Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, die Arbeitslosigkeit, die Millionen Menschen in Deutschland betrifft, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, der Mangel an Ausbildungsplätzen - das alles erfordert eine seriöse, eine solide, eine zukunftsträchtige Politik. Zu der sind Sie nicht fähig.
Der Vermittlungsausschuß kam in Fragen der Steuerreform zu einem Ergebnis, und dieses Ergebnis lautet: Zunächst sollen die Lohnnebenkosten sinken, soll man die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung von Aufgaben befreien, die nicht durch Beiträge zu finanzieren sind. Wir waren der Auffassung, daß dies auch auf Zustimmung der Koalition treffen könnte.
Zum Beispiel hat der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion am 8. September 1995, also vor zwei Jahren, im Deutschen Bundestag gesagt:
Deswegen halte ich die Vorschläge der SPD, die ich zwischenzeitlich genau gelesen habe, für eine sehr gute Anregung zu einer sachgerechten Diskussion. Man muß ja auch einmal loben, wenn etwas lobenswert ist, auch wenn es von der Opposition kommt.
Herr Kollege Solms, Sie werden heute gegen Ihre damalige Bekundung im Deutschen Bundestag - ob sie Ihrer Überzeugung entsprach, lasse ich offen - stimmen und das ablehnen, was dringend erforderlich ist, nämlich die Entlastung von Arbeitseinkommen, Arbeitsplätzen und Betrieben, die Menschen beschäftigen.
Dieses Ergebnis des Vermittlungsausschusses mit einer Senkung des Rentenversicherungsbeitrages und des Arbeitslosenversicherungsbeitrages um einen Prozentpunkt, was einer Entlastung von 30 Milliarden DM entspricht, wird vom Bundesarbeitsminister abgelehnt werden, von dem jeder weiß und von
Rudolf Scharping
dem jeder nachlesen kann, daß er dieses Konzept für richtig und für notwendig hält. Auch der Bundesarbeitsminister wird heute gegen seine Überzeugung in namentlicher Abstimmung ein Konzept ablehnen, das er selbst seit einigen Monaten mit der SPD gemeinsam vertreten hat.
Dasselbe trifft für viele andere aus der Koalition zu, nicht zuletzt für den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der CDU/CSU. Herr Kollege Schäuble, ich habe Ihren Vorschlag einen Tag vor der Wahl in Hamburg für die Möglichkeit gehalten, endlich etwas zu tun in den Fragen, in denen wir ganz offenkundig einer Meinung sind. Ich war der Auffassung, dieser Vorschlag bietet eine Chance, möglicherweise auch in anderen Fragen zur Einigung zu kommen, jedenfalls dort, wo gemeinsame Auffassungen bestehen. Sie werden heute gegen Ihre eigene Überzeugung Ihren eigenen Vorschlag in namentlicher Abstimmung ablehnen, der einen Weg hätte öffnen können. In dieser Situation der sozialdemokratischen Opposition Blockade vorzuwerfen ist heuchlerisch. Das hat nur mit Ihren Denk- und Handlungsblockaden zu tun, mit sonst nichts.
Im übrigen - auch darauf darf ich Sie aufmerksam machen, Herr Bundesfinanzminister - konnte man vor wenigen Tagen in der „Frankfurter Rundschau" einen Bericht lesen, wonach sich Finanz- und Umweltminister aus elf europäischen Staaten - übrigens auch die deutsche Umweltministerin - auf ein Konzept verständigt haben, das besagt: Die Kosten für Arbeit müssen sinken. Die Lohnnebenkosten müssen sinken. Finanziert werden muß das durch eine Verteuerung der Ressourcen, die zur Zeit zu preiswert sind und deswegen manchmal auch verschleudert werden.
Wie können Sie hier mit europäischen Entwicklungen argumentieren, wie können Sie eigentlich vertreten, daß Ihre Umweltministerin auf europäischer Ebene ein Konzept vertritt, das Sie hier im Deutschen Bundestag als unvernünftig denunzieren? Jeder weiß: Wenn es nicht zu einer Entlastung der Arbeitseinkommen und nicht zu einer Entlastung der Betriebe kommt, wird sich die Arbeitslosigkeit eher erhöhen, als daß sie endlich abgebaut wird - was die wichtigste Aufgabe deutscher Politik ist.
Das alles ist seit Jahren notwendig, seit Jahren bieten wir es an, seit Jahren wird es abgelehnt. Jeder weiß, daß hier im Deutschen Bundestag eine ganze Reihe von Mitgliedern sitzen, die gegen ihre eigene Überzeugung stimmen werden, weil sie nicht anders dürfen.
Was hier stattfindet, ist der Sieg der Koalitionsräson, vorgegeben von der F.D.P., über den sozialen Charakter der Volkspartei CDU/CSU.
Sie ruinieren sich selbst - und das dann auch konsequent.
Seit Jahren ist notwendig, seit Jahren bieten wir an und seit Jahren wird von Ihnen abgelehnt, eine wirksame Steuerreform durchzuführen, Schlupflöcher zu schließen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu entlasten, Familien mit Kindern und den Betrieben, die ausbilden oder in neue Arbeitsplätze investieren, zu helfen.
Sie haben ein Gesetz mit neuen Löchern im Umfang von 45 Milliarden DM in den öffentlichen Haushalten verabschiedet.
Jetzt - das macht die ganze Unglaubwürdigkeit Ihrer Politik deutlich - müssen Sie zu einem Buchhaltertrick greifen, um wenigstens die Senkung des Solidaritätszuschlages zu finanzieren. Wenn es überhaupt eines Beweises bedurft hat, daß Sie niemals an die Seriosität, niemals an die Finanzierbarkeit, niemals an die Durchsetzbarkeit Ihrer sogenannten Steuerreform glaubten, dann haben Sie ihn angetreten. Denn wer 20 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt herausreichen will und dann Tage braucht, um zu einem so windigen Ergebnis von 6,5 Milliarden DM zu kommen, der verliert jede Glaubwürdigkeit. Sie wissen das ganz genau.
Nun haben Sie sich auf eine Methode verständigt, zu der ich gleich etwas sagen werde. Es ist ja wirklich erkennbar, daß die Erleichterung bei Ihnen größer ist als die sachliche Überzeugung.
Aber wie wird diese Erleichterung denn bezahlt? Welche Wirkungen entstehen daraus? Ich finde zu diesem Fall in der Wochenzeitung „Stern" eine interessante Tabelle, aus der hervorgeht: Wenn der Solidaritätszuschlag sinkt - wie Sie es uns vorschlagen -, wenn gleichzeitig das steuerfreie Existenzminimum steigt und der Rentenversicherungsbeitrag, wie wir fürchten müssen, auf 20,8 Prozent angehoben wird und der Krankenkassenbeitrag auch - das sind die Folgen Ihrer Politik -, dann hat das folgende Wirkungen: Wenn jemand 5000 DM verdient, verheiratet ist und zwei Kinder hat, verliert er monatlich 6 DM; wenn jemand 8000 DM verdient, verheiratet ist und zwei Kinder hat, verliert er monatlich 14 DM; wenn jemand 10000 DM verdient, verheiratet ist und zwei Kinder hat, verliert er monatlich 35 DM; wenn er 20 000 DM verdient, verheiratet ist und zwei Kinder hat, gewinnt er 44 DM; wenn er 100 000 DM verdient,
Rudolf Scharping
verheiratet ist und zwei Kinder hat, gewinnt er 891 DM. Sie machen erneut Finanzpolitik gegen die Massenkaufkraft, die Binnenkonjunktur, gegen die soziale Gerechtigkeit, gegen die Familien und gegen Kinder.
In der Politik soll man ja immer auf alles schauen, wie ich gelernt habe: Dieses Ergebnis tritt ein, weil Sie nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu den Lohnnebenkosten zu treffen. Wenn Sie dazu in der Lage wären, könnte das zu einer Entlastung von Familien mit Kindern und der Normalverdiener beitragen und übrigens auch der Konjunktur in Deutschland helfen.
Nun kommt der Bundesfinanzminister und sagt, er habe die Tilgung gestreckt. Er redet von erschließbaren Chancen und davon, daß er Forderungen verkauft.
Er verhält sich wie ein Taschenspieler, dem nichts Besseres einfällt, als seinen Gläubigern zu sagen: Entschuldigt bitte, seit Jahren führt meine Politik, führt meine Arbeit zu keinem vernünftigen Ergebnis; ich bitte sehr um Verständnis dafür; setzt die Tilgung aus. Was jedem Menschen im seriösen Geschäftsleben als schwerer Mangel anhängen und seine Kreditwürdigkeit und Seriösität beeinträchtigen würde, verkaufen Sie uns hier als Erfolg. Das ist unglaublich.
Ich habe Ihnen ja schon mit der Darstellung der Tabelle aus dem „Stern" vom 1. Oktober demonstriert, wem diese Politik dient. Jetzt will ich sagen, wem sie schadet. Wie können Sie, die Christlich-Demokratische Union, eigentlich Tilgungsaussetzungen verantworten? Diese sind ja zu einem regelrechten Instrument geworden. Wir erinnern uns: Auch beim Eisenbahnvermögen haben Sie schon einmal die Tilgung ausgesetzt, um Ihren Haushalt über die Runden zu bekommen. Wie können Sie glauben, daß ein verantwortungsbewußter Mensch dem zustimmt, wenn Sie doch den zukünftigen Generationen, das heißt den Kindern, die Folgen Ihrer Politik hinterlassen, denen heute sich zu stellen Sie den Mut nicht haben?
Wem sind denn Ihre „erschließbaren Chancen" er-schließbar? Ist dieses vertretbar? Nein, es ist nicht vertretbar, daß Sie Menschen mit einem hohen Einkommen - es sei ihnen gegönnt - eine Steuererleichterung zuschanzen und diese Steuererleichterung dann in Zukunft von den jetzigen Kindern bezahlen lassen. Das ist zukunftsfeindliche und unseriöse Politik zugleich.
Da kommen Sie und reden von erschließbaren Chancen, Forderungen verkaufen, Tilgungen strecken. Was bringt denn das für die Arbeitsplätze, den Konsum und die Massenkaufkraft in Deutschland? Glauben Sie denn im Ernst, daß Menschen wie der Bundeskanzler oder ich oder andere auf Grund der jetzigen Senkung des Solidaritätszuschlages etwas für die Kaufkraft in Deutschland tun?
Vielleicht eine Lasagne oder eine Pizza mehr, ein Fahrradschlauch oder sonst irgend etwas. Aber es ist doch einfach lachhaft, zu behaupten, daß dies der Massenkaufkraft zugute kommt.
Sie machen erneut eine Politik der Umverteilung. Sie wird wieder zu Lasten von Arbeitsplätzen gehen. Sie beschädigen Chancen. Sie müssen doch eines sehen: Es kann mit dieser Politik nicht gelingen, neues Wachstum mit Einnahmen des Staates auf der einen und neuen Arbeitsplätzen auf der anderen Seite zu verknüpfen. Nein, hier wird vom Herrn Bundesfinanzminister - ich räume ein: mit einer gewissen Erleichterung - der Sieg der F.D.P. über das Prinzip der Vernunft und der Seriosität dargeboten.
Mit dieser Politik „Operation Goldfinger Nr. 2"
wird erneut eines demonstriert:
Wenn es um die Wahlchancen des Herrn Bundeskanzlers geht, dann wird er wie in der Vergangenheit auf die F.D.P. setzen, auch um den Preis, daß die Seriosität und die Glaubwürdigkeit der CDU darunter leiden.
Das geschieht schon heute.
Ich muß Ihnen sagen: Mit dieser Finanzpolitik der Taschenspielertricks, die immer neue Löcher aufreißt, um alte zu stopfen, die immer nur eine bestimmte Gruppe in der Bevölkerung bedient, für die große Mehrheit des deutschen Volkes aber nichts mehr tut, werden Sie scheitern. Man kann nur hoffen, daß Deutschland 1998 in einem Zustand ist, der die Aufgabe nicht zu schwer macht, dieses Land wieder in eine vernünftige Zukunft zu führen.
Rudolf Scharping
Ihre Politik belastet, wie es in der Vergangenheit schon der Fall war, die Zukunft. Sie ruiniert Arbeitsplätze, sie enttäuscht die Familien, sie bürdet den Kindern Zukunftslasten auf, die untragbar sind. In der Summe gefährdet sie die Zukunft unseres Landes. Wir lehnen diese Politik ab. Wir werben dafür, daß endlich wieder Politik für die breite Mehrheit des deutschen Volkes und für seine gute Zukunft gemacht wird. Sie sind dazu unfähig. Dafür haben Sie heute erneut einen Beweis angetreten.