Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Geis, Sie haben recht: Wir reden heute über sehr wichtige Fragen der Veränderung des Strafrechts, und Sie haben einige allgemeine Bemerkungen vorangestellt. Deswegen möchte ich gern mit einer kurzen Antwort auf diese beginnen.
Ich glaube, daß Sie in manchem recht haben, aber insgesamt das Problem der Kriminalitätsbekämpfung und der Stärkung der inneren Sicherheit zu eng angehen. Es ist richtig, wir alle - Bund, Länder und Gemeinden, auch die Öffentlichkeit - müssen klarstellen, daß wir Kriminalität wirksam bekämpfen. Es ist richtig, daß diese Kriminalitätsbekämpfung zur inneren Sicherheit und zum inneren Frieden gehört. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, daß ihr Gemeinwesen sie schützt - keine Frage.
Richtig ist ebenfalls, daß, wie gesagt, auch der Bund dazu sein Teil beitragen muß, neben Ländern und Gemeinden, aber auch neben der Öffentlichkeit, deren Verantwortung zum Beispiel für die Nachbarschaft und für die Gemeinschaft wieder stärker betont werden muß.
Aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, daß der Bund seiner Verantwortung dadurch gerecht werden könnte, daß er die Strafrahmen erhöht.
Das mag - das ist völlig in Ordnung - in dem einen oder anderen Fall das richtige Signal geben, aber mehr, als daß Papier vollgeschrieben wird, ist es nicht. Deswegen kommt nicht nur hinzu, daß diese Gesetze ausgefüllt werden müssen - das wäre dann wieder die Sache von Ländern und auch von Gemeinden -, daß sie umgesetzt und akzeptiert werden müssen. Nein, der Bund hat auch die Aufgabe, mit einer veränderten Bundespolitik - einer anderen als derjenigen, die in den letzten Jahren einen Nährboden für Kriminalität und für Verwahrlosung geboten hat - tatsächlich zur Verbrechensbekämpfung beizutragen.
Dazu, verehrter Herr Geis, brauchen wir nicht nur ein anderes Strafrecht, wie Sie das sagen, sondern auch eine andere Gesellschaftspolitik, eine andere Familienpolitik und mehr Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Vor allen Dingen brauchen wir erheblich mehr und wirksamere Maßnahmen zur Integration der Menschen. Solange wir das nicht haben, kommen wir nicht voran.
Es wird sich gerade bei diesen Punkten zeigen, daß wir zudem eine andere, eine seriöse Steuerpolitik und eine seriöse Finanzpolitik brauchen, die den Ländern und den Gemeinden auch die Möglichkeiten gibt, das zu tun, was wir von ihnen verlangen,
nämlich Opferschutz und eine vernünftige Polizei, vernünftige Gerichtsverfahren und auch vernünftiges Community policing zu finanzieren. Wenn sie das nicht haben, bleiben die besten Gesetze nur vollgeschriebenes Papier, und das wollen wir nicht.
Lassen Sie mich jetzt zum ersten wichtigen Punkt kommen, dazu, wie wir unseren Kindern mehr Schutz und Hilfe vor sexuellem Mißbrauch und auch vor Rückfalltätern garantieren.
Sie wissen, diesbezüglich gibt es Gott sei Dank eine große Einigkeit in diesem Hause. Vor etwa einem Jahr haben die Politikerinnen und Politiker aller Fraktionen in diesem Haus gesagt: Wir müssen dringend überprüfen, was wir an Verbesserungen durchsetzen können, was wir mehr tun können, um den Schutz unserer Kinder zu erhöhen.
Anlaß waren jene zwei schrecklichen Verbrechen, das eine an der kleinen Natalie in Epfach und das andere an der kleinen Kim in Varel, das kurz danach
Dr. Herta Däubler-Gmelin
passierte. Ich darf hier - sicherlich für alle - sagen: Wir leiden mit den Eltern, und wir verstehen das Entsetzen der Öffentlichkeit, ja, wir teilen es.
Wir haben uns damals gesagt, wir schauen uns jede Etappe der Strafverfahren und des Strafvollzugs an, und das haben wir auch getan. Wenn Sie sich daran erinnern, meine Damen und Herren: Damals in der Anhörung des Rechtsausschusses, als wir die Sachverständigen befragt haben, fanden wir viel mehr Schwachstellen, als den Eltern in diesem Land oder auch den für die Justiz oder für die Verfahren Verantwortlichen recht sein kann. Das bezog sich nicht alleine auf Rückfalltäter, auf die die Öffentlichkeit mit Recht und mit Unruhe schaut, sondern auch auf etwa 35 000 Fälle von sexuellem Kindesmißbrauch, die es heute in der Bundesrepublik gibt. Diese Zahl ist in den letzten Jahren etwas gestiegen, wie uns die polizeiliche Kriminalstatistik sagt.
Hinter dieser Zahl verbergen sich furchtbare Schicksale. Wir wissen ganz genau, daß die Kinder nach sexuellem Mißbrauch häufig für das ganze Leben unter den schweren Folgen und der Traumatisierungen leiden, daß Mädchen viermal so häufig sexuell mißbraucht werden wie kleine Jungen, daß aber auch die Zahl des Mißbrauchs kleiner Jungen leicht ansteigt. Wir wissen, daß etwa drei Viertel der sexuell mißbrauchten Kinder nicht etwa von Fremden, sondern von Männern aus ihrem Verwandten- bzw. Bekanntenkreis mißbraucht werden. All diesen Kindern müssen wir mehr Schutz und vor allen Dingen auch mehr Hilfe zukommen lassen.
Wir haben versucht, entsprechende Schwachstellen in den Bundesgesetzen auszuräumen. Wir haben aber festgestellt, daß wir viel zuwenig wissen: sowohl über die Rückfalltäter - diese Daten mußten wir erst anfordern; sie liegen uns laut Bundesjustizminister noch nicht vor; ich hoffe, wir werden sie sehr bald bekommen - als auch über die speziellen Wirkungen von Behandlungsmöglichkeiten, die wir gerade im Hinblick auf den Opferschutz brauchen, weil wir die Absenkung der Rückfallquote erreichen wollen.
Das gilt für beide Gruppen von Sexualstraftätern, zum einen für solche - das ist die überwiegende Mehrheit -, die keineswegs krank und keine perversen Triebtäter sind, sondern Macht- und Aggressionstäter, die sich an Kinder heranmachen, weil sie annehmen, den Kindern werde nicht geglaubt, mit denen könne man es machen, die seien hilflos und widersprächen nicht. Welch üble Einstellung! Hier muß hart bestraft werden. Gleichzeitig muß die Rückfallgefahr durch Training und Therapien gesenkt werden. - Das gilt zum anderen für sexuelle Deviationen mit Krankheitswert, auf die die Öffentlichkeit schaut. Auch hierfür gibt es wirksame rückfallsenkende Behandlungsmöglichkeiten, auch wenn wir längst noch nicht genügend wissen. Fest steht jedoch, daß zum Beispiel qualifizierte Gutachter fehlen, daß es zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt und daß es viel zu viele Gerichte gibt, die noch nicht genau wissen, wie sorgfältig man mit Sexualstraftaten umgehen muß.
Wir haben weiterhin feststellen müssen - das ist ein Punkt, der uns alle sehr bewegt hat und aus dem
wir Folgerungen gezogen haben -, daß es ein Skandal ist, wie seitens der Polizei und der Gerichte - ich meine jetzt nicht nur die Richter, sondern auch die Staatsanwaltschaften - häufig noch mit Kindern umgegangen wird, die Opfer von Sexualdelikten geworden sind.
Dies geschieht nicht etwa aus bösem Willen. Die Beteiligten geben sich sogar viel Mühe. Aber oft führt die gedankenlose, unwissende und herzlose Umgangsweise zu einer zweiten Traumatisierung bzw. Viktimisierung. Wodurch? Durch Mehrfachvernehmungen, lange Verfahren und die Tatsache, daß Kinder immer wieder das gleiche sagen müssen. Stellen Sie sich das bitte vor: Da muß ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge, das oder der sexuell mißbraucht wurde, im Gerichtssaal oder auch in einem anderen Raum dem Peiniger, mit dem es vielleicht verwandt oder bekannt ist, gegenübertreten und über intimste Dinge reden. Was bedeutet das für ein Kind und seinen Lebensweg? Das muß man sich einmal vorstellen!
Mit den Gesetzesänderungen haben wir an dieser Stelle vieles verbessert. Gerade wir Sozialdemokraten haben darauf bestanden - ich möchte das betonen -, daß das getan wird. Deshalb ist dieses Gesetz insgesamt ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung geworden: Wir bieten mehr Hilfe und Schutz für die Opfer. Die Kinder rücken mehr in den Mittelpunkt. Es ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wirklich gelungen, eine Verbesserung der Verfahren zu erreichen, also überflüssige Mehrfachvernehmungen und da, wo es schrecklich wird, die Konfrontation mit dem Täter zu unterbinden.
Sie wissen, wir wären bei der Hilfe und dem Beistand für die kindlichen Opferzeugen gerne einen Schritt weitergegangen. Wir hätten gerne auch durch Gesetz das aufgegriffen, was modellhaft zum Beispiel in Magdeburg - vielleicht auch schon an anderen Stellen - praktiziert wird. Wir hätten gerne festgelegt, daß dann, wenn eine solche sexuelle Mißbrauchstat angezeigt wird, das Kind, also das Opfer, sofort eine geschulte Person seines Vertrauens als Beistand zur Seite gestellt bekommt, die es dann in all den schwierigen Dingen gegenüber den Eltern, den Verwandten, den fremden Tätern, dem Jugendamt, dem Gericht, der Staatsanwaltschaft oder der Polizei begleitet. Das ist leider nicht gelungen. Wir werden diesen Antrag jetzt nochmals stellen, und wir bitten Sie, dem zuzustimmen. Wenn Sie das nicht tun, werden wir in den nächsten Jahren immer wieder darauf zurückkommen.
Im übrigen erhöht das vorliegende Gesetz die Strafrahmen. Darüber hat Herr Kollege Geis lange gesprochen. Mehr als ein Signal wird dies nicht sein können, aber dieses Signal halten wir für nötig. Es muß in der Öffentlichkeit völlig klar sein, daß jemand, der Kinder sexuell mißbrauchen will - aus welchen Gründen auch immer -, mit keinerlei Verständnis zu rechnen hat, sondern auf den ganz klaren Widerstand unserer Gesellschaft stößt.
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Das bezieht sich nicht nur auf diese schrecklichen Sexualmorde, sondern auch auf die 35 000 Fälle sexuellen Mißbrauchs im Jahr, über die man in der Öffentlichkeit längst nicht soviel hört, und auch auf die scheinbar anständigen Deutschen, die zu Zehntausenden ins Ausland fahren, um dort Kindersex zu begehen. Die sind kein Haar besser. Auch die werden jetzt vor deutsche Gerichte gestellt, und wir werden darauf drängen, daß es dabei bleibt.
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß dies ein Schritt in die richtige Richtung ist. Richtig ist auch, daß die Länder ihren Teil beitragen müssen: bei der Fortbildung der Richter, bei der Organisation in der Polizei, bei Strafvollzug und Therapie. Aber es gibt auch eine Verantwortung der Öffentlichkeit, insbesondere der Medien, und auch eine Verantwortung im Bereich der Erziehung der Kinder zu mündigen Menschen, die nein sagen können, die sagen: Nein, ich will das nicht; ich gehe nicht mit, und ich weiß, mir wird geglaubt; ich bekomme Hilfe, wenn eine solche Gefahr droht.
Hier müssen wir einen großen Schritt weiterkommen, weil wir wissen, daß gerade die Täter im Bereich des sexuellen Mißbrauchs besonders solche Kinder aussuchen, die wenig selbstbewußt sind, die nicht gelernt haben, nein zu sagen. Das sollte uns allen zu denken geben.
Insgesamt bin ich froh über die Gemeinsamkeit zwischen den Fraktionen bei diesem Gesetz. Aber das kann ich leider in bezug auf das sogenannte Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts nicht sagen. Die Harmonisierung der Strafrahmen ist zwar ein Thema, das wir seit langen Jahren nicht nur auf unserer Wunschliste, sondern auch auf der Liste unserer parlamentarischen Initiativen haben. Das wissen Sie. Hier sitzt eine ganze Reihe von Kollegen, die dieses Thema mit Intensität vorangetrieben haben. Dazu gehören Hermann Bachmaier und Jürgen Meyer, eigentlich die ganze Arbeitsgruppe Recht der SPD. Das wissen Sie auch. Warum ist das so?
Die Notwendigkeit, das Strafgesetzbuch zu modernisieren, die Strafrahmen nicht nur besser an den Güterschutz des Grundgesetzes anzupassen, das den Schutz des Lebens viel höher stellt als den Schutz des Eigentums, haben wir immer gesehen. Wir wollten auch die Strafrahmen besser aufeinander abstimmen. Dazu gab es eine Menge Initiativen von unserer Seite, aber das, was Sie jetzt vorlegen, entspricht dem, was wir als Ergebnis dringend brauchen, leider nicht.
Wir hatten Ihnen schon 1993 vorgeschlagen, eine Kommission einzusetzen, die in großer Ruhe alles durchberaten sollte. Sie meinten, alles schnell mit Bordmitteln machen zu können, und haben uns jetzt kurzfristig ein Gesetz vorgelegt, das im Grunde genommen außer redaktionellen Änderungen und Anhebungen der Strafrahmen nur Problemfälle mit sich bringt.
In der Anhörung des Rechtsausschusses sind Sie von der Fachwelt zerrissen worden. Sie haben noch nicht einmal ihren Rat aufgenommen, auch das Nebenstrafrecht einzubeziehen. Sie sehen über 200 Veränderungen des Strafgesetzbuches vor, die Sie dann auch noch meinten, im Eilverfahren durch dieses Haus durchziehen zu sollen. Sie wissen: Keiner - nicht einmal der oder die Gutwilligste, die mitberaten haben könnte sagen, das sei ein angemessenes oder seriöses Beratungsverfahren gewesen. Das muß man hier feststellen.
Die Folgen werden sein: Sie schaffen viele Zweifelsfälle. Die Gerichte werden über Sie herfallen, die Fachwelt wird über Sie herfallen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß der Bundesrat dieses Ergebnis so durchgehen läßt, und zwar aus fachlichen Gründen.
Ich will Ihnen nur fünf Punkte nennen: Sie haben jetzt für Kindesentziehung ins Ausland die gleiche Strafandrohung wie für Diebstahl gewählt. Das ist natürlich schwachsinnig. Sie haben es tatsächlich geschafft, die Beschneidung von Frauen - ein Skandal, dessen Bekämpfung Sie doch in jedem einzelnen Fall mit uns vornehmen wollen - nicht einmal unter die schwere Körperverletzung zu subsumieren.
Sie haben die Einzelfälle und die Grenzfälle von Betrug und Versicherungsbetrug nicht sauber gegeneinander abgrenzen können. Sie schaffen bei dem von uns allen gewünschten Schutz von Totengedenkstätten eine große Zahl von vermeidbaren Gerichtsverfahren, die den Zweck des Schutzes von Totengedenkstätten, insbesondere solcher, die in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und anderen Unterdrückungsregimen gestorben sind, aushöhlen werden. Das ist schade. Auch diese Schlamperei wäre nicht nötig gewesen.
Um einen letzten Punkt anzubringen, der den unausgereiften und bisher nicht abgeschlossenen Beratungsprozeß verdeutlicht: Sie schaffen es sogar, Tausende von Vorsitzenden von Fußballvereinen und anderen Vereinen, mit einem Fuß ins Gefängnis zu stellen, wenn sie künftig wieder eine Tombola veranstalten wollen. Das kann doch nicht Zweck einer Strafrahmenharmonisierung sein, geschweige denn einer Veränderung des Strafgesetzbuches.
Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen immer gesagt, daß Sie das alles sorgfältiger beraten sollten. Es ist nicht erforderlich, hier alles im Schweinsgalopp durchzuziehen. Es kommt auf vernünftige und tragfähige Ergebnisse an; die Rechtsprechung sollte nicht verunsichert werden. Wenn Sie klug sind, werden wir heute über dieses Gesetz nicht abstimmen.
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Wenn Sie aber meinen, Ihren Mehrheitswillen hier durchdrücken zu müssen, dann werden wir uns der Stimme enthalten. Für diesen Fall allerdings garantieren wir Ihnen, daß diese Flickschusterei uns in den nächsten Jahren heftig beschäftigen wird.
Ganz herzlichen Dank.