Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Offenbarungseid hat viele Vorboten. Manch Aufrichtiger versucht, ihn
Siegrun Klemmer
lange unter äußerster Anstrengung abzuwenden, und nimmt dazu Rezepte und Ratschläge auch von außerhalb des eigenen Lagers an. Im schlechtesten Fall steht am Ende das ehrliche Eingeständnis: Wir sind mit unserem Latein am Ende.
Frau Ministerin Nolte geht mit ihrem vorliegenden Entwurf für den Einzelplan 17 einen anderen Weg. Nach verheerenden Kürzungen im letzten Jahr soll nun ein Totstellreflex helfen, die chronische Misere der Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik über die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu retten. Anders ist es nicht zu interpretieren, daß die wichtigsten Ausgabetitel nominal dort eingefroren werden, wo sie schon zuvor einen einmaligen Tiefststand erreicht hatten. Wir haben in den letzten beiden Jahren bei der Einbringung des Haushaltes über genau die gleiche Misere am gleichen Ort debattieren müssen.
Allerdings, Frau Ministerin: Dieser Logik der neuen Genügsamkeit werden wir uns verweigern.
Wir bezweifeln das geflügelte Wort: „Wer schläft, sündigt nicht."
Wer den sozialen Wandel ein weiteres Jahr lang verschläft, Handlungsbedarf ausblendet und die überfällige Prioritätensetzung der vagen Hoffnung auf eine Verschnaufpause nach der Wahl unterordnen will, der arbeitet gegen die Menschen in unserem Land. Wer die alarmierenden Botschaften der freien Träger, die auch bei Ihnen gelandet sind, der Kirchen und vieler gesellschaftlicher Gruppen über neue Armut, Frustration und Zukunftsangst der bei ihnen Hilfesuchenden in den Wind schlägt und als Panikmache diffamiert, der handelt fahrlässig. Wer den Wind der sozialen Verwerfungen nicht spürt, wird den Sturm nicht bändigen können. Ich denke mir: Sie werden auch gar nicht mehr dazu kommen, diesen Sturm zu bändigen.
Konkret: Wer zu geringe Haushaltsansätze nominal fortschreibt, macht es nicht nur nicht besser, sondern macht es schlimmer.
Jede Preissteigerung vernichtet ungebremst letzte noch verbliebene Spielräume.
Ich habe hier vor einem Jahr festgestellt, daß der Einzelplan 17 nach den damaligen Kürzungen im Kern gar nicht mehr beratungsfähig war. Auch heute besteht die zu bewältigende Logik für uns Berichterstatter darin, dieser Bankrotterklärung mit jeder Erläuterung eines Einzelaspektes sozusagen durch die Hintertür die Etatreife zu bescheinigen.
Wo der Einzelplan durchgängig unterhalb der fachlich zu verantwortenden Ansätze angekommen ist, sehen sich die Haushälter auf Pfennigfuchser reduziert. 93,4 Prozent der Gesamtausgaben dieses Einzelplanes werden für Personal- und Sachkosten der Verwaltung und gesetzliche Leistungen veranschlagt. Interessant ist, was übrigbleibt: Um 120 Millionen DM sind die allgemeinen Bewilligungen seit 1996 zurückgegangen, also die Mittel, die für gestaltende Fachpolitik sowie für die Förderung der subsidiären Träger zur Verfügung stehen.
Wer erwartet hatte, Frau Nolte, daß Sie diesem Frontalangriff des Finanzministers auf Ihr Haus der Generationen Paroli bieten würden, der sah sich wieder mal bitter enttäuscht. Statt dessen hat Theo Waigel Ihr Haus sozusagen in einer feindlichen Übernahme unter seine Ägide gebracht.
Eine Studie der beiden größten Wohlfahrtsverbände bringt das Versagen dieser Politik auf den Punkt. Unter den problembeladenen Menschen, die die sozialen Dienste von Caritas und Diakonie, vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, in Anspruch nehmen, sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung - das wundert uns eigentlich schon gar nicht mehr - mehr junge Menschen, mehr Frauen, mehr Alleinerziehende. Einen überzeugenderen Beleg für das Scheitern der Jugend-, Frauen- und Familienpolitik kann es gar nicht geben.
Der Jahresbericht 1996 der Bundesregierung wiederholt gebetsmühlenartig die zentrale Rolle der Familienförderung innerhalb des Aufgabenkatalogs von Frau Nolte. Die Frau Ministerin hat es hier eben nochmals als ihre Herzensangelegenheit bezeichnet, Familien zu fördern. Doch welche Familie kann das noch glauben, wenn sie hört, was Sie hier heute vorgetragen haben?
Der rituelle Verweis auf den Familienleistungsausgleich soll den Eindruck erwecken, als habe die Bundesregierung hier ihre Hausaufgaben auf Jahre im voraus gemacht. Doch der Lehrplan hat sich geändert. Der Leistungsausgleich, selbst das von der SPD durchgesetzte erhöhte Kindergeld, bleibt hinter den Erfordernissen zurück.
Es ist schon gesagt worden - ich will es wiederholen, weil es leider wahr ist in diesem reichen Land -: Kinder gelten mittlerweile als Armutsrisiko. Die reale Kaufkraft der Familien ist dramatisch erodiert. Dies gilt besonders für Ostdeutschland. Wieder sagen Caritas und Diakonie: Auf 10 Sozialhilfeempfänger kommen 17 verdeckt Arme. Besonders hoch ist der Anteil bei Haushalten mit mehreren Kindern.
Das Drama des Erziehungsgelds ist notorisch. Kollegin Hanewinckel hat bereits vorgetragen, daß sich seit 1996 nichts verändert hat. Ein wenig Bewegung in die Verhältnisse hat nun unser Insistieren gebracht; denn Frau Nolte hat sich des Themas bemächtigt und tönt öffentlich, eine Erhöhung der Einkommensgrenzen wäre erforderlich - immerhin. Gleichzeitig aber nickt sie am Kabinettstisch einen Beschluß ab, der Leistungsverbesserungen und damit auch die Anhebung der Einkommensgrenzen für
Siegrun Klemmer
den gesamten Rest der Legislaturperiode kategorisch ausschließt.
Frau Nolte, ich befürchte, nein, ich hoffe, diesen Fall von politischer Schizophrenie werden die Wählerinnen und Wähler für nicht therapiefähig halten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zu den Aussiedlern. Junge Aussiedler sind die Leidtragenden auch dieses Haushalts. Immer noch reduzieren sie sich für die Bundesregierung auf eine homogene kalkulatorische Größe in einer simplen Rechnung, die lautet: weniger Zuwanderer gleich weniger Ausgaben. Die Rechnung geht fehl.
Der Anteil der jungen Menschen innerhalb der Neubürger steigt. Gleichzeitig sinken bei den Spätaussiedlern tendenziell die Sprachkompetenzen sowie die Kenntnisse von Gesellschaft und Kultur. Vor allen Dingen kommen sie in einer Zeit, in der die Katastrophe des ersten Arbeitsmarktes ihre Integration in ein selbständiges Erwerbsleben so gut wie ausgeschlossen macht. Es liegt also auf der Hand, daß die staatlich finanzierten Beratungs- und Integrationsangebote auf keinen Fall analog der Zuwandererzahl zurückgefahren werden können.
Die globale Minderausgabe im Haushalt 1997 wurde in Höhe von 35 Millionen DM bei dieser Gruppe abgeladen, wahrscheinlich deshalb, weil man wußte, daß hier artikulierte Gegenwehr am wenigsten zu erwarten ist. Die erneute Kürzung von Betreuungs- und Beratungsaufwendungen um 4 Millionen DM sowie die Reduzierung des Garantiefonds um 20 Millionen DM ist daher für uns völlig inakzeptabel.
Der Bundeskanzler, damals noch Oppositionsführer, hat im Jahre 1980 mit politisch kalkulierter Entrüstung die Latte aufgelegt, an der er sich heute messen lassen muß. Er hat damals gesagt - die Damen und Herren der Regierungsparteien sollten zuhören -:
Eine Regierung, die einen Schuldenberg in dieser gigantischen Höhe auftürmt, muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht dabei ist, unserer Jugend das Recht auf ihre Zukunft zu nehmen und sich am Selbstbestimmungsrecht späterer Generationen zu versündigen.
Hört! Hört!, muß man da sagen. Angesichts der Bilanz Ihrer Regierungszeit müßte Ihnen eigentlich die Schamesröte ins Gesicht steigen.
1980 betrug die Neuverschuldung 27,6 Milliarden
DM. Im laufenden Haushalt 1997 sind es 71,2 Milliarden DM, und immer noch stehen zu Beginn des
neuen Ausbildungsjahres Zehntausende von jungen Menschen unversorgt auf der Straße. Das sind junge Menschen, Frau Nolte, von denen Sie hier vor 20 Minuten gesagt haben, daß Sie ihnen unbedingt Lebensperspektiven zur Verfügung stellen möchten.
Welche Folgen die hilflosen Appelle der Bundesregierung an die Wirtschaft haben, hat die Kollegin Hanewinckel ausgeführt. Ich will mir das wegen der Kürze der Zeit ersparen.
Die Shell-Jugendstudie hat nicht nur in bedeutender Klarheit diagnostiziert, daß die gesellschaftliche Krise die Jugend und bereits auch die Kinder erreicht und zu massiven Zukunftsängsten geführt hat. Sie hat auch eine erschreckende Entfremdung von den Institutionen der Demokratie aufgedeckt.
Wenn verdienstvolle Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International in der Gunst der jungen Menschen ganz oben rangieren, dann mag das zunächst optimistisch stimmen. Parlament, Regierung und Parteien jedoch am anderen Ende der Skala notiert zu sehen, verlangt nach einer Antwort.
Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, im Kinder- und Jugendplan des Bundes ausgerechnet bei der politischen Bildung sowie bei den Jugendverbänden eine Stagnation zu verordnen. Die demokratiestabilisierende Arbeit der Bildungsträger sowie die demokratische Selbstorganisation der Verbände werden damit endgültig in die Lähmung geführt.
Ihre Sonntagsappelle, Frau Ministerin Nolte, sollen vermuten lassen, daß es sich bei der immer schärferen Benachteiligung großer Gruppen unserer Gesellschaft sozusagen um eine Form höherer Gewalt handelt. Das ist falsch. Es dokumentiert nicht nur Ihre Hilflosigkeit, sondern leider auch Ihre Verantwortungslosigkeit.
Die Instrumente einer präventiven und ausgleichenden Familien- und Jugendpolitik liegen in Ihrer Hand. Nutzen Sie sie, und regieren Sie!
In der vorliegenden Fassung ist dieser Haushalt nicht nur ein Dokument für die fachpolitische Ratlosigkeit, sondern auch für Stillstand und Agonie der Koalition. „Nichts geht mehr" in Bonn, hat der „Spiegel" jüngst festgestellt. Dies gilt in besonderem Maße für die Querschnittaufgabe, für die Frau Nolte verantwortlich zeichnet.
Ich fordere Sie eindringlich auf, Frau Ministerin, dieses Zahlenwerk und damit Ihre gesamte Arbeitsgrundlage für 1998 zu überarbeiten. So werden wir diesen Regierungsentwurf nachdrücklich ablehnen.