Rede von
Ottmar
Schreiner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Wenn Sie mir eine Minute mehr Redezeit geben, drossele ich das Tempo ein bißchen.
Der Kollege Kauder hat der SPD vorgehalten, wir hätten in den letzten Jahren in Sachen Lebensarbeitszeit gewissermaßen einen Schlingerkurs gefahren, wir hätten im vorigen Jahr die Koalition kritisiert, als sie die Lebensarbeitszeiten angehoben hat, und hätten unsererseits im eigenen Rentenreformvorschlag die Option für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit eröffnet.
Letzteres, Herr Kollege Schäuble, ist richtig, und auch ersteres ist richtig. Wir haben seit 1989 immer wieder gesagt: Eine Lebensarbeitszeitverlängerung kommt für die sozialdemokratische Fraktion nur dann, aber auch dann nur möglicherweise: in Betracht, wenn es gelingt, den Arbeitsmarkt vorher in Ordnung zu bringen. Wir haben über Jahre die gleiche stringente Argumentation vorgetragen, daß es geradezu närrisch und widersinnig wäre, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit die Lebensarbeitszeit zu verlängern, weil eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nichts anderes bedeutet, als das vorhandene Arbeitsvolumen auf noch weniger Schultern zu verteilen, das heißt, die Arbeitslosigkeit zusätzlich zu erhöhen.
Bei 4,3 Millionen registrierten Arbeitslosen, Stand 1997, besteht nicht der allergeringste Bedarf, die Arbeitslosigkeit über falsche Arbeitszeitentscheidungen weiter nach oben zu treiben, Herr Kollege Kauder.
Das war eine von uns über Jahre schlüssig vorgetragene Linie. Es macht überhaupt keinen Sinn, hier mit solchen Halbwahrheiten und Ammenmärchen zu versuchen, die eigene Position zu beschönigen.
Nächster Punkt. Mich erstaunt immer wieder, mit welcher Leichtigkeit der Bundesarbeitsminister und die Koalition es schaffen, Probleme, die - auf Grund des demographischen Wandels - unstreitig nach dem Jahre 2015 entstehen werden, als jetzt zwingend zu lösende Probleme in den Vordergrund der Diskussion zu schieben und damit alle wirklichen Probleme erst einmal aus dem Tageslicht herauszunehmen. Der hier bereits mehrfach zitierte Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger, der Kollege Erich Standfest, hat dies, Herr Minister, vor wenigen Wochen in einem Interview als ein Meisterstück der politischen Demagogie bezeichnet. Das ist in der Tat das, was hier abläuft,
weil von den eigentlichen Kernproblemen, die auch die Finanzierbarkeit der Renten und der Altersversorgung insgesamt unmittelbar und zentral berühren, abgelenkt wird, nämlich von den Fragen: Gelingt es auf europäischer Ebene, das nationale Sozialstaatsmodell zu verankern? Gelingt es, die Massenarbeitslosigkeit drastisch zurückzuführen? Gelingt es, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis in einer modernen Form als Finanzierungsgrundlage der Rentenversicherung zu erhalten? Das sind die drei zentralen Fragestellungen, von denen Sie ablenken, bei denen Sie Nebel werfen und eine Gespensterdiskussion zu einer Zeit führen, zu der diese Diskussion überhaupt nicht notwendig wäre.
Nun zwei Dinge zur Generationengerechtigkeit. Es ist schon ein erstaunliches Verständnis von Generationengerechtigkeit, wenn man sagt: „Wir senken das Nettorentenniveau auf 64 Prozent ab." Dies geschieht vor dem Hintergrund hoher Massenarbeitslosigkeit. Das bedeutet, daß der jetzigen jungen Generation, der jetzigen beitragszahlenden Generation zugemutet wird, daß sie später eine Rente erhält, die sie unmittelbar in die Nähe der steuerfinanzierten Sozialhilfe führt. Was hat das eigentlich noch mit Generationengerechtigkeit zu tun? Sie betreiben das genaue Gegenteil.
Ottmar Schreiner
Eine weitere Anmerkung zum Stichwort Generationengerechtigkeit. Die Besorgnisse der jungen Menschen in Deutschland beziehen sich nicht primär auf die Höhe der Beiträge, sondern auf die Sicherheit ihrer späteren Rentenanwartschaften. Die Jungen ziehen damit die rationale Konsequenz aus der immer wieder erlebten Erfahrung, daß die herrschenden politischen Kräfte in Deutschland entschlossen sind, den Sozialstaat weiter abzubauen, um damit ihre eigene Umverteilungspolitik zugunsten des oberen Drittels der Gesellschaft zu finanzieren, Stichwort: Verzicht auf die Vermögensteuer.
Die jetzige Regierung - das ist der eigentliche Vorhalt - vermittelt den jungen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen eine politische Sozialisation in dem Sinne, daß Solidarität immer dann über Bord geworfen wird, wenn sie dringendst gebraucht wird und notwendig ist.
Unter diesen Bedingungen kann es bei der jungen Generation kein Vertrauen in die Fortdauer des Sozialstaats geben. Die subjektiv verständliche Reaktion heißt dann: Rette sich, wer kann.
Die Bundesregierung nimmt die von ihr selbst verursachte Vertrauenskrise als Rechtfertigung für weitere Einschnitte. Indem die Bundesregierung fortlaufend die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, macht sie den Vertrauensschaden bei der jungen Generation nur noch größer. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis der Panik.
Ich habe Ihnen die drei zentralen Problemkreise zu benennen versucht, vor deren Diskussion, Erörterung und Lösung Sie sich drücken. Nochmals: Das Kernthema, um das wirklich gestritten werden müßte, lautet, ob die sogenannte Globalisierung, ob der europäische Binnenmarkt eine wirtschaftsliberale Revolution erfordert, wie dies von seiten der Koalition immer wieder vorgetragen wird, oder ob das Sozialstaatsmodell, das in Deutschland über Jahrzehnte getragen hat, auch unter veränderten ökonomischen Bedingungen eine Zukunft hat. Das ist die zentrale Frage, von deren Beantwortung auch die weitere Finanzierbarkeit der Rente abhängt.
Dies sollte jedem klar sein, der über aktuelle rentenpolitische Fragen diskutiert. Wer diesen gesellschaftspolitischen Hintergrund vernachlässigt und so tut, als ginge es nur um Beitragssätze, handelt politisch naiv. Deshalb kann die bevorstehende - „Rentenreform 1999", wie sie Arbeitsminister Blüm jetzt nennt, aussehen, wie sie mag - sie wird keine Ruhe schaffen. Eine Reform wird die andere ablösen, solange sich die Politik von der meines Erachtens illusionären und grundfalschen Vorstellung leiten läßt, daß niedrigere Löhne und niedrigere Sozialleistungen auf dem Weg über Standortvorteile zu mehr Beschäftigung führen.
Die soziale Sicherung in Deutschland - und auch die Rentenversicherung - wird erst dann wieder eine sichere Perspektive haben, wenn es gelingt, im Rahmen der Europäischen Union den ruinösen Standortwettkampf um Deregulierung, niedrige Löhne, Sozialabbau und Steuererleichterungen für die Wohlhabenden zu stoppen und das Projekt Sozialstaat neu zu beleben, das auf der nationalstaatlichen Ebene kaum noch funktionieren kann.
Meine Damen und Herren, es ist immer wieder auf die Höhe der Sozialleistungen hingewiesen worden. Vor wenigen Wochen hat der Bundesarbeitsminister an die Damen und Herren der Koalitionsfraktionen einen Brief geschickt. Diesem Brief konnte man zwei Botschaften entnehmen. Die erste Botschaft: Kein Land in der Europäischen Union hat in den letzten sieben Jahren so massiven Sozialabbau betrieben wie die Bundesrepublik Deutschland.
Zweite Botschaft: Im internationalen Vergleich der Europäischen Union liegt die Sozialleistungsquote Westdeutschlands - nur sie ist vergleichbar - inzwischen im unteren Drittel, neben Portugal, Griechenland und Irland.