Nein, jetzt nicht, ich muß erst die Dinge richtigstellen, die hier falsch gesagt worden sind. Ich bitte um Verständnis.
Es liegt nicht an der Bundesregierung - höchstens an Landesregierungen, Kollege Büttner -, wenn die Justiz nicht mitkommt, die ganzen Strafanzeigen, die vorliegen, abzuarbeiten. Das ist Fakt in diesem Sachzusammenhang und nichts anderes.
Das wollte ich erst einmal geradegestellt haben.
Ich will auch noch hinzufügen, daß uns sehr wohl bekannt ist, daß es Beschäftigungsverhältnisse gibt, in denen ein Stundenlohn von 2 oder 4 DM gezahlt wird. Diese verurteilen wir genauso. Deshalb haben wir schon vor Jahren 1000 Mitarbeiter bei der Bundesanstalt für Arbeit eingestellt, die insbesondere Baustellen mit Akribie prüfen. Was Herr Scharping dazu gesagt hat, ist ein Schlag ins Gesicht der fleißigen Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit, die - leider - großartige Erfolge auf diesem Gebiet erzielen.
Meine Damen und Herren, wir haben ja schon des öfteren in diesem Hause über die anstehenden Themen beraten. Die Bundesregierung nimmt das Problem der Scheinselbständigkeit sehr ernst. Wir fördern Existenzgründungen, denn wir brauchen einen neuen Aufbruch hin zu mehr Selbständigkeit. Es kann nicht angehen, daß für immer mehr Arbeitnehmer Selbständigkeit konstruiert wird, um die Sozialbeiträge zu sparen, und diese sich damit aus der Solidargemeinschaft verabschieden. In diesem Punkt sind wir uns sicherlich einig. Der soziale Schutz der Betroffenen geht dabei verloren; gleichzeitig führt dieses zu einer Erosion in der Sozialversicherung.
Nach den Ergebnissen einer IAB-Untersuchung waren 1995 - je nach Abgrenzung - zwischen 180 000 und 430 000 Personen Scheinselbständige. Bezogen auf die Zahl aller Erwerbstätigen sind damit zwischen 0,5 und 1,2 Prozent als scheinselbständig einzustufen. Je nach Abgrenzung dürften 330 000 bis zu 1 Million Personen eine scheinselbständige - das heißt: tatsächlich abhängige - Nebentätigkeit ausüben. Von 1995 bis heute hat sich diese Situation eher verschärft. Hierüber müssen wir natürlich reden.
Allerdings lösen die Vorschläge von seiten des Bundesrats und der SPD-Fraktion dieses Problem überhaupt nicht, der Kollege Louven hat sich damit schon beschäftigt. Ihre Gesetzentwürfe gehen an der Realität vorbei. Denn die Frage, ob eine Tätigkeit selbständig oder abhängig ausgeübt wird, kann nur für den konkreten Einzelfall beantwortet werden. Die meisten Tätigkeiten können - rechtlich zulässig - sowohl in Selbständigkeit als auch in abhängiger Beschäftigung ausgeübt werden. Anknüpfungspunkt für das Sozialversicherungsrecht ist grundsätzlich das Beschäftigungsverhältnis. Beschäftigung im Sinne der Sozialversicherung wird durch nichtselbständige Arbeit geprägt. Soweit durch eine vertraglich vereinbarte Selbständigkeit die Sozialversicherungspflicht umgangen werden soll, stimmt die vertragliche Gestaltung häufig nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein. Im Sozialversicherungsrecht kommt es aber nicht auf einen noch so scharfsinnig formulierten Vertrag, sondern auf die tatsächlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten an. Das ist das Entscheidende.
Die Frage, ob ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, wird von der Einzugsstelle - der zuständigen Krankenkasse - und im Streitfall von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit entschieden. Die Krankenkassen als Beitragseinzugsstellen sind zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeit und den Rentenversicherungsträgern bemüht, Umgehungstendenzen im Zusammenhang mit der Scheinselbständigkeit entgegenzuwirken. Dabei ziehen sie die Kriterien heran, die die Rechtsprechung für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung entwickelt hat.
Eine Schwachstelle bei der Bekämpfung von Scheinselbständigkeit ist allerdings, daß die Einzugstellen häufig erst nach Betriebsprüfungen erfahren, ob Anhaltspunkte für eine solche Scheinselbständigkeit vorliegen. Denn ein Unternehmen, das von der Selbständigkeit einer Tätigkeit ausgeht, meldet den nach seiner Ansicht Selbständigen natürlich nicht bei der Krankenkasse an und führt für ihn auch keine Beiträge ab. Diese Schwachstelle gilt es zu beseitigen. Die vorliegenden Gesetzentwürfe halten aber lediglich Merkmale fest, die von der Praxis und Rechtsprechung seit langem entwickelt worden sind. Das reicht nicht, den Sozialversicherungsträgern das Aufdecken von Scheinselbständigkeit zu erleichtern.
Wenn der Kollege Scharping einen scheinselbständigen Kellner entdeckt hat, soll er ihn doch der Krankenkasse melden und den Betrieb einmal prüfen lassen. Dann kann festgestellt werden, ob er scheinselbständig ist oder nicht. Das ist besser, als hier im Bundestag der Bundesregierung Vorwürfe zu machen. Damit haben wir nun wirklich nichts zu tun.
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Schon heute müssen Einzugsstellen und Prüfdienste die im Gesetzentwurf genannten Kriterien in jedem Einzelfall prüfen und würdigen. Die vorgeschlagene gesetzliche Normierung dieser Kriterien und die in diesem Zusammenhang vorgesehene Vermutung machen diese Prüfung nicht entbehrlich.
Statt dessen entsteht die Gefahr, daß sich die Beteiligten mit entsprechend gestalteten Verträgen schnell auf die neue Rechtslage einstellen. Damit wird das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich gewollt ist.
Ich erinnere an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1996, in der das geltende Recht zum Begriff des Beschäftigungsverhältnisses begrüßt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat seinerzeit festgestellt, daß dieser offene Ansatz über Jahrzehnte hinweg auch den sich ändernden Sozialstrukturen gerecht werden konnte. Er ist besser geeignet, Umgehungen im Versicherungs- und Beitragsrecht zum Nachteil abhängig Beschäftigter zu vermeiden, als eine Normierung bestimmter Kriterien, die immer nur den Charakter einer Momentaufnahme haben kann. - Ich habe bereits beim letzten Mal gesagt: Es gibt viele, die wissen, daß sie scheinselbständig tätig sind, die sich aber aus Angst, sonst überhaupt keinen Job zu haben, nicht melden. Wenn das geschehen würde, könnte man der Sache besser nachgehen. - Ich stimme der Wertung des Bundesverfassungsgerichts ohne jede Einschränkung zu. Nur eine offene Definition ermöglicht der Praxis, flexibel auf neue Erscheinungsformen der Arbeitswelt zu reagieren. Andere Wege sind - wie jeder Aktionismus - Holzwege.
Es geht also darum, Scheinselbständigkeit besser zu erfassen und aufzudecken. Hier hat die Bundesregierung bereits gehandelt: So sind seit 1995 Übermittlungen von Gewerbeanzeigen an die Einzugsstellen vorgesehen. Seit Mitte 1996 sind die Prüfbefugnisse nach der Beitragsüberwachungsverordnung erweitert worden. Mittlerweile können die Betriebsprüfer auch ohne besondere Begründung über den Bereich der Lohn- und Gehaltsabrechnung hinaus die Finanzbuchhaltung einsehen, also auch die Verträge mit den freien Mitarbeitern. Jetzt kommt es darauf an, daß die Sozialversicherungsträger diese Möglichkeiten auch tatkräftig nutzen. Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung in diesem Bereich weiterhin mit großer Aufmerksamkeit. Wir werden ergänzende Maßnahmen treffen, wenn dies notwendig ist.
In diesem Zusammenhang bedarf es einer eingehenden Überprüfung der Frage, inwieweit arbeitnehmerähnliche selbständig Erwerbstätige eines Versicherungsschutzes gegen die Risiken der Invalidität und des Alters bedürfen, um Not und Fürsorge zu vermeiden. - Der Kollege Louven hat bereits davon gesprochen, daß solche Dinge im Augenblick beraten werden. - Die von der SPD vorgeschlagenen Neuregelungen werden diesem Anspruch leider nicht gerecht und deshalb von uns abgelehnt.
Meine Damen und Herren, damit komme ich zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, den sogenannten 620-DM-Verträgen. Vorweg stelle ich klar: Auch mir paßt es nicht, wenn Arbeitgeber versicherungspflichtige Arbeitsplätze in mehrere sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aufspalten.
Das ist, Kollege Dreßen, eine Kampfansage an unseren Sozialstaat. Das darf man wohl so formulieren.
Früher waren geringfügige Beschäftigungsverhältnisse die Ausnahme. So war auch die Intention des Gesetzes. Ich habe allerdings zu denen gehört, die gesagt haben: Seid nicht so perfekt, Leute; wenn einer ein paar Mark nebenbei verdient, dann muß nicht sofort der Sozialstaat zulangen. Aber die Verhältnisse haben sich gründlich geändert. Zwischen 1992 und 1997 ist die Zahl der versicherungsfreien Arbeitsverhältnisse um rund 25 Prozent, von 4,5 Millionen auf 5,6 Millionen, angestiegen, und eine weitere Zunahme ist wahrscheinlich. Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung dürfen nicht weiter die Verlierer sein, während die Unternehmen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze aufsplitten und in 620-DM-Jobs zerstückeln.
Die Dummen sind bei einer solchen Entwicklung die treuen und ehrlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer; sie müssen um so höhere Beiträge zahlen. Hier sind die Arbeitgeber aufgefordert, Solidarität und Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern und der Sozialversicherung zu zeigen.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Kollege Scharping einen Appell an die Arbeitgeber gerichtet hätte, sich darüber einig zu werden, die Zerstückelung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze zu unterlassen. Statt dessen hat er der Bundesregierung vorgeworfen, daß sie in dieser Richtung nicht genügend tut.
- Frau Fuchs, Sie lachen in Ihrer bekannten Weise, weil Sie wissen, daß alles, was der Kollege Scharping vorgeführt hat, nur Wahlkampfgetöse ist. Sonst hätte er zu diesem Thema überhaupt nicht gesprochen. So und nicht anders ist es doch.
Es ist vor allem die hohe Belastung mit Steuern und Abgaben, die die Arbeitnehmer oft veranlaßt, auf versicherungsfreie Beschäftigungsformen auszuweichen oder sie anzunehmen, weil sie sonst nichts anderes bekommen. Ein Ja zur Steuerreform wäre sicherlich der bessere Beitrag gewesen, um dieser Problematik beizukommen.
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Die Verweigerung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, wenn es darum geht, den Bürgern Milliarden an Steuern zurückzugeben, wirkt sich auf die Binnennachfrage und auf den Arbeitsmarkt verheerend aus.
Wenn dadurch die Realeinkommen sinken, trägt dafür ebenfalls die SPD die Verantwortung und nicht die Tarifpartner. Sie wollen auch gar nicht, wie es der Titel Ihres Gesetzentwurfs vermuten läßt, den Mißbrauch der Geringfügigkeitsgrenze bekämpfen. Sie wollen sie doch im Grunde abschaffen. Dies lehne allerdings auch ich ab. Wir wollen den Mißbrauch bekämpfen, aber die Geringfügigkeitsgrenze nicht generell abschaffen.
Anders als die Opposition setzt die Bundesregierung nicht auf die Fata Morgana, mit einer Herabsetzung der Geringfügigkeitsgrenze bis hin zu ihrer faktischen Abschaffung könnte man das Problem lösen. Eine politische Lösung, meine ich, bedarf der Akzeptanz von seiten aller Beteiligten; sonst werden wieder neue Schlupflöcher erfunden. Wir wissen, daß die Arbeitgeber die hier vorgeschlagene Radikallösung ablehnen. Ihnen würde zum Beispiel die Möglichkeit genommen, auf Auftragsspitzen flexibel zu reagieren. Auch wissen wir, daß eine generelle Versicherungspflicht bei den geringfügig Beschäftigten überwiegend auf Ablehnung stößt.
Bei dieser Interessenlage eine konsensfähige Lösung zu finden ist zugegebenermaßen sehr schwierig. Mit einem Rundumschlag, wie hier vorgeschlagen, ist es jedoch nicht getan.
Wir werden uns weiter bemühen, sachgerechte Lösungen zu finden, wenn es sein muß, auch in mehreren Schritten; denn in diesem sensiblen Bereich verspricht ein behutsames Vorgehen eher Erfolg als die große Dampfwalze.
Zu dem Gesetzentwurf der SPD hat eine ausführliche Anhörung stattgefunden. Er wurde im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ausgiebig beraten. Ohne daß neue Erkenntnisse vorliegen, legt Frau Ministerin Stolterfoht aus Hessen einen Gesetzentwurf vor, der noch nicht einmal einen anderen Namen trägt. Dabei hat das Land Hessen in der vorigen Woche - man höre und staune - in den zuständigen Ausschüssen des Bundesrates beantragt, die Behandlung dieses Antrags, der mit dem heute hier zur Entscheidung stehenden identisch ist, zu vertagen, und dies mit der lächerlichen Begründung, daß die Prüfung des Gesetzesantrages noch nicht abgeschlossen sei. Ein Schelm, der dabei an die bevorstehende Bundestagswahl denkt! Der Kandidat aus Niedersachsen muß in seinem Bauchladen eben für jeden etwas dabeihaben.
Allerdings steht dann im Wahlprogramm der SPD sehr abgeschwächt und unkonkret zu diesem
Thema -:
Den Mißbrauch bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen wollen wir beseitigen.
- Das werden Sie noch lesen. - Aber die Bürger lassen sich nicht für dumm verkaufen:
hier Maximalforderungen stellen und dort eine pflaumenweiche Forderung im Wahlprogramm, natürlich unter dem Finanzierungsvorbehalt so wie dort alles. Meine Damen und Herren, mit solchen faulen Eiern werden Sie niemanden überzeugen können.
Vielen Dank.