Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Countdown läuft. In zehn Tagen ist es soweit: Die Deutsche Telekom geht an die Börse. Beim größten internationalen Going Public aller Zeiten sollen Aktien im Marktwert von 12,5 bis 15 Milliarden DM plaziert werden. Ob dieser 18. November 1996 zugleich eine Sternstunde des deutschen Finanzmarktes wird, ist noch offen, auch wenn vieles für einen Erfolg der T-Aktie spricht.
Große Erwartungen wurden im Vorfeld mit der Telekom-Emission verknüpft; denn der Erfolg des Börsengangs hat auch entscheidenden Einfluß auf das Standing deutscher Kreditinstitute am und den Zugang deutscher Unternehmen zum internationalen Kapitalmarkt.
Die Deutsche Bank hat in diesem Zusammenhang völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß bei diesem Vorhaben „die internationalen Scheinwerfer auf Deutschland gerichtet" sind. Der designierte neue Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer, bezeichnenderweise in Personalunion auch Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Börse, sprach sogar von der „letzten Chance für den deutschen Aktienmarkt".
Die Deutsche Telekom hat ihre Hausaufgaben gemacht. Das Angebot von Preisnachlässen und Halte-
Hans Martin Bury
boni sowie das Konzept zur Beteiligung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Schritte in die richtige Richtung. Eine eindrucksvolle Werbekampagne hat die T-Aktie zudem zu einem Volksthema gemacht. Ob die T-Aktie auch zu einer Volksaktie wird, werden die nächsten Wochen zeigen.
Immerhin 3 Millionen Menschen haben sich beim Aktien-Informations-Forum der deutschen Telekom registrieren lassen. Dies ist eine erstaunliche Zahl in einem Land, das der oberste Börsianer, Herr Breuer, mit Recht als „Aktienentwicklungsland" bezeichnet.
Der Grad der Börsenkapitalisierung liegt in Deutschland mit nur 27 Prozent weit hinter den Werten anderer Industrieländer. In den USA beträgt die Börsenkapitalisierung 93 Prozent, in der Schweiz 116 Prozent und in Großbritannien sogar 128 Prozent. Das Mißverhältnis zwischen der Bedeutung und Leistungsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland und der des Finanzplatzes Deutschland nimmt immer weiter zu.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, der Zustand des Kapitalmarktes Deutschland, die strukturellen Defizite der deutschen Börse und der dramatische Mangel an Risikokapital sind Folge der verfehlten Politik dieser Bundesregierung.
Sie sind Ursachen für die Struktur- und Innovationskrise der deutschen Wirtschaft.
Politisch gilt es, vier große Defizite zu beseitigen. Zum einen muß die Aktienanlage gefördert und attraktiver gemacht werden. Wenn das Vertrauen sowohl inländischer Kleinanleger als auch institutioneller ausländischer Anleger in den deutschen Kapitalmarkt gestärkt werden soll, ist es jedoch vor allem erforderlich, die Transparenz der Märkte zu erhöhen. Der dominierende Einfluß der Großbanken auf die Börse und auf deutsche Industrieunternehmen muß beschränkt, und die Rechte der Aktionäre müssen gestärkt werden.
Mit dem von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines Transparenz- und Wettbewerbsgesetzes liegen dem Bundestag entsprechende Vorschläge vor. Der von der Bundesregierung angekündigte eigene Gesetzentwurf zum Thema Bankenmacht und Unternehmenskontrolle steht bekanntlich immer noch aus.
Die „Kleine Aktienrechtsreform", wie das Ganze jetzt heißen soll, entpuppt sich ohnehin immer mehr als Scheinreform mit lediglich kosmetischem Inhalt, getreu dem Motto: Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren!
Ohnehin scheint die Koalition die Aktienrechtsänderung nicht dazu zu nutzen, um Maßnahmen zur Modernisierung des Finanzmarktes und zur Verbesserung des Anlegerschutzes für Aktionäre durchzusetzen. Denen will die CDU/CSU statt dessen jetzt auch noch die Kursgewinne besteuern, obwohl Kursgewinne angesichts der in Deutschland seit Jahren sehr zurückhaltenden Dividendenpolitik der Unternehmen den entscheidenden Anreiz darstellen, Aktien zu kaufen. Wer Kursgewinne besteuern will, kommt zumindest um eine umfassende Reform der Kapitalertragsbesteuerung nicht herum.
Durch ihre zögerliche Haltung, sowohl bei der unmittelbaren Aktienförderung als auch bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Finanzmarkt Deutschland, wird diese Bundesregierung immer mehr zum Malus bei Neuemissionen in Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nur über wachsende Investitionen, durch eine wachsende Wirtschaft wird es ein wachsendes Angebot an Arbeitsplätzen geben. Dabei ist die Kapitalbildung die Voraussetzung für die notwendige Modernisierung unserer Wirtschaft.
So lautet die Erkenntnis von Bundeskanzler Helmut Kohl. Das Zitat stammt aus seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983.
Heute, nach 14 Jahren Regierung Kohl, nach 14 Jahren Stillstand und Rückschritt, sind die Finanzierungsprobleme der mittelständischen Wirtschaft schlimmer denn je.
Die Eigenkapitalquoten deutscher Unternehmen sind auf durchschnittlich unter 18 Prozent abgerutscht, die Pleitenwelle steigt von Jahr zu Jahr. Seit 1982 hat sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland mehr als verdoppelt. 400 000 Arbeitsplätze werden allein in diesem Jahr durch Unternehmenspleiten verlorengehen.
Das ist die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Regierung Kohl; eine Fortsetzung dieser Politik kann sich unser Land nicht länger leisten.
Wir wollen durch die Einführung einer Mittelstandsbörse ein neues, speziell auf kleine und mittlere Unternehmen zugeschnittenes Börsensegment schaffen. Merkmale der Mittelstandsbörse sind im besonderen ein erheblich erleichterter Zugang für kleine und mittlere Unternehmen sowie ein an internationalem Standard orientiertes Maß an Transparenz und Information. Die Antragstellung zur Zulassung soll neben der durch Kreditinstitute auch durch Wertpapierhandelshäuser erfolgen. Wertpapierhandelshäuser und Kreditinstitute sollen den Handel an der Mittelstandsbörse als Liquiditätshändler begleiten und sicherstellen, daß die Marktteilnehmer mit den notwendigen Unternehmensdaten und Informationen versorgt werden.
Unternehmer, die in Deutschland den Gang an die Börse wagen wollen, sind derzeit darauf angewiesen, eine Bank zu finden, die die Börseneinführung übernimmt. Die Praxis zeigt, daß viele Banken daran kaum Interesse haben. In diesem Jahr sind in Deutschland bislang neun Unternehmen an die Börse geführt worden. Zum Vergleich: In London wa-
Hans Martin Bury
ren es allein im letzten Jahr 285 Unternehmen, die an der Börse plaziert wurden, und die US-amerikanische Computerbörse NASDAQ vermeldet in diesem Jahr bereits mehr als 650 Neuemissionen - Deutschland hat neun Unternehmen dieses Jahr an die Börse geführt, die USA mehr als 650!
Die Unternehmen, die die Notierung an der NASDAQ suchen, sind überwiegend jung, dynamisch und innovativ, Unternehmen mit neuen Ideen und Produktionsverfahren, Unternehmen, die den Strukturwandel vorantreiben und neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Solche Unternehmen gibt es auch in Deutschland, aber hierzulande findet man innovative Unternehmen häufiger vor dem Konkursrichter als auf dem Kurszettel der Börse.
Bei uns sind Unternehmen, die von den Banken an die Börse geführt werden, durchschnittlich bereits 55 Jahre alt, in den USA dagegen nur 14 Jahre, und in Großbritannien sind sie acht Jahre jung.
Wie in der Politik sind es aber auch in der Wirtschaft die Youngsters, die den Wandel vorantreiben.
Immer mehr junge, dynamische Unternehmen suchen den direkten Weg an den amerikanischen Risikokapitalmarkt. Oftmals handelt es sich dabei um führende Unternehmen aus Deutschlands dünner High-Tech-Gründerszene. Hat ein innovatives und wachstumstarkes Unternehmen aber erst den Fuß in die Vereinigten Staaten oder nach Großbritannien gesetzt, ist die Gefahr groß, daß der Finanzierung auch ganze Unternehmensteile folgen. Der Verlust von Innovation und Arbeitsplätzen im Inland ist die schmerzliche Folge.
Wir begrüßen ausdrücklich die Initiative der deutschen Börse zur Schaffung eines „Neuen Marktes" . Ein neues Börsensegment mit einem erleichterten Zugang ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der „Neue Markt" wird aber die in ihn gesetzten Erwartungen nur erfüllen können, wenn endlich Maßnahmen zur Förderung des Aktiensparens ergriffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutschen sind risikofreudig. Egal, wie obskur die Gesellschaft oder die Anlageform ist - wenn die in Aussicht gestellte Rendite stimmt oder eine Steuervergünstigung winkt, kennen Deutschlands Sparer keine Hemmungen. Jahr für Jahr werden in Deutschland Milliardenbeträge in hochspekulative Anlagemodelle des grauen Kapitalmarkts einbezahlt. Die wachsende Zahl von Betrugsfällen hat an dieser Risikobereitschaft bislang nichts geändert.
Dennoch wird bei der Diskussion um die Zurückhaltung der Deutschen bei der Aktienanlage immer wieder ihre angebliche Risikoscheu als Begründung bemüht - ein wenig überzeugendes Argument. Die Gründe liegen eher in der mangelnden Information über die Kapitalanlage Aktie und in der Benachteiligung der Aktie gegenüber anderen Anlageformen. Die Aktie ist ein Risikopapier, kein Zweifel. Aber in der Diskussion um die Aktie wird gerne unterschlagen, daß die Kehrseite von Risiko Chance heißt. Hier sind natürlich die Emittenten gefordert. Das Beispiel Deutsche Telekom AG zeigt, wieviel Werbung, Information und Öffentlichkeitsarbeit ausrichten können.
Besonders erfreulich ist dabei auch der Ansatz, Kleinanleger bei der Emission bevorzugt zu bedienen; ein Beispiel, das nach unserer Überzeugung Schule machen sollte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Möglichkeiten der Altersvorsorge verbessern. Dazu muß vor allem die gesetzliche Altersvorsorge gestärkt und auf ein zukunftstaugliches Fundament gestellt werden. Ich persönlich denke hier auch an eine schrittweise Ergänzung der Umlagefinanzierung durch Kapitaldeckungsanteile. Außerdem müssen die Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge beispielsweise durch Pensionsfonds verbessert werden. Schließlich kann die Aktie in der individuellen Altersvorsorge eine wichtige Rolle einnehmen.
Nach geltendem Einkommensteuergesetz genießt einzig die Kapitallebensversicherung eine umfassende Förderung aus öffentlichen Haushaltsmitteln. Heute fließen mehr als 20 Prozent des privaten Geldvermögens in die Lebensversicherungen, obwohl deren Rendite vergleichsweise mager ist. Es kann kein Zweifel bestehen, daß der große Erfolg des Produktes Kapitallebensversicherung in Deutschland hauptsächlich auf die steuerliche Privilegierung zurückzuführen ist.
Der Kollege Lambsdorff - ich bedaure, daß er bei dieser Debatte nicht dabei ist, denn er ist zweifellos ein Kenner der Materie Lebensversicherung -
ging am 1. Oktober in einer Podiumsdiskussion bei der Friedrich-Ebert-Stiftung so weit, zu behaupten, die Kapitallebensversicherung werde es ohne ihr Steuerprivileg nicht mehr geben. Eine interessante Argumentation!
Klar ist: Die einseitige Privilegierung der Kapitallebensversicherung führt zu einer gigantischen Fehlallokation des Anlagekapitals.
So erreicht das private Geldvermögen zwar Jahr für Jahr neue Höchststände, der Anteil der in Produktivkapital angelegten Mittel nimmt dagegen kontinuierlich ab. Gerade mal jeder neunzehnte Spargroschen der Bundesbürger wird derzeit unmittelbar in Produktivkapital für deutsche Unternehmen investiert. Lediglich 4,5 Millionen Bundesbürger -5,5 Prozent der Bevölkerung - besitzen in Deutschland Aktien. Davon sind 1,3 Millionen Belegschaftsaktionäre, deren Zahl jedoch auf Grund der von der Bundesregierung verschlechterten Rahmenbedingungen rückläufig ist. In den USA ist dagegen jeder fünfte Aktienbesitzer, in Schweden sogar jeder dritte.
Nach Schätzungen von Experten belaufen sich die durch die Subventionierung der Kapitallebensversicherung verursachten Steuermindereinnahmen pro
Hans Martin Bury
Jahr auf rund 20 Milliarden DM - eine Verschwendung von Steuermitteln. Würde nur ein Bruchteil dieses Betrages für die Förderung des Aktiensparens aufgebracht, könnten Milliardenbeträge für den deutschen Aktienmarkt mobilisiert werden.
Nach unserem Vorschlag soll jeder Sparer künftig im Rahmen eines steuerlich begünstigten Vorsorgesparens - VS - bei freier Wahl der Anlageform - Aktien, Anleihen, Investmentfonds etc. - seine private Altersvorsorge ansparen können. Die Erträge auf diesem Vorsorgesparkonto sind bei Einhaltung einer zwölfjährigen Mindestanlagedauer und laufender Beitragszahlung bis zu einem Höchstbetrag steuerfrei. Diese Neuregelung bei der privaten Altersvorsorge wird zu einem Wettbewerb der Anlageformen führen. Ich bin davon überzeugt, daß dieser Wettbewerb dem Aktiensparen zugute kommen wird.
Wir wollen außerdem die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital verstärken; denn das rasante Wachstum des gesamten Geldvermögens der Deutschen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verteilung dieses Vermögens immer ungerechter wird. Um die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten und hier vor allem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital zu erhöhen, wollen wir den Freibetrag für die Überlassung von Vermögensbeteiligungen an Arbeitnehmer deutlich erhöhen. Außerdem sollen der förderungsfähige jährliche Höchstbetrag für vermögenswirksame Leistungen - VL - und die Einkommensgrenzen für den Anspruch auf Gewährung der Arbeitnehmersparzulage angehoben werden.
Darüber hinaus müssen auch institutionelle Anleger zur verstärkten Bereitstellung von Risikokapital motiviert werden. Hierzu sollen einerseits deren gesetzliche Anlagemöglichkeiten überprüft und erweitert werden. Auf der anderen Seite müssen aktuelle Fehlentwicklungen im Kapitalmarkt korrigiert werden.
Dazu zählt vor allem die bestehende Struktur des Anteilsbesitzes von Banken und Versicherungen an Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Dieser Anteilsbesitz nimmt zwar kontinuierlich zu, das Kapital wird jedoch überwiegend in den großen deutschen Unternehmen geparkt - in den Blue chips -, statt es als Risikokapital für mittelständische Technologieunternehmen, für Existenzgründer, für stark wachsende junge Unternehmen zur Verfügung zu stellen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre Politik führt zum Wachstum - zum Wachstum von Pleiten, zum Wachstum von Schulden, zum Wachstum der Arbeitslosigkeit, zur Mehrung des Reichtums weniger und der Nöte vieler.
Wir verbinden Maßnahmen zur Mobilisierung von Risikokapital, verbesserte Rahmenbedingungen zur Finanzierung von Innovationen und Investitionen mit einem Konzept zur Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und einer Förderung des Aktiensparens zu einem wirklichen Programm für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland.