Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis heute, sieben Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, erlebe ich es immer wieder, daß von Europa gesprochen wird und dabei nur die Europäische Union gemeint ist.
In der heutigen Debatte geht es um Europa, aber ohne diese Einschränkung.
Wir haben heute die historische Chance, Europa friedlich und auf der Grundlage gemeinsamer Wertorientierungen zu gestalten. In der Charta von Paris aus dem Jahre 1990 sind diese Grundlagen beschrieben. Alle Staaten Europas haben sich dazu bekannt.
Eine getrennte Entwicklung in Europa ist heute nicht mehr möglich. Herr Francke, Sie haben dies soeben schon gesagt. Ohne Stabilisierung und Gelingen der Transformationsprozesse im Osten Europas wird es im Westen keine dauerhafte wirtschaftliche und politische Stabilität geben. Europa ist zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden.
Sicherheit und Stabilität sind dauerhaft nur im gesamteuropäischen Rahmen zu gewährleisten. Die Grundbegriffe europäischer Politik sind deshalb Kooperation und Integration: die möglichst intensive und verbindliche Kooperation der Europäischen Union und der NATO mit Rußland sowie der Ukraine einerseits und die Integration der Staaten Ostmitteleuropas in die westlichen Strukturen andererseits.
Die Entwicklungen in Rußland und in der Ukraine sind für Europa von lebenswichtigem Interesse. Das Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der EU und Rußland, das heute auf der Tagesordnung steht, ist ein wichtiger Schritt, die Kooperation mit Rußland auf allen Gebieten zu intensivieren und zu gestalten. Wir alle wissen, mit welchen Unsicherheiten und Risiken die Entwicklung in Rußland behaftet ist.
So wichtig der russische Präsident für die Zukunft Rußlands ist, so dürfen wir trotzdem nicht der Gefahr erliegen, nur auf den Mann an der Spitze zu starren. Wir brauchen eine breitere Kommunikation nach Rußland und in Rußland und auch in die sogenannte Provinz; denn Rußland ist deutlich mehr als Moskau. Wir sollten vielfältige zentrale Kooperationsstrukturen schaffen und den Kontakt zu den wirklichen Demokraten nicht abreißen lassen, auch dann nicht, wenn sie nicht gleich Mehrheiten mobilisieren können.
- Ich danke Ihnen.
Vergleichbares gilt für die Ukraine, die allzuoft im Schatten der Beziehungen zu Rußland steht. Dabei sollten wir größtes Interesse haben, den ausgeprägten Willen der Ukraine nach westlichen Bindungen zu unterstützen.
Die Europäische Union hat für die Gestaltung Europas eine Schlüsselrolle. Auf sie richten sich alle Hoffnungen der Völker Mittel- und Osteuropas. Mit der Europäischen Union gestalteten die westlichen Staaten unter dem Druck des Kalten Krieges ein in der Geschichte unübertroffenes Werk, ein Zukunftswerk. Durch Integration gelang es, Wohlstand zu fördern, alte Konflikte durch rechtlich geregelten Interessenausgleich zu überwinden und Demokratie zu stärken. Die Staaten Ostmitteleuropas, Südosteuropas und die baltischen Staaten waren ein halbes Jahrhundert von dieser Entwicklung abgeschnitten. Ihrer Tradition und Kultur nach sowie entsprechend ihrem Willen und ihrem Selbstverständnis gehören sie jedoch dazu.
So geht es bei dem Prozeß der Erweiterung der Europäischen Union im eigentlichen Sinne nicht um eine Erweiterung, sondern um die endlich möglich gewordene Öffnung. Man könnte mit Willy Brandt sagen: Es wächst zusammen, was zusammengehört. - Jedenfalls gibt es diese Chance, und wir müssen sie ergreifen.
In Zeiten des Kalten Krieges hatte man sich angewöhnt, in allen Fragen, die Ostmitteleuropa angehen, den Schlüssel in Moskau zu suchen. Das war damals auch nicht ganz falsch. Es hatte gewissermaßen eine Tradition. In Polen aber steckt die leidvolle Erfahrung tief, zwischen Rußland und Deutschland zu liegen und gewissermaßen in der eigenen Existenz zu einer Funktion des russisch-deutschen Verhältnisses zu werden.
Nach der Charta von Paris muß nun für alle Zukunft klar sein: Die Gestalt Europas gründet sich auf die Selbstbestimmung der Staaten und Völker. Die Staaten Ostmitteleuropas sowie die baltischen Staaten sind heute selbst Subjekte europäischer Politik. Die Beziehung des Westens zu ihnen darf nicht eine Funktion der Beziehungen zu Rußland sein. Diese Staaten müssen das Recht haben, sich so zu orientieren, wie es ihrer Tradition und ihrem Willen entspricht.
Für die zehn heute mit der Europäischen Union assoziierten Staaten ist der Transformationsprozeß nach dem Jahr 1990 eng mit der Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union verbunden. Den Europa-Abkommen kommt hierbei große Bedeutung zu.
Betrachtet man die letzten sieben Jahre, so stellt man fest, daß sich in diesen Ländern eine rasante Entwicklung vollzogen hat. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zeichnet davon ein beeindruckendes Bild. Es zeigt sich, wie sehr politische Reformen, die Entwicklung demokratischer Strukturen sowie der Aufbau handlungsfähiger und effektiver Verwaltungen einerseits und ökonomische Reformen andererseits in enger Beziehung zueinander stehen. Wo in der Gesellschaft über die Parteigrenzen hinweg ein breiter Grundkonsens über die Notwendigkeit auch schmerzhafter ökonomischer Reformschritte vorhanden war, sind erstaunlich schnelle Erfolge nicht ausgeblieben.
Markus Meckel
Die Vorreiter dieses Prozesses sind Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, aber auch Estland, das deutlich weiter ist als seine baltischen Nachbarn, oder Slowenien, das allzu oft vergessen wird, weil es als frühere Republik Jugoslawiens im Schatten des Krieges und seiner Folgen steht. Dabei sollten die großen Unterschiede zu Serbien und Kroatien durchaus gewürdigt werden. Deshalb glauben wir auch, daß es richtig und wichtig wäre, bei den anstehenden Entscheidungen der NATO und der Europäischen Union auch Slowenien mit einzubeziehen. Wir wären sehr froh darüber, wenn auch der deutsche Verteidigungsminister seinen Widerstand dagegen aufgeben würde.
Wer heute Ost- und Mitteleuropa betrachtet, wird natürlich viele Gemeinsamkeiten und Probleme erkennen, haben doch alle diese Staaten eine vergleichbare Vergangenheit in kommunistischer Zeit, deren Folgen lange nachwirken. Doch werden auch die beträchtlichen Unterschiede zwischen ihnen deutlich. Neben den genannten erfolgreichen Staaten gibt es auch solche, wo die Transformation in vielen Bereichen noch nicht vollzogen ist. Ich nenne Weißrußland, das in diktatorische Verhältnisse zurückzufallen droht, oder auch Bulgarien, das sich in einer tiefen Krise befindet und wo wir dem neuen Präsidenten Stojanow weiterhin eine glückliche Hand wünschen, um in einer gemeinsamen Anstrengung aller reformwilligen Kräfte das Land aus der Krise zu führen, wobei internationale Hilfe dringend notwendig ist.
Auch die Slowakei wird ihre demokratischen Defizite noch beheben müssen, um den gewünschten Weg in die Europäische Union und die NATO zu finden. Wir haben daran großes Interesse.
Ost- und Mitteleuropa haben zwar eine gemeinsame Geschichte, doch sind sie heute kein einheitliches Gebilde mehr. Die Differenzierungen zwischen diesen Ländern sind sehr groß. Deshalb müssen wir auch in den Beziehungen zu diesen Staaten differenzieren, um ihnen gerecht zu werden. Es gibt keinen Ostblock mehr.
Das gilt es auch bei den anstehenden Entscheidungen über die Erweiterung der Europäischen Union zu berücksichtigen. Anfang nächsten Jahres werden nach den Stellungnahmen der Kommission zum jeweiligen Entwicklungsstand eines Landes die ersten Verhandlungen beginnen. Die zentrale politische Aufgabe sehe ich heute darin, sich Gedanken darüber zu machen und zu entscheiden, was wir für die Länder tun können, die in ihren inneren Entwicklungen noch nicht so weit fortgeschritten sind, daß eine Mitgliedschaft in greifbare Nähe rückt. Mit den Festlegungen über den Verhandlungsbeginn brauchen wir eine politische Entscheidung über ein Bündel von Maßnahmen, welches diesen Ländern überzeugend deutlich macht, daß auch ihre Integrationsperspektive glaubwürdig und verbindlich ist.
Die Perspektive für die Integration in die Europäische Union ist für die Fortführung des notwendigen
Reformprozesses und für die Stabilität in diesen Ländern von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig wird man jedoch auch feststellen müssen, daß großen Teilen der Bevölkerung noch nicht wirklich deutlich geworden ist, ein wie tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel damit verbunden ist. Hier braucht es intensive öffentliche Aufklärung und Diskussion. Es ist zum Beispiel heute noch überhaupt nicht ausgemacht, wie man etwa in den Grenzgebieten Ungarns oder der Slowakei reagieren wird, wenn finanzkräftige Wiener ausschwärmen, um sich dort billigere Häuser in schöner Umgebung zu kaufen. Gleiches könnte man von Berlinern in der deutsch-polnischen Region oder natürlich von Dresdnern, Görlitzern oder anderen sagen.
Das gegenseitige Kennenlernen der Menschen in Europa steckt noch immer in den Anfängen. Im Westen ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Ländern und Bevölkerungen in Ost- und Mitteleuropa groß. Wie sehr sie zu unseren eigenen Entwicklungsbedingungen der Zukunft gehören, ist vielen Menschen bei uns noch nicht bewußt. Allzu viele denken noch, es könne im Westen einfach alles so weitergehen. Dabei ist deutlich, daß auch im Westen Europas noch viel getan werden muß, um den aktuellen Herausforderungen in Europa gerecht werden zu können. Nirgendwo ist dies deutlicher als bei der Regierungskonferenz der Europäischen Union.
Die Gesellschaften der östlichen Länder sind in den letzten Jahren sehr in Bewegung gekommen. Die internen Veränderungen sind groß, ebenso der Wille, sich nach Westen zu orientieren. Das gilt insbesondere für die Jugend. Ein wichtiger Gradmesser für die demokratische Entwicklung in einem Land ist das Verhältnis zu Minderheiten. Die ethnischen Minderheiten in den verschiedenen Ländern - es gibt fast überall mehrere - haben ein neues Selbstbewußtsein entwickelt, und sie streiten um ihre Rechte. In einigen Ländern, wie in Polen oder Ungarn, sind die Minderheitenfragen politisch als gelöst zu betrachten, auch wenn es in der Gesellschaft immer wieder unangenehme Vorfälle gibt, aber die haben wir auch in Westeuropa.
Insgesamt aber ist die Lage in diesen Ländern trotz mancher Fortschritte noch instabil. Das zeigt gerade das positive Beispiel Rumänien. Da, wo sich durch einen Regierungswechsel wie jetzt in Rumänien die Lage der Minderheiten deutlich verbessert hat, muß man sich fragen, was durch einen umgedrehten Regierungswechsel in solchen Ländern dann auch wieder passieren kann. Das heißt, hier brauchen wir einfach gefestigtere Strukturen.
Meine Damen und Herren, Deutschland hat bei diesen Entwicklungen unserer östlichen und südöstlichen Nachbarstaaten sowohl durch die nicht zu unterschätzenden deutschen Aktivitäten in den internationalen Organisationen, der Europäischen Union und der NATO, aber auch in einer Fülle bilateraler Beziehungen eine wichtige Rolle gespielt. Es wäre von vielem zu reden, nicht nur von wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit, sondern auch von einer Fülle gesellschaftlicher und kultureller Kon-
Markus Meckel
takte. Natürlich gibt es hier noch viele Probleme. Doch ich denke, wir sind auf einem guten Weg.
Auf uns Deutschen liegen, fast möchte man manchmal sagen: Lasten, große Erwartungen aus dem ganzen östlichen Europa, wo man Deutschland als Fürsprecher kennt und achtet. Es macht dieses deutsche Engagement nicht unglaubwürdiger, sondern verläßlicher, wenn wir deutlich machen, daß wir ein eigenes, besonderes Interesse an einer stabilen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa haben und deshalb für die Integration unserer Nachbarn und die verbindliche Kooperation mit Rußland und der Ukraine eintreten.
Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir Deutschen in diesem Jahrhundert viel Leid und Schrecken über unsere Nachbarn gebracht haben, ist das neu gewachsene Vertrauen im Verhältnis zu ihnen ein Grund zur Freude und zugleich eine Verantwortung, die die Parteien des Deutschen Bundestages wie auch die Bundesregierung entschlossen wahrnehmen. Es ist für unsere Nachbarn von zentraler Bedeutung, daß sie wissen, daß es in diesen Fragen bei uns einen breiten Konsens gibt, auf den sie sich verlassen können.
Vielen Dank.