Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im fünften Buch des Werkes „Wilhelm Meisters Lehrjahre" erteilt uns Goethe folgenden Rat: Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und - wenn es möglich zu machen wäre - ein vernünftiges Wort sprechen.
Also, Herr Kollege Scharping, lassen Sie uns ein vernünftiges Wort sprechen!
- Wir haben Ihnen ruhig zugehört. Der Ratschlag ist nicht schlecht, obwohl es schwerfällt - wie wir gerade gehört haben -, ein vernünftiges Wort zu sprechen. Jetzt wollen wir es einmal versuchen.
Sie haben mich zitiert, und Sie stellen falsche Behauptungen auf. Ich möchte Sie bitten: Nehmen Sie das zurück! Bringen Sie die Sache in Ordnung! Unterstellen Sie mir nicht, ich würde hier gegen meine Überzeugung abstimmen! Diese Unterstellung ist nicht in Ordnung. Lassen Sie sie bleiben!
Ich stimme so ab, wie es mir mein Gewissen gebietet, und nicht anders. Um Ihnen zu gefallen, werde ich nicht das Gegenteil tun. Das war der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: An einer Stelle waren Sie nahe dran, die Wahrheit zu streifen.
Ich will Ihnen genau sagen, wo. Ich habe gesagt:
Wenn wir eine Strukturreform bei der Rentenversicherung und bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer zustande bringen würden, dann wäre ich persönlich dafür - ich habe ausdrücklich gesagt, daß das meine persönliche Meinung ist und daß sie nicht abgestimmt ist -, die Reform trotz der Meinungsverschiedenheiten nicht scheitern zu lassen.
Sie haben gesagt: Wenn man auf diesen Vorschlag eingegangen wäre, hätte man bei der Steuerreform vielleicht etwas erreichen können. - Wir haben aber gar nichts erreicht. Die Haltung der SPD war nach meinem Vorschlag zunächst nicht geschlossen, aber am Ende völlig klar: Es gibt unter gar keinen Umständen eine Strukturreform bei der Einkommen-und Körperschaftsteuer. Das ist die Wahrheit.
- Es mag ja sein, daß Sie sich bemüht haben. Es mag sein, daß sich einige Ministerpräsidenten im Vermittlungsausschuß bemüht haben, etwas zu erreichen.
Aber es ist ganz sicher so gewesen - so jedenfalls haben mich meine Freunde aus dem Vermittlungsausschuß unterrichtet -, daß der Abgeordnete aus Uelzen - um Herrn Schröder zu zitieren -, der noch nie seinen Wahlkreis gewonnen hat, schon frühzeitig den Antrag gestellt und immer mit Lafontaine telefoniert hat, damit nur ja nicht die Gefahr besteht, daß es im Vermittlungsausschuß eine Bewegung hin zur Einigung gibt. So ist die Wahrheit.
Sie haben auch in Ihrer Rede hier wiederum lediglich den Vorschlag der Umfinanzierung gemacht. Etwas anderes ist Ihnen nicht eingefallen: Steuern erhöhen, um den Sozialversicherungsbeitrag zu senken.
Man kann ja in der Frage der Mineralölsteuer unterschiedlicher Meinung sein; das ist doch nicht so aufregend. Aber unsere Position war immer - ich habe das von dieser Stelle aus schon oft gesagt -: Eine Umfinanzierung kann nicht der Ersatz für eine Strukturreform sein. Sie kann nur dazukommen.
Das ist der Unterschied zwischen additiv und alternativ. Sie wollen an Stelle einer Strukturreform bei der Sozialversicherung wie bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer nur eine Umfinanzierung. Das ist völlig unzureichend.
Das ist die gemeinsame Position aller Mitglieder der CDU und der CSU und, wie ich vermute, auch der F.D.P., also der Koalition als Ganzes.
Dr. Wolfgang Schäuble
Sie haben übrigens nur das Vermittlungsergebnis von Anfang August noch einmal vorgelegt. Neues ist Ihnen nicht eingefallen.
- Aber Sie haben doch gesagt, es wäre Bewegung möglich gewesen. Die Bewegung ist jedenfalls in dem Vermittlungsergebnis, das Sie durchgesetzt haben, nicht zu erkennen, sondern das ist die reine Blockade.
- Das Thema dieser Debatte ist doch mehr Beschäftigung in Deutschland. Lassen Sie uns doch ernsthaft über die Argumente und die Alternativen auseinandersetzen.
Ich glaube, es ist in Deutschland inzwischen unbestritten - diese Erkenntnis setzt sich im übrigen auch bei Ihnen zunehmend durch -, daß wir ohne strukturelle Reformen unseres Einkommen- und Körperschaftsteuerrechts und unserer Systeme sozialer Sicherung nicht mehr Beschäftigung in Deutschland erreichen. Deswegen ist die Blockade dieser Reformen falsch.
Deshalb können Sie sie nicht mit der Umfinanzierung überdecken oder durch sie ersetzen, sondern diese kann nur zusätzlich hinzukommen.
Im übrigen hat Ihnen der Bundesfinanzminister gerade angekündigt, daß wir nächste Woche den Gesetzentwurf einbringen, um den Rentenversicherungsbeitrag um einen Prozentpunkt senken zu können. Dem können Sie dann zustimmen. Wenn Sie weitere strukturelle Reformen mittragen wollen: Im federführenden Ausschuß ist gerade die Renten-strukturreform verabschiedet worden. Nächste Woche werden wir hier darüber debattieren und sie verabschieden. Nur, wenn Sie glauben, es könne alles so bleiben, wie es ist - die Staatsquote müsse nicht verändert werden; sie wird durch Umfinanzierungsmodelle nicht verändert -, dann haben Sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt und dann sind Sie unfähig, Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung in Deutschland zu erreichen.
Daß Sie das inzwischen zunehmend selbst erkennen, wird doch daran sichtbar, daß der SPD-Vorsitzende Lafontaine vor einiger Zeit gesagt hat - nachdem er bisher gesagt hat, man brauche den Spitzensteuersatz überhaupt nicht zu senken, weil er glaubt, Neid sei ein wirkungsvolles Stimulans -, man solle wenigstens einen Mindeststeuersatz von 15 oder 20 Prozent für alle Steuerpflichtigen einführen. Das ist nun das Gegenteil einer sachlich richtigen Steuerpolitik. Sie, Herr Kollege Scharping, haben doch in der vergangenen Woche gesagt, man solle nun schnell einen Gesetzentwurf machen, um Steuerschlupflöcher zu schließen. Um Himmels willen, warum haben Sie ihn denn im Vermittlungsverfahren verhindert?
Der Unterschied ist doch sehr einfach. Wir haben gesagt: Steuerschlupflöcher schließen, um Steuersätze zu senken. Sie haben das verhindert und sagen jetzt: Steuerschlupflöcher schließen, ohne Steuersätze zu senken. Ein paar Tage danach sind Sie ja zurückgepfiffen worden. Das sind merkwürdige Sitten; Herr Hörster, das fangen wir bei uns nicht an, das ist klar.
Ich habe die Agenturmeldung vom 1. Oktober vorliegen, daß die SPD vorerst keinen eigenen Entwurf zu einem Gesetz zur Schließung von Steuerschlupflöchern vorlegen wird, wie es der Fraktionschef Scharping in der vergangenen Woche angekündigt hatte,
weil der Fraktionsgeschäftsführer Struck am Mittwoch erklärt hat, dazu müßten die Vorstellungen der SPD in diesem Bereich konkretisiert werden. Dazu seien aber noch Beratungen im SPD-Präsidium und mit den SPD-regierten Ländern notwendig.
Dazu braucht man doch gar nichts weiteres zu sagen. Es ist doch klar: Auch dies wird Lafontaine blokkieren. Das besagt die Erklärung von Struck; so einfach ist das.