Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als diese Sondersitzung von der Regierungskoalition beantragt wurde, ging es noch nicht um den ersten Tagesordnungspunkt, sondern nur um den zweiten, mit dem wir uns jetzt beschäftigen. Der erste ist sozusagen auf Wunsch der SPD hinzugekommen, nachdem schon feststand, daß diese Sondersitzung abgehalten wird.
Deshalb stimme ich der Kollegin Müller völlig zu und sage: Diese Sondersitzung des Deutschen Bundestages ist nichts anderes als die Wahlkampferöffnungsveranstaltung von CDU/CSU und F.D.P.
Die Besonderheit besteht allerdings darin, daß ich zu dieser Wahlkampferöffnungsveranstaltung eingeladen bin. Das war bisher nicht der Fall. Insofern nehme ich diese Einladung wahr.
Ich füge allerdings hinzu, daß eigentlich Wahlkampferöffnungsveranstaltungen von den Parteien selbst zu finanzieren sind und nicht durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wie eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages.
Denn es gibt ein logisches Argument, das Sie nicht aus der Welt bekommen. Daß so eine Sitzung teuer ist, das wissen wir alle. ,Ein zweites Vermittlungsverfahren, ob nun sinnvoll oder sinnlos, können Sie frühestens einleiten, nachdem wieder der Bundesrat getagt hat und über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses beraten hat. Das tut er aber erst am 5. September.
Deshalb war die Sondersitzung am heutigen Tage völlig überflüssig. Sie beschleunigt gar nichts. Sie hat nur Geld gekostet, das angeblich so knapp ist.
Nun sind Sie ja mit der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses nicht zufrieden und kritisieren immer dessen Ergebnisse. Vielleicht - so behaupte ich - liegt das ja daran, daß der PDS, wie ich meine, grundgesetzwidrig der Platz im Vermittlungsausschuß vorenthalten wird. Wenn wir mitwirken könnten, kämen vielleicht doch vernünftigere Ergebnisse zustande. Immerhin wäre es einen Versuch wert.
Ich will Ihnen folgendes sagen: Wenn die F.D.P. nicht dabei wäre, was glauben Sie, was für Ergebnisse dann im Vermittlungsausschuß zustande kä-
Dr. Gregor Gysi
men? Darauf könnten wir uns vielleicht verständigen.
Jetzt sage ich Ihnen zum Ernst der Sache einmal folgendes: Herr Bundeskanzler, mich stört wirklich, daß Sie in den letzten Tagen mehrfach davon gesprochen haben, der Bundesrat werde von der SPD zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht. Worum geht es eigentlich? Es kommt doch auch niemand auf die Idee, der Mehrheit des Bundestages, wenn sie einen Antrag der Opposition ablehnt oder einen eigenen annimmt, vorzuwerfen, daß sie den Bundestag mißbrauche. Es ist doch ganz normal, daß in Gremien Mehrheiten entscheiden; das ist ein demokratisches Prinzip. Wenn der Bundestag einen Gesetzentwurf beim Bundesrat einbringt und dieser von seiner durch die Verfassung gegebenen Möglichkeit Gebrauch macht, nein zu sagen, was ist denn daran Mißbrauch? Wenn er zum Ja verpflichtet wäre, dann bräuchte man den Bundesrat nicht; denn dann hätte er gar keinen Entscheidungsspielraum.
Ich mache mir darüber sehr ernsthafte Gedanken. Nicht nur der Bundestag, sondern auch der Bundesrat ist aus demokratischen Wahlen hervorgegangen. Wenn Sie im Bundesrat die Mehrheit haben wollen, um über die Dinge so abstimmen zu können, wie Sie es gerne hätten, dann hätten Sie bei den Landtagswahlen eben erfolgreicher sein müssen.
Es kommt noch folgendes hinzu: Welche Vorstellung steckt denn eigentlich hinter dem Mißbrauchsgedanken? Daß die SPD im Bundesrat nur dann eine richtige Politik machen würde, wenn sie Ihr Steuerkonzept gebilligt hätte. Nun, Herr Bundeskanzler, werden Sie aber doch nicht bestreiten können, daß Ihr Steuerkonzept Ihren politischen Vorstellungen entspricht; es ist Ausdruck der neoliberalen Politik dieser Bundesregierung und dieser Regierungskoalition. Wenn die SPD Ihrer Meinung nach moralisch verpflichtet wäre, dazu einfach ja zu sagen, frage ich Sie, wozu wir dann noch Wahlen bräuchten; denn dann gäbe es ja gar nichts mehr auszuwählen, weil die Steuerkonzepte immer völlig identisch wären, unabhängig davon, ob diese Koalition oder eine andere regieren würde. Deshalb sind die Argumente, die Sie da benutzen, demokratiegefährlich. Daher wundert es mich nicht, daß Herr Henkel fordert, den Bundesrat am besten gleich ganz abzuschaffen. Wenn schon, dann sollte sich das Bundesamt für Verfassungsschutz weniger um mich und mehr um Herrn Henkel kümmern; das wäre für diese Gesellschaft sehr viel sinnvoller.
Ich finde es ganz normal, daß man zu Ihrem Steuerkonzept nein sagt. Zunächst einmal ist es eine Tatsache, daß 45 Milliarden DM bisher nicht finanziert sind. Das heißt, Sie machen den Staat arm. Aber ein armer Staat kann Armut nicht mehr bekämpfen. Deshalb ist es nicht sinnvoll, diese Art von Politik zu betreiben, die Sie vorschlagen. Sie wollen die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer senken; Sie haben schon die Vermögensteuer abgeschafft; Sie besteuern immer weniger die Gewinne der Unternehmen und der Banken.
Ich frage mich, ob Sie schon vergessen haben, daß zum Beispiel die Abschaffung der Vermögensteuer und die Einführung des ganzen Steuerpakets mit der gleichen Argumentation hier beschlossen worden sind, die Sie, Herr Thiele, vorhin benutzt haben, um uns das Steuerkonzept irgendwie schmackhaft zu machen. Sie haben gesagt, die Wirtschaftstätigkeit werde dadurch belebt; dadurch stiegen die Einnahmen; Investitionen kämen zustande; dadurch entstünden mehr Arbeitsplätze. War das nicht auch Ihre Argumentation beim Sparpaket? War das nicht auch Ihre Argumentation bei den verschiedenen Gesundheitsreformen? War das nicht auch Ihre Argumentation bei der Abschaffung der Vermögensteuer? Wo sind denn die Arbeitsplätze? Wo sind denn die Investitionen? Dieses Konzept ist doch nun endgültig gescheitert. Deshalb kann man nicht heute ja zu diesem Konzept sagen.
Die Gewinne der Banken sind allein im letzten Jahr um 20 Prozent gestiegen. Allein im Jahre 1997 haben die Deutsche Bank und die Dresdner Bank durch die gestiegenen Provisionen beim schwungvoll gewachsenen Aktienhandel zusätzliche Milliardengewinne gemacht. Eine Steuerreform, die an diese Gewinne nicht herangeht, ist doch einfach inakzeptabel. Das hat mit Leistung gar nichts zu tun. Sie partizipieren einfach daran, daß mehr Leute Aktien kaufen. Das ist alles. Dadurch werden sie immer reicher.
Sie können auch nicht leugnen, daß ein Drittel der geplanten Entlastungen nur einem Prozent der Bevölkerung zugute kommen soll. Ich habe es Ihnen schon einmal ausgerechnet: Ein Einkommensmillionär würde bei Ihrer Steuerreform im Jahr 127 000 DM Steuern sparen. Eine Bankkauffrau mit zwei Kindern würde im Jahr 74 DM Steuern sparen. Erklären Sie das einmal der Bankkauffrau. Wenn Sie noch die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt erhöhen, gibt die Bankkauffrau diese 74 DM schon im Januar aus und hat überhaupt nichts von Ihrer Steuerreform, außer einer Mehrbelastung, damit der andere, der Einkommensmillionär, 127 000 DM im Jahr sparen kann. Das ist völlig inakzeptabel.
Ihr Steuerkonzept ist nicht solide finanziert, und es ist im höchsten Maße sozial ungerecht. Deshalb kann ich nur hoffen, daß die SPD auch im zweiten Vermittlungsverfahren nicht schwach wird, durchhält und bei ihrem Nein bleibt.
Dr. Gregor Gysi
Eine wirkliche Reform müßte ganz andere Ansätze haben. Deshalb auch meine Kritik an dem Mehrheitsvorschlag des Vermittlungsausschusses zu den Lohnnebenkosten, Herr Ministerpräsident Lafontaine. Sie machen dabei im Grunde genommen dasselbe mit. Sie wollen die Lohnnebenkosten um einen Prozentpunkt reduzieren und gleichen dies durch eine Erhöhung der Mineralölsteuer und der Mehrwertsteuer aus. Das heißt, die Arbeitslosen und die Lohnabhängigen bezahlen über die Mehrwertsteuer und die Mineralölsteuer letztlich die geringeren Lohnnebenkosten der Unternehmen. Ist das wirklich der Lösungsansatz? Das ist doch keine Reform. Sie gehen hier ein paar Prozentpunkte hoch und dort ein paar Prozentpunkte herunter.
Lassen Sie uns doch einmal ernsthaft über eine Reform nachdenken, zum Beispiel über eine andere Bemessungsgrundlage. Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, daß immer weniger Beschäftigte in immer kürzerer Zeit immer mehr produzieren. Wenn das so ist, kann die Bruttolohnsumme nicht länger die Bemessungsgrundlage für die Einzahlungen der Unternehmen in die Versicherungssysteme sein.
Wir haben vorgeschlagen, die Wertschöpfung, also das Betriebsergebnis, zur eigentlichen Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherungskosten der Unternehmen zu machen. Das wäre auch wesentlich flexibler: Gehen die Gewinne hoch, müssen die Betriebe mehr einzahlen. Gehen die Gewinne runter, müssen sie weniger einzahlen, und die Einzahlungen sind nicht mehr abhängig von der Zahl der Beschäftigten. Damit wird nicht länger Arbeit bestraft, wie das heute immer noch der Fall ist.
Wenn ein solcher Gedanke umgesetzt würde, wäre das eine Reform, aber es ist keine Reform, wenn Sie ein paar Prozentpunkte hoch- oder ein paar Prozentpunkte heruntergehen. Sie machen einfach immer eine neue Berechnung, je nach Situation. Das bedeutet Leben von der Hand in den Mund. Genau das ist das Konzept der Bundesregierung. Von diesem Konzept müssen wir uns trennen.
Zu einer wirklichen Reform würde eine gerechte Besteuerung gehören. Dazu müßten wir gerade auch die hohen Gewinne der Banken und Versicherungen, die Spekulationsgewinne, große Vermögen und hohe Einkommen endlich gerecht besteuern. Dann hätten wir auch die finanziellen Mittel, die wir für eine soziale Grundsicherung und einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor brauchen. Darüber würden auch wieder neue Steuereinnahmen für den Staat entstehen.
Wir brauchen eine Förderung der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Gerade Sie von der F.D.P., aber auch Sie von der CDU/CSU erklären immer, daß Ihnen die kleinen und mittelständischen Unternehmen so sehr am Herzen liegen. Aber in Wirklichkeit machen Sie immer wieder Politik für große Unternehmen. Ein Beispiel dafür ist Ihr Vorgehen bei der Gewerbekapitalsteuer.
Wir sind nicht gegen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Sie ist sinnvoll, weil es eine Substanzsteuer ist, die uns nichts bringt. Aber vergessen wir eines nicht: Nur 16 Prozent der Unternehmen bezahlen nach Ihrem Kompromiß keine Gewerbekapitalsteuer mehr. Die anderen bezahlen sie schon längst nicht mehr. Sie wird nur noch von 16 Prozent der Unternehmen in den alten Bundesländern bezahlt. Das sind die Großunternehmen. Aber für alle Unternehmen, auch für die im Osten, wird die Gewerbeertragsteuer erhöht.
Das heißt, alle Unternehmen, auch die kleinsten, finanzieren den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer bei den großen Unternehmen. Das ist die Realität. Sie fördern nie die kleinen und mittelständischen Unternehmen, sondern immer die großen Konzerne, die Banken und die Versicherungen. Daran muß sich endlich etwas ändern.
Es kann nicht dabei bleiben, daß nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die kleinen und mittelständischen Unternehmen die Bundesrepublik Deutschland finanzieren, während sich die Konzerne, die Banken und die Versicherungen aus der Finanzierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben.
Natürlich brauchen wir eine Förderung der Kaufkraft.
- Ich finde es ganz rührend, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich um meine Redezeit Gedanken machen und darauf hinweisen, daß der Präsident schlafe. Aber der Präsident schläft nicht. Er weiß, wie lang meine Redezeit ist. Darauf wird hier ganz korrekt geachtet. Damm, Herr Bundeskanzler, müssen Sie sich ausnahmsweise nicht kümmern.
Lassen Sie mich etwas sagen: In Wirklichkeit geht es nicht um eine Blockade des Bundesrates gegenüber dem Bundestag. Es geht um eine gesellschaftliche Blockade. Weder diskutieren wir über Probleme richtig, noch analysieren wir sie, noch kommen wir zu wirklichen Lösungsansätzen. Wir verfallen überwiegend in Polemik. Der Bundeskanzler hat angekündigt, uns in den nächsten 14 Monaten mit Polemik zu beschäftigen. Deshalb sind auch wir für Neuwahlen eingetreten.
Allerdings muß ich die Kollegin Müller etwas fragen. Sie, Frau Kerstin Müller, haben sich hier hingestellt und vehement Neuwahlen gefordert. Aber im Juni 1997 gab es hier einen Antrag zu entscheiden. Dieser Antrag lautete: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wird aufgefordert, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen, um den Weg für Neuwahlen freizumachen. Gegen diesen Antrag hat aber nicht nur die Koalition gestimmt, sondern auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Damit haben
Dr. Gregor Gysi
Sie noch im Juni 1997 dem Bundeskanzler Ihr Vertrauen ausgesprochen.
- Na sicher, Sie haben den Antrag doch abgelehnt. Der Kanzler kann sich zu Recht freuen, daß Sie das getan haben. Dann aber ist es nicht besonders glaubwürdig, einen Monat später Neuwahlen zu fordern. Sie hätten damals unserem Antrag zustimmen müssen, sonst sind Sie als Opposition auch nicht glaubwürdig - wenn ich das hinzufügen darf.
- Einschließlich der Grünen, Herr Fischer.
Wenn wir uns inzwischen einig sind, daß Neuwahlen erforderlich wären, dann frage ich mich allerdings, warum sich die Koalition so dagegen sperrt. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Schäuble, hat jetzt in einem Interview gesagt, Neuwahlen würden an den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag nichts ändern. Das heißt: Er geht davon aus, die Regierungskoalition würde durch Neuwahlen bestätigt werden. Wenn Sie davon wirklich überzeugt sind, dann machen Sie es doch. Danach hätten Sie eine ganz andere moralische Rechtfertigung für Ihre politischen Forderungen. Im Augenblick glaubt Ihnen doch niemand mehr, daß Sie über eine Mehrheit in der Gesellschaft verfügen. Ich glaube, Sie glauben es auch nicht. Deshalb lehnen Sie Neuwahlen ab und gehen im Krebsgang bis zum 27. September 1998. Das aber ist eine Zumutung für die Bevölkerung.
Deshalb sage ich: Man muß wissen, wann Schluß ist. Man muß wissen, wann eine Regierung ausgelaugt ist.
- Ich finde es sehr gut, daß Sie mir dafür Beifall spenden. Wir fangen ja erst an, und zwar so richtig.
Ihre Regierung aber ist nun schon seit 15 Jahren dran, im nächsten Jahr seit 16 Jahren. Jeder sollte wissen, wann es vorbei ist, wann man in Rente gehen und wann man sich im Leben Gutes gönnen kann. Das wünschen wir Ihnen allen.
Wir brauchen Veränderungen, um den Problemstau aufzulösen. Ein Regierungswechsel ist nicht alles, aber er kann Signale für solche Veränderungen setzen. Deshalb brauchen wir ganz schnell Neuwahlen. Wenn Sie so sicher sind, daß Sie sie gewinnen werden, dann machen Sie sie doch! Wenn Sie aber in Wirklichkeit wissen, daß Sie sie verlieren werden, dann machen Sie sie auch. Schieben Sie die Niederlage nicht weiter hinaus! Es lebt sich leichter, wenn man dies schnell hinter sich hat.
Deshalb: Geben Sie uns allen die Chance zu Neuwahlen in Ihrem und in unserem Interesse, damit es zu Veränderungen in dieser Gesellschaft kommt!
Danke.