Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst bitte ich um Entschuldigung dafür, daß es etwas später geworden ist. Aber das gibt es in der Tat, und man kann es nicht immer vermeiden.
Meine Damen und Herren, auch in diesem Augenblick kämpfen Tausende von Helfern darum, die Deiche an der Oder zu sichern. Die Lage in den vom Hochwasser betroffenen Gebieten ist immer noch dramatisch. Zwar wächst nach den Nachrichten der letzten Stunden die Hoffnung, daß die größte Gefahr vorüber ist. Doch leider - Sie wissen das - gibt es noch keinen Anlaß zur Entwarnung.
Dies ist die größte Naturkatastrophe, die das wiedervereinigte Deutschland getroffen hat, und es ist zugleich eine der schlimmsten Katastrophen in Deutschland in diesem Jahrhundert. Seit über zwei Wochen bedroht das Hochwasser die Bevölkerung in der Oderregion und verursacht immer größere Schäden. Die Ziltendorfer Niederung ist überflutet. Eine Fläche von 650 Quadratkilometern im Oderbruch ist akut gefährdet. Rund 5 000 Menschen mußten im Verlauf der Hochwasserkatastrophe evakuiert werden. Weitere Tausende sitzen buchstäblich auf ge-
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packten Koffern. Ihnen allen gilt unsere Sorge. Wir hoffen und beten, daß die Deiche standhalten und das Schlimmste verhindert werden kann.
In dieser Situation brauchen die betroffenen Menschen jede nur mögliche Unterstützung. Ihnen beizustehen ist ein dringendes Gebot der Solidarität, eine nationale Aufgabe, der wir alle verpflichtet sind.
Vor einer Woche habe ich zum zweitenmal die so hart geprüfte Region besucht. Ich habe mit vielen Betroffenen gesprochen und habe, wie auch viele hier im Hause, erlebt, in welch verzweifelter Lage sie sich befinden. Wir haben ihre Sorgen, ihre Ängste, aber auch ihre Hoffnungen gespürt. Mich hat dies tief berührt.
Meine Damen und Herren, es geht hier um Menschen, die nicht auf der Sonnenseite der deutschen Geschichte standen. In den Jahrzehnten der SED-Diktatur hatten sie nicht die gleichen Chancen wie beispielsweise die Menschen an Rhein und Mosel. Nach der Wende und der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes mußten sie sich auf eine völlige Veränderung ihrer Lebensumstände einstellen. Und jetzt, wo sich die ersten Früchte der Anstrengungen zeigen, bedroht die Flut des Hochwassers ihr Hab und Gut. Manche haben alles verloren, was sie besaßen.
Diese Menschen haben allen Anspruch auf unseren Beistand und auf unsere Unterstützung. Ich bekräftige hier erneut, was ich auch vor Ort gesagt habe: Wir lassen Sie nicht im Stich.
Ich spreche für die Bundesregierung und - dessen bin ich sicher - auch für alle hier im Hause vertretenen Parteien, wenn ich sage: Wir werden weiterhin alles tun, was in unserer Kraft steht, um Ihnen zu helfen.
Meine Damen und Herren, es zählt zu den Widersprüchlichkeiten einer solchen Katastrophe, daß Not und Elend einhergehen mit der Erfahrung der besten menschlichen Eigenschaften. Überall an der Oder begegnen wir einer Einstellung, die gekennzeichnet ist von Mut und Entschlossenheit, von Hilfsbereitschaft und von Gemeinschaftsgeist. Im Angesicht der Not stehen die Menschen in einer Weise zusammen, die manch einer in unserem Land gar nicht mehr für möglich hielt. Das gilt zum Beispiel für die Einwohner der betroffenen Region, ihre besonnene Haltung und ihre Nachbarschaftshilfe. Dies alles - so denke ich - verdient unsere Bewunderung.
Es geht aber weit darüber hinaus. In ganz Deutschland haben die Fluten der Oder eine breite Welle von Mitgefühl und Solidarität erzeugt. Die Not der Betroffenen bewegt die Herzen überall in unserem Land. Ost oder West - das spielt angesichts dieser Katastrophe keine Rolle mehr. Auf eine eindringliche Weise wird deutlich, wie sehr sich die Menschen in Deutschland als Gemeinschaft verstehen können, wenn es darauf ankommt. Dafür sollten wir dankbar sein.
Meine Damen und Herren, unser Dank gebührt allen, die mit aufopferungsvollem Einsatz bisher das Schlimmste verhindert haben und hoffentlich auch noch weiter verhindern mögen. Er gilt den vielen freiwilligen Helfern, die nicht nur aus ganz Brandenburg, sondern aus vielen Teilen Deutschlands an die Oder gekommen sind, um einfach mit anzupacken. Er gilt den Beamten des Bundesgrenzschutzes und der Polizei, den Mitarbeitern des Technischen Hilfswerkes, den Feuerwehren und vielen anderen Organisationen, die unermüdlich am Werk sind.
Er gilt ganz besonders den Soldaten unserer Bundeswehr.
Sie leisten im Kampf um die Deiche ganz Außergewöhnliches. Es sind großartige junge Männer, die alles geben. Sie nehmen große Gefahren in Kauf, um anderen zu helfen. Auch in dieser Naturkatastrophe erweist sich erneut: Die Bundeswehr ist die Armee unseres Volkes. Wir sind stolz auf sie.
Die anhaltend dramatische Situation an der Oder macht den Einsatz von Kräften des Bundes weiter erforderlich. Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Technisches Hilfswerk sind darauf eingestellt. Sie halten entsprechende Einheiten zur technischen Hilfeleistung und auch zur kurzfristigen Verstärkung bei eventuellen Deichdurchbrüchen bereit. Und sie werden auch zur Verfügung stehen, wenn die akute Gefahr gebannt und das Hochwasser - hoffentlich bald - abgelaufen ist. Dann, meine Damen und Herren, wird es darum gehen, die Betroffenen bei der Beseitigung der unmittelbaren Hochwasserfolgen zu unterstützen und mit den Aufräumarbeiten, der Schlammbeseitigung sowie den Pump- und Abstützungsmaßnahmen zu beginnen. Dies alles wird in einer engen Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg erfolgen.
Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen, Herr Ministerpräsident Stolpe, und den Mitgliedern Ihrer Regierung für Ihren Einsatz und auch für die gute Zusammenarbeit zu danken.
Meine Damen und Herren, unser besonderes Augenmerk muß sich jetzt darauf richten, wie wir den von der Katastrophe schwer geprüften Menschen wirkungsvoll helfen können. Die Bundesregierung hat zur Milderung der akuten Notlage als allererste Maßnahme einen Betrag von 20 Millionen DM für Sofort- und Übergangshilfen zur Verfügung gestellt. Eine entsprechende Verwaltungsvereinbarung mit dem Land Brandenburg wurde schon am 31. Juli unterschrieben.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hält zinsverbilligte Kredite in einem Umfang von 200 Millionen DM für Hochwassergeschädigte bereit. Sie stehen vor allem kleinen und mittleren Unternehmungen, Landwirten, aber auch Privatpersonen zur Verfügung. Zusätzlich sind steuerliche Erleichterungen
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vorgesehen, wie zum Beispiel die Stundung von Steuern oder der Abzug von Kosten für Wiederbeschaffung von Hausrat und Kleidung als außergewöhnliche Belastung.
Gerade auch für die Landwirtschaft in der Oderregion bedeutet das Hochwasser einen verheerenden Rückschlag. Wir müssen davon ausgehen, daß bis zum heutigen Tage auf landwirtschaftlichen Nutzflächen von rund 11000 Hektar die Ernte vernichtet ist, und heute weiß noch niemand, ob es dabei bleiben wird. Die Finanzhilfen des Bundes, die auch landwirtschaftlichen Betrieben und Haushalten zugute kommen, werden dazu beitragen, den betroffenen Landwirten eine neue Perspektive zu geben. Zusätzlich wird die Landwirtschaftliche Rentenbank Darlehen zu besonders günstigen Konditionen im Rahmen ihres Programmes für junge Landwirte anbieten.
Der Finanzierung von Hilfsmaßnahmen für die Hochwassergeschädigten dient nicht zuletzt die Herausgabe einer Sonderbriefmarke mit Zuschlag. Über eine Marke „Solidarität in der Not - Hochwasserhilfe Oder 1997" hat das Bundespostministerium bereits entschieden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich beschreibe hier nur die Maßnahmen der Bundesregierung, die bereits beschlossen sind. Für mich steht fest, daß die Bundesregierung zur Beseitigung der Hochwasserfolgen weitere finanzielle Unterstützung leisten muß. In den Ressorts werden gegenwärtig alle entsprechenden Möglichkeiten geprüft.
Ich denke, wir sollten jetzt nicht in einen öffentlichen Wettbewerb um Zahlen und Beträge eintreten nach der Devise „Wer bietet mehr". Das würde der Ernsthaftigkeit unseres gemeinsamen Anliegens nicht gerecht.
Wenn das Hochwasser abgelaufen ist, muß festgestellt werden, wie groß der entstandene Schaden ist. Darüber läßt sich jetzt mit Sicherheit noch keine seriöse Auskunft geben. Wir werden in Gesprächen mit dem Land Brandenburg feststellen, wie die Erfahrungen mit dem Soforthilfeprogramm ausfallen. Vor diesem Hintergrund werden wir entscheiden, was weiter, auch finanziell, getan werden muß und getan werden kann.
Eine der wichtigsten Aufgaben wird die Instandsetzung und der Wiederaufbau von Wohngebäuden sein. Die Bundesregierung klärt derzeit, welche zusätzlichen Bundesfinanzhilfen in Ergänzung des 200-Millionen-DM-Kreditprogramms für diesen Zweck bereitgestellt werden können. Sie sollen dann urn entsprechende Landesmittel ergänzt werden und vor allem Personen zugute kommen, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus förderberechtigt sind. Haushaltsmittel stehen schließlich auch für die Reparatur von Bundeswasserstraßen und Bundesstraßen bereit, die unter dem Hochwasser gelitten haben.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß die von der Bundesregierung bereits ergriffenen und noch anstehenden Hilfsmaßnahmen ein Gesamtvolumen von zunächst 500 Millionen DM umfassen werden. „Zunächst" heißt, daß sich dieser Betrag noch erhöhen kann.
Uns kommt es sehr darauf an, daß all diese Hilfen rasch und möglichst unbürokratisch geleistet werden; denn wir wissen aus der Erfahrung der Vergangenheit, daß schnelle Hilfe die beste Hilfe ist. Deswegen muß alles getan werden, um die Entscheidungen möglichst unbürokratisch zu treffen.
Ich erwarte dies im übrigen auch von den Versicherungsunternehmen.
Ich gehe davon aus, daß die Abwicklung der Schadensfälle nicht mit dem Finger auf dem Kleingedruckten, sondern mit der größtmöglichen Kulanz erfolgt.
Es ist den Menschen nicht zuzumuten, daß staatliche Hilfen, Kredite oder Versicherungsleistungen nur schleppend oder nach komplizierten und unverständlichen Regelungen gewährt werden. Hier müssen wir, so denke ich, aus früheren Erfahrungen lernen.
Bei all dem, was der Bund und das Land Brandenburg leisten, um die Notlage an der Oder zu lindern - sie allein werden die Last nicht tragen können. Wir müssen weiterhin um jede Unterstützung werben, die wir zugunsten der Betroffenen erhalten können.
Inzwischen hat auch die EU-Kommission über Hilfen für die Hochwasserregion entschieden. Wir sind für dieses Zeichen der Solidarität sehr dankbar.
Wir treten nachdrücklich dafür ein, daß darüber hinaus weitere Mittel der EU zugunsten der Oder-Region eingesetzt werden.
Neben den öffentlichen Hilfeleistungen kommt der privaten Hilfsbereitschaft eine große Bedeutung zu. Die privaten Hilfsorganisationen leisten in dieser Notsituation eine wertvolle und unverzichtbare Arbeit. Wir wissen, daß die Betroffenen auf ihre Unterstützung weiterhin angewiesen sind.
Zugleich werbe ich dafür, die erfolgreich angelaufenen Spendenaktionen zu unterstützen. Jeder einzelne ist aufgerufen, seinen ganz persönlichen Beitrag zu leisten und durch seine Hilfe die Botschaft zu verstärken, daß die Menschen in Deutschland füreinander da sind.
Meine Damen und Herren, die schlimme Erfahrung der Hochwasserkatastrophe an der Oder muß ein Anlaß sein, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit an diesem Fluß zu vertiefen. Einmal mehr hat sich jedem gezeigt, wie sehr wir in Europa aufeinander angewiesen sind. Nationale Grenzen haben keine Bedeutung mehr, wenn die Wasserfluten das Land diesseits wie jenseits des Flusses verwüsten.
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Die Bundesregierung hat das ihr Mögliche getan, um nicht nur in unserem eigenen Land, sondern auch bei unseren Nachbarn in Polen und Tschechien zu helfen. Insbesondere das Technische Hilfswerk und das Deutsche Rote Kreuz leisten einen unschätzbaren Beitrag, um zum Beispiel die Trinkwasserversorgung in und um Breslau zu gewährleisten. Alle großen deutschen Hilfsorganisationen sind in Polen im Einsatz und liefern unter anderem Pumpen, Medikamente, Nahrungsmittel, Decken und Bekleidung. So werden über die Oder zugleich - das hoffen wir gemeinsam - weitere Brücken der Verständigung und der Freundschaft gebaut.
Meine Damen und Herren, für die Zukunft wird es darauf ankommen, daß wir gemeinsam - Deutschland, Polen und Tschechien - die Erfahrungen der Hochwasserkatastrophe auswerten und die nötigen Konsequenzen ziehen. In den dazu erforderlichen Gesprächen wird es auch darum gehen, die Vorstellungen über die weitere Gestaltung des Oder-Raumes zu bündeln und in sie neben dem Katastrophenschutz auch die weitere wirtschaftliche Entfaltung der Region und nicht zuletzt den Schutz der Umwelt einzubeziehen.
In allen Anrainerstaaten müssen wir dabei die Lehre beherzigen, die sich mit der Hochwasserkatastrophe verbindet: Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen. Sie holen ihn sich sonst - mit schlimmen Folgen für die betroffenen Menschen - zurück.
Wenn wir und die Generationen, die nach uns kommen, in Frieden mit der Natur leben wollen, dann müssen wir auch in diesem Punkt umdenken.
Meine Damen und Herren, für die Menschen an der Oder sind diese Tage eine schwere Prüfung. Es stand in niemandes Macht, daß sie von dieser Prüfung verschont blieben. Wir müssen einmal mehr zur Kenntnis nehmen, daß es auch in unserem so überaus geregelten Leben in Mitteleuropa Naturgewalten gibt, die wir Menschen nicht beherrschen. Aber soviel können wir sagen: Was immer in unseren Kräften steht, wird getan und muß getan werden. Wir lassen nichts unversucht, um an den Deichen das Schlimmste zu verhindern. Wir werden alles tun, was möglich ist, um den Notleidenden zu hellen. Wir werden mit Nachdruck darauf hinwirken, daß für die Zukunft grenzüberschreitende Vorkehrungen zu einem wirkungsvollen Hochwasser- und Umweltschutz getroffen werden.
Nicht zuletzt werden wir versuchen, jenen Geist wachzuhalten, der in der Stunde der Katastrophe die Deutschen solidarisch vereint. Dann, meine Damen und Herren, wird sich mit dem Hochwasser an der Oder nicht nur die Erinnerung an Not verbinden, die wir lindern wollen und lindern müssen, sondern auch die Erfahrung einer solidarischen Gemeinschaft, die zu bewahren sich lohnt.