Rede von
Werner
Schulz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Der Geschäftsordnungsbeitrag von Gregor Gysi hinsichtlich der Vertrauensfrage hat deutlich gemacht, wie sehr der Kanzler schon auf die Unterstützung der PDS angewiesen ist.
- Natürlich! Es ist die letzte große Möglichkeit, hier aufzutreten, sich das Vertrauen aussprechen zu lassen.
Dieser Antrag ist absurd. Er ist unpolitisch. Solch einen Antrag stellt man, wenn man eine Mehrheit im Hause hat; dann wäre das gerechtfertigt.
Aber es ist doch völlig klar, daß die Koalition gerade in dieser zerbrechlichen Situation - -
- Sie saßen die ganze Nacht zusammen; Sie müssen hier unterbrechen, um sich wieder zusammenzusetzen, um den Kanzler zu stützen. Das ist das letzte, was Sie haben. Das letzte ist der große Aufzug von Helmut Kohl.
Es geht hier aber um etwas anderes. Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit liegt vor. Die Intention, die der Bundestag mit seinem Beschluß im Mai letzten Jahres verfolgt hat, war, daß wir diesen Bericht hier in einer großen Debatte auswerten, so wie das früher üblich war - ich habe das im Ostteil Deutschlands im Fernsehen immer bewundert -; viele von Ihnen haben daran teilgenommen. Es hat bis 1989 die Tradition gegeben, daß man hier zur Lage der Nation gesprochen hat, zur Lage der Nation im geteilten Deutschland. Jetzt sollten wir zur Lage der Nation im vereinten Deutschland sprechen,
gerade wegen der globalen Herausforderungen und auch im Zuge der europäischen Integration. Das ist ganz wichtig. Das war immer Chefsache. Da hat man niemanden vorgeschickt.
Wenn man sich als Kanzler der Einheit feiern läßt, als Architekten der deutschen Einheit - und was weiß ich nicht alles -, dann hat man auch die Verantwortung, zum Bauverlauf und zum Zustand dieses Projektes hier Rede und Antwort zu stehen.
Ich will das hier nicht polemisch fassen
- vielleicht ein klein bißchen -: Ich habe großes Verständnis, wenn vor der großen Kabinettsumbildung dem Bundeswirtschaftsminister noch einmal Gelegenheit gegeben wird, eine Regierungserklärung ab-
Werner Schulz
zugeben. Aber eigentlich ist das Sache des Kanzlers. Ich habe das Gefühl - und werde es nicht los -, daß dieser legendäre Zug zur deutschen Einheit in einem Verschiebebahnhof gelandet ist und daß wir nicht nur Debatten, sondern auch Reformen verschieben.
Seit 1982 redet der Kanzler davon, daß er den liberalen und sozialen Reformstau auflösen möchte. Dieser Reformstau ist in aller Munde, aber leider nicht in der praktischen Auflösung.
Den Problemstau, den wir heute haben, hatten wir schon 1989 in der alten Bundesrepublik. Daran krankt ja auch der Osten Deutschlands, daß sich dieser Problemstau verschärft und zugespitzt hat. Über dieses Problem sollten wir reden. Man sollte sich der Aussprache stellen und nicht nur feierliche Reden halten. Ich kann ja verstehen, daß man erst einmal mit Bush und Teufel feiern möchte und vor seiner eigenen Festansprache keine Zwischenrufe und keine Kritik verträgt. Aber man sollte nicht so empfindlich sein, daß man nicht in der nächsten Woche die Debatte hier im Hause führen will.
Ob heute oder in der nächsten Woche ist uns im Grunde genommen egal. Wichtig ist, daß der Kanzler in dieser Frage, die Chefsache ist, spricht.
Wir sollten unsere eigenen Beschlüsse ernst nehmen und große Themen nicht herunterspielen und kleinreden lassen. Hier geht es auch um die Vorbildwirkung von Politik und darum, welche Ausstrahlung dieses Parlament noch hat und ob wir den eingeschlafenen deutsch-deutschen Diskurs noch einmal in Gang bringen. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir hier in der nächsten Woche eine große Debatte erleben.