Rede von
Gerald
Häfner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist meines Erachtens kein Gesetz wie jedes andere. Die friedliche Revolution von 1989 verdient diesen Namen vor allem auch wegen der Besetzung der Stasi-Zentralen in Berlin, Leipzig, Dresden, Schwerin und all den Städten, wo diese Krake ihre Zentralen hatte, und der damit verbundenen Sicherstellung der Akten und Aufdeckung
Gerald Häfner
der Instrumentarien der Staatssicherheit, das heißt die Aneignung der Werkzeuge und Dokumente des übelsten Unterdrückungsapparates, dieses unter dem Siegel von Demokratie und Sozialismus errichteten totalitären Systems, durch das Volk.
Damit haben die Bürgerinnen und Bürger eine unglaubliche Menge von Akten - Sie alle wissen, daß sie aneinandergereiht eine Länge von Hunderten von Kilometern ergeben - sichergestellt, die sonst vernichtet worden wären. Jedes einzelne Dokument ist Dokument eines schweren menschlichen Schicksals. Jedes Dokument ist zugleich Dokument eines kleinen oder großen Verrates. Jedes Dokument ist Dokument von Einschüchterung, Unterdrückung, Verfolgung, bis hin zur physischen und psychischen Vernichtung von Menschen.
Ohne die Bürgerbewegung des Herbstes 1989 gäbe es dieses Material nicht. Ohne die mutigen Menschen, die die Stasi-Zentralen besetzt und die Akten vor der Vernichtung gesichert haben, wären die Schicksale der betroffenen Menschen, die sich in dem Dunkel von Tarnung und Unterdrückung abgespielt haben, für immer jeder Aufarbeitung entzogen worden.
Ohne die Bürgerbewegung könnte sich die Legion der Täter endgültig in Sicherheit wiegen. Nichts von ihren Untaten wäre mehr ans Licht gekommen. Täter wie Opfer blieben anonym. Das würde auch bedeuten: Keine Regierung und kein Parlament im Westen Deutschlands könnte jetzt tätig werden, und das Nachdenken über Aufarbeitung und Unrechtsbereinigung hätte sich gänzlich erübrigt. Regierung, Parlament, Justiz und Verwaltung wären durchsetzt von Bütteln und Organisatoren des ehemaligen Unterdrückungsapparates.
Wenn wir über das Stasi-Unterlagen-Gesetz reden, dann sollten wir alle gemeinsam zuallererst den Bürgerbewegungen und den Menschen des Herbstes 1989 danken, die die Grundlagen für dieses Gesetz erst ermöglicht haben. Wenn wir das Stasi-Unterlagen-Gesetz verändern, dann sollten wir dies im Geist und im Sinne derer tun, die diese Akten damals gesichert, vor der Überstellung an die Geheimdienste bewahrt und uns übergeben haben. Aus meiner Sicht ist dies aber in der vorliegenden Novelle zum Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht geschehen.
Ich möchte kurz auf die Rede von Herrn Büttner eingehen, in der er - das gilt auch für mich - das Gespräch, das wir miteinander geführt haben, sehr positiv gewürdigt hat. Ich bedanke mich nach wie vor für dieses Gespräch; aber es ist - Herr Büttner, erlauben Sie mir diese Bemerkung - zu spät gekommen, um noch irgend etwas substantiell zu ändern. Wir hatten unsere Änderungsvorschläge auf den Tisch gelegt; aber es war nicht mehr möglich, etwas zu ändern. Ich bedaure das außerordentlich.
Ich will betonen: In dieser Novelle gibt es vieles, was wir mittragen und unterschreiben können; das haben wir auch in den Beratungen deutlich gemacht. Ich möchte aber aus Zeitgründen nur auf die Punkte eingehen, die meines Erachtens die gravierendsten Schwachstellen enthalten. Am Anfang will ich den schwersten Sündenfall - er wurde von Herrn Schwanitz ebenfalls angesprochen - nennen, der hier begangen worden ist: die Regelung, daß keine Auskunft mehr erteilt wird, wenn eine inoffizielle Tätigkeit vor dem Stichtag des 31. Dezember 1975 stattfand und keine Hinweise dafür bestehen, daß sie nach diesem Zeitpunkt fortgesetzt worden ist. Das bedeutet nicht in jedem Fall, daß danach nichts geschehen ist, sondern das bedeutet, daß danach nichts mehr gefunden wird.
Wir haben uns immer dagegen gewehrt, nach Rache zu schreien. Wir wollen aber Klarheit, Wahrheit und Aufarbeitung. Wir wollen, daß die Dinge auf den Tisch kommen. Kein Mensch kann behaupten, daß vor 1975 weniger gravierende Dinge passierten als nach 1975. Im Gegenteil: Nach 1975, Herr Schwanitz, hat die Zahl der IMs dramatisch zugenommen. Diese Zunahme stand im Zusammenhang mit dem Helsinki-Prozeß. Im Umkehrschluß folgt, daß die Zahl vor 1975 geringer war. Das heißt aber nicht, daß es sich um die milderen Vorgänge handelte; es handelte sich zum Teil um die wesentlich brutaleren Vorgänge. Es kann unseres Erachtens keinesfalls angehen, daß diese Vorgänge unter den Teppich gekehrt werden. Es geht nicht an, daß die Gauck-Behörde dazu keine Auskunft mehr geben darf.
Ein Punkt, den Sie in das Gesetz hineingeschrieben haben, weil Sie Angst vor der eigenen Regelung bekommen haben, kann schon gar nicht angehen: Eine Mitteilung soll nämlich dann erfolgen, wenn es sich um Verletzungen der Menschenrechte oder der tragenden Grundsätze des Rechtsstaats handelte. Dadurch wird die Behörde von Joachim Gauck zu dem, was Sie immer abgelehnt haben: Sie wird zum Staatsanwalt, zum Richter und zum Inquisitor. Sie wird plötzlich damit beauftragt, abzuwägen und Ermessensentscheidungen darüber zu fällen, was mitgeteilt werden soll und was nicht.
Das darf und kann nicht Aufgabe der Behörde sein.
Herr Schwanitz, Sie haben deshalb heute vollkommen zu Recht nicht nur unseren Antrag zitiert, sondern auch zitiert, was wir bereits vor eineinhalb Jahren gesagt haben. Beides ist deckungsgleich. Sie haben versucht, daraus einen Widerspruch zu konstruieren. Das zeigt, daß Sie das Ganze offenbar nicht verstanden haben.