Rede von
Joachim
Poß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob dieser Beifall, den wir gehört haben, Ihre politischen Wunden heilen sollte, Herr Bundesfinanzminister, ob er als pädagogisches Mittel eingesetzt wurde, um Ihnen die letzten zehn Amtsmonate ein wenig erträglich zu machen.
Auf mich hat Ihre Rede - auch mit Ihrem überzogen forschen Ton - so gewirkt wie die Rede eines politisch weidwunden Menschen, der jeden Tag lesen muß, daß er nur noch Parteivorsitzender von Stoibers Gnaden ist; ich füge hinzu: Finanzminister von Kohls Gnaden, schon lange nicht mehr aus eigenem Recht.
Diese Rede war auch der Beweis für Ihre Flucht aus der Wirklichkeit als Bundesfinanzminister. Man konnte dieser Tage lesen, daß Parteifreunde Ihnen diesen Wirklichkeitsverlust attestieren. Diese Rede war der Beweis dafür, daß Sie nicht mehr ganz in der Realität leben und daher schon gar nicht mehr die Voraussetzungen mitbringen, Ihr Amt ordentlich auszuüben, Herr Bundesfinanzminister.
Was müssen Sie denn auch aushalten: Die CSU fordert eine Regionalisierung der Sozialversicherungen. Dies soll zumindest geprüft werden. Am nächsten Tag sagt die CDU: Das ist aber verfassungswidrig. Dann gibt es noch unterschiedliche Meinungen über die Autobahn-Vignette. Deren Vor- und Nachteile hätten Sie uns in Ihrer erschöpfenden Rede auch noch erläutern können.
Nein, Herr Bundesfinanzminister, man merkte Ihnen an: Es ist Ihr letzter Haushalt als Bundesfinanzminister. Offenbar können Sie die bevorstehenden zehn Monate nur noch durch starke Verdrängung der Wirklichkeit aushalten.
Wenn das Urteil über Ihre Amtszeit gesprochen wird, wird darin stehen: Konzeptionslosigkeit und Versagen. Dies wird als Bilanz Ihrer Amtszeit in den Geschichtsbüchern stehen.
Das gilt für die Haushalts-, für die Finanz- wie für die Steuerpolitik. Daß Sie dabei nie vor Tricksereien zurückgeschreckt sind und sie auch mit diesem Haushalt fortsetzen, wird daran deutlich, wie Sie den Kollegen Schleußer aus dem „Sonntags-Expreß" vom 6. November 1997 zitiert haben. Schleußer sagte:
An einer Nettoentlastung von 7 bis 8 Milliarden DM soll es nicht scheitern.
Hier hörte das Zitat bei Ihnen auf. Bei Schleußer ist weiter zu lesen:
Aber die Bundesregierung hält an einer Entlastung von 40 bis 50 Milliarden DM fest. Das ist unrealistisch. Selbst konservative Experten rechnen inzwischen vor: Durch Steuerprivilegien wurde die Wirtschaft in den letzten Jahren um 20 bis 80 Milliarden DM entlastet. Steuersenkungen haben längst stattgefunden. Steuergerechtigkeit fehlt. Die müssen wir wiederherstellen.
Recht hat Heinz Schleußer mit dieser Aussage.
Joachim Poß
Es hätte Ihnen auch nicht schlecht angestanden, wenn Sie das Zitat vollständig gebracht hätten, Herr Bundesfinanzminister. Wie Sie zitiert haben, war aber typisch für Sie.
Für die Haushalts-, Finanz- wie Steuerpolitik gilt dieses Urteil der Geschichte: Von einer konzeptionellen Finanzpolitik kann man nur dann sprechen, wenn Änderungen der Steuergesetze auf ihre haushaltswirtschaftlichen Auswirkungen überprüft und die aktuelle Lage sowie die voraussichtliche Entwicklung der öffentlichen Haushalte berücksichtigt werden. Das heißt, auch eine glaubwürdige und seriöse Steuerreformpolitik muß die finanzpolitische Situation berücksichtigen.
Auf dieser Basis hat die SPD ihre Vorschläge für eine solide Steuer- und Abgabenreform erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen können neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Unsere Vorschläge entsprechen dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und verursachen keine unverantwortlichen Löcher im Staatshaushalt.
Von daher lautet mein Vorwurf an die Steuerpolitiker der Koalition: Sie haben nicht als verantwortungsbewußte Finanzpolitiker gehandelt. Sie waren bei Ihren Steuerreformvorschlägen blind gegenüber den haushaltsmäßigen Auswirkungen Ihrer Steuergesetze und sind es noch immer. Das ist die Antwort, Herr Roth, auf Ihre Frage. Warum haben Sie als Haushälter zu diesen unverantwortlichen Plänen geschwiegen? Es wäre doch Ihre Pflicht gewesen, auf diese Pläne einzugehen.
Die Steuerschätzung vom 11. November belegt noch einmal, wie sehr die Steuerpläne von CDU/ CSU und F.D.P. mit einer Nettoentlastung von jährlich mindestens 45 Milliarden DM die finanzpolitische Realität ignoriert haben. Wie vorhergesehen sind die steuerpolitischen Traumtänzer in der Koalition durch die jüngste Steuerschätzung von der Wirklichkeit eingeholt worden. Ich frage Sie: Warum ziehen Sie nicht die Konsequenzen und unterstützen einen aufkommensneutralen Vorschlag? Warum machen Sie das eigentlich nicht?
Herr Waigel hat gegenüber der SPD wieder ein großzügiges Angebot unterbreitet. In diesem Zusammenhang zitiere ich aus dem „Spiegel" dieser Woche. Der „Spiegel" fragt:
Jetzt will Schäuble die SPD-geführten Länder locken, indem er zur Finanzierung der Rentenreform eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Punkte anbietet.
Darauf antwortet Herr Gerhardt:
Solche ständig neuen Wasserstandsmeldungen irritieren mich schon.
Ich will damit sagen: Bei Ihnen gibt es keine klare Einigung. Deswegen ist auch niemand von Ihnen in der Lage, hier im Deutschen Bundestag oder woanders ein klares Angebot zu machen.
Die Steuerschätzergebnisse sind verheerend. Noch nie gab es derartige Abweichungen zwischen einer Mai- und einer November-Steuerschätzung. Noch nie mußte ein derartig massiver Einbruch bei den Steuereinnahmen in so kurzer Zeit, nämlich innerhalb von sechs Monaten, festgestellt werden. Nimmt man die bereits in der Mai-Steuerschätzung ermittelten Steuerausfälle hinzu, dann müssen die Steuereinnahmen dieses Jahr um sage und schreibe 35 Milliarden DM nach unten korrigiert werden. Für das kommende Jahr, 1998, sind es sogar 54 Milliarden DM.
Das Ausmaß der finanziellen Katastrophe wird vollends deutlich bei einer mittelfristigen Betrachtung. Noch vor zwei Jahren wurde das Steueraufkommen für das Jahr 1997 auf 962 Milliarden DM und für 1998 auf 1020 Milliarden DM geschätzt. Heute ist man bei 795 Milliarden DM für 1997 und 814 Milliarden DM für 1998 angekommen. Eine solch rasante Talfahrt der Steuereinnahmen hat es noch nie gegeben.
Man muß sich das einmal genau vorstellen, meine Damen und Herren: Im kommenden Jahr werden Bund, Länder und Gemeinden insgesamt über 200 Milliarden DM weniger Steuereinnahmen haben, als noch vor zwei Jahren von den Steuerschätzern angenommen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, führen Bund, Länder und Gemeinden in den finanziellen Ruin.
Es war doch von vornherein klar, daß die SPD, vor allem auch die SPD-geführten Länder im Bundesrat, angesichts dieser Entwicklung der Steuereinnahmen einem Steuerpaket, das zu weiteren jährlichen Steuerausfällen von über 50 Milliarden DM führt, schon aus staatspolitischen Gründen überhaupt nicht zustimmen kann.
Wer eine Steuerreform wirklich wollte, durfte nicht so unseriös vorgehen. Das war auch den Herren Waigel und Schäuble von Anfang an klar. Der Gesetzentwurf der Koalition war völlig ohne Bezug zur Haushaltslage aller Gebietskörperschaften konstruiert.
Er war und ist eine Schaufensterauslage ohne Preisauszeichnung. Mit diesem Gesetzentwurf ist von Ih-
Joachim Poß
nen ein Mißlingen der Steuerreform von vornherein programmiert worden.
Das steuerpolitische Konzept der Koalition hat auch ökonomisch vorne und hinten nicht gestimmt. Zur Begründung der enormen Nettoentlastung muß ständig das Prinzip Hoffnung herhalten. Das ist bei Ihnen der sogenannte Selbstfinanzierungseffekt. Die Deutsche Bundesbank hat aber stets davor gewarnt, den Selbstfinanzierungseffekt zu hoch anzusetzen. Denn der Selbstfinanzierungseffekt tritt, wenn überhaupt, nicht mit sofortiger Wirkung, sondern, wie auch der Bundesfinanzminister in einer Anfrage zugegeben hat, erst nach Jahren ein - und das natürlich auch nicht in vollem Umfang, sondern nur zu einem Drittel, auf einer Zeitschiene bis zu acht Jahren. Was heißt das für die Zwischenzeit? Dies hat verheerende Auswirkungen auf die Haushalte aller Gebietskörperschaften.
Den Experten war im übrigen auch klar, daß mögliche positive Wachstumseffekte der Einkommensteuerreform durch die von Ihnen zur Finanzierung der Steuerreform vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung sofort wieder beeinträchtigt werden.
Ihre ganze Philosophie von Steuersenkungen stimmte aber auch schon deshalb nicht mehr, weil sich die Entwicklung der Steuereinnahmen seit einigen Jahren - Sie haben es ja selbst bestätigt, Herr Bundesfinanzminister - vom Wirtschaftswachstum immer mehr abgekoppelt hat. So ist das Bruttoinlandsprodukt seit 1995 um rund 10 Prozent gewachsen, während die Steuereinnahmen nur um rund 1 Prozent zugenommen haben. Damit müßte jedem klar werden, daß Spekulationen auf einen großen Selbstfinanzierungseffekt nicht aufgehen können. Das Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium Professor Hans-Werner Sinn stellte sogar fest:
Ich kenne kein Beispiel, wo nachgewiesen wurde, daß eine Senkung von Steuersätzen das Aufkommen des Staates vermehrt.
Der steuerpolitische Ansatz der Koalition ist nur ein Plagiat der in den USA von den Republikanern betriebenen Selbstfinanzierungsphilosophie von Steuersenkungen. Sie wurde dort zunächst als „Voodoo-Economics" verlacht. Anschließend wurden die Republikaner von den Wählern aus der Regierung verjagt. Die Koalition geht mit ihrer Steuerphilosophie sogar noch einen Schritt weiter: Sie betreibt „Voodoo" ganz ohne „Economics".
Das ist angesichts der steigenden Arbeitslosenzahl in Deutschland unverantwortlich. Deswegen war es ein Witz, daß der Bundesfinanzminister sagte, die Regierung habe die Voraussetzungen zur Begrenzung der Arbeitslosigkeit geschaffen.
Alles, was Sie zum weltwirtschaftlichen Ausblick gesagt haben, ignoriert leider zum Beispiel die aktuellen Ereignisse des sogenannten Casino-Kapitalismus. Auch da haben Sie auf Deubel komm raus schöngefärbt, Herr Bundesfinanzminister.
Mit Schönfärberei kommt man vielleicht durch den Tag, aber schon in der nächsten Woche wird man wieder von der Wirklichkeit eingeholt.
Die Regierung kündigt zwar ständig an, sie wolle die Arbeitslosigkeit abbauen, tatsächlich aber hat sie kein taugliches Konzept. Mit der vorgezogenen ersten Stufe Ihrer Steuerreform wollten Sie kurzfristig Arbeitsplätze schaffen. Die Sachverständigen, darunter auch die, die der Koalition nahestehen, haben übereinstimmend festgestellt, daß dieses Ziel glatt verfehlt wird. Professor Walter von der Deutschen Bank hat sogar von einer „Mogelpackung" gesprochen, und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung schätzt den Impuls für das Wirtschaftswachstum auf nicht mehr als 0,1 Prozent. Von daher ist es absurd, den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit mit der ausgefallenen Steuerreform der Koalition zu rechtfertigen.
Alles, was Sie seit Jahren zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit versucht haben, vom Kündigungsschutz bis zur Lockerung der Ladenschlußzeiten,
ist wirkungslos verpufft. Jetzt soll das Scheitern der Steuerreform, die Sie für das Jahr 1999 vorgesehen hatten, für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1996 und 1997 verantwortlich sein.
Das ist doch ein Anschlag auf den gesunden Menschenverstand, den Sie hier unternehmen.
Merken Sie denn überhaupt nicht, wie schwachsinnig Ihre Argumentation ist?
Auch der Einbruch der Steuereinnahmen hat mit dem Scheitern Ihrer Reform nichts zu tun. Herr Bundesfinanzminister, offenbar ist es Ihnen wichtig, von den wahren Ursachen der Steuermindereinnahmen abzulenken. In Ihrem Interview in der „Süddeutschen Zeitung" vom 17. November 1997 mit der schönen Überschrift „Irgendwann kennt sich keiner mehr aus" nennen Sie als ersten Grund für die Erosion unseres Steuerrechts die Inanspruchnahme von Abschreibungsmöglichkeiten für Ostinvestitionen. Dabei hat das Bundesfinanzministerium gerade eine Auflistung veröffentlicht, aus der sich ergibt, daß die Sonderabschreibungen und Investitionszulagen ihren Höhepunkt bereits 1995 erreicht haben und in drei Jahren nur noch 1,7 Milliarden DM betragen werden. Herr Bundesfinanzminister, Sie müssen sich endlich mehr um die wahren Ursachen kümmern
Joachim Pof
und dürfen nicht mit Desinformationspolitik aufwarten.
Die verheerenden Ergebnisse der Steuerschätzungen der letzten Jahre sind auch Resultat einer völlig verfehlten Steuerpolitik dieser Bundesregierung. Die Steuerpolitik folgte keiner geschlossenen Konzeption; sie ist bloßes Stückwerk. In einer unvorstellbaren Hektik mußten mehrfach Steuergesetze geändert werden, noch bevor sie überhaupt in Kraft getreten waren. Unter Bundesfinanzminister Waigel ist vor allem das Einkommensteuerrecht regelrecht verwüstet worden.
Diese chaotische Steuergesetzgebung hat sich auch immer stärker in Steuermindereinnahmen niedergeschlagen. Außerdem wurden die Steuerausfälle bei der Beratung der Gesetze zu niedrig berechnet.
So hat die Bundesregierung zum Beispiel beim Standortsicherungsgesetz die Ausfälle bei der Körperschaftsteuer mit 4 Milliarden DM beziffert, obwohl der von Ihnen geschätzte nordrhein-westfälische Finanzminister Schleußer die Ausfälle auf 9 Milliarden DM geschätzt hatte. Diese Berechnung wurde damals von der Bundesregierung als Horrorzahl abgetan. Die tatsächliche Entwicklung aber hat gezeigt: Die Mindereinnahmen beliefen sich sogar auf das Dreifache, nämlich auf 12 Milliarden DM. Drängt sich da eigentlich nicht der Eindruck auf, daß hier zielorientiert politisch gerechnet wurde, meine Damen und Herren?
Es rührt an den Grundfesten unserer Gesellschaft, wenn sich in zunehmender Weise ein Teil der Steuerpflichtigen durch Ausnutzung zahlreicher Gestaltungsmöglichkeiten steuerlich quasi selbst entlastet, während ein anderer Teil der Bevölkerung, nämlich Arbeitnehmer, Familien, Verbraucher und der gewerbliche Mittelstand, durch eine unaufhaltsam steigende Belastung mit Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen wird.
Es handelt sich ja in erster Linie um die Klientel der F.D.P. - um das deutlich zu sagen -, die sich jetzt schon entlasten kann. Trotz dieser Tatsache fordert die F.D.P. immer noch weitere Entlastungen gerade für diese Gruppe. Ich sage: Umgekehrt wird hier ein Schuh daraus.
Wir wollen eine Entlastung der breiten Schichten der Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, der Frauen und Männer, die jeden Tag zur Arbeit gehen. Wir sind es doch, die eine Entlastung solcher Menschen fordern, nicht diese Koalition.
Diese Koalition hat Vorschläge vorgelegt, nach denen diejenigen, die sich jetzt faktisch durch Ausnutzung der Gestaltungsmöglichkeiten entlasten, durch
eine Steuerreform noch weiter entlastet werden. Das ist der Kern.
Seit Jahren hat die SPD diese gesellschaftspolitisch gefährliche Entwicklung kritisiert. Sie haben eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Problem aber abgelehnt und das als bloße Neiddiskussion der Opposition abgetan.
Dabei geht es um einen Verfassungsgrundsatz: Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist der Maßstab. Mit Ihrer Steuer- und Finanzpolitik verstoßen Sie seit Jahren dagegen. Ihre Politik ist verfassungswidrig, wie ich meine.
Die konservative „Welt" beschreibt diese Entwicklung zutreffend wie folgt:
Viele Studien belegen, daß die Steuerlast in Deutschland im internationalen Vergleich noch nicht einmal an der Spitze liegt. Für manchen ist Deutschland wegen seines Steuerrechts sogar zur Steueroase geworden. Die Steuerschätzungen zeigen, daß sich die Steuerzahler ihre Entlastung auf anderem Wege zu holen wissen. Eine Steuerreform würde es dem Staat hier ermöglichen, die Entlastung gleichmäßiger zu verteilen.
Vollkommen richtig! Eine Steuerreform nach unserem Muster hätte ein solches Ergebnis. Eine Steuerreform nach Ihrem Muster führte nur dazu, daß diejenigen, die sich jetzt faktisch selber entlasten, dann auch noch weiter entlastet würden. Das ist die Quintessenz.
Der von Ihnen immer wieder vorgetragene Blockadevorwurf an die Adresse der SPD ist absurd. Ihm fehlt jegliche Grundlage. Viele Kolleginnen und Kollegen in der Koalition wissen dies. Trotzdem ziehen sie mit diesen falschen Vorwürfen über Land und betreiben schon jetzt Wahlkampf, ohne inhaltliche Argumente, nur mit Vorwürfen an die Opposition. Denn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben nichts anderes mehr anzubieten als diese abgedroschenen Phrasen - in Ihren Augen sind das Argumente.
Dabei ist der Befund eindeutig: Die seit 15 Jahren regierende Koalition ist am Ende ihrer eigenen Politikfähigkeit angelangt, weil sie sich auf nichts mehr einigen kann. Sie blockiert sich selbst.
Gegenüber der SPD angedeutete Kompromisse, wie heute von Herrn Roth oder von Herrn Waigel, wurden in den letzten Wochen nur zur Irreführung der Öffentlichkeit ins Spiel gebracht.
Joachim Poß
Es sollte davon abgelenkt werden, daß innerhalb der Koalition keine gemeinsame Lösung mehr zustande gebracht werden kann.
Die SPD will eine Steuer- und Abgabenreform. Wir haben Kompromisse angeboten. Ich denke, daß die Führung der SPD morgen auf Ihren Vorschlag, Herr Waigel, eingehen wird. Auch sie hat schon erklärt, daß wir bereitstehen. Aber die Essentials müssen stimmen.
Wir haben mittlerweile auch immer wieder angeboten, die Lohnnebenkosten zu senken. Das ist von der Koalition immer abgelehnt worden. Die Koalition hat doch sogar die Kompromißversuche ihres eigenen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Schäuble abgelehnt.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, haben das aktiv betrieben. Heucheln Sie hier doch nicht so rum!
Wir haben doch mitbekommen, daß Sie von Hongkong aus ständig mit dem Bundeskanzler telefoniert haben, um das Angebot von Herrn Schäuble zu unterlaufen.
Was wollte denn Herr Schäuble? Schäuble wollte doch erkennbar von den unvertretbar hohen Finanzierungsdefiziten der Regierungsvorschläge herunter, weil er weiß, daß Sie das nicht mehr lange durchhalten können, meine Damen und Herren.
Immer deutlicher also wird, daß es in der Koalition keine Mehrheiten mehr für Vorschläge aus der Union oder aus der F.D.P. gibt. Jetzt versuchen Sie mit Scheinangeboten und Verzögerungsstrategien zu verhindern, daß der Stillstand im Kompromiß mit der SPD überwunden wird.
Die „Woche " spricht in ihrem Leitartikel vom 14. November vom „Offenbarungseid" „einer Regierung, wie sie Deutschland nach dem Krieg abgewirtschafteter und konzeptionsloser nicht erlebt hat". Das „Milliardenloch" sei „längst zur einzigen Konstante einer schlingernden Koalition geworden, deren innere Widersprüche nur noch durch den gemeinsamen Machtwillen übertroffen werden".
Wie sehr der derzeitige Blockadevorwurf in der Steuerreformpolitik fehlgeht, wird doch auch daran deutlich, daß es noch gar nicht so lange her ist, daß von der „Sozialdemokratisierung der Steuerpolitik der Bundesregierung" gesprochen wurde. Ich erinnere an die Reform des Familienleistungsausgleichs, an die Reform der steuerlichen Wohneigentumsförderung und an die Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrages.
Viele Jahre lang hatte die SPD gefordert, die ungerechten Kinderfreibeträge durch ein Kindergeld von mindestens 250 DM im Monat zu ersetzen. In all den Jahren hat die Koalition unsere Anträge im Deutschen Bundestag immer wieder abgelehnt. Bundesfinanzminister Waigel wollte noch 1995 das Kindergeld bei 70 DM für das erste Kind belassen und das Kindergeld für das zweite Kind nur um 20 DM erhöhen. Anschließend hat er sich in Reden dieses Familienleistungsausgleichs gerühmt.
So ist das mit Anspruch und Wirklichkeit in der Koalition.
Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis die Koalition endlich bereit war, die von der SPD immer wieder geforderte Umgestaltung der steuerlichen Wohneigentumsförderung aufzugreifen.
Lange mußte die SPD kämpfen, bis es endlich zu einer Verbesserung des steuerlichen Grundfreibetrags kam.
Bundesfinanzminister Waigel wollte den Grundfreibetrag 1995 noch ganz abschaffen und ihn statt dessen durch eine sogenannte außertarifliche Grundentlastung ersetzen. Der „Buckeltarif" war damals in aller Munde.
Es ist auch ausschließlich der Hartnäckigkeit der SPD zu verdanken, daß eine stufenweise Anhebung des steuerfreien Existenzminimums bis 1999 auf rund
13 000 DM für Ledige und 26 000 DM für Verheiratete bereits gesetzlich festgeschrieben ist. In ihrem Steuerreformkonzept hat die SPD außerdem gefordert, den Grundfreibetrag auf 14 000 DM zu erhöhen. Es war die SPD und nicht, wie Sie, Kollegin Hasselfeldt, in einem Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung" vom 5. November 1997 behauptet haben, die Koalition. Sie hat die Anhebung des Grundfreibetrags auf
14 000 DM nämlich nicht in ihrem Konzept vorgesehen.
Das heißt: Sie haben die Leser und Leserinnen der „Süddeutschen Zeitung" glatt hinters Licht geführt, Frau Kollegin Hasselfeldt.
Ich hätte Ihnen das eigentlich gar nicht zugetraut. Sie machen gelegentlich einen so ehrlichen Eindruck.
Die Koalition zieht schon lange nicht mehr an einem Strang; sie ist schon lange nicht mehr handlungsfähig.
Die Koalition weiß genau, daß sie es mit ihrer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht schafft, die Arbeitslosigkeit bis zur Bundestagswahl spürbar zu verringern.
Joachim Poß
Wir Sozialdemokraten bleiben dabei: Wir brauchen eine Strategie, die Angebots- und Nachfragepolitik miteinander verknüpft.
Wir brauchen eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft und nicht deren Abschaffung, die Sie faktisch betreiben.
Zum einen geht es um die Stärkung der Binnennachfrage und zum anderen um die Verbesserung der Investitionsbedingungen. Es geht um ein Policy-Mix, nicht um schwarz oder weiß, wie Sie das hier darstellen.
Wohin hat denn Ihre einseitige Angebotspolitik geführt? Das kann man doch an den Resultaten Ihrer Politik sehen. Was haben Sie alles versprochen? Sie haben nichts gehalten. Es gab nur falsche Analysen und falsche Schlußfolgerungen. Auch heute haben Sie wieder falsch analysiert, Herr Bundesfinanzminister, und die Schlußfolgerungen müssen zwangsläufig falsch sein.
Sowohl die Bundesbank als auch das Ifo-Institut haben darauf hingewiesen, daß insbesondere die geringe Binnennachfrage nennenswerte Verbesserungen für Wachstum und Beschäftigung verhindere. Das Ifo-Institut stellt außerdem fest, daß mit einer Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die Arbeitslosigkeit bekämpft werden könne.
Wir setzen deshalb auf eine wirtschaftspolitische Doppelstrategie, die Angebots- und Nachfragepolitik miteinander verbindet. Die Senkung der Lohnnebenkosten und die Senkung der Steuerbelastung für die Wirtschaft, sofern sie wirklich belastet ist, ist die Angebotsseite unserer Steuer- und Abgabenreform. Die Entlastung der Arbeitnehmer und Familien ist die Nachfrageseite unserer Politik. Wer mehr Wachstum und mehr Beschäftigung will, der muß beide Seiten des Wirtschaftswachstums berücksichtigen. Deshalb unterscheidet sich unser Konzept schon im Ansatz von der von Ihnen propagierten, aber nicht finanzierbaren Nettoentlastung der Steuerzahler.
Auch unser Steuerkonzept führt zu einer Nettoentlastung: Bei uns werden diejenigen Bürgerinnen und Bürger entlastet, die in den letzten Jahren immer stärker mit Steuern und Abgaben belastet worden sind und die nicht die Möglichkeit hatten, in großem Umfang steuerliche Subventionen und Steuersparmodelle zu nutzen. Das ist die große Mehrheit unseres Volkes; das ist die große Mehrheit der Arbeitnehmerfamilien. Deshalb wollen wir Familien mit zwei Kindern jährlich um durchschnittlich 2500 DM entlasten. Das ist unsere Zielsetzung, und wir werden sie durchsetzen - wenn nicht kompromißweise mit Ihnen, dann nach einem Wahlerfolg 1998.
Mit unserem Ansatz wollen wir wieder Gerechtigkeit in der Besteuerung herstellen. Der Steuerehrliche darf nicht länger der Dumme sein, und der Steuertarif muß wieder die Wahrheit über die tatsächliche
Steuerbelastung sagen. Es geht also - ich wiederhole es - um die gleichmäßigere Verteilung der Abgaben. Dann können die Steuersätze sinken. Es geht darum, die Gruppen heranzuziehen, die sich, wie „Die Zeit" zu Recht schrieb, in den vergangenen Jahren selbst entlastet haben.
Notwendig ist nur, daß Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, hier, auch in dieser Haushaltsdebatte, nicht wolkige, nebulöse Ankündigungen machen, sondern sich auf ein realistisches, finanzpolitisch seriöses und sozial ausgewogenes Konzept einlassen, mit dem für die kommenden Jahre klare Rahmenbedingungen für Bürger und Wirtschaft geschaffen werden. Sie sollten sich endlich aufraffen, diesen Weg mit der SPD zu gehen.