Rede von
Christel
Hanewinckel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vielen Menschen in unserer Gesellschaft geht es gut. Aber es gibt Menschen, die Hilfe und Förderung brauchen und die einen Anspruch auf Chancengleichheit haben. Hierfür zu sorgen ist die zentrale Aufgabe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die SPD hat stets davor gewarnt, dieses Ressort zu einer Alibiveranstaltung verkommen zu lassen. Unsere Befürchtungen sind eingetreten. Es gibt kaum Fortschritte für die Zielgruppen dieses Ressorts, dafür aber an vielen Stellen Rückschritte.
Zur gegenwärtigen Lage. Die Bilanz der Jugendpolitik ist bedrückend. In der Shell-Studie steht: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht. Das größte Problem für die Jugendlichen ist die fatale Situation bei den Ausbildungsplätzen und die drohende Arbeitslosigkeit danach. Die Bundesregierung und die Wirtschaft tragen die Verantwortung dafür, daß für viele Jugendliche der erste Schritt ins Berufsleben mit der Arbeitslosigkeit beginnt.
Mit dem Schlagwort „Vorfahrt für die Jugend" ist es nicht getan. Niemand kann der Jugend Werte glaubhaft vermitteln, wenn die jungen Leute spüren müssen, daß man sie nicht für wertvoll hält, und wenn die Aktien höher im Kurs stehen als die Jugendlichen. So wird zunehmende Gewaltbereitschaft erklärbar. Aber nicht nur die Jugend nimmt Schaden; das schadet unserer Gesellschaft insgesamt und schmälert auch unsere wirtschaftlichen Perspektiven.
Die Reaktion der Jugendministerin darauf: Appelle und lautes Nachdenken, ob man die Vergabe von Aufträgen an Unternehmen an deren Ausbildungsbereitschaft koppeln sollte, - wie wir in der vorigen Debatte gehört haben - eine alte Forderung der SPD. Aber die Frau Ministerin ließ sich prompt vom Bildungsminister zurückpfeifen. Daß es nun doch eine Bevorzugung ausbildender Betriebe geben soll, hat das Kabinett beschlossen. Ich bin sehr gespannt, was am Ende dabei herauskommt.
Meine Damen und Herren, die Frauen fragen sich: Wann wird endlich die Ergänzung von 1994 in Art. 3 des Grundgesetzes umgesetzt? Tatsächlich werden nämlich die Frauen zunehmend aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt, müssen außerdem Einbußen bei der Rente und durch die Gesundheitsreform hinnehmen.
Die Familien schließlich tragen die Lasten der knappen Kassen, und die sogenannte Seniorenpolitik ist aus diesem Haus auf Herrn Blüm übergegangen.
Die Ministerin beteiligt sich an der Politik zu Lasten derer, die sie eigentlich zu vertreten hat. Schauen wir uns den Etat des Ministeriums und die Kompetenzen von Frau Nolte an, dann wird deutlich: Frau Nolte muß mithelfen, die Politik dieser Bundes-
Christel Hanewinckel
regierung zugunsten der Gutgestellten zu kaschieren; das ist ihre Hauptaufgabe.
- Sie werden gleich hören, wo das überall stimmt.
Die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zur Steuerreform sind eine familien- und frauenpolitische Nullnummer. Statt die Familien zu fördern, das Kindergeld, wie es notwendig wäre, auch 1998 zu erhöhen, wird weiterhin mit Milliarden die Hausfrauenehe subventioniert. Von Frau Nolte sind keine Gegenkonzepte und nicht einmal laute Proteste zu hören. Sie schweigt, wenn Familien, ältere Menschen, Frauen und Jugend benachteiligt werden, während die mit den dicken Taschen wie Hamster immer noch mehr erhalten.
Die Folgen lassen sich nicht mehr verdecken.
Die Armut in der Bundesrepublik und insbesondere in den neuen Bundesländern nimmt zu. Vor allem in den östlichen Bundesländern zeigt sich ein bedrückendes Bild. „Menschen im Schatten" - so haben die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie ihre Untersuchung vom Mai 1997 genannt. Schwarz auf weiß wird hier die alarmierende Situation in den neuen Ländern dokumentiert. Auch wenn der größere Teil der Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensbedingungen erreicht hat, muß eine rapide steigende Zahl von alleinerziehenden Frauen, Familien mit mehreren Kindern und jungen Menschen von Sozialhilfe leben. Sie bilden eine neue Schicht von entmutigten Menschen. Sie werden durch diese Bundesregierung hilfsbedürftig gemacht und damit aus der Gesellschaft ausgegrenzt.
Wie sieht es nun mit Frau Noltes Zusagen und Versprechungen aus? Frau Ministerin, zu Beginn dieser Legislaturperiode haben Sie zum Beispiel angekündigt, die Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld anzuheben. Sie wollten 1995 den Zustand von 1986 wieder erreichen. Damals, bei der Einführung des Erziehungsgeldes - ich erinnere Sie -, erhielten noch fast neun von zehn der jungen Eltern das volle Erziehungsgeld. Heute sind es höchstens noch vier von zehn. Nun legen Sie den Haushalt für 1998 vor, und es zeigt sich: In dieser Legislaturperiode werden die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld nicht erhöht werden; denn in diesem Titel ist nichts von Ihnen vorgesehen. Sie haben einen der wenigen Bereiche, in denen Sie eine Gesetzgebungskompetenz haben, einfach nicht genutzt.
Frau Ministerin, Sie haben außerdem in Ihrer Rede zum Haushalt 1995 öffentlich versprochen, Verbesserung beim Unterhaltsvorschuß für Alleinerziehende zu erreichen und für eine familienfreundliche Anpassung des Wohngeldes zu sorgen. Nichts davon haben Sie eingehalten. Heute reden Sie nur noch davon, Sie wollten mithelfen. Ich denke, Sie sind Ministerin und haben etwas zu entscheiden und zu sagen. Von „Mithelfen" kann dann nicht die Rede sein, wenn es darum geht, Veränderungen in diesem Lande wirklich herbeizuführen.
Ihr Argument - wer soll das bezahlen? - sticht einfach nicht. Bekämpfen Sie die immer unverschämtere Steuerhinterziehung, stopfen Sie endlich die Steuerschlupflöcher und beseitigen Sie vor allen Dingen die Steuerungerechtigkeit!
Sie werden dann Finanzmittel haben, um das Kindergeld zu erhöhen, um das Erziehungsgeld zu retten und um die Kinder von Alleinerziehenden finanziell zu sichern.
Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es Frau Nolte mehr an Ideen oder an Durchsetzungskraft mangelt.
Auch Ihr Haus scheint in dieser schwierigen Lage nicht helfen zu können. Jetzt veranstalten Sie wieder und wieder öffentliche Wettbewerbe, um zum Beispiel frauenpolitische Ideen an Land zu ziehen. Manchmal erinnert mich das an Zeiten der DDR, an die berühmte Messe der Meister von morgen.
Schmücken Sie sich nicht mit fremden Federn der familienfreundlichen Betriebe oder Gemeinden! Nehmen Sie die Feder in die Hand, schreiben Sie Ihren Haushalt neu! Oder noch besser: Geben Sie die Feder aus der Hand!
Mit Ideen kann Ihnen die SPD-Fraktion schnell und zuverlässig helfen. Daran ändern auch Ihre Sprüche von der Blockadepolitik nichts. Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch. Ich nenne nur als Beispiele: Elterngeld und Elternurlaub, eigenständige soziale Sicherung der Frau, Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, Umlagefinanzierung von Ausbildungsplätzen, Ausweitung der Frauenförderung auf die Wirtschaft und ein Renten- und Steuerkonzept, das Frauen und Familien nicht benachteiligt.
Aber Frau Nolte tut ja selbst dann nichts, wenn es nichts kostet. Sie machen nicht einmal den Versuch, durch konzeptionelle Sacharbeit in den eigenen Reihen etwas zu bewegen und öffentlich auch da zu überzeugen, wo es nichts kostet. Sie sind nicht bereit, mit uns zusammen die körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder zu ächten, wenn sie von Eltern ausgeht. Wie soll ein Kind eigentlich zwischen erlaubten und unerlaubten Schlägen und Bedrohungen unterscheiden können? Kämpfen Sie doch mit uns für ein Züchtigungsverbot! Das wäre eine we-
Christel Hanewinckel
sentliche Präventionsmaßnahme gegen die Gewalt in der Gesellschaft.
Beziehen Sie mit uns die geringfügig Beschäftigten in die Sozialversicherung ein! Betroffen sind vor allem Frauen, besonders die Frauen, die dank Ihres Arbeitsförderungsgesetzes keine Förderung mehr erfahren. Das wäre eine Maßnahme, die eine mittelbare Diskriminierung von Frauen unmittelbar beseitigen würde. Sie hätte vor allen Dingen den Charme, daß sie die Bundesregierung nichts kostet und hätte zudem den Vorteil, die notleidenden Kassen Ihres Kollegen Arbeitsministers etwas aufzubessern.
Die Behauptung, daß die Frauen ohne Sozialversicherung nur ein bißchen hinzuverdienen wollen, bleibt ein Märchen. Vielmehr haben sie oft überhaupt keine andere Wahl. Die Rechnung müssen sie dann später bezahlen, wenn sie durch die immer größer werdenden Löcher des sozialen Netzes fallen.
Zugegeben: Die Kompetenzen des Ministeriums könnten größer sein. Es gibt aber Bereiche, wo die Ministerin und die Bundesregierung bei sich selbst anfangen könnten. Aber noch nicht einmal das geschieht. Drei Jahre nach Inkrafttreten des Frauenfördergesetzes, das einstmals als Durchbruch in der Frauenförderung gefeiert wurde, haben noch immer nicht alle Bundesministerien einen Frauenförderplan, obwohl sie dazu verpflichtet wären. Ausgerechnet ihre Vorgängerin und Urheberin des Frauenfördergesetzes, Frau Merkel, hat noch keinen solchen Plan in ihrem jetzigen Ressort. Seit Inkrafttreten des Frauenfördergesetzes ist dort der Frauenanteil in den Leitungspositionen sogar gesunken. Auch im Amt des Herrn Bundeskanzlers, der gerne die Frauenförderung auf seine Fahnen schreibt, ist bis heute kein Frauenförderplan in Kraft.
Frau Ministerin, fordern Sie endlich die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung bei Ihren Kabinettskollegen ein! Ziehen Sie endlich die Konsequenzen aus den Erfahrungen, die Sie in den Ministerien und auch in Ihrer Partei machen mußten! Sie sind an der Reihe, und es ist an der Zeit, daß Sie endlich die Quote einführen; denn ohne Quote gibt es keinen Fortschritt.
Wir sind weit von einer Gesellschaft entfernt, die den Kindern und Jugendlichen faire Zukunftschancen einräumt, Familien schützt, der älteren Generation die erfOrderliche Würdigung ihrer Lebensleistung und Sicherung bietet und die berufliche sowie persönliche Entwicklungschancen für Frauen und Männer gerechter verteilt. Der Umbau von der männlichen zur menschlichen Gesellschaft steht weiterhin aus.
Frau Nolte, Sie haben sich mit diesen Ungerechtigkeiten längst arrangiert. Ich empfinde Ihr Nichtstun als eine weitere Zumutung für unsere Demokratie.