Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine List der Geschichte, daß das Stärkste, womit Helmut Kohl von Amsterdam zurückgekommen ist, das ist, was er eigentlich gar nicht erreichen wollte, nämlich die Verankerung der Verpflichtung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Das ist das zentrale Ergebnis, und es mußte gegen die Bundesregierung durchgesetzt werden.
Durch die Äußerung des Finanzministers ist hier erneut deutlich geworden: Er hat immer noch nicht verstanden, daß es bei diesem Ringen um die Verankerung dieser Frage um ein grundsätzliches Ringen zwischen neuem Denken - sozialdemokratische Positionen, die in unseren europäischen Nachbarländern auch die Regierungen vertreten - und dem alten Denken geht, das von der Vorstellung ausgeht, der
Neoliberalismus und die Orientierung auf die Märkte regelten alles.
Das Ergebnis dieses grundsätzlichen Ringens ist die Formulierung eines solchen Beschäftigungskapitels und auch der Erklärung zum Stabilitätspakt. Das ist ein politischer Durchbruch, ein Signal auch an die Adresse der arbeitslosen Menschen in Europa: Es werden andere Prioritäten gesetzt.
Nach dem, was Theo Waigel hier gesagt hat, hat man den Eindruck, er hat immer noch nicht verstanden, worum es geht. Ich muß ehrlich sagen, mich erinnert diese Haltung „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause" an die Haltung eines Bahnhofsvorstehers, der in Zeiten der schnellen Bahnverbindungen am liebsten immer noch den Sonderzugfahrplan für seinen eigenen Bahnhof herausgeben möchte. So wird der Eindruck erweckt, als könnte Politik immer noch in jedem einzelnen Staat allein und im Gegeneinander zu den anderen Mitgliedstaaten betrieben werden.
Ich lege Wert auf die Feststellung: Die Bundesregierung hat in keinem einzigen Fall ihre Streichungsvorschläge für dieses Beschäftigungskapitel durchgesetzt. Das, was wir durchgesetzt haben, ist Ausdruck der Überzeugung: So wie wir den Frieden in Zeiten der globalen Entwicklung nur gemeinsam sichern können, so können wir auch die Massenarbeitslosigkeit nur gemeinsam bekämpfen. Ich vermisse die entsprechende Äußerung von Theo Waigel. In der Erklärung zum Stabilitätspakt gibt es eine Aussage zur Bekämpfung von Steuerdumping in der Europäischen Union. Dazu habe ich kein einziges Wort gehört. Es paßt eben nicht in sein neoliberales Weltbild.
Es wurde argumentiert - auch in der letzten Debatte, obwohl wir es mehrfach erklärt haben -, da wollten welche finanzintensive Beschäftigungsprogramme. Hier wurde bewußt ein Pappkamerad aufgebaut, hinter dem die Bundesregierung zu verbergen suchte, daß sie beim Beschäftigungskapitel klein beigeben mußte.
Ich möchte an den Finanzminister gerichtet ganz klar und eindeutig sagen: Die Tatsache, daß Deutschland ein struktureller Nettozahler ist, hat mit der Agrarlastigkeit des EU-Haushalts zu tun. Von 170 Milliarden DM wird die Hälfte für Agrarsubventionen ausgegeben. Der Rückfluß in die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb so gering, weil nur 1,5 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten. Lediglich 3,7 Prozent des EU-Haushaltes werden für Forschung und Technologie ausgegeben. Das ist doch ein Anachronismus. Das ist die teuerste Art der Subventionierung von Arbeitsplätzen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Sie ist die ineffektivste, die unökologischste und im übrigen eine Subventionierung, wo bei den Landwirten mit kleinen Einkommen am wenigsten ankommt.
Es stellt sich natürlich die Frage: Wo könnten Finanzmittel sinnvoller eingesetzt werden? Schon eine Teilliberalisierung im Bereich der Agrarpolitik, mit Beihilfen, die dann auch ökologisch gestaltet werden könnten, würde dazu beitragen, im EU-Haushalt 9 Milliarden DM einzusparen. Die Bundesrepublik Deutschland könnte dann 2,3 Milliarden DM sinnvoller und vernünftiger einsetzen oder gar einsparen.
Es ist doch absurd, daß im EU-Haushalt für die Subventionierung der Zuckerproduktion 3,3 Milliarden DM ausgegeben werden. Ein solches Programm, eine solche Initiative, das gleiche Geld für den Anschub von Zinserleichterungen bei Krediten für kleine und mittlere Unternehmen eingesetzt, könnte dazu führen, daß Hunderttausende zukunftsorientierte Arbeitsplätze geschaffen werden. Solche Programme, solche Initiativen legt die Europäische Kommission auch vor.
Wir appellieren also an Sie, Herr Finanzminister: Tragen Sie dazu bei, daß in diesem Bereich umgestaltet wird, und setzen Sie nicht Ihre falschen Initiativen bei der fälschlicherweise auf Landwirte orientierten Politik fort; denn sie nutzt in letzter Konsequenz den Landwirten nichts. Sie ist aber schädlich für die europäische Weiterentwicklung.
Herr Bundeskanzler, in dem Bereich, in dem Sie selbst die größten Erwartungen geweckt haben, nämlich bei der Reform der EU-Institutionen, sind Sie mit dem kleinsten Ergebnis zurückgekommen.
Die Zeitung „El Pais" schreibt:
Der deutsche Bundeskanzler Kohl, sonst eigentlich der Motor der europäischen Einigung, wurde zum nationalen Zerberus, der dafür sorgte, daß in praktisch allen Bereichen der gemeinsamen Politik das Veto aufrechterhalten bleibt.
Wegen taktischer Rücksichten auf Herrn Stoiber haben Sie damit die historische Aufgabe, neue EUMitgliedsländer aus Mittel- und Osteuropa in dem von Ihnen vorgebenen Zeitrahmen aufzunehmen, gefährdet. Denn dadurch, daß zukünftig die Reformen der Europäischen Union parallel oder während der Beitrittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Ländern stattfinden, kann der geplante Beitritt von mittel- und osteuropäischen Staaten zeitlich verzögert werden. Dazu haben Sie beigetragen.
Das steht im Widerspruch zu Ihren eigenen Ankündigungen. Das steht im Widerspruch zu den Versprechungen, die Sie mittel- und osteuropäischen Ländern gemacht haben. Das steht auch im Widerspruch zu der Position, die Herr Kinkel und Herr Hoyer in der Regierungskonferenz bezogen haben.
Ich erinnere daran: Sie haben ausweislich des „Bulletins" der Bundesregierung vom 14. Juli 1995
bei Ihrem Besuch in Polen 1995 gesagt, sie wünschten, daß Polen noch in diesem Jahrzehnt seinen Weg in die Europäische Union finde.
Ich sage an dieser Stelle: Wir befürchten, daß hier falsche Erwartungen von Ihnen geweckt worden sind und daß es, wenn diese Erwartungen jetzt nicht erfüllt werden, zu großen Enttäuschungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern kommt, zumal wenn nur ein Teil dieser Länder in die NATO aufgenommen wird.
Das ist eine hochgefährliche Situation und Entwicklung. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie hier deutlich sagen, wie Sie das Ziel, das Sie versprochen haben, erreichen wollen und wie Sie andererseits die nicht erfolgte Reform bei den Verhandlungen des Vertrags von Amsterdam begründen wollen. Sonst kann sich Ihre opportunistische Rücksichtnahme auf Edmund Stoiber als schwere Hypothek für die beginnenden neuen Beitrittsverhandlungen erweisen.
Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich denke, es muß auch bei diesem Vertrag und bei der Umsetzung in einem Bereich, nämlich bei der Innen-
und Rechtspolitik, noch nachgearbeitet werden. Wir können als Deutscher Bundestag nicht zulassen, daß es Bereiche gibt, die der parlamentarischen Entscheidung und Kontrolle entzogen werden.
Wir müssen dazu beitragen, daß dies bei den Ratifizierungsverhandlungen ganz klar wird. Es gibt für diesen Bereich die Vergemeinschaftung. Es gibt die Einstimmigkeit im Ministerrat. Wir müssen als Deutscher Bundestag deshalb bei der Ratifizierung sicherstellen, daß die Bundesregierung in den sensiblen Fragen der inneren Sicherheit, des Rechts und der Justiz keine Entscheidung im Ministerrat unter Ausschluß der Öffentlichkeit treffen kann, zu der nicht der Deutsche Bundestag vorher in offener Debatte sein Ja gegeben und seine Aussage gemacht hat.
Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen und sage das auch an die Adresse der Regierung - die F.D.P. hat sich in dieser Frage ganz eindeutig und offen geäußert -: Wir erwarten, daß Sie davon ausgehen und klar wissen, es wird bei der Ratifizierung im Deutschen Bundestag eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein. Gehen Sie davon aus, daß es bei der Bedeutung einer Übertragung von Rechten im Innen-
und Justizbereich einer Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag bedarf. Schaffen Sie bei den entsprechenden Gesetzen dazu die Voraussetzungen!