Rede von
Horst
Seehofer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Nein, mit der Kollegin Heyne habe ich im Ausschuß ausreichend darüber gesprochen.
Das ist ein Unterschied, und deshalb möchte ich Ihnen für meine Person sagen: Ich möchte diesen Bereich nicht zum Tabu erklären, wenn es darum geht, diese globale Minderausgabe in gesundheitspolitisch verantwortlicher Weise zustande zu bringen.
- Sie wissen, Herr Beck, daß vor einigen Jahren beabsichtigt war, diesen Ansatz auf Null zurückzufahren, und daß wir jetzt von dieser Absicht weg sind und in einer verantwortlichen Weise auch in der Zukunft Mittel zur Verfügung stellen, damit das, was an Prävention über Aufklärung erfolgen kann - das ist bei Aids der zentrale Ansatzpunkt zur Bekämpfung dieser Krankheit -, auch in der Zukunft erhalten bleibt.
Lassen Sie mich drittens noch etwas zur aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion über die gesetzliche Krankenversicherung sagen, weil der weitaus kleinere Bereich der Gesundheitspolitik im Bundeshaushalt stattfindet und für die Bevölkerung bedeutsame Dinge mit einem Volumen von annähernd 250 Milliarden DM über die gesetzliche Krankenversicherung abgewickelt werden.
Ich möchte zunächst einmal etwas zu der gespenstischen Debatte sagen, die manche in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit unter dem Stichwort führen, daß das Gesundheitswesen kaputtgespart werde; es werde auf eine Grundversorgung oder, wie ich gerade gehört habe, auf eine Mindestversorgung reduziert. Kollege Roland Sauer hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen, wie sich trotz der Sparmaßnahmen im Gesundheitsstrukturgesetz seit Anfang 1992 die Ausgaben für die medizinische Versorgung in der Bevölkerung entwickelt haben, nämlich von damals 173 Milliarden DM auf 228 Milliarden DM Ende 1995. Das ist eine Steigerung um 55 Milliarden DM oder knapp 32 Prozent trotz Sparmaßnahmen. In der gleichen Zeit sind die Bruttolöhne und -gehälter in der Bundesrepublik Deutschland nur um 15 Prozent gestiegen.
Das heißt, wir haben auch mit unserem Bekenntnis Ernst gemacht, daß das Notwendige für eine hochwertige gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung über die gesetzliche Krankenversicherung zur Verfügung gestellt werden muß. Die Ausgaben für die medizinische Versorgung unserer Bevölkerung sind in den letzten vier Jahren doppelt so stark gestiegen wie die Löhne und Gehälter, von denen die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung abhängen. Deshalb können wir guten Gewissens sagen: Nie zuvor wurde für die medizinische Versorgung der Bevölkerung mehr über die gesetzliche Krankenversicherung aufgebracht als heute.
Wer jetzt sagt: „Das war so, aber das ändert sich gerade", den möchte ich darauf hinweisen, daß sich dieser Trend im Jahre 1996 ungebrochen fortsetzt. Dieselben, die jetzt schreiben, kommentieren und senden, dieses Gesundheitswesen werde auf eine Grundversorgung reduziert und den kranken Menschen werde durch Kaputtsparen geschadet, werden in wenigen Wochen schreiben: Die Sparmaßnahmen sind viel zuwenig, viel zu lasch und viel zu zurück-
Bundesminister Horst Seehofer
haltend. Denn wir werden Ende dieser Woche oder Anfang nächster Woche die Zahlen für die ersten neun Monate des Jahres 1996 veröffentlichen. Nach allen Vorabinformationen seriöser Natur wird sich dieser Trend, den wir im ersten Halbjahr 1996 registrieren mußten, nämlich einen weit überproportionalen Ausgabenanstieg in der GKV fortsetzen.
Ich darf die beiden Bereiche in Erinnerung rufen, die uns im Moment so stark beschäftigen: Arzneien-, Heil- und Hilfsmittel. Im ersten Halbjahr 1996 ist das Ausgabenvolumen der Arzneimittel im Westen um 8,2 Prozent und im Osten um 9,7 Prozent gestiegen, das Volumen der Heil- und Hilfsmittel - gerade die Physiotherapie wird im Moment stark diskutiert - im Westen um 8,1 Prozent und im Osten um 13,7 Prozent.
Wer jetzt geglaubt hätte, daß die Diskussion der letzten Wochen und Monate dazu geführt hätte, daß die ohnehin schon sehr hohen Steigerungsraten, die wir sonst nirgendwo im sozialen oder wirtschaftlichen Bereich der Bundesrepublik Deutschland haben, sich im dritten Quartal 1996 etwa abgedämpft hätten, der wird im dritten Quartal 1996 eher noch eine Verstärkung dieses Ausgabetrends erleben.
Vor diesem Hintergrund von einer Grundversorgung oder vom Kaputtsparen zu reden ist für meine Begriffe eine Gespensterdiskussion.
Sie, Herr Beck, haben gut dargestellt, was wir heute dank des medizinischen Fortschritts - Gott sei Dank, das kritisiere ich nicht; wir können in der medizinischen Versorgung nicht genug ausgeben - bei HIV-Infizierten tun können, damit die Krankheit möglichst spät zum Ausbruch kommt, und was wir für die Lebensqualität und die Lebenserwartung eines HIV-Infizierten tun können, wenn die Aidsvollerkrankung ausbricht. Das ist doch phantastisch. Es kostet nur viel Geld. Wenn ich die Anforderungen durch den medizinischen und technischen Fortschritt, die steigende Lebenserwartung und die Erwartungshaltung der Bevölkerung auf die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens übertrage, komme ich zu dem Schluß, daß nur mit Budgetierung und Reglementierung keine Antwort für die Zukunft gegeben werden kann. Wenn wir die Beiträge nicht erhöhen und nicht durch Festschreibung der Beiträge oder der Ausgaben rationieren wollen, müssen wir der Bevölkerung sagen, daß sie in sozialverantwortlicher Weise einen Teil ihres verfügbaren Einkommens zur Finanzierung dieser Anforderungen aufbringen muß. Ist das denn so schlimm?
Ein Dauerkranker - jetzt nehme ich noch einmal den Aidserkrankten -, der über viele Jahre behandelt werden muß, wird, wenn er nicht ohnehin auf Grund von Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder als Sozialhilfeempfänger befreit ist, mit maximal 1 Prozent seines Einkommens zur Finanzierung seiner hochwertigen medizinischen Versorgung herangezogen. Das ist doch, Herr Beck, eine sozial verantwortliche Politik. Wir helfen den Kranken. Das ist doch besser, als wenn eine Leistung ausgegrenzt wird und zu 100 Prozent vom Versicherten zu zahlen wäre. Dann grenzten wir ihn nämlich von der Versorgung aus.
Wir stehen, Herr Beck, wirklich vor dieser Alternative: Entweder schmeißen wir ganze Leistungsbereiche raus, dann stehen sie den Menschen überhaupt nicht mehr zur Verfügung, oder wir bieten sie weiter auf hohem Niveau an und sagen: Wir brauchen mehr Eigenverantwortung, sonst können wir sie nicht mehr anbieten.
Die Eigenverantwortung muß so gestaltet werden, daß niemand wegen der Zuzahlung von der Inanspruchnahme hochwertiger medizinischer Versorgung ausgegrenzt wird.
Frau Präsidentin, lassen Sie mich noch etwas zu dem Bereich der Arznei- und Heilmittel sagen, in dem viel Falsches behauptet wird. Die Ärzte und die Krankenkassen können seit drei Jahren im Westen und seit zwei Jahren im Osten eigenverantwortlich, unter der Berücksichtigung aller Notwendigkeiten in einer Region, zum Beispiel daß die Arzneimittelpreise gestiegen sind, daß es mehr Innovationen gibt oder daß sich die Altersstruktur der Versicherten verändert hat, das Arzneimittel- und Heilmittelvolumen, also für die physikalische Therapie, für die Ergotherapie oder Logopädie, für Krankengymnasten oder Masseure, in einer Höhe festlegen, wie es für die Versorgung der Bevölkerung notwendig ist. Sie vereinbaren es untereinander.
Seit 1994 haben sie diese Aufgabe. Es gibt kein gesetzliches Budget, wenn sie dieser Aufgabe gerecht werden. Wir haben 1995 im September als Bundesgesundheitsministerium darauf hingewiesen, dies zu machen, weil sonst im Laufe der Zeit die Versorgung der Bevölkerung in eine sehr schwierige Situation kommt.
Ich lese Ihnen nur einen Absatz vor:
Die Kassenärztlichen Vereinigungen, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen zum Abschluß von Budgetvereinbarungen zum Teil offenbar aus politisch-taktischen Motiven nicht nachkommen, nehmen somit mögliche finanzielle Nachteile der ihnen angehörenden Vertragsärzte in Kauf.
Das haben wir als Bundesgesundheitsministerium, obwohl es nicht unsere Aufgabe ist, den Kassenärzten und den Kassen mitgeteilt. Wir als Bundesgesundheitsministerium haben aufgefordert: Schreibt diese Budgets fort, damit es nicht zu Schwierigkeiten in der Praxis kommt!
Jetzt am Ende des Jahres 1996 nimmt man plötzlich diese Aufforderung ernst. In Nordrhein, wo der KBV-Vorsitzende zu Hause ist, hat man vereinbart - so berichtet heute das „Handelsblatt" -, daß es keine Regresse gibt; man hat sie abgewendet. Auch in anderen Regionen zeichnen sich Einigungen ab.
Wenn man - so wie die deutsche Ärzteschaft - mit Recht will, daß wir weniger Reglementierung, weni-
Bundesminister Horst Seehofer
ger Staat im deutschen Gesundheitswesen und mehr Selbstverantwortung und Selbstverwaltung brauchen, muß man aber auch bereit sein, die Freiheitsspielräume, die der Gesetzgeber der Selbstverwaltung überantwortet hat, verantwortlich wahrzunehmen und nicht immer wieder nach dem Gesetzgeber zu rufen.
Eine letzte Bemerkung. Sie haben es heute wieder getan, obwohl Sie wissen, daß es anders ist. Ich sage es nicht für Sie, sondern wiederhole es für die Öffentlichkeit auch vor dem Hintergrund, daß manche Demonstrationen, die vor vielen Wochen schon vereinbart worden sind, jetzt einfach abgespult werden müssen. Was die Gestaltungsleistung in der gesetzlichen Krankenversicherung betrifft, sage ich: Dies ist kein Instrument für die Leistungsausgrenzung, sondern für eine wirtschaftliche Leistungserbringung; denn bei einer Steigerungsrate im Heilmittelbereich oder in anderen Bereichen von annähernd 10 Prozent - Sie werden es in den nächsten Tagen erleben - wird es wohl noch erlaubt sein, darüber nachzudenken, wie wir diese Steigerungsraten für die Zukunft vermeiden können, indem wir die Leistungen wirtschaftlicher erbringen.
Ich sage für die Koalition noch einmal: Es wird weder bei Logopäden, Ergotherapeuten und Krankengymnasten noch bei der häuslichen Krankenpflege und den Fahrtkosten zur Ausgrenzung dieser Leistungsbereitstellung der gesetzlichen Krankenversicherung kommen. Wir müssen uns aber gemeinsam mit den betroffenen Krankenkassen und Ärzten darüber unterhalten, wie derjenige, der unter Qualitäts-
und Sparsamkeitsanforderungen wirtschaftlich verordnet - das ist die Ärztin oder der Arzt -, und wie diejenigen, die die Leistungen erbringen, sich stärker als in der Vergangenheit an einer Qualitätssicherung orientieren. Das hat nämlich bisher gefehlt.
Der Ansatzpunkt ist die Gestaltungsleistung und nicht die Leistungsausgrenzung. Wir sagen dies nicht erst seit heute; wir sagen dies seit dem Kabinettsbeschluß am 6. November. Nichts anderes ist vorgesehen. Sie dürfen uns glauben, daß wir den Mut hätten, hier im Deutschen Bundestag zu sagen, wenn etwas ausgegrenzt werden soll, und daß wir die politische Verantwortung dafür übernehmen würden.
Ich danke den Mitgliedern des Haushaltsausschusses und den Mitgliedern des Fachausschusses. Die Zeit war und ist nicht ganz einfach. Ich bin aber der tiefen Überzeugung, daß risikobereites Handeln für die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens besser ist als risikoscheues Nichthandeln.