Rede von
Franz
Thönnes
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei den heutigen Beratungen über das Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste dürfen wir eines nicht vergessen: Die rechtliche Zugangssicherung zu Informationen und gesetzliche Vorschriften über deren Verbreitung und Nutzung gewährleisten allein noch nicht die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Informationsgesellschaft.
Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft ist die Ausbildungs- und Fortbildungspolitik von zentraler Bedeutung. Das Bildungswesen hat. die Aufgabe, die Menschen auf ein Leben mit den neuen Techniken vorzubereiten und dem einzelnen Medienkompetenz zu vermitteln, die zu einem aktiven und verantwortungsbewußten Umgang mit der neuen Vielfalt der Informationen und ihrer Herkunft aus vielen unterschiedlichen Kulturen befähigt. Dem Technologierat ist hier zuzustimmen.
Angesichts der rasanten Entwicklung der globalen Informationsgesellschaft sehen wir uns allerdings einem dramatischen Handlungsdruck ausgesetzt. Die Halbwertszeit des menschlichen Wissens liegt heute bei zirka fünf Jahren. Das heißt, innerhalb dieses Zeitraumes veralten 50 Prozent von dem, was man gelernt hat. Das technische Wissen über Software erneuert sich nahezu innerhalb eines Jahres. Nach Auffassung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit ist davon auszugehen, daß im Jahre 2000 nur noch ein Drittel aller Beschäftigten ohne PC-Kenntnisse auskommen wird.
In ihrem Bericht „Info 2000" zieht die Bundesregierung aus den Herausforderungen die Schlußfolgerung, eine Bildungsoffensive zu starten. Nun stehen wir aber auf der Welt nicht alleine da. Andere Länder sind genauso herausgefordert und reagieren.
Wo steht nun die Bundesrepublik Deutschland? Vergleicht man die Zahl der Schülerinnen und Schüler pro PC an den Schulen und nimmt die letzten verwertbaren Erhebungen, so ergibt sich folgendes Ergebnis: 1995 kamen in Großbritannien je nach Schul-
Franz Thönnes
typ 5 bis 18 Schüler auf einen PC, in Schweden waren es 8 bis 19, in den USA im Durchschnitt 9, in Finnland 11 bis 28, in Dänemark 25, in Frankreich 30, und als Schlußlicht kommt Deutschland mit 63 Schülern auf einen PC. Das ist heute die Realität.
So ist es denn auch kein Wunder, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Medienkenntnisse bislang weniger in der Schule, sondern eher in der Freizeit erwerben. Damit aber sind die Zugangschancen bereits heute erheblich ungleich verteilt. Der Präsident des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Albin Dannhäuser, hat recht, wenn er sagt:
Ein Teil verfügt heute zu Hause über Computer und Multimedia. Ein anderer großer Teil - das heißt, aus sozial schwächeren Familien - ist ausschließlich auf die Ausstattung in den Schulen verwiesen. Es muß deshalb verhindert werden, daß unsere Schülerschaft - und damit die Gesellschaft - zerfällt in eine privilegierte und in eine technologisch gebildete Elite und in technologische Analphabeten.
Angesichts der momentanen Ausgangslage ist damit die Gefahr einer neuen Privatisierung von Ausbildungskosten gegeben. Wollen wir aber ein Bildungsgefälle verhindern und die internationale Wettbewerbsfähigkeit sowie die Stabilität der Demokratie nicht gefährden, dann darf es dazu nicht kommen.
Es geht nämlich nicht nur um das Erlernen, wie man den PC als Textverarbeitungswerkzeug, als Gefährt für die Datenautobahn oder als Spielelement anwendet. Es geht um die Medienkompetenz und damit um den Erwerb einer Reihe von Schlüsselkompetenzen. Dazu gehören die technische Kompetenz, um die Technologien möglichst problemlos anwenden zu können, die Kompetenz zum Wissensmanagement, um zielgerichtet mit Informationen umzugehen, die soziale Kompetenz mit der Fähigkeit zur Kommunikation, zur Kooperation und zur Teamfähigkeit, aber auch die Kompetenz zur persönlichen Entscheidungsfindung, um angesichts der schnellen Veränderungen im Rahmen einer moralischen und gesellschaftlichen Wertvorstellung, die der jeweilige hat, Entscheidungen treffen zu können.
Last, but not least geht es auch um die damit verbundene demokratische Kompetenz, die - geprägt von ethischen Wertvorstellungen, Verantwortungsbewußtsein, Solidarität und Toleranz - dazu beiträgt, die demokratische Informationsgesellschaft zu gestalten.
Damit endet Lernen in der Informationsgesellschaft nicht mit dem Erwerb des Schulabgangszeugnisses, des Gesellenbriefes oder des Hochschuldiploms. Fakten und Regeln lernen muß zunehmend durch das „Lernen lernen" ersetzt werden. Der einzelne ist gefordert, sein Wissen permanent zu aktualisieren. Leitbild muß das Life-long-learning werden. Damit kommt auf die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen eine ganz besondere Herausforderung zu. Sie erhalten veränderte Aufgaben. Zielvorstellung muß es sein, daß die Lehrenden Moderatoren im Bildungsprozeß und damit Partner des Lernens werden.
Hiermit sind wir bei einem der zentralen Zukunftsinvestitionsbereiche in der Informationsgesellschaft; denn ein Konzept der rein materiellen Infrastrukturverbesserung wird den Anforderungen nicht gerecht. Vielmehr kommt es darauf an, in allen Bildungsbereichen die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zu verstärken. Lehrerinnen und Lehrer werden an den Universitäten immer noch unzureichend auf den Umgang mit den neuen Medien vorbereitet. Von über 4800 Veranstaltungen im Bereich der Erziehungswissenschaften wurden im Wintersemester 1994/95 gerade einmal 4 Prozent mit dem Themenbereich Medien ausgestattet. Nur 3 bis 6 Prozent der deutschen Hochschullehrer nutzten 1995 die neuen Medien für besseres Lehren. In Australien - um nur ein Land zu nennen - lag die Zahl dagegen bei 27 Prozent.
700 000 Lehrerinnen und Lehrer sind in der Bundesrepublik Deutschland ein gigantischer Investitionsfaktor. Allen, die sich diesem wichtigen Aufgabenfeld zuwenden und die den Prozeß pushen wollen, gehört unsere Unterstützung. Aber dies darf nicht nur mit Worten geschehen, sondern es müssen wirklich die notwendigen Mittel bereitgestellt werden.
Übrigens, Herr Minister, genau heute vor einem Jahr, am 18. April, wurde die Initiative „Schulen ans Netz" ins Leben gerufen. Viele von uns haben sie vor Ort unterstützt, und sie ist auf breite Akzeptanz gestoßen. Aber wenn Sie darauf verweisen, daß bereits in den 23 Millionen DM aus Ihrem Hause ausreichend Mittel für die Lehrerfortbildung enthalten seien, dann muß ich sagen, daß das schlicht ein Unding ist.
Natürlich haben die Länder - das ist auch gut so - draufgesattelt. Aber wenn man sieht, daß für Hamburg gerade einmal 37 000 DM und für SchleswigHolstein nur 48 700 DM für diese Initiative zur Verfügung stehen, dann muß ich feststellen, daß das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Die von Ihnen angekündigte Bildungsoffensive wird zu einem lauen Lüftchen und zu mehr nicht. Deswegen muß draufgesattelt werden. Wir haben bei den Haushaltsberatungen für dieses Jahr versucht, 25 Millionen DM für Ausbilderinnen und Ausbilder und für die Lehrerfortbildung zusätzlich einzustellen. Denn es nützt überhaupt nichts, hohe Zahlen an Anschlüssen in den Schulen zu haben, wenn diejenigen, die ausbilden sollen, dazu nicht in der Lage sind und selber dazu nicht befähigt wurden. Deswegen klaffen hier wie in anderen Arbeitsfeldern des Zukunftsministeriums Reden und Taten auseinander.
Wir müssen uns sputen; denn die anderen Nationen legen kräftig zu, jeweils mit den unterschiedli-
Franz Thönnes
chen Strukturen, die sie haben. In den USA besteht die Absicht, bis zum Jahre 2000 alle Schulen ans Netz zu bringen. Frankreich hat die gleiche Zielvorstellung. Dänemark, Finnland und Großbritannien wollen ebenfalls dieses Ziel anvisieren. Wenn wir gerade einmal 10 000 Schulen in zwei Jahren ans Netz bringen, dann wissen wir, wo wir im Jahre 2000 stehen. Hier muß gepusht werden; das muß schneller gehen. Da darf der Bund nicht nur anstoßen und appellieren. Da muß man Zukunft gestalten, und zwar aktiv und kooperativ mit den Ländern.
Wieso sollen wir nicht die Vision entwickeln, zur Jahrtausendwende junge Menschen mit einem Laptop analog einem Schulbuch auszustatten? Wieso soll das nicht ein visionäres Ziel sein, an dem sich alle gemeinsam orientieren? Aber dann haben wir ein Investitionsvolumen in einer Größenordnung von bis zu 2 Milliarden DM.
Man muß fragen: Wo bleibt da die Initiative des Zukunftsministers, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen, eine Bildungspartnerschaft mit der Wirtschaft, den Gemeinden, den Städten und den Kommunen zu gestalten
und den Versuch zu machen, diese geballte Nachfrage in den Markt einzubringen, um vernünftige Preisrelationen herbeizuführen?
Wir können hier doch nicht darüber reden, daß wir vor einer dritten industriellen Revolution stehen, und dann so tun, als ginge es nur darum, irgendein kleines Netz auszubauen. Der Bund ist hier gefordert - schon allein nach Art. 91 b des Grundgesetzes -, den Versuch zu machen, bei solchen bedeutenden Vorhaben mit den Ländern zusammenzuwirken. Manchmal muß man schon sagen: Das Zukunftsministerium braucht einen stärkeren Treiber. Aber was nützt das, wenn der Chip zu klein ist?
Es ist notwendig, gezielte Initiativen und intelligente Finanzierungsmodelle für die Bereitstellung der technischen Medien und für die Reduzierung der anfallenden laufenden Kosten in Gang zu bringen, Empfehlungen für die Gestaltung der Lehreraus- und -fortbildung herauszugeben und gemeinsam mit den Ländern abzustimmen sowie curriculare und schulorganisatorische Integration von neuen Medien voranzubringen. Es ist außerdem notwendig, neue innovative Medienprojekte gemeinsam zu initiieren und Begleitforschung zu betreiben.
Der Anspruch, Multimedia möglich zu machen, darf sich nicht in Ankündigungen erschöpfen, darf sich nicht auf Anstöße reduzieren und kann nicht nur mit gesetzlichen Regularien und Schönwettererklärungen gestaltet werden. Zukunft gestalten heißt auf die Zukunft zugehen und deren Entwicklung nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Zukunft der Informationsgesellschaft gestalten heißt deswegen vorrangig und an erster Stelle, in die Köpfe der Menschen zu investieren.