Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Land befindet sich in einer besonders schwierigen Situation.
Die Haushalte des Bundes waren 1983, 1988, 1990 und 1993 in dem Sinne verfassungswidrig, daß die Ausgaben für Investitionen unter der Kreditaufnahme lagen. Dies droht auch für das Jahr 1996.
Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Deutschland ist gestört. Wir beantragen diese Feststellung vor allen Dingen deshalb, weil schon zum 30. September dieses Jahres die Finanzierungssalden des Bundes mit 64,8 Milliarden DM um rund 5 Milliarden DM stärker negativ ausfallen, als dies im Haushaltsgesetz vorgesehen ist.
Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht kann nur erreicht werden, wenn endlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit getan wird.
Es kann nur erreicht werden, wenn die Investitionen des Bundes auf einem höheren Stand bleiben als die Schuldenaufnahme. Es kann nur erreicht werden, wenn die Steuern gerechter und wirtschaftlich vernünftiger erhoben werden.
Es kann nur erreicht werden, wenn die Lohnnebenkosten endlich sinken, anstatt über sie faktisch eine doppelte Besteuerung der Produktion vorzunehmen.
Es kann nur erreicht werden, wenn junge Menschen wieder ermutigt werden. Dafür ist die erste Voraussetzung, jedem jungen Menschen einen Ausbildungsplatz zu garantieren.
Gleichgewicht in Deutschland kann nur erreicht werden, wenn die Situation der Familien und der Kinder wirksam verbessert wird, anstatt sie zur Arabeske der künftigen Entwicklung zu machen.
Nach Art. 110 des Grundgesetzes ist die Bundesregierung verpflichtet, alle zu erwartenden und absehbaren Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsplan zu veranschlagen. Das ist mit dem Haushaltsplan 1996 nicht geschehen.
Nach Art. 115 des Grundgesetzes ist die Bundesregierung verpflichtet, die Schuldenaufnahme unter der Summe der Investitionen zu halten; es sei denn, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist gestört.
Rudolf Scharping
Diese Feststellung obliegt ausschließlich dem Deutschen Bundestag. Wir beantragen diese Feststellung deshalb, weil hier entschieden werden muß, daß es angesichts einer verhängnisvollen, die Menschen belastenden Politik endlich zu einer Wende kommen muß.
In der Bundestagssitzung am 18. Oktober dieses Jahres hat die Koalition jede Debatte über ihre Steuerpolitik verweigert. Angesichts der Zahlen, die Ende September erreicht wurden, wird das erklärbar, aber nicht verständlich. An keinem anderen Ort in Deutschland außer im Deutschen Bundestag kann die Konsequenz aus einer verfehlten Politik gezogen werden. Man kann es auch nicht einem Interviewkrieg der Koalitionäre überlassen, wie die Politik in Deutschland zu gestalten und zu korrigieren ist.
Nach der Vorlage des Herbstgutachtens der Wirtschaftsinstitute kann man damit rechnen, daß ein geringfügig stärkeres wirtschaftliches Wachstum im Jahre 1997 erreicht wird. Man muß aber gleichzeitig befürchten, daß die Arbeitslosigkeit erneut anwachsen wird. Man muß befürchten, daß im Osten Deutschlands das Wirtschaftswachstum weit hinter den Erfordernissen zurückbleibt. Man muß befürchten, daß Ihre Politik erneut in einen verfassungswidrigen Haushalt führt. Die erschreckend hohe Zahl von arbeitslosen Bürgerinnen und Bürgern, das Chaos Ihrer Finanzpolitik, die Haushalte 1996 und 1997 sind schon heute Symbole einer unmäßigen Belastung der Bevölkerung. Korrigieren Sie endlich diese Politik!
Statt einer konzeptionell klaren und wirksamen Politik wird uns Chaos geboten, statt Finanzpolitik Buchhaltung, statt Wirtschaftspolitik soziale Demontage, statt eines konzeptionellen Vorgehens interner Streit der Koalition, statt der dringend notwendigen Verläßlichkeit für die sozialen Beziehungen und die investierende Wirtschaft ein rüdes Hin und Her innerhalb der Koalition.
Die Ausgaben des Bundes lagen am 30. September 1996 bei einem negativen Finanzierungssaldo von 64,8 Milliarden DM. Im Jahre 1996 werden fast 8 Millionen Menschen in Deutschland die Erfahrung der Arbeitslosigkeit machen. Anstatt einer Regierung, die konzeptionell und klar etwas für die Zukunft ihres Landes, seine wirtschaftliche Stärke und seinen sozialen Zusammenhalt tut, haben wir eine Regierung, deren Mitgliedern es nur noch wichtig erscheint, dem anderen per Interviews etwas ins Gesicht zu schlagen, anstatt etwas für die Zukunft des Landes zu tun.
Wir haben eine Regierung, in der der Verstoß gegen die Verfassung zur Regel zu werden droht.
Wir haben eine Regierung, in der das Lügen und das Hinters-Licht-Führen zur Übung geworden ist.
Sie haben 1990 behauptet, es werde keine Steuererhöhungen geben. Tatsächlich haben Sie jährlich mit erhöhten Steuern in Höhe von 116 Milliarden DM zugelangt. Das war der größte Steuerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Sie haben 1995 erst nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichtes dafür gesorgt, daß das Existenzminimum steuerfrei gestellt wird, und hatten dafür einen Buckel vorgesehen, der erst durch massive öffentliche und parlamentarische Kritik vermieden werden konnte.
Sie haben anstatt verläßlicher und klarer Politik 1989 die Quellensteuer abgeschafft und 1992 eine unwirksame Zinsabschlagsteuer eingeführt.
Sie haben 1991 den Solidaritätszuschlag eingeführt, ihn 1992 abgeschafft, ihn 1995 wieder eingeführt und streiten jetzt darüber, ob er 1998 um 1 oder 2 Prozentpunkte sinken soll.
Sie wollten die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen zur Finanzierung von Gewerbebetrieben durchsetzen und sind erst durch die Opposition im Bundestag daran gehindert worden.
Sie wollten verhindern, daß die Familien wirksam entlastet werden und haben erst nach starkem öffentlichen und parlamentarischen Druck ein einheitliches Kindergeld mit Abzug von der Steuerschuld ermöglicht.
Sie haben in der Finanzierung des Wohnungsbaus ein ständiges Hin und Her zu verantworten.
Sie sind mit der Harmonisierung der Zinsbesteuerung in der Europäischen Union gescheitert.
Sie haben die Mineralölsteuer zu einem dauerhaften Griff in die Portemonnaies der Bürgerinnen und Bürger mißbraucht, anstatt etwas für die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu tun.
Sie haben allein die Steuerbelastung bei unverbleitem Benzin von 54,7 auf 112,7 Pfennig gesteigert. Sie
Rudolf Scharping
sind mit einer ökologisch verträglichen Reform der Besteuerung von Kraftfahrzeugen gescheitert.
Sie sind erst durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen worden, das Kindergeld an das Existenzminimum der Kinder anzupassen. Sie sind erst durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen worden, das Existenzminimum der Bürger von Steuern freizustellen. Sie sind erst durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen worden, die Zinseinkünfte und die Einkünfte anderer Art steuerlich gleichzubehandeln.
Sie stellen eine Regierung, die mit steuerlichem Hin und Her massive Ungerechtigkeiten und zugleich eine erhebliche Verunsicherung der Investoren in Deutschland und damit eine massive Belastung der Arbeitsmärkte und der wirtschaftlichen Entwicklung bewirkt hat. Sie sind eine Koalition des Chaos und des Streites, aber keine Koalition für die Zukunft dieses Landes.
Der Streit, den Sie in den vergangenen Wochen geführt haben, macht es überdeutlich. Wenn es überhaupt eines Zeugen aus den Reihen der Koalition für meine Feststellungen bedarf, könnte ich Ihnen die Aussagen Dutzender aus der letzten Woche zitieren. Ich zitiere sinngemäß nur einen, der forderte, daß Sie endlich beginnen, Haushaltsentwürfe vorzulegen, bei denen man nicht schon bei der Vorlage weiß oder ahnt: Das kann nicht stimmen. Betreiben Sie endlich eine Haushaltspolitik, die mittelfristige Orientierung gibt, anstatt von hektischem Aktionismus geprägt zu sein, eine Politik, die Vertrauen gewinnt, statt es zu verspielen, eine Politik, über die kein Mitglied Ihrer Koalition sagen kann: Das Urteil fällt grausam aus.
Diese Politik liegt ausschließlich in der Verantwortung der Bundesregierung und folglich ausschließlich in der Verantwortung des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Wenn das Hauptbuch der Nation gefälscht wird, dann können die privaten Bilanzen weder der Wirtschaftsunternehmen noch der Haushalte in Ordnung bleiben.
Wenn der Bundeskanzler angesichts dieser Situation sagt, er stehe nicht unter Erklärungszwang, dann ist das für seine Politik und sein Verständnis vom Parlament bezeichnend. Wenn der Chef des Bundeskanzleramtes die Wahrnehmung parlamentarischer Rechte, die Tatsache, daß ein verfassungswidriger Haushalt konstatiert werden muß und daß eine Wende in der deutschen Politik eingefordert werden muß, und diese parlamentarische Debatte zu einer lächerlichen Schauveranstaltung erklärt,
offenbart das etwas vom Verständnis dieser Regierung in bezug auf die parlamentarische Debatte. Daß Sie in der Lage sind, die notwendige Erörterung eines verfassungswidrigen Haushaltes im Deutschen Bundestag auch noch mit Beifall für diese gegenüber dem Parlament ungezogene Bemerkung zu quittieren, offenbart auch Ihr Verständnis vom Parlament.
Wo eigentlich, wenn nicht hier im Deutschen Bundestag, soll wenigstens der eine Teil des Vorwurfes ausgeräumt werden? Wo, wenn nicht im Deutschen Bundestag, soll denn debattiert werden, was Ihre Politik in Deutschland anrichtet? Wo, wenn nicht hier, soll denn debattiert werden, wie eine Wende in der Politik Deutschlands aussehen könnte?
In jeder selbstbewußten parlamentarischen Demokratie würde sich das ganze Parlament gegen eine solche Bemerkung von den Mitgliedern jener Regierung wehren, die einen verfassungswidrigen Haushalt zu verantworten hat.
In jeder selbstbewußten Demokratie würde eine Koalition, anstatt die Debatte in den Zeitungen auszutragen, wenigstens den Mut haben, dieses Parlament eben nicht zu jener Schauveranstaltung verkommen zu lassen, zu der Sie offenkundig entschlossen sind nach der Methode: Die Politik findet woanders statt. Sie findet aber hier im deutschen Parlament statt. Hier wird auf der Grundlage streitiger Debatten entschieden.
Sie haben bei der Haushaltsberatung 1995 die Risiken geleugnet. Sie haben noch bei der Verabschiedung des Haushaltes gesagt, die Äußerungen von Frau Matthäus-Maier, von meinem Kollegen Karl Diller und von vielen anderen seien bloße Kassandrarufe. Heute stellt sich heraus: Die einzigen Realisten in diesem Deutschen Bundestag waren die Vertreter der Opposition, nicht die Vertreter der Regierung und nicht die Vertreter der Regierungskoalition.
Sie haben auf die Täuschbarkeit der Wählerinnen und Wähler gesetzt. Mit dem Solidaritätszuschlag, Ihrer Haushaltspolitik und Ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik setzen Sie erneut auf die Täuschbarkeit der Wählerinnen und Wähler. Das ist einer Demokratie unwürdig. Was Sie tun, ist einer parlamentarischen Demokratie unwürdig.
Rudolf Scharping
Sie haben die Risiken geleugnet. Jetzt steht Herr Waigel als der Blamierte dar, und die F.D.P. besitzt die Frechheit, auf ihn einzuprügeln, damit nur ja nicht deutlich wird, daß die F.D.P. bei dem Desaster die treibende Kraft gewesen ist.
Das alles ist die Politik des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl. Wo immer er heute, an diesem Tag, in dieser Stunde sein mag:
Er wird in diesem Bundestag für seine Politik und für das Scheitern einer Politik, die einmal geistig-moralische Wende sein wollte, Rede und Antwort stehen müssen.
So, wie wir es Ihnen im Januar, im Februar, im März und mehrfach danach angeboten haben, so bieten wir Ihnen auch heute an, die wirtschaftliche Kraft unseres Landes zu steigern, Existenzgründer zu ermutigen,
technischen Fortschritt voranzubringen und das Land durchgreifend zu modernisieren, anstatt sozialen Abbau und schlichte Demontage zu betreiben.
Wir bieten Ihnen erneut an, Bürokratie abzubauen und dafür einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst zu entwickeln, die Motivation und die Leistungsfähigkeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu nutzen, anstatt so halbherzig an die Modernisierung des Staates und seiner Tätigkeit heranzugehen, wie Sie das tun.
Wir bieten Ihnen erneut an, das Steuerrecht zum 1. Januar 1998 zu reformieren, damit es in Deutschland wirtschaftlich besser und sozial gerechter zugeht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Bundesregierung hat mit ihrer Tätigkeit, mit der Vorlage und der Abwicklung des Haushaltes 1996, mit der Vorlage des Haushaltes 1997, durch das ständige Hin und Her in ihrer eigenen Steuerpolitik und die massiven Ungerechtigkeiten im sozialen Bereich jeden Kredit verspielt. Wahrscheinlich ist das die Grundlage dafür, daß Sie immer mehr Kredite aufnehmen müssen, anstatt Vertrauen und Investitionen für die Zukunft unseres Landes anzusammeln.