Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, Herr Schreiner und auch Herr Dreßler machen einen Fehler, wenn sie mit den Begriffen, die sie gerade verwendet haben - ähnliches haben wir in früheren Debatten erlebt, als wir den Menschen „Ausplünderungen", „Betrug" usw. zugemutet hätten -, die Verantwortung zum Beispiel für das Problem der Arbeitslosigkeit, das niemand verkennt, fast ausschließlich - nach Ihren Worten muß ich sagen: ausschließlich - der Politik zuordnen. Dabei wissen Sie doch ganz genau, daß wir zum Beispiel in Westdeutschland heute 1,3 Millionen mehr Arbeitsplätze haben als vor zehn Jahren.
Die Frage der Arbeitslosigkeit, die ein zentrales Problem der Rentenversicherung ist - das ist völlig unbestritten -, hängt doch mit ganz anderen Faktoren zusammen. Wir können das hier im Parlament ruhig miteinander bereden.
Erstens. Sie hängt damit zusammen, daß wir durch die technologische Revolution ein immer größeres Bruttosozialprodukt mit einem immer geringeren Arbeitsaufwand erreichen können. Wir brauchen immer weniger Arbeit, um immer mehr produzieren, herstellen und leisten zu können. Das ist die Folge der Technologie.
Zweitens sind wir durch die politische Revolution vor acht Jahren in eine parallele, das Problem verstärkende Entwicklung hineingekommen. Wir haben als Ergebnis dieser Revolution eine millionenfache Migration: 2 Millionen Aussiedler, 1 Million Flüchtlinge, die hier zu einem großen Teil einen Arbeitsplatz gefunden haben, wozu wir stehen, was auch richtig ist. Wir liegen mitten in Europa. Kein Land hat mehr Grenzen als wir. Die Leute kommen zu uns, wenn sie aus politischen Gründen emigrieren müssen.
Drittens. Im Jahre 1960 haben in Deutschland 9,6 Millionen Frauen gearbeitet. Jetzt arbeiten 12,2 Millionen Frauen, was völlig richtig ist. Das ist in Ordnung und ist durch unsere Politik mitbewirkt worden.
Das heißt, diese beiden Entwicklungen, daß wir durch die technologische Revolution einen immer geringeren Arbeitsaufwand brauchen und daß immer mehr Menschen Arbeit nachfragen, sind das uns gemeinsam bewegende Problem. Da kann man aber doch nicht so reden. Da muß man überlegen: Wie können wir in dieser Situation unsere Standortbedingungen verbessern - auch angesichts der Globalisierung der Märkte -, um dadurch neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende Arbeitsplätze zu sichern?
Wir wollen heute aber keine Arbeitsplatzdiskussion und auch keine Arbeitsmarktdiskussion führen. Diese Bereiche sind jedoch ein zentrales Thema der Rentenversicherung. Da haben Sie völlig recht. Die Probleme in der Rentenversicherung sind weniger eine Frage der Demographie, vor allem weniger eine Frage der nächsten Generationen. Wir könnten in Deutschland Kinder bekommen, soviel wir wollten - für die Rentenversicherung in 20 oder 30 Jahren
Dr. Heiner Geißler
würde uns das nicht viel nützen, wenn die Arbeitsplätze fehlen.
Wenn genug Arbeitsplätze für die nächsten Generationen vorhanden wären, würde sich das positiv auf die Rentenversicherung auswirken.
Das Problem ist die Altersstruktur. Im Grunde genommen ist die Tatsache, daß die Menschen länger leben, etwas Schönes, was man nur begrüßen kann. Die Lebenserwartung ist gestiegen. Deswegen beziehen die Menschen länger Rente. Wir versuchen jetzt, für dieses Problem eine verständliche und auch nachvollziebare Lösung anzubieten. Sie muß man nur einmal richtig darstellen; das geht ja bei dem ganzen Hin und Her mit der Statistik völlig unter. Das versteht ja kein Mensch.
Was machen wir? Wir machen es wie in einer großen Familie und sagen: Die Jungen müssen ihren Anteil dazu leisten, daß die Älteren eine sichere Rente haben. Wir sagen den Jungen: Ihr müßt auch in der Zukunft Beiträge zur Rentenversicherung leisten, die zwischen - sagen wir einmal - 18 und 20 Prozent liegen. Das muten wir denen zu. Die Älteren beteiligen wir in maßvoller Weise an der Finanzierung ihrer eigenen höheren Lebenserwartung. Das ist im Grunde genommen das Konzept, das wir hier vorlegen. Gleichzeitig machen wir etwas, was auch Sie für richtig halten; wir senken nämlich die Lohnnebenkosten, indem wir Leistungen, die zur Rentenversicherung gehören, die aber gesamtgesellschaftliche Aufgaben darstellen, aus der Beitragsfinanzierung herausnehmen und in eine Steuerfinanzierung überführen.
Das sind die drei Grundelemente unserer Rentenreform. Ich finde, das kann man vom Prinzip her doch überhaupt nicht kritisieren. Ich kann auch nicht erkennen, daß Sie von der SPD im Vergleich dazu eine vernünftige Alternative hätten.
Herr Dreßler, Sie haben am Anfang Ihrer Rede mich erwähnt. Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie wir nicht miteinander diskutieren sollten. Ich weiß gar nicht, ob ich in der besagten Rede von einem Rentenniveau in Höhe von 64 Prozent geredet habe. Ich habe gerade die Rede nachgelesen, die ich damals, 1973, im Bundesrat gehalten habe. Da ging es um die Frage, ob das Rentenniveau 45 Prozent oder 54 Prozent betragen sollte. Das können Sie aber aus zwei Gründen hier überhaupt nicht anführen - ich sage das nur, weil ich möchte, daß die Diskussion fair geführt wird -: Wir hatten damals eine ganz andere Rentenberechnung. Damals gab es noch das „time-lag". Damals wurde die Rentenanpassung nach dem Durchschnitt der Einkommen in den zurückliegenden drei Jahren berechnet. Das heißt, damals hat man die Rente des Jahres 1974 nach dem Durchschnitt der Löhne der drei vorvergangenen Jahre berechnet. Das ist mit der heutigen Berechnungsmethode überhaupt nicht vergleichbar. Heute gibt es ja eine aktualisierte Anpassung.
Zweitens, Herr Dreßler, hat sich die ganze Diskussion damals daran entzündet - das ist nun wirklich ein Unterschied zu heute -, daß die Inflationsrate für
Rentnerhaushalte im Jahre 1973 bei sage und schreibe 9,2 Prozent lag - das hat damals diese Diskussion ausgelöst -, und das dauerte schon mehrere Jahre an; das war im Jahre 1972 und im Jahre 1971 schon so. Für Haushalte mit Kindern betrug die Inflationsrate 7,2 Prozent im Schnitt; bei den Rentnerhaushalten betrug sie, wie gesagt, über 9 Prozent. Man kann nur von Glück sagen, daß es solche Zustände heute nicht mehr gibt. Das hat auch etwas damit zu tun, daß wir es sind, die an der Regierung sind. Man kann sagen: Daß wir heute keine Inflation, sondern Preisstabilität haben, das ist nun wirklich das Ergebnis der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Christlich-Demokratischen Union und der Koalition.
Deswegen können Sie mit den von Ihnen angeführten Beispielen nicht kommen.
Frau von Renesse, ich bitte Sie nun wirklich: Vermischen Sie nicht ein Problem mit einem zweiten. Wir müssen für die Frauenrenten noch etwas tun; das ist auch meine Meinung. Das ist noch unbefriedigend. Der jetzige Zustand hängt aber vor allem damit zusammen, daß das Lohnniveau bei Frauen immer noch geringer als das bei Männern ist. Das ist der eigentliche Grund. Aber die Anerkennung von Erziehungsjahren hätten Sie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung - das waren 13 Jahre - längst machen können. Sie haben es immer abgelehnt.
Die Anerkennung von Erziehungsjahren ist von Norbert Blüm, Helmut Kohl und mir, von uns allen miteinander, angestoßen worden. Von uns kam die Idee. Wir haben nämlich gesagt, daß die Arbeit in der Familie und die Erziehung der Kinder im Prinzip genausoviel wert sind wie die Arbeit im Büro oder in der Fabrik.
Herr Dreßler, damit hatten Sie ja jahrzehntelang ideologische Schwierigkeiten.
Denn nach dem marxistischen Arbeits-, Welt- und Menschenverständnis konnte man ja gesellschaftlich relevante, wertvolle Arbeit nur im Produktionsprozeß leisten. Insoweit hatten ja der Kapitalismus und der Sozialismus dasselbe Menschenbild. Wertvolle Arbeit gab es nur im Produktionsprozeß. Deswegen hat man auch nur diese Art von Arbeit akzeptiert, während wir gesagt haben: Die Arbeit in der Familie ist genausoviel wert wie die im Büro, und infolgedessen müssen wir etwas tun, damit das auch bei der Altersrente anerkannt wird. Das war eine Konzeption der Christlich-Demokratischen Union. Wir haben sie in den Jahren 1985 und 1986 zusammen mit den Liberalen -, die ein wenig über ihren neoliberalen Schatten springen mußten, bis sie soweit waren; sie haben das mit uns gemacht, nicht mit Ihnen - umgesetzt.
Wir haben als erste die Anerkennung der Erziehungsjahre durchgesetzt.
Dr. Heiner Geißler
Frau von Renesse, das Entscheidende für die Frauen war damals, daß wir die Wartezeit von 15 Jahren auf fünf Jahre reduziert haben. Wenn eine Frau damals bei einjähriger Anerkennung zwei Kinder hatte, dann mußte sie noch drei Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung leisten, und dann stand ihr schon damals eine vom Mann unabhängige Rente zu.
Heute anerkennen wir pro Kind drei Jahre. Wenn nun eine Frau zwei Kinder hat, dann braucht sie überhaupt keine Beiträge mehr in die Rentenversicherung einzubezahlen, die Wartezeit beträgt fünf Jahre. Sie hat eine eigenständige Rente. Daß das bei allen beklagenswerten Weiterentwicklungsnotwendigkeiten, die wir bei der Frauenrente haben, so ist, ist einfach auf die Initiative der CDU/CSU und der F.D.P. und nicht auf Ihre zurückzuführen. Von den anderen Dingen will ich erst gar nicht reden.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. Lieber Herr Dreßler, ich versuche, es noch einmal in aller Ruhe zu sagen, weil es zu dem Szenario mit Scherbenhaufen und Intensivstation - so haben Sie das früher genannt - gehört. Wir können uns doch vielleicht auf eine Sprachlogik und die richtigen Begriffe verständigen.
Wenn ich ein Einkommen in Höhe von 6 000 DM habe - egal, ob Rente oder Lohn -, und Sie sagen, Ihnen wird das Einkommen um 5 Prozent gekürzt, dann heißt das auf Deutsch gesagt, daß die 6 000 DM um 5 Prozent weniger werden - das sind 300 DM -, dann bleiben mir noch 5 700 DM. Das und nichts anderes versteht der normale Mensch unter Kürzung.
Wenn Herr Wiesehügel mir sagt, „ich will eine Lohnerhöhung von 2,8 Prozent haben, weil ich das für richtig halte", und dann kommt in den Tarifverhandlungen eine Lohnerhöhung von 1,5 Prozent heraus, dann sagt er doch nicht, „der Bauarbeiter, der am Tag 200 DM verdient, hat, wenn ich in den Tarifverhandlungen eine Lohnerhöhung von 1,5 Prozent statt eine um 2,8 Prozent erreicht habe, eine Lohnkürzung von 1,3 Prozent", sondern dann sagt auch Herr Wiesehügel seinen Bauarbeitern: „Wir haben zwar nicht soviel bekommen, wie wir erwartet haben, aber ich habe eine Lohnerhöhung um 1,5 Prozent erreicht." Das ist doch richtig.
Wenn wir jetzt sagen, „die Renten werden auch in Zukunft jedes Jahr erhöht", dann bedeutet das nicht eine Rentenkürzung, sondern eine Rentenerhöhung. Auch wenn die Rentenanpassung etwas geringer ausfällt, gegenüber dem gemindert ist, was ursprünglich einmal vorgesehen war, dann bleibt es dennoch eine Rentenerhöhung. Wenn Sie etwas anderes sagen, dann betreiben Sie zumindest eine Vergewaltigung der deutschen Sprache, eine Mißachtung der Sprachlogik,
und, was noch viel schlimmer ist: Sie betreiben absichtlich eine Täuschung der Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande, und das sollten Sie bleiben lassen.