Herr Kollege Schäuble, die Frage bezüglich der strukturellen Reform ist, wie Sie sicherlich wissen, eine Frage der inneren Überzeugung.
- Nun halten Sie sich doch einmal an die Vorlage Ihres eigenen Fraktionsvorsitzenden. Es kann doch nicht sein, daß er uns auffordert, ruhig zu sein, und Sie gleichzeitig zur heiteren Turbulenz ermuntert.
Herr Kollege Schäuble, das ist eine Frage der inneren Überzeugung. Ich werfe Ihnen zum Beispiel nicht vor, daß Sie das, was ich Kürzungen im Rentenbereich nenne, aus Ihrer Sicht als strukturelle Reform verkaufen. Ich wehre mich aber dagegen, daß Sie die strukturellen Veränderungen, die wir vorschlagen - nämlich die Beendigung der Atomisierung des Arbeitsmarktes zu Lasten der Rentenversicherung und die Beendigung des weiteren Verstetigens von versicherungsfremden Leistungen in den Sozialversicherungssystemen; diese Verstetigung würde zu schwerwiegenden Konsequenzen im Hinblick auf die Akzeptanz der Systeme führen -, nicht als strukturelle Reform akzeptieren und daß Sie uns in diesem Zusammenhang den Vorwurf, das sei eine reine Umfinanzierung, an den Kopf werfen.
Herr Kollege Schäuble, ich will Ihren Satz vom vernünftigen Wort an jedem Tag aufgreifen und Sie an das erinnern, was Sie vor 14 Tagen von diesem Pult aus gesagt haben. Da haben Sie gesagt: Lassen Sie uns das machen, was möglich ist. Möglich sind Ihre Vorschläge hinsichtlich der Mineralölsteuer und der Arbeitslosenversicherung sowie unser Vorschlag - der auch Ihr Vorschlag ist - hinsichtlich der Mehrwertsteuer. Ich frage noch einmal: Was hindert Sie denn eigentlich daran, Ihre eigenen öffentlichen Verlautbarungen heute im Bundestag durch Zustimmung zum SPD-Gesetzentwurf zu bestätigen? Das sind doch andere Gründe, Herr Schäuble.
Wenn Sie hier für Redlichkeit eintreten - das ist in Ordnung -, dann bitte ich Sie aber auch, unsere Argumente, die Ihren Interviewäußerungen und Ihren Redebeiträgen inhaltlich überhaupt nicht entgegenstehen, nicht auf andere Art und Weise zu diskreditieren.
Es gibt Schicksalsschläge im Leben, Herr Schäuble. Ein Schicksalsschlag für Sie und mich in dieser Stunde ist, daß die Wahrheit so aussieht: Wir beide könnten hier einen Personengruppenantrag einbringen,
bestehend aus Ihren Interviewäußerungen und dem Text von Herrn Blüm, von mir aus mit meiner gnädigen Unterstützung. Dann hätten wir unsere Übereinstimmung zu Papier gebracht. Aber Koalitionsmachtbalance hindert Sie doch in Wahrheit daran, über Ihre eigene Überzeugung hier abzustimmen. Das ist der Sachverhalt.
Herr Schäuble, ich will Ihnen - wegen der intellektuellen Redlichkeit - ein zweites sagen. Der Bundesfinanzminister stellt sich heute morgen hier hin und erklärt uns, er habe Spielräume für seine Steuergesetzgebung. Wenn ich mich recht erinnere, ist die Zahl 20 Milliarden DM gefallen. Wenn Sie wirklich Spielräume haben, Herr Waigel, Herr Schäuble, Herr Solms: Was hindert Sie daran, diesen vorgeblichen Spielraum zur weiteren Senkung des Solidarbeitrages zu nutzen? Dazu brauchen Sie uns nämlich gar nicht.
Die Wahrheit ist: Sie haben null Spielraum, sondern setzen eine Tilgung aus, was nach Auskunft des Kollegen Metzger, soeben in der Zwischenfrage hier im Plenum eingebracht, am Schluß zusätzliche Belastungen für die Steuerzahler von über 3 Milliarden DM ausmacht. Das ist der Hintergrund.
Sie können doch nicht ernsthaft von uns erwarten, daß die Koalitionsmachtbalance, die Sie zu diesem Schritt zwingt und die hinterher den Steuerzahlern zusätzlich 3 Milliarden DM abverlangt, von uns auch noch unterstützt wird. Wo kommen wir denn da hin? Die Wahrheit ist: Wenn Herr Waigel hier von Spielräumen spricht, dann soll er sie auf den Tisch legen.
Rudolf Dreßler
Im übrigen darf ich Ihnen verraten: Wir haben ihn im Vermittlungsausschuß in unzähligen Sitzungen aufgefordert, diese Spielräume schriftlich zu fixieren. Bis zur letzten Minute hat sich Herr Waigel geweigert. Wir wissen heute, warum: weil er überhaupt keine Spielräume hat, weil er uns mit Ihnen um die Fichte geführt hat.
Wer diese öffentliche politische Debatte um die von allen anerkannte Notwendigkeit der Senkung von Lohnnebenkosten einerseits und die Diskussionsbeiträge der Vertreter der Regierungsfraktionen andererseits vergleicht und mit dem Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag in ein Verhältnis setzt, der trifft auf erstaunliche Widersprüche. Sie von der CDU/CSU und der F.D.P. philosophieren in der Öffentlichkeit andauernd über die Notwendigkeit der Senkung der Lohnnebenkosten. Wenn es dann im Parlament konkret wird, wenn es über Gesetzentwürfe abzustimmen gilt, die diese Senkung tatsächlich herbeiführen, dann verweigern Sie sich und lehnen sie ab. Dies ist ein bemerkenswertes Dokument politischer Unaufrichtigkeit in dieser Legislaturperiode durch die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen.
Deshalb sage ich Ihnen: Wer heute die Chance zur Senkung der Lohnnebenkosten nicht ergreift, sondern diese Chance sogar torpediert, wird sich den Vorwurf der Hinterlist gefallen lassen müssen, weil er die zu hohen Lohnnebenkosten klammheimlich akzeptiert, um sie dann wieder klammheimlich politisch zu instrumentalisieren. Denn zu hohe Lohnnebenkosten eignen sich bekanntlich trefflich, unser Sozialversicherungssystem als abbruchreif und den globalen wirtschaftlichen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu denunzieren. Genau das tun sowohl F.D.P. als auch bestimmte Kreise von CDU/CSU seit geraumer Zeit ebenso gezielt wie systematisch. Wer abräumen will - das wollen diese Kreise -, braucht dazu ein Szenario und entsprechende öffentliche Stimmungen.
Zu dieser Einschätzung paßt, daß diejenigen, die in der Koalition so heftig über die Notwendigkeit einer Senkung der Lohnnebenkosten räsonieren, in Wahrheit zu den Verursachern ständiger Kostenerhöhungen gehören.
Es gibt - vielleicht haben Sie das in den letzten Jahren Ihrer Zugehörigkeit zum Parlament noch nicht mitbekommen - seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit nur einen einzigen Vertreter von höheren Lohnnebenkosten: Das ist die amtierende Bundesregierung mit ihrer falschen Politik,
die notwendigen finanziellen Konsequenzen aus der Einigung weitgehend der Sozialversicherung zu übertragen. Es gibt nur diesen, sonst keinen.
Man stelle sich nur einmal einen Augenblick lang vor, die Rentenversicherungsbeiträge lägen bei 18 statt bei 20,3 Prozent, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge bei 4,5 statt bei 6,5 Prozent. Kein ernstzunehmender Mensch würde vom vermeintlichen „Wettbewerbshemmnis Sozialversicherung" sprechen. Im Gegenteil: Die Systeme würden als so verläßlich und stabil gelten, wie sie immer waren und tatsächlich im Kern immer noch sind.
Nun höre ich - im Zusammenhang mit dem berechtigten Vorwurf an die Adresse der Koalition, sie sei der einzige Produzent von höheren Lohnnebenkosten - aus wirtschaftsnahen Kreisen, verstärkt durch die F.D.P.-Bundestagsfraktion, den Einwand, die 1,7 Prozent Pflegeversicherungsbeitrag hätten ja auch höhere Lohnnebenkosten bewirkt. Zudem habe die SPD dem zugestimmt. Mit Verlaub, meine Damen und Herren von der F.D.P.: Die Pflegeversicherungsbeiträge sind für die Unternehmen keine Lohnnebenkosten. Die Pflegeversicherungsbeiträge werden ausschließlich von den Arbeitnehmern gezahlt. Haben Sie das schon vergessen?
Der formale Beitragsanteil der Unternehmen wird durch die Arbeitnehmer in Form eines zusätzlichen Arbeitstages nach Abschaffung des Buß- und Bettages kompensiert - auf deutsch: ausgeglichen. Haben Sie das auch schon vergessen?
Wer also, wie wirtschaftsnahe Kreise und die F.D.P.-Bundestagsfraktion, darüber fabuliert, man könne den Überschuß der Pflegeversicherung von 8 Milliarden DM, der übrigens von Anfang an gewollt war, zur Senkung von Lohnnebenkosten gebrauchen - sprich: zur Senkung der Pflegeversicherungsbeiträge -, der will sich an Geld vergreifen, das ihm gar nicht gehört. Das ist für die F.D.P. übrigens typisch.
Das wäre ja noch schöner: Die Arbeitnehmer finanzieren ihre Pflegeversicherung selbst, erzielen dabei einen Überschuß und sollen ihn zur Belohnung zur Hälfte an die Arbeitgeber abgeben, die sich von Anfang an geweigert haben, auch nur eine müde Mark Beitrag in die Pflegeversicherung zu zahlen. Soweit kommt es noch.
Nein, meine Damen und Herren, wer die Lohnnebenkosten wirklich senken will, der kann sich nicht trickreich aus der Geldbörse anderer bedienen, sondern der muß dem Gesetzesvorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmen, der heute zur Abstimmung steht. Es ist zwar richtig: Dieser Vorschlag
Rudolf Dreßler
wurde mit der Stimmenmehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Vermittlungsausschuß beschlossen. Wenn es in der Koalition einige geben sollte, die es schaudert, wenn sie einem sozialdemokratischen Vorschlag zustimmen sollen, so kann ich Sie beruhigen - deshalb wiederhole ich es -: Dieser Vorschlag, der heute hier zur Abstimmung steht, ist Fleisch vom Fleische der CDU.
Soweit es sich um die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge und deren Finanzierung durch eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Punkt handelt, stammt der Vorschlag wortwörtlich, bis zum Semikolon, von Herrn Blüm. Soweit es sich um die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages und die Mineralölsteuererhöhung handelt, entspricht er dem Geist und Gehalt nach exakt jenem Vorschlag, den Herr Schäuble vor fast zwei Wochen in Ingolstadt gemacht hat.
Die Opposition in diesem Hause hat nun mit ihrem Mehrheitsbeschluß im Vermittlungsausschuß dafür gesorgt, daß die CDU über ihre eigenen Vorschläge endlich auch im Parlament abstimmen darf.
Wenn diese Abstimmung so ausgeht, wie sie in den Vorstandsgremien der CDU ausgegangen wäre, hätte CDU-Vorsitzender Kohl eine Abstimmung durchführen lassen, dann wäre die Senkung der Lohnnebenkosten heute perfekt.