Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bilder, Filme, Berichte und Kommentare zur Hochwasserkatastrophe an der Oder in Tschechien, in Polen und hierzulande in Brandenburg kann keiner mehr zählen. Eigentlich ist - so mutet es an - alles jedem berichtet, gesagt und gezeigt. Aber weil es letztlich nicht darauf ankommt, nur tagaktuell informiert zu sein, sondern darauf, die richtigen politischen, wirtschaftlichen und auch privaten Folgerungen aus den Ereignissen zu ziehen, und weil es nicht geschehen darf, daß sich - wie so oft in unserer mediengestützten und -geprägten Welt - mit dem Fortgang der Ereignisse die notwendige öffentliche Debatte von den örtlichen Tatsachen und Erfordernissen
Ulrich Junghanns
abhebt und entfernt, möchte ich aus persönlichen Erlebnissen der letzten 14 Tage - ich wohne in Frankfurt an der Oder und habe die Flutkatastrophe mit ihren verschiedenen Schicksalen erlebt - einige Erfahrungen, Gedanken und Hoffnungen einbringen. Das kann nicht erschöpfend sein; denn wir stehen noch mitten im Kampf gegen die Fluten, und die Oder läßt einem keine Zeit für umfassende Vorbereitungen.
Die schwere Befindlichkeit der Betroffenen an den Ufern der Oder in unserer Region ist nicht oder bestenfalls halbwegs in Zeitungsüberschriften zu fassen. Diese schwere Betroffenheit und schwere Befindlichkeit der Mitbürger in unserer Region äußert sich vor allem in bangen Fragen, Fragen des alten Mannes, der am Rande der überfluteten Ziltendorfer Niederung steht, mir, ohne es zu sehen, die Richtung seines Hauses angibt und sagt: Es ist untergegangen. Ich habe wieder alles verloren. Wie soll es nur weitergehen? Wo soll ich noch hin? - Dann sind da die Fragen der Evakuierten aus den Oderbruch-Dörfern, die hinter den Dämmen - der Ministerpräsident hat es gesagt - acht Meter unter der Wasserlinie hoffen und bangen und fragen: Wird der Deich halten? Was soll geschehen, wenn er nicht hält?
Keiner hätte geahnt oder geglaubt, daß die Deiche einmal so in Gefahr geraten - haben sie doch 250 Jahre lang gehalten! Aber dieses Bangen - Tag und Nacht - und diese unbeantworteten Fragen lähmen nicht. Im Gegenteil: So wie es in Ratzdorf angepackt und mit großen Hilfen bewältigt wurde, nehmen die Menschen in der Oderregion die Herausforderung der Natur allerorts an. Sie kämpfen dafür, daß Gefahren abgewendet und Schäden verhindert werden. Selbstlos wird bis zur Erschöpfung füreinander eingestanden und geholfen: Beim Dammbau in Ziltendorf, Wiesenau, Frankfurt/Oder, an der Ziegelstraße und am Kuhweg, bei Reitwein und Hohenwutzen; Tag und Nacht werden Säcke gefüllt, zuletzt vor allen Dingen in Altreetz und Groß Neuendorf, um die Dörfer nur beispielhaft zu nennen.
Diejenigen, für die es letztlich um alles geht, empfinden doppelt und dreifach, was Hilfe in fast auswegloser Situation bedeutet. Der Bundeskanzler hat sehr eindrucksvoll aufgezeigt, daß und wie das Menschenmögliche getan wird, um Schaden abzuwenden. Als aus dieser Region Kommender möchte ich Ihnen sagen, was die Menschen dort empfinden. Sie empfinden große Dankbarkeit für die großartigen Leistungen. Niemand bei uns vermag sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn nicht die Bundeswehr, der BGS, das THW und die anderen Hilfsorganisationen gemeinsam mit den Feuerwehren und den vielen Freiwilligen in einer beispiellosen „Muskel-Kraftanstrengung'' an den Bollwerken - an den Dämmen und Deichen - gearbeitet hätten. Allein hätten wir das nicht schaffen können!
Der Dank richtet sich natürlich zuallererst an die Helfer, an die Soldaten, die auf der Straße, auf dem Dorf oder an Hof und Haus mithelfen. Er richtet sich aber genauso an die Kommandeure, die sich selbst auferlegt haben, nicht ausgewechselt zu werden, sondern die für sich gesagt haben: Diesen Katastropheneinsatz werden wir vom ersten bis zum letzten
Tage leiten. Für diese Standhaftigkeit sind die Menschen sehr dankbar.
Ich will sie nennen: General von Kirchbach und Korvettenkapitän Mauersberger von der Bundeswehr, den Leitenden Polizeidirektor Hasslinger und Polizeidirektor Reimann vom BGS sowie vom THW die Kameraden Tiesler und Wieland, der als Deichläufer jedem in Frankfurt/Oder bekannt ist. Genauso gehen mein Dank und meine Anerkennung an die Feuerwehr und an die freiwilligen Helfer. Sie gehen an alle Katastrophenstäbe und an die Deichgrafen mit Matthias Platzeck an der Spitze. Sie haben Großes, Beispielgebendes geleistet und leisten es.
Es ist bei dieser Oderflut nicht schwer - lassen Sie es mich einmal mit ein bißchen Pathos sagen -, Helden zu finden. Den Helden ist aber allen eigen, daß sie keine Helden sein wollen. Sie wollen den Sieg über diese Fluten erringen. Unseren Deich - so die Soldaten -, den müssen wir halten.
Wir fühlen und erleben, daß die Bundesregierung gemeinsam mit dem Land Brandenburg alles nur Mögliche für die Katastrophenbekämpfung tut. Wir spüren vor allem, daß der Bundeskanzler mit den fachlich befaßten Ministern vor Ort ist und damit einen wichtigen Antrieb, einen wichtigen Impuls für Mut und Zuversicht in die Zukunft verleiht. Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen an dieser Stelle danke sagen.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur gelernt, daß zweieinhalb Schaufeln Sand in einen Sandsack gehören und daß nicht klares, sondern trübes Wasser von den Gefahren für die Deiche zeugt, sondern auch und vor allem, miteinander in der Lage zu sein, das schier Unmögliche zu schaffen. Das gilt für das Miteinander auf den Deichen und auf dem Sandsackplatz; aber das gilt insbesondere für das Miteinander der Verantwortlichen in unserem Staat - von der Kommune über die Landkreise und das Land bis zum Bund. Diese Erfahrung möchte ich von dieser Stelle aus ausdrücklich hervorheben und würdigen, Herr Ministerpräsident. Für unsere Region entlang der Oder und für die Menschen in diesem wunderschönen Landstrich wurde und wird von allen politisch Verantwortlichen nicht nur einem Strang, sondern auch am selben Ende des Stranges gezogen. Das gibt uns die Zuversicht, daß wir erfolgreich sein werden. Diese Kraft muß über den Tag hinausreichen, und es muß eine gründliche Auswertung des Katastrophenverlaufs vorgenommen werden. Wir konnten auf diese extreme Situation nicht vorbereitet sein, und deshalb ist es so wichtig, nicht nur aus den Stärken, sondern auch aus den Schwächen und Mängeln zu lernen.
Wenn die Kameras abgeschaltet werden, gilt es, in der Hilfe nicht nachzulassen. Die betroffenen Bedürftigen hoffen und bauen auf die zugesagte Hilfe. Das Wort des Bundesministers Rühe „Wenn das Wasser geht, die Soldaten bleiben" ist in aller Munde. Es ist
Ulrich Junghanns
oft die einzige Antwort auf die unbeantworteten Fragen.
Streit um große Summen hilft nicht. Die Betroffenen wenden sich davon eher ab. Sie haben keinen Sinn dafür. Wichtig ist jetzt, das Notwendige zu leisten und daß die Hilfe aus vielen Hilfsorganisationen und Spendenveranstaltungen bei den Bedürftigen auch ankommt.
Hilfe materieller und finanzieller Art, die sich an den Problemfällen orientiert, die die soziale und wirtschaftliche Lage der betroffenen Bedürftigen berücksichtigt, ist vonnöten. Da gibt es den Rentner - ich will ihn beispielhaft nennen -, der sein Haus verloren hat. Er ist 68 Jahre alt und weiß nicht, wohin. Da gibt es den Eigenheimbauer, der gerade mit seinem Bau fertig ist und nun mit der Tilgung beginnen wollte. Jetzt fängt er mit seinem Fertigteilhaus praktisch wieder von vorn an.
Da gibt es die Handwerker, die Bäcker, die ihre Betriebe im evakuierten Gebiet schließen mußten. Da gibt es die Bauernvereinigung in der Ziltendorfer Niederung. Die gesamte Ackerfläche -4000 Hektar - steht unter Wasser, so daß die Ernte verloren ist. 80 Bauern sind betroffen, 18 Familien wurden evakuiert.
Es geht aber auch um jene Bauern, die in den evakuierten Gebieten mit hohen Vieh- und Futtertransportkosten konfrontiert sind. Auch in den Aufnahmebetrieben kommt es zu Streßsituationen und damit zu Leistungsabfällen bzw. zu zusätzlichen Kostenaufwendungen. Wir müssen insbesondere bei der Landwirtschaft unter den Bedingungen der Evakuierung an die abgebenden und die aufnehmenden Betriebe denken. Dafür ist ein finanzieller Rahmen abgesteckt.
Ich bin für die Betonung des Bundeskanzlers, daß wir uns an den Problemen orientieren, sehr dankbar. An den Problemen orientieren heißt - ich bin dem Bundesminister für Finanzen sehr dankbar, der das heute morgen in der Sondersitzung der befaßten Ausschüsse hervorgehoben hat -, daß wir die Haftungsfreistellung erhöhen werden. Das muß natürlich mit der Erhöhung der notwendigen Leistungen und Beiträge der Landesregierung einhergehen.
Ich möchte hervorheben, daß die Laufzeiten verlängert werden und daß andere Programme wie das sogenannte Modernisierungsprogramm der MW mit 25jähriger Laufzeit und fünf tilgungsfreien Jahren vielleicht insbesondere für den Privatmann eine günstigere Lösung darstellen. Ich möchte die Landesregierung animieren, vorhandene wirtschaftliche Förderprogramme auf die Oderregion zu konzentrieren. Ich glaube, zu einer solchen solidarischen Leistung wären alle, die damit in Brandenburg befaßt sind, bereit und fähig.
Ich bitte, nicht zu vergessen, daß sich die Gemeinden selbst in einer großen finanziellen Notlage befinden und trotz dankenswerter Kostenentlastung durch die Einsatzkräfte nicht wissen, wie Reparaturen an öffentlichen Einrichtungen, an Straßen und Betrieben außerhalb des Wohnungsbaus finanziert werden sollen. Ich bin der Auffassung, daß wir auch auf diesem Gebiet sehr eng und schnell zusammenkommen müssen.
Das, was mit dem Blick über die Oder hinweg gesagt worden ist, kann ich nur unterstreichen. Natürlich fragen mich die Bürger, warum es ein abgestimmtes Katastrophen- und Frühwarnsystem nicht schon früher gegeben hat. Jetzt müssen wir nach vorn schauen. Das, was gestern von den Ministern für Umwelt unter Federführung von Ministerin Merkel in Frankfurt/Oder ausgehandelt wurde, ist ein solides und sicheres Fundament dafür, daß das Notwendige schnell geschieht.
Denn alle, die jetzt an der Oderregion kämpfen und die Bilder aus unseren benachbarten Staaten sehen, bekommen mit, wie wichtig und hilfreich es ist, daß in Deutschland so eng zueinander gestanden wird. Das ist nicht überall der Fall, aber diesen Beistand möchte ich von dieser Stelle über die Grenze hinweg nach Polen und Tschechien zusagen; denn wir wollen gemeinsam unsere Zukunft an diesem Fluß gewinnen.
250 Jahre Oderdeiche werden gefeiert. Daß diese Feier in eine solche Kraftanstrengung münden muß, gehört vielleicht zur Eigenart solcher Katastrophen. Ich weiß nicht, ob es ein Jahrhundert- oder ein Jahrtausendhochwasser ist, das wir gegenwärtig erleben und dessen Gefahren wir von uns abzuwenden versuchen. Aber ich weiß eines, nämlich daß es zu der Feier gehört, sich um diese Deiche zu sorgen, daß es das Anliegen unserer Generation sein muß, sie fit zu machen, zu stabilisieren und zu vitalisieren für die Aufgabe, für die sie vor 250 Jahren errichtet worden sind. Ich glaube, auch auf diese Aufgabenstellung kann man das Wort unseres Hauses, wonach die Katastrophenbekämpfung an der Oder eine nationale Aufgabe ist, beziehen.
Mit dem Blick nach vorn kann ich nur eines betonen: Für Entwarnung ist noch keine Zeit. Aber die Tatsache, daß uns diese große Hilfe zuteil wird, und die Erfahrung der Menschen, bisher schier Unmögliches geleistet zu haben, begründen unsere Zuversicht, daß wir das jetzt noch auf uns Wartende meistern werden und letztlich als Sieger aus dem Kampf gegen die Oderfluten hervorgehen werden.
Danke schön.