Rede von
Dr.
Wolfgang
Schäuble
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Es geht einfach nicht an, in dieser Tonart, wie es hier geschehen ist, über die Probleme des Länderfinanzausgleichs und gesamtstaatlicher Solidarität zu sprechen. Gesamtstaatliche Solidarität gibt es auch gegenüber dem Bundeshaushalt. Diese gesamtstaatliche Solidarität ist in den letzten Jahren von der Mehrheit der
Dr. Wolfgang Schäuble
Bundesländer gegenüber dem Bund nicht in ausreichendem Maße erbracht worden.
Wenn wir jetzt dabei sind - vielleicht haben wir doch eine Chance, spät, allzu spät -, den einen oder anderen Punkt voranzubringen, dann muß man auch einmal die Tatbestände, die in unserem Lande nicht in Ordnung sind, beschreiben. Ich nenne einmal eine Bagatelle. Aber eigentlich ist sie keine Bagatelle; sie ärgert die Menschen gründlich. In diesen Tagen verschicken die Allgemeinen Ortskrankenkassen in allen Bundesländern mit Ausnahme des Freistaats Bayern an ihre Mitglieder die Aufforderung, 20 DM als Sonderzahlung zugunsten der Krankenhäuser zu überweisen. Warum ist das notwendig? Das muß man an einem konkreten Beispiel klarmachen. Alle Bundesländer mit Ausnahme des Freistaats Bayern leisten nicht die eigentlich ihnen zufallenden Ausgaben für die Investitionen in Krankenhäusern. Das ist der erste Punkt: Die Bundesländer verweigern die notwendigen Leistungen.
Der zweite Punkt ist: Wenn es die Länder - mit Ausnahme von Bayern - nicht bezahlen, müssen es die Krankenkassen bezahlen. Wer soll es sonst bezahlen? Die Mehrheit im Bundesrat verweigert die Zustimmung zu der notwendigen Finanzierung über die Beiträge, so daß am Ende dann, wenn man die Krankenhäuser nicht hängenlassen will, nur dieser, der schlechteste aller denkbaren Wege, bleibt. Aber es ist der einzige Weg, diese 20 DM, die eigentlich die Bundesländer leisten müßten, außerhalb des Beitragseinzugsverfahrens von den Versicherten zu bekommen.
Das ist eine Form von Blockade und von Mißbrauch der Bundesratsmehrheit, von der ich finde, daß man damit aufhören sollte.
- Das macht nichts, solange er nicht stört und keine beleidigenden Zwischenrufe macht. Nein, Frau Rönsch, lassen Sie ihn. Zuhören muß er nicht.
Ich möchte noch einige Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat in seiner großartigen Rede alles Wichtige zur deutschen Politik und zur Politik der Koalition gesagt. Ich möchte Ihnen, Herr Bundeskanzler, für diese großartige Rede den Dank meiner Fraktion aussprechen.
Ich möchte mich nach der Rede von Herrn Lafontaine auf ganz wenige konkrete Punkte beschränken und sage das eine: Nicht die deutsche Einheit ist das Problem, wie Sie immer tun. Das Problem liegt darin, daß in der Welt Veränderungen stattfinden, die ganz neue Herausforderungen an unsere Wettbewerbsfähigkeit stellen. Das Problem ist, daß die deutsche Wirtschaft darauf in weiten Teilen zwar gut reagiert hat - die Produktivität ist gestiegen -, sich dies aber mit Rationalisierungsfortschritten vermischt. Deswegen haben wir noch immer nicht die entsprechenden
Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt, die wir dringend brauchen.
Wenn wir dies wirklich ändern wollen, muß die Politik dazu den Beitrag leisten, den sie leisten kann. Aber die Politik kann nicht alles machen. Die Tarifpartner müssen wie auch alle anderen in Wirtschaft und Gesellschaft ihren Teil dazu leisten. Aber wenn wir den Teil, den Politik dazu leisten kann und muß, leisten wollen, dann geht es nicht mit Umfinanzierungen, sondern dann geht es nur, indem wir den Anstieg der Ausgaben durch strukturelle Reformen begrenzen. Hierin liegt unsere Meinungsverschiedenheit bezüglich der Rentenversicherung.
Sie haben heute glücklicherweise das Thema „versicherungsfremde Leistungen", das sowieso nur ein Irrweg und eher ein Verhetzungsthema als ein Lösungsthema ist, gar nicht groß angesprochen.
- Ja, natürlich. Wenn Sie aus der Rentenversicherung alle Leistungen herausnehmen, die nicht durch eigene Beiträge erworben sind, haben sie keinen solidarischen Generationenvertrag mehr. Dann könnte dies auch eine private Lebensversicherung machen. Das ist aber nicht unsere Vorstellung, und ich hoffe, auch nicht die Ihre.
Ich habe schon versucht, den Kollegen Fischer in Form einer Zwischenfrage darauf hinzuweisen: Die demographische Entwicklung, die der Bundeskanzler beschrieben hat, ist jedenfalls hinsichtlich der steigenden Lebenserwartung erfreulich. Wir sollten nicht darüber klagen, daß die Menschen im Durchschnitt länger leben dürfen, und zwar in besserer Gesundheit als frühere Generationen. Aber wenn dies mit rückläufigen Geburtenzahlen und sinkender Lebensarbeitszeit auf Grund steigender Ausbildungszeiten und eines niedrigeren Ruhestandseintrittsalters verbunden ist, dann ist völlig klar, daß bei dieser demographischen Entwicklung unser System der solidarischen Versorgung für den Ruhestand, der Generationenvertrag, nicht zukunftsfähig ist, wenn wir nicht die Kraft haben, die Renten durch strukturelle Reformen anzupassen. Herr Lafontaine, hier wieder von Rentenkürzungen zu reden war schamlos.
Es geht darum, den Anstieg der Renten zu verlangsamen; nicht mehr und nicht weniger. Aber dies ist notwendig.
- Deswegen war es schamlos, die älteren Mitbürger erneut durch wahrheitswidrige Aussagen in Unsicherheit zu stürzen.
Dr. Wolfgang Schäuble
Es geht nicht um Kürzungen.
- Nein, hören Sie mit Ihren Lügen und Verleumdungen auf.
Es ist wirklich ein Skandal, wie Sie die älteren Menschen wahrheitswidrig verunsichern.
Die demographische Entwicklung, die unbestreitbar ist, hat auch viele erfreuliche Aspekte. Ich sage es noch einmal: Angesichts der Fülle von Meldungen über Umweltskandale und Nahrungsmittelvergiftungen ist die Botschaft nicht schlecht, daß die Menschen länger leben und in besserer Gesundheit alt werden. So schlecht ist das nicht. Aber wenn die Rente in der Zukunft sicher bleiben soll, müssen strukturelle Reformen sein, die die Dynamik des Anstiegs der Rentenausgaben bremsen, weil unsere Rente anders auf die Dauer nicht zukunftssicher ist.
Das, was wir, Norbert Blüm und die Koalition gemeinsam, als Rentenreform auf den Weg gebracht und im Bundestag verabschiedet haben, ist notwendig, um die Renten zu sichern. Anders sind sie nicht zu sichern.
Deswegen ist Ihre Position, nur umzufinanzieren, auf der Ausgabenseite aber nicht zu Einsparungen bereit zu sein, im Interesse der Zukunftssicherheit der Rentnerinnen und Rentner nicht verantwortbar.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, die Sache ist ganz einfach: Die Koalition, der Deutsche Bundestag hat nicht nur die Rentenstrukturreform beschlossen. Das unechte Vermittlungsergebnis haben wir zurückgewiesen. Wenn der Bundesrat Einspruch einlegt, werden wir diesen mit der notwendigen Kanzlermehrheit zurückweisen.
- Wir werden ihn zurückweisen; dann tritt die Rentenreform in Kraft. Die Qualität Ihrer Zwischenrufe ist konstant niedrig, Herr Kollege.
Der Deutsche Bundestag hat auch beschlossen, den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung zu erhöhen, finanziert durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozent, und entsprechend den Beitragssatz in der Rentenversicherung zu senken. Darin sind wir uns einig.
Es gibt Stimmen aus Ihrer Partei - es ist in Ordnung, daß es unterschiedliche Stimmen gibt -, die sagen: 2 Prozent, 3 Prozent. Über die Erhöhung des Bundeszuschusses um 1 Prozent zur Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, finanziert durch Erhöhung der Mehrwertsteuer, sind wir uns aber offenbar einig. Dann, verehrter Herr Ministerpräsident, stimmt der Bundesrat zu, und das Gesetz tritt in Kraft. Insoweit sind wir einen Schritt vorangekommen.
Wenn weitere Schritte zur Einigung möglich sind, soll es mir recht sein. An mir wird es ganz gewiß nicht liegen.
Eines aber sage ich Ihnen: Glaubwürdigkeit gewinnt man nicht, indem man die Schritte, bei denen man einig ist, nur deswegen nicht macht, weil man sagt: In anderen Punkten ist man noch nicht einig. Wir werden nicht in allen Fragen Einigkeit erzielen; das wäre ja ganz schlimm. Das würde das Wechselspiel zwischen Mehrheit und Minderheit in der parlamentarischen Demokratie gefährden. Es ist aber verantwortungslos, wenn Sie bei den Punkten, in denen wir einig sind und für die wir die Zustimmung des Bundesrates brauchen, Ihre Zustimmung verweigern.
Sie dürfen Ihre Zustimmung deshalb verweigern, weil die Koalition entsprechend dem Wählerauftrag auf den Feldern handelt, wo die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist. Das tut sie nach dem Grundgesetz.
Jetzt komme ich zur Steuerreform. Sie haben, an die Zuschauerinnen und Zuschauer gewandt, gesagt
- das machen Sie gern; da merkt man die Absicht -: Jeder private Haushalt, der Ausgaben plant, muß sich das und das überlegen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, die Gleichsetzung von Ausgaben und Steuersenkungen offenbart einen Grundirrtum in Ihrem Denken.
Nach unserem Verständnis ist es nicht so, daß schon alles, was nicht zu 100 Prozent besteuert wird, eine Subvention ist. Es ist umgekehrt. Eigentlich gehört das Geld den Bürgern. Der Staat nimmt einen erheblichen Teil davon an Steuern und Abgaben weg.
Deswegen sind Steuersenkungen keine Ausgabenprogramme. Das ist die Sache mit den Entlastungen und den Ausgaben. Schauen Sie, das Problem ist doch das folgende.
- Wenn Sie ein bißchen weniger unhöflich gewesen wären, hätten wir heute ganz friedlich debattieren können.
- An mir liegt es nun wirklich nicht. Lesen Sie das Protokoll nach. Die Zuschauerinnen und Zuschauer
Dr. Wolfgang Schäuble
werden, wenn sie während Ihrer Rede nicht abgeschaltet haben, das auch überprüfen. Ich bin ganz friedlich.
Wir haben der Steuerreformkonzeption, die wir im Januar, Herr Bundesfinanzminister, vorgestellt haben, die letzte Steuerschätzung zugrunde gelegt. Dann wurde sie beraten, auch in Gesprächen mit der SPD, die wegen der Bergarbeiterstreiks abgebrochen
- das ist die Wahrheit - und nicht nur aufgeschoben worden sind. Als die Bergarbeiter nicht mehr gestreikt haben, war eine Terminvereinbarung nicht mehr möglich. Im Januar jedenfalls haben wir dieser Steuerreformkonzeption die aktuellste Steuerschätzung, nämlich die vom November 1996, zugrunde gelegt. Es ist doch so, Herr Bundesfinanzminister?
Die Steuerschätzungen werden alle halbe Jahre abgegeben, und alle halbe Jahre verändern sie sich. In den letzten zwölf Monaten haben sie sich dramatisch verändert. Damals haben Sie - und viele andere
- gesagt, eine Nettoentlastung in Höhe von 30 Milliarden DM sei zuviel, sei von Bund und Ländern nicht zu verkraften. Inzwischen - November 1997, ein Jahr später - liegt schon die zweite neue Steuerschätzung vor. In diesen zwölf Monaten sind die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden laut Steuerschätzung ohne jede Steuersenkung um 30 Milliarden DM zurückgegangen.
Das heißt, das Volumen, das Sie im Januar als zu hoch für eine Nettoentlastung erklärt haben, entspricht dem Einnahmeverlust, der ohne jede Entlastung eingetreten ist. Das beschreibt das Problem.
- Sogar der Kollege Diller hat das gestern in den Haushaltsberatungen beklagt. Sie können das doch nicht bestreiten.
Jetzt stehen wir vor dem Problem, was wir tun können, um das zu ändern. Als erstes wird angeführt, die Steuerschlupflöcher zu schließen. Ich warne davor, zu glauben - schauen Sie genau hin! -, man müsse nur zwei Schlupflöcher schließen, und dann sprudelten die Steuereinnahmen wieder. Vielmehr müssen wir - das wird viel mühsamer sein - erstens generell Ausnahmen von der Besteuerung beseitigen.
Zweitens aber müssen wir die Steuersätze, und zwar alle, deutlich senken.
Wenn wir dies nicht tun, werden immer mehr Entscheidungen von Wirtschaftssubjekten - Unternehmern, Arbeitnehmern, privaten Haushalten - immer stärker unter dem Gesichtspunkt getroffen werden, die zu hohe Steuerbelastung zu vermeiden:
durch Verlagerung ins Ausland, durch Nutzen von Ausnahmen oder was auch immer.
Deswegen wird nur eine Kombination aus der Beseitigung von Ausnahmen und der Senkung aller Steuersätze, und zwar möglichst deutlich, das Phänomen der Erosion unserer Steuerbasis beseitigen können.
Wenn wir ernsthaft darüber reden wollen, wie man das Problem beseitigen kann, muß eben jeder seine Position ein wenig verändern. Nachdem eine erneute Reduzierung der Steuereinnahmen um 30 Milliarden DM geschätzt wurde, hat der Bundesfinanzminister in der letzten Debatte - nicht gestern, sondern vor ein paar Wochen - gesagt, man müsse sich angesichts dieser Entwicklung stärker darauf konzentrieren, die Steuerstruktur zu verbessern.
Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, haben für die sozialdemokratische Seite lange gesagt - ich habe dafür eine Zeitlang ein gewisses Verständnis gehabt, glaube aber, daß diese Position aufgegeben werden muß -, Sie seien nur bereit, Gesetzesänderungen im Steuerrecht zuzustimmen, wenn sie vor der nächsten Bundestagswahl in Kraft treten. Das war Ihre Position, auf Grund deren wir uns auf 1998 konzentrieren mußten - wohlwissend, daß man eine richtige Steuerstrukturreform nicht in einem Jahr hinbekommt, sondern dafür ein paar Jahre braucht, sie in Stufen in Kraft setzen muß. Wenn Sie sich insofern bewegen, haben wir schon eine bessere Chance auf eine Einigung. Dann haben wir auch eine bessere Chance, uns beim Thema der Entlastungswirkungen, der Auswirkungen von Begrenzungen der Ausnahmen auf die Haushalte von Bund und Ländern, zu verständigen.
Ich stehe nicht an, die Erfahrungen aus den Verhandlungen im Vermittlungsausschuß über die aufkommensneutrale Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer einzubeziehen. Es bestand ja das Problem, daß die Gewerbekapitalsteuer sofort wegfällt, während die Verbesserung der Einnahmen für die Kommunen durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlage erst ein bis zwei Jahre später eintritt. Das hat zu einer Art Überkompensation der Ausfälle durch die Gewerbekapitalsteuer geführt. Also wird es vielleicht vernünftig sein zu sagen: Laßt uns über die zeitliche Reihenfolge der Vorhaben - Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und Inkraftsetzung der Steuersatzsenkung - so entscheiden, daß die öffentlichen Haushalte von Bund und Ländern nicht weiter notleidend werden. Aber Voraussetzung ist natürlich, daß beides in einem Gesetz festgelegt wird. Der Termin des Inkrafttretens ist der zweite Schritt.
Wenn wir uns darauf einigen, können wir uns ein Stück weit entgegenkommen.
Aber Sie werden mit einer Senkung der Sätze - beispielsweise, wie Sie es vorgeschlagen haben, des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent - das Problem nicht lösen. Wenn Sie zu kurz springen, brauchen Sie erst gar keinen Anlauf, dann bleiben Sie gleich sit-
Dr. Wolfgang Schäuble
zen. Wenn wir nicht eine deutliche Senkung der Steuersätze, und zwar aller, zustande bringen, wird eine Steuerreform nicht zur notwendigen wirtschaftlichen Belebung und damit zu einer Verbesserung auf der Einnahmeseite führen.
Wenn wir das nicht zustande bringen, dann werden wir weiter daran zu leiden haben, daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht in der Geschwindigkeit auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, wie wir es alle miteinander vor eineinhalb Jahren erwartet haben. Das war ja auch die Grundlage für die gemeinsamen Erklärungen von Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften.
Wir dürfen uns nicht damit abfinden, daß wir ein so hohes Maß an Arbeitslosigkeit haben. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, daß wir zwar wirtschaftliches Wachstum haben, die Arbeitslosigkeit aber trotzdem nicht zurückgeht. Wir müssen wissen, daß die Veränderungen am Arbeitsmarkt viel dramatischer sind und daß wir mehr Bewegung und mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen müssen, wenn wir auf dem Weg zu einem Arbeitsmarkt, der stärker durch die Dienstleistungsgesellschaft geprägt sein wird, das Ziel „Arbeit für alle" nicht aus dem Auge verlieren wollen.
In einer Zeit, in der die gesamtwirtschaftlichen Erträge ja nicht gering sind, in der die Vermögenswerte, die in Aktien stecken - wie die Kurszettel jeden Tag ausweisen -, in kurzer Zeit überall auf der Welt schnell zunehmen - manchmal nehmen sie auch wieder ab -, in einer solchen Zeit, in der sich die Fragen des sozialen Ausgleichs ganz anders und neu stellen als in der Vergangenheit, dürfen wir ja nicht sagen, daß die Frage des sozialen Ausgleichs weniger wichtig ist als in der Vergangenheit. Sie erfordert möglicherweise neue Antworten, wenn man auch in der Zukunft soziale Gerechtigkeit mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verbinden will.
Deswegen dürfen wir nicht bei den alten Besitzständen stehenbleiben. Deswegen ist auch alles, was wir unternehmen, um die Tarifpartner stärker in die Verantwortung zu nehmen, richtig. Deswegen, Herr Bundeskanzler, war es richtig, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu sagen: Die Mindestregelung durch den Gesetzgeber wird zurückgenommen; den Rest regeln die Tarifpartner in eigener Verantwortung. - Es hat ja auch funktioniert.
Deswegen ist es ebenfalls richtig, für mehr Flexibilität zu sorgen. Meine Fraktion hat in der vergangenen Woche in Berlin einen großen Kongreß veranstaltet zu dem Spezialthema - es ist eines von vielen Themen-: neue Möglichkeiten der Beschäftigungsförderung. Der Bundeskanzler hat das Leipziger Modell erwähnt. Es geht um Möglichkeiten, wie wir für eine Übergangszeit - von mir aus auch mit unkonventionellen Mitteln -
die Bereitschaft, Arbeit anzubieten und Arbeit anzunehmen, verbessern. Wenn wir auf diesem Weg nicht
weiter voranschreiten, werden wir die Probleme
nicht lösen. Aber auch dann, wenn es uns nicht gelingt, die Unterschiede zwischen einem geringeren Einkommen aus Arbeit und Transferleistungen ohne Arbeit so zu korrigieren, daß jeder, wenn er arbeitet, mehr hat, als wenn er nicht arbeitet, werden wir das Problem nicht lösen. Deswegen, Herr Fischer, ist Ihre Idee mit der Grundrente falsch; sie ist grundfalsch.
Deswegen ist der Weg, den Bundesgesundheitsminister Seehofer bei der Weiterentwicklung der Sozialhilfe beschreitet, richtig und findet unsere Unterstützung. Deswegen müssen wir diesen Weg weitergehen.
Deswegen suchen wir nach Lösungen für den Bereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Wir müssen diese Entwicklung, die so nicht hingenommen werden kann - das hat der Bundeskanzler zu Recht gesagt -, so korrigieren, daß nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und die betreffenden Jobs vollständig wegfallen oder nur als Schwarzarbeit angeboten werden. Das ist schwierig. Deswegen muß man mit unverstelltem Blick und ohne Scheu, Tabus zu brechen, nach Lösungen suchen. Man muß wissen, was man will und in welche Richtung man gehen will.
Wir brauchen eine Stärkung der politischen Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum, eine Weichenstellung für technischen Fortschritt und ein leistungsfähigeres Bildungssystem.
Lassen Sie mich zu dem letzten Punkt auch etwas sagen. Der Bundeskanzler war zu vornehm, um daran zu erinnern, mit welcher für mich unerträglichen Haltung die Länder den Vorschlag der Bundesregierung von Mitte der 80er Jahre zurückgewiesen haben, auf einem Bildungsgipfel zwischen Bund und Ländern darüber zu reden, wie unser Bildungssystem modernisiert werden kann.
Ich muß selbstkritisch sagen, daß es sich dabei nicht nur um SPD-regierte Bundesländer handelte. Die Länder haben mit einer - wie ich glaube - nicht angemessenen Sturheit gesagt: Das ist Sache der Länder; wenn der Bund mehr Geld geben will, ist es recht, aber den Rest machen die Länder.
Unser Bildungssystem leidet nicht nur unter einem Mangel an Geld; vielmehr leidet es an einem Mangel an Reformfähigkeit in der Bildungspolitik der Länder. Die Länder sollten sich ein bißchen mehr bewegen.
Es ist wahr: Mit Panikmache und Katastrophenmeldungen über die Ausbildungsplätze wird nichts besser. Besser wäre, wir sagen den jungen Menschen: Nehmt die Ausbildungsplätze an, die euch angeboten werden!
Ich habe es zuerst nicht geglaubt, und ich sage das jetzt in aller Ausführlichkeit: Vor drei Wochen ist mir beim Arbeitgeberverband Nordmetall - das ist die Metall- und Elektroindustrie der Länder Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vor-
Dr. Wolfgang Schäuble
pommern - gesagt worden, man habe im Bereich der Metall- und Elektroindustrie die Ausbildungsplätze in diesem Jahr nicht besetzt bekommen. In der vergangenen Woche hat mir der Präsident der Handwerkskammer Reutlingen gesagt - Staatsminister Pfeifer war dabei -, man habe dort im Bereich des Elektro- und Metallhandwerks die Ausbildungsplätze nicht besetzt bekommen. Ich habe noch immer gezweifelt. - Am Donnerstagabend der vergangenen Woche wurde mir vom Ortenauer DGB-Kreisverband - das ist mein Wahlkreis - gesagt, es stimme, im Metall- und Elektrobereich habe man auch im Ortenaukreis die Ausbildungsplätze im Jahr 1997 nicht besetzt bekommen.
Wenn das so ist, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dann ist es vielleicht notwendig, den jungen Menschen zu sagen: Vertraut nicht in allem nur auf den Staat!
Wartet nicht darauf, daß euch alles angeboten wird! Guckt auch, wo eure Chancen sind!
Deswegen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, Herr Kollege Scharping, ist es vielleicht besser, wir täten bei aller notwendigen Auseinandersetzung und Schuldzuweisung nicht so, als sei an allem nur die Politik schuld. Wenn wir das, was in unserem Land notwendig ist, um Zukunft zu gewinnen, zustande bringen wollen, müssen die Menschen, müssen alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen mitmachen.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es besser, daß der Bundeskanzler die Probleme nicht verschweigt, sondern sagt: Es gibt eine Menge Probleme in unserem Land. Aber es gibt auch Grund zur Dankbarkeit und Zuversicht. Wir haben alle Chancen. Wenn wir uns anstrengen, haben wir die Chance, für unser Land eine gute wirtschaftliche Zukunft und eine Zukunft in sozialer Sicherheit zu ermöglichen. Dafür wird die CDU/CSU-Fraktion weiter arbeiten.