstalt Baden hat im April 1998 ermittelt, daß von 85 000 geprüften Betrieben 20 000, das heißt, fast ein Viertel, ausschließlich mit geringfügig Beschäftigten arbeiten.
Das, meine Damen und Herren, hat der Gesetzgeber mit seiner Ausnahmeregelung nicht beabsichtigt.
Die Ausnahmeregelung wird eindeutig mißbraucht, und zwar mit verheerenden Folgen. Geringfügige Beschäftigung verzerrt den Wettbewerb. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die treu und brav Sozialversicherungsbeiträge abführen, werden mit immer höheren Beiträgen belastet, weil sie für diejenigen mitzahlen müssen, die sich aus der Sozialversicherungspflicht verabschiedet haben. Die Sozialversicherungen erleiden entsprechende Einnahmeverluste in einer Größenordnung von mehr als 16 Milliarden DM. Und das Schlimmste ist, daß immer mehr
Menschen, insbesondere Frauen, ohne soziale Absicherung arbeiten müssen.
Wer vor diesen Tatsachen die Augen verschließt und so tut, als gäbe es keinen Handlungsbedarf, verhält sich wie ein Feuerwehrmann, der vor brennenden Häusern steht und sich weigert zu löschen.
Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion will löschen, bevor ein Flächenbrand entsteht.
Deshalb haben wir 1994 einen Gesetzentwurf zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung eingebracht, der von der Koalitionsmehrheit abgelehnt wurde, weil es angeblich keinen Handlungsbedarf gab. In dieser Legislaturperiode haben wir deshalb unseren Gesetzentwurf erneut eingebracht. Unser Vorschlag läßt durchaus den zeitlich flexiblen Personaleinsatz zu, soweit er betriebswirtschaftlich notwendig ist bzw. den Interessen der Beschäftigten entspricht. Er beseitigt allerdings objektiv vorhandene soziale Defizite und Mißbrauchsmöglichkeiten.
Arbeitgeber werden danach generell nach einer Bagatellgrenze - ich verweise dazu auf das Ergebnis des Vermittlungsausschusses - auch für geringfügig Beschäftigte beitragspflichtig. Dadurch wird die ungerechtfertigte Subvention der 620-DM-Jobs abgeschafft, es fließen zusätzliche Beiträge in die Sozialkassen, Lohnnebenkosten werden gesenkt, Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden entlastet, und Beschäftigte werden differenziert nach Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung nur dann beitragspflichtig, wenn ein Schutzbedürfnis besteht oder der Grundsatz der solidarischen Finanzierung der Sozialversicherung dieses erfordert.
Meine Damen und Herren, wir haben unseren Gesetzentwurf eigentlich in der Hoffnung eingebracht, daß die Bundesregierung angesichts der dramatischen Entwicklung endlich Einsicht zeigt und handelt.
In der Aktuellen Stunde am 1. Oktober haben einige Abgeordnete der CDU/CSU durchaus den Eindruck erweckt, das Problem und den Handlungsbedarf erkannt zu haben.
Unter anderem - man höre und staune - sprach der Kollege Ramsauer - er ist leider nicht anwesend - von einem dringenden Handlungsbedarf. Nur wenige Wochen später, am 19. Dezember 1997, konnten wir im „Handelsblatt" von dem Kollegen Ramsauer lesen: „610-DM-Jobs kein Thema mehr für die CSU. "
Angenehm überrascht waren wir dann noch einmal im Januar dieses Jahres, als uns der Louven-Vor-
Leyla Onur
schlag über die sogenannten schlanken Beschäftigungsverhältnisse auf die Schreibtische flatterte.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat den Louven-Vorschlag ausdrücklich begrüßt, in wesentlichen Punkten Übereinstimmung festgestellt
und angeboten - ich zitiere den Kollegen Andres -, sofort Gespräche über den Vorschlag von Julius Louven aufzunehmen und auf seiner Basis eine parlamentarische Mehrheit für die längst überfällige Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sicherzustellen. Mehr kann man nicht tun, wenn man ein Problem ernsthaft lösen will.
Schon in der folgenden Sitzung des Ausschusses erklärte der Kollege Louven dann, es werde mit Ihnen in dieser Legislaturperiode keine wie immer geartete Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse geben, weil die F.D.P. dagegen sei. Das kennen wir schon. Entsprechend ist am 4. März dieses Jahres die Abstimmung im Ausschuß ausgegangen.
Es bedarf keiner prophetischen Gaben meinerseits, um schon jetzt zu wissen, wie die Abstimmung heute ausgehen wird. Sie werden, ohne einen eigenen Vorschlag eingebracht zu haben, unseren Vorschlag ablehnen. Übrigens ist das der einzige Gesetzentwurf, der auf dem Tisch liegt. Das möchte ich hier noch einmal feststellen.
Keine andere Gruppe, keine andere Fraktion hat einen Gesetzentwurf eingebracht. Es gibt zugegebenermaßen Anträge. So sieht die traurige Wahrheit aus.
Es bleibt nur die Feststellung: Drängende Probleme sind mit dieser Bundesregierung nicht lösbar. Deshalb muß sie abgelöst werden.
Nach dem 27. September diesen Jahres wird eine SPD-geführte Bundesregierung für die notwendige Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sorgen. Das verspreche ich Ihnen.