Rede von
Helmut
Jawurek
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der jetzt vor uns liegende Zwischenbericht der Enquete-Kommission dokumentiert, wie ich meine, sehr gut die von uns bisher geleistete Arbeit, die sehr umfangreich war und die wir in einem Jahr bewältigt haben.
Eine abschließende Bewertung enthält der Bericht natürlich nicht. Unsere Handlungsempfehlungen und Stellungnahmen zeigen aber doch eindeutig - ich glaube, das ist auch in dieser Debatte deutlich geworden -, in welcher Hinsicht wir bereits heute Regelungs- und Handlungsbedarf sehen.
Wir haben heute Fragen des Verfassungsschutzes, mögliche physische Manipulationen und wirtschaftliche Betätigungsfelder, besonders aber die Situation von Kindern und Jugendlichen in Sekten, worauf meine Vorrednerin bereits eingegangen ist, behandelt. Dieser letzte Themenbereich liegt mir besonders am Herzen.
In ihren Handlungsempfehlungen hat die Enquete-Kommission angeregt, Forschungen im Bereich „Kinder in sogenannten Sekten und Psychogruppen" künftig verstärkt zu fördern. Experten haben in den verschiedenen Anhörungen zu diesem Thema immer wieder beklagt, daß es da erhebliche Forschungsdefizite gibt.
Wir haben festgestellt, daß in Deutschland 100 000 bis 200 000 Kinder und Jugendliche in solchen Gruppierungen leben. Da tauchen Probleme verschiedenster Art auf: körperliche Gewalt, sexuelle Ausbeutung, Angsterzeugung, soziale Ausgrenzung. In der Regel müssen sich die Kinder und Jugendlichen bei einem Ausstieg aus diesen Gruppierungen auch gegen ihre Familie entscheiden, und zwar dann, wenn die Familie dieser Gruppierung noch angehört. Der Forschungsstand zu diesem Problemfeld ist äußerst unbefriedigend, auch in der Literatur.
Es muß ein wesentlicher Unterschied beachtet werden: Kinder kommen über ihre Eltern zu solchen Gruppierungen, Jugendliche sind meist selbst aktiv. Sie suchen neue Dimensionen des Lebens; sie wollen bewußt neue Erfahrungen machen. Hier müssen wir die Aufklärung dringend verstärken. Ein Ausstieg ist für Kinder und Jugendliche schwieriger als für Erwachsene, da sie auf Grund der Erziehung in der Gruppe zu sehr an diese gebunden sind.
Mein Kollege Kohn hat das Fallbeispiel Sant Thakar Singh bereits vorgestellt. Bei der Anhörung war ich beeindruckt von der eindringlichen Schilderung der Mutter über das jahrelange Leben mit ihrem zweijährigen Kleinkind und später mit einem Säugling in dieser Gruppe. Uns allen - parteiübergreifend - ist spätestens da klargeworden, daß hier ein riesiger Handlungsbedarf besteht, der mit den bisherigen rechtsstaatlichen Mitteln so gut wie überhaupt nicht gedeckt werden kann.
Zum psychologischen Hintergrund. Es fehlen Langzeitstudien über die Lebensläufe der Kinder, die den Zusammenhang von Gruppenzugehörigkeit und Erfolg bzw. Scheitern im weiteren Verlauf des Lebens aufzeigen.
Helmut Jawurek
Kinder haben weniger Erfahrungen, an denen sie das Erlebte messen können; sie haben keine Vergleichsmöglichkeiten, keine entsprechenden Wertmaßstäbe. Sie haben weniger Ich-Stärke und eine engere Bindung an die Personen in der Gruppe. Da ist ein Vertrauensmißbrauch natürlich leicht.
Auf den juristischen Hintergrund hat meine Vorrednerin bereits hingewiesen: daß insbesondere im Familienrecht, bei den Rechtsanwälten noch sehr großer Aufklärungsbedarf besteht.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, liebe Kollegin Köster-Loßack, den Beschluß der Innenministerkonferenz vom 5. Juni: Beobachtung von Scientology durch den Verfassungsschutz. Ich begrüße insbesondere die Initiative der Bayerischen Staatsregierung und des bayerischen Innenministers, die hier mustergültig waren.
]: Baden-Württemberg
nicht zu vergessen!)
Meiner Meinung nach ist zu bedauern, daß noch nicht alle Bundesländer ihrem eigenen Beschluß von damals gefolgt sind. Ich hoffe, daß auch SchleswigHolstein noch nachzieht.
Wir alle sind gefordert, den Ausstieg der Menschen aus diesen Gruppierungen zu erleichtern. Wir müssen überprüfen, ob die Sozialversicherungsbeiträge wirklich abgeführt worden sind, ob die Regelungen des Arbeits- und Gesundheitsrechts eingehalten werden. Ich denke, daß der 12-Punkte-Katalog Bayerns ein wichtiger, wegweisender Schritt ist.
Wir müssen dem Mißbrauch auf dem Gebiet der gewerblichen Lebenshilfe entgegentreten. Der aktuelle Gesetzentwurf zum Beispiel Hamburgs, in den bewußt auch das Strafrecht und die Strafverfolgung hineingenommen wurden, ist in meinen Augen dafür eine ausgezeichnete Basis. Ich hoffe, daß er auch bald verabschiedet wird.
Ich persönlich finde es positiv, daß verschiedene Bundesländer auf unterschiedlichsten Gebieten immer wieder tätig werden, zum Beispiel heute auch die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern im Bundesrat,
die im Hinblick auf Scientology von der Bundesregierung neue Initiativen fordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war für mich schon beeindruckend, wie wir uns am Schluß, als wir um den Endbericht gerungen haben -11 Politiker unterschiedlichster Fraktionen und 11 Wissenschaftler mit unterschiedlichstem Background -, bemüht haben, einen Konsens zu finden und einen gemeinsamen Abschlußbericht vorzustellen. Ich bedaure, daß die Grünen dem Bericht nur „fast völlig" zustimmen können - aber immerhin.
Wir werden nächstes Jahr, in einem Wahljahr, den Schlußbericht vorstellen. Ich hoffe, daß es uns gelingt, aus ihm den Wahlkampf möglichst herauszuhalten. Denn ich glaube, Parteiengezänk ist das letzte, was wir in diesem hochsensiblen Politikfeld gebrauchen können.
Vielen Dank.